So bald wie Lexie damit gerechnet hat, meldet Innes sich nicht wieder bei ihr.
Nach dem Lunch hat er sie zur U-Bahn-Station Leicester Square gebracht und auf dem Weg ununterbrochen geredet - über ein Gemälde, das er irgendwann in Rom gekauft hatte, über eine Wohnung in der Nachbarschaft, in der er einmal gewohnt hatte, über ein Buch, das er gerade rezensierte und das sie unbedingt lesen müsse. Er hörte gar nicht mehr auf, auch dann nicht, als er ihr einen hauchzarten Kuss auf die Wange gab, als sie ihm zum Abschied winkte und die Treppe zur U-Bahn hinunterging.
Sie arbeitet am Montag, sie arbeitet am Dienstag: fährt rauf und runter und wieder rauf, viele, viele Male. Am Mittwoch lässt sie sich von einem Kollegen aus der Buchhaltung zum Mittagessen einladen. Er erzählt ihr, dass er kündigen will, um bei einer Firma anzufangen, die die letzten Bombengrundstücke in der Stadt aufkauft. Sie gehen in ein Café - ein italienisches Café, und Lexie denkt an Mrs. Collins, während sie bestellt. Sie essen Schnitzel, die mit Soße zugeschüttet sind. Der Kollege kleckert sich Soße auf den Anzug, lässt sich ausführlich über die unterschiedlichen Bomben aus, die während des Krieges zum Einsatz kamen, und erklärt ihr, welche Schäden sie jeweils angerichtet haben. Lexie nickt, als ob sie sich dafür interessiert. Aber sie muss unweigerlich an die Bombengrundstücke denken, die sie in London gesehen hat - von Brennnesseln überwucherte schwarze Trichter, Reihenhauszeilen, in denen plötzlich eine Lücke klafft, fensterlose Gebäude, die blind und trostlos wirken. Und sie denkt, so etwas wäre nichts für sie, mit so etwas würde sie nichts zu tun haben wollen.
Sie arbeitet weiter. Sie befördert Menschen von den Schuhen zu den Elektroartikeln, von den Kurzwaren in die Wäscheabteilung, von den Handschuhen und Schals zum Restaurant in der obersten Etage. Am Donnerstag nimmt sie Innes’ Visitenkarte aus ihrer Handtasche und sieht sie sich an. Sie steckt sie in die Tasche ihrer Livree. Wenn sie den Fahrstuhl einmal nicht bedienen muss, tastet sie ab und zu danach. Am Abend legt sie sie wieder in ihre Tasche. Am Freitag schlägt sie eine Einladung von dem Kollegen aus der Buchhaltung aus - zu einem Spaziergang im Hyde Park.
Am Wochenende geht sie in die Tate Gallery, macht einen Spaziergang am Fluss. Sie geht mit Hannah in Hampstead ins Kino. Sie stellt zum x-ten Mal die Möbel in ihrem Zimmer um, putzt ihre Schuhe, schreibt eine Einkaufsliste. Das Wetter schlägt um, es wird schwül und drückend, und Lexie sitzt am offenen Fenster, trocknet auf der Fensterbank ihre Strümpfe, starrt in den Himmel und kann es nicht fassen, dass er dem Himmel zu Hause so ähnlich sieht.
Als Lexie am Montagabend um fünf nach sechs zusammen mit dem Buchhalter das Kaufhaus verlässt, steht ein Sportwagen davor, ein MG in Eisblau und Silber, halb auf dem Bürgersteig, halb auf der Straße geparkt.
Sein Besitzer lehnt an der Motorhaube und liest Zeitung, Zigarettenrauch schlingt sich um ihn wie ein Schal. Er trägt seltsame spitze Stiefel und ein türkisfarbenes Hemd.
Lexie bleibt stehen. Der junge Kollege, der sie untergefasst hat, bekniet sie, ihn in einen Pub am Marble Arch zu begleiten. Innes hebt den Kopf. Sein Blick wandert über sie hinweg zu dem Buchhalter. Sein Gesichtsausdruck ändert sich minimal. Er lässt die Zigarette fallen und faltet, während er über den Bürgersteig kommt, die Zeitung zusammen.
