Noch so ein Aussetzer. Elina ist wieder
unten in der Küche. Sie geht: auf und ab, hin und her, ihren Sohn
an der Schulter. Sie trägt ihren Schlafanzug und darüber das
schlabbrige, geblümte Sweatshirt. Der ganze Raum ist von Lärm
erfüllt, einem penetranten, anhaltenden Schrillen, und es ist
Elinas Aufgabe, es abzustellen. Sie kennt dieses Geräusch. Es kommt
ihr fast so vor, als ob sie überhaupt nichts anderes mehr kennt:
die Tonhöhe, die Variationen, den Verlauf. Es fängt als
Häch-häch an. Davon kann es mehrere geben. Fünf, sechs,
sieben - bis zu zehn. Dann kommen die Hä-ngggs: hä-nggg,
hä-nggg, hä-nggg. Wenn Elina alles richtig macht, wenn sie in
einem ganz bestimmten Moment etwas ganz Bestimmtes tut, hört es
damit dann auch schon wieder auf, aber weil sie nicht genau weiß,
was sie tun muss und wann, kann das Geräusch bis zum gefürchteten
AhHgg anschwellen: ahHggg ahHggg ahHggg ahHggg. Nach
dem vierten ein stummes Japsen, dann geht es mit den nächsten
vieren los.
Wenn sie schlafen könnte, wäre alles in Ordnung.
Nur einmal durchschlafen, drei Stunden, vielleicht vier. Sie ist so
müde, dass sie, wenn sie den Kopf dreht, ein Knistern hört, als ob
jemand ein Blatt Papier zusammenknüllt. Aber sie läuft und läuft.
Sie wandert durch die Küche, vorbei am Herd, am Wasserkocher, am
Anrufbeantworter, der ihr verrät,
dass sie nicht weniger als dreizehn Nachrichten bekommen hat. Am
Kühlschrank dreht sie sich um und geht wieder zurück, pochende
Schmerzen in den Schläfen. Ein AhHggg dauert ungefähr zwei
Sekunden, macht acht Sekunden für jeden Vierersatz, dazu vielleicht
noch zwei Sekunden für die stumme Pause, ergibt insgesamt zehn
Sekunden. Macht vierundzwanzig AhHgggs in der Minute. Und
wie lange geht es diesmal schon so? Fünfunddreißig Minuten, das
wären also - wie viele? Elina kann es nicht ausrechnen.
Später, als wieder Stille eingekehrt ist, eine
angespannte, brüchige Stille, geht Elina allein die Treppe hinauf.
Oben bleibt sie unschlüssig stehen. Sie hat drei Türen zur Auswahl:
Eine führt ins Schlafzimmer, eine ins Bad, und die Dritte, die über
ihr in die Decke eingelassen ist, auf den Dachboden.
Sie zieht die quietschende, silberfarbene Leiter
herunter und klettert nach oben. Wie aus dem Meer gestiegen, taucht
sie auf dem Speicher auf. Das Licht, das scharf durch die Schlitze
der Jalousie sticht, fällt auf eine Reihe verstaubter
Nagellackfläschchen auf dem Kaminsims, auf die Bücherrücken in den
Regalen, auf eine Vase, die einen bunten Strauß aus Pinseln
enthält, die Borsten steif, die Spitzen verhärtet. Ihre nackten
Füße rascheln über den Teppichboden. Elina nimmt einen Kalender vom
Schreibtisch unter dem Fenster und blättert darin. Restaurant,
Kino, Besprechung, Vernissage, Friseur, Galerietermin. Sie legt das
Büchlein wieder hin. Damals, als sie bei Ted noch zur Untermiete
gewohnt hat, war der Dachboden ihr Zimmer, ihr Atelier. Vor langer
Zeit. Vor dem Vorher. Vor dem, was jetzt ist. In einer Schublade
findet sie eine Halskette, ein Wimperntuschebürstchen, einen roten
Lippenstift, eine halbleere Tube Ocker, eine Ansichtskarte vom
Helsinkier Hafen. Die Kleiderschranktür
klemmt, aber Elina braucht mit ihren staubigen Fingern nur einmal
kräftig daran zu rütteln, und sie geht auf.
In dem Schrank ist der einzige Ganzkörperspiegel,
den es im Haus gibt. Die Tür schwingt auf, und Elina steht einer
Frau im fleckigen Sweatshirt gegenüber, mit nachgedunkeltem
Haaransatz und wachsweißem Gesicht.
Sie meidet den Blick ihres Spiegelbilds, zieht das
Sweatshirt hoch und hält es mit dem Kinn fest. Dann faltet sie den
Gummibund der Schlafanzughose nach unten, nur ein Stückchen, nur
eine Sekunde lang. Nur so lange, bis sie den Schnitt gesehen hat,
der vom einen Hüftknochen bis zum anderen reicht, krumm und
schartig mitten durch ihr Fleisch, das zarte Violett der
Blutergüsse, die Metallklammern, die alles zusammenhalten.
Sie lässt den Saum des Sweatshirts fallen. Sie
erinnert sich - woran?
Dass sie bis in die Achselhöhlen hinauf taub war
und darüber Kopf und Schultern schwebten, dass sie sich wie eine
Marmorbüste fühlte. Es war eine sonderbare Art von Taubheit, ganz
ohne Schmerzen, aber nicht ohne Empfindungen.
Sie konnte spüren, wie die beiden Ärzte in ihr
herumwühlten, als würden sie auf dem Grund eines Koffers etwas
suchen. Sie wusste, dass es wehtun müsste, furchtbar weh, aber das
tat es nicht. Kühl strömte das Betäubungsmittel ihr Rückgrat erst
hinunter und dann wieder herauf, um sich zuletzt wie eine Welle an
ihrem Hinterkopf zu brechen. Ein grüner Sichtschutz aus Leinen
teilte ihren Körper in zwei Hälften. Sie konnte die Ärzte murmeln
hören, ihre Köpfe sehen, ihre Hände in ihren Eingeweiden fühlen.
Ted war da, links von ihr, auf einem Hocker. Und plötzlich ein
großes Ziehen und Saugen, und beinahe hätte sie laut geschrien,
was macht ihr da, aber da wusste sie es auch schon, sie
hörte den spitzen, zornigen Schrei, überraschend laut in dem
stillen Raum, und hinter ihr sagte der Anästhesist, ein
Junge. Leise wiederholte Elina das Wort bei sich, während sie
an die gekachelte Decke starrte. Junge. Ein Junge. Dann sprach sie
mit Ted. Geh mit, sagte sie. Geh mit dem Jungen. Weil
ihre Mutter und ihre Tanten manchmal die Köpfe zusammengesteckt und
getuschelt hatten, dass ein Kind der falschen Mutter übergeben
worden war, dass ein Kind im Labyrinth der Krankenhauskorridore
verschwunden war, dass ein Kind kein Namensschildchen hatte. Ted
stand auf und ging auf die andere Seite des Raums.
Dann war sie allein. Irgendwo hinter ihr der
Anästhesist. Vor ihr die Ärzte. Der Sichtschutz, der sie in zwei
Teile zerschnitt. Sie lag auf dem Tisch, die Hände, über die sie
keine Kontrolle hatte, auf der Brust gefaltet. Sie konnte sie nicht
bewegen, selbst wenn sie gewollt hätte, aber sie wollte es auch
nicht. Auf der anderen Seite des Sichtschutzes ein Geräusch wie von
einem Staubsauger, doch sie machte sich keine Gedanken darüber,
dachte nur, ein Junge, und lauschte auf die andere Seite des Raums
hinüber, wo zwei Schwestern mit dem Kind beschäftigt waren und Ted
ihnen über die Schultern sah. Aber dann passierte etwas, etwas ging
schief. Was war es? Es fiel Elina schwer, ihre Gedanken zu ordnen.
Die Ärztin, die Assistenzärztin, die Frau, sagte, oh. In
demselben Ton, den man anschlagen würde, wenn sich jemand in einer
Warteschlange brutal vordrängelt: enttäuscht, bestürzt. Gleich
darauf musste Elina explosionsartig husten.
Stimmte das so? Oder war es andersherum gewesen?
Hatte sie gehustet und die Ärztin danach erst oh
gesagt?
So oder so, als Nächstes kam auf jeden Fall das
Blut. So viel Blut. Unerklärliche Mengen. Überall. Auf den Ärzten,
dem Sichtschutz, den Schwestern. Elina sah, wie es auf den Boden
floss, sich fächerartig auf den Fliesen ausbreitete und in den
Fugen Rinnsale und Bäche bildete, wie es mit den Schuhen um den
Tisch getragen wurde, wie sich ein an der Wand hängender
Plastikbeutel mit rot durchtränkten Tüchern füllte.
Ihr Herz reagierte fast augenblicklich, es begann,
so schnell und panisch zu schlagen, als ob es darauf aufmerksam
machen wollte, dass es ein Problem gab und dass es Hilfe gebrauchen
könnte. Es hätte keine Angst haben müssen. Plötzlich wimmelte der
Raum nur so von Menschen. Die Assistenzärztin rief Hilfe herbei,
der Anästhesist stand auf, warf einen ernsten Blick über den
Sichtschutz und drehte die durchsichtige Maske um, die über Elinas
Kopf hing. Im nächsten Moment machte sich in ihren Adern bereits
die Wirkung bemerkbar. Es war ein Gefühl, als ob sie in Ohnmacht
fiele; ihr wurde schwarz vor den Augen, die Zimmerdecke glitt wie
ein Fließband über sie hinweg, und ihr kam der Gedanke, dass es
vielleicht gar nicht an dem Medikament lag, sondern an etwas
anderem. Sie durfte unter gar keinen Umständen das Bewusstsein
verlieren, sie musste dableiben, musste hier ausharren. Wenn doch
nur jemand kommen und mit ihr reden und ihr erklären würde, was los
war, warum sie die Hände anderer Menschen tief unter ihrer Haut
fühlen konnte, oben, bei den Rippen, warum jemand schrie,
schnell jetzt, schnell, und wo das Kind war und wo Ted war,
und warum die Assistenzärztin sagte, nein, ich kann nicht, ich
weiß nicht, wie, und warum der andere Arzt sie daraufhin
anraunzte, und warum Elina von irgendwem oder irgendwas auf dem
Tisch nach oben geschoben wurde, so dass sie Angst hatte, ihr Kopf
würde gleich nach hinten über den Rand fallen.