»Schatz.« Innes legt Lexie den Arm um die Taille und küsst sie voll auf den Mund. »Ich bin mit dem Auto da. Wollen wir?« Er hält ihr die Beifahrertür des MG auf, und Lexie, verwirrt von dem Kuss, dem Tempo der Ereignisse und seinem unglaublichen Hemd, steigt ein. »Wiedersehen.« Innes winkt dem jungen Mann und klemmt sich hinter das Lenkrad. »War nett, Sie kennengelernt zu haben.«
Lexie ist fest entschlossen, nicht als Erste etwas zu sagen. Was untersteht sich dieser Mensch, sie einfach so in seinen Wagen zu verf rachten? Was fällt ihm ein, sich eine ganze Woche nicht blicken zu lassen und sie dann auf den Mund zu küssen?
»Wer war der Troll?«, murmelt Innes, als sie mit quietschenden Reifen losfahren.
»Der Troll?«
Innes deutet mit dem Kopf zum Bürgersteig. »Ihr Freund in Flanell.«
»Er … Ich …« Sie weiß nicht, was sie sagen will. »Er ist kein Troll«, entgegnet sie schließlich hochnäsig. »Er ist ein sehr interessanter Mann. Er hat vor, so viele Bombengrundstücke wie möglich aufzukaufen und …«
»Aha, ein Geschäftsmann.« Innes lacht, laut und ausgiebig. »Das hätte ich mir denken können. Der klassische Fehler einer Frau in Ihrer Lage.«
»Was soll das heißen?«, schreit Lexie wutentbrannt. »Was für ein Fehler? Und was meinen Sie mit meiner Lage?«
»Ein junges Ding, noch neu in der großen Stadt. Geblendet von den Hahnenkämpfen der Geschäftswelt.« Kopfschüttelnd biegt er in die Charing Cross Road ein. »Es ist doch jedes Mal dasselbe. Wissen Sie«, sagt er, beugt sich zu ihr hinüber und greift nach ihrer Hand, »eigentlich wäre es mein gutes Recht, beleidigt zu sein.«
»Wieso?«
»Kaum dreht man Ihnen einmal für fünf Minuten den Rücken zu, schon lassen Sie sich mit Immobilienspekulanten ein. Denken Sie denn gar nicht mehr an …«
»Fünf Minuten?« Sie reißt ihm die Hand weg. Jetzt hat sie ihn schon wieder angeschrien. Anscheinend kann sie keinen normalen Ton mehr anschlagen. »Über eine Woche! Und was heißt hier überhaupt Ihr gutes Recht? Wie kommen Sie …«
Innes rubbelt sich schmunzelnd das Kinn. »Dann haben Sie mich also doch vermisst, ja?«
»Ganz und gar nicht. Nicht im Geringsten. Und wenn Sie sich einbilden …« Sie bricht ab. Sie sind in eine enge Straße eingebogen. Die Fenster sind dunkel, die Schilder über den Eingängen nur schwach beleuchtet. »Wo wollen Sie mit mir hin?«
»In einen Jazzclub, dachte ich. Aber erst später. Ich muss vorher noch auf einen Sprung in die Redaktion.« Zum ersten Mal sieht er leicht verunsichert aus. »Ich hoffe, das stört Sie nicht. Am Auslieferungstag kann ich meine Leute nicht im Stich lassen. Wollen Sie vielleicht etwas lesen, bis ich fertig bin? Es dürfte nicht allzu lange dauern. Bei uns liegen jede Menge Bücher herum, aber vielleicht haben Sie ja auch selbst eines dabei. Ich weiß, es ist kein besonders verlockendes Angebot, aber ich musste Sie unbedingt abfangen.«
Lexie zwirbelt an einem ihrer Handschuhfinger. Sie sieht aus dem Fenster, auf die nassen Straßen von Soho, auf einen Radfahrer, dessen Korb turmhoch mit Zeitungen beladen ist. Sie will nicht zugeben, wie gern sie einen Blick in das Innere der Redaktion werfen würde, von deren hektischem Treiben sie in der vergangenen Woche nur einen kurzen Eindruck erhascht hat. »Mir soll’s recht sein«, sagt sie lässig.
In der elsewhere-Redaktion ist es ruhig. So ruhig, dass Lexie im ersten Augenblick denkt, sie wären allein. Doch dann marschiert Innes durch den engen Gang zwischen den Schreibtischen und fragt: »Kommt ihr voran?« Und als Lexie einen Schritt weitergeht