Während sich die Kante des Tischs in ihren Schädel
drückte, während die Assistenzärztin um Hilfe rief, wäre sie fast
wieder weggesackt, als ob sie in einem Zug säße, der plötzlich auf
ein anderes Gleis geschwenkt war. Am liebsten hätte sie sich
einfach fallen lassen und sich nicht länger gegen die Kraft
gestemmt, die sie nach unten zog. Aber sie wusste, dass sie das
nicht durfte. Also kniff sie die Augen zusammen und riss sie wieder
auf, trieb einen Fingernagel der einen Hand in eine Fingerkuppe der
anderen. Helfen Sie mir, sagte sie zu dem Anästhesisten,
weil er ihr am nächsten war. Bitte. Doch es kam nur ein
Flüstern dabei heraus, und er sprach sowieso mit einem neuen Mann,
der über ihr aufgetaucht war und kleine, durchsichtige Beutel
mitgebracht hatte, die mit einer unglaublich roten Flüssigkeit
gefüllt waren.
Sie wendet sich vom Spiegel ab. Unten fängt der
Lärm wieder an. Hä-nggg, hä-nggg. Elina geht die Treppe
hinunter, sie hält sich am Geländer fest, sie geht durch die Diele,
wo das Geräusch zum AhHggg, AhHggg angeschwollen ist, und
tritt aus der Haustür.
Draußen hat sie das merkwürdige Gefühl, zwei Frauen
gleichzeitig zu sein. Die eine steht auf der Schwelle und fühlt
sich federleicht, als ob sie, in Schlafanzug und Sweatshirt, gleich
abhebt und in den Himmel hinaufschwebt, um in den Wolken und
jenseits von ihnen zu verschwinden. Die andere steht ruhig dabei
und beobachtet sie, und sie denkt, so ist das also, wenn man
verrückt ist. Sie geht durch den Vorgarten, öffnet das Tor und
betritt barfuß den Bürgersteig. Sie geht, sie haut ab, sie macht
sich davon. Du haust ab, bemerkt die ruhige Elina. So, so. Die
Lunge der anderen Elina füllt sich mit Luft, und wie als Reaktion
darauf beschleunigt sich ihr Herzschlag zu einem hastigen
Flattern.
An der Kreuzung bleibt sie abrupt stehen. Die
Straße, der Bürgersteig, die Laternenmasten schlingern und
schaukeln. Sie kann keinen Schritt weitergehen. Als wäre sie mit
einer Kette an das Haus oder an etwas, das sich darin befindet,
gefesselt. Elina dreht den Kopf, erst in die eine, dann in die
andere Richtung. Ein interessantes Gefühl. Sehr sonderbar. Sie
kommt sich vor wie ein Schleppkahn am Ende seines Taus, hin und her
gerissen. Der Regen saugt sich durch ihr Sweatshirt, der
Schlafanzug klebt ihr auf der Haut.
Elina dreht sich um. Auf einmal ist sie nicht mehr
zwei Frauen, sondern nur noch eine. Diese Elina geht den
Bürgersteig zurück, durch den Vorgarten, ins Haus. Sie hinterlässt
nasse Fußabdrücke auf den Dielenbrettern.
Der Kleine kämpft in seinem Bett mit der Decke, die
Fäustchen in die Wolle geklammert, das Gesichtchen verzerrt vor
Anstrengung und Entbehrung. Als er Elina entdeckt, vergisst er
seinen Kampf mit der Decke, seinen Hunger, sein Verlangen nach
etwas, was er nicht ausdrücken kann. Seine Finger entfalten sich
wie Blütenblätter, und er starrt seine Mutter mit großen Augen
an.
»Ist ja schon gut«, sagt Elina zu ihm. Und diesmal
glaubt sie es selbst. Als sie ihn aus dem Bett hebt, bebt er vor
Überraschung, durch die Luft befördert zu werden. Sie drückt ihn an
sich. »Ist ja schon gut.«
Elina und der Kleine gehen zusammen ans Fenster.
Sie können ihre Augen nicht voneinander losreißen. Er blinzelt ein
wenig in dem hellen Licht, aber er blickt zu ihr hoch, als ob ihr
Anblick für ihn so lebenswichtig ist wie das Wasser für eine
Pflanze. Elina lehnt sich an die Glastür, die zum Garten führt. Sie
hebt den Kleinen hoch und legt seine Stirn an ihre Wange, als ob
sie ihn salbt oder begrüßt, als ob sie und er noch einmal ganz von
vorn beginnen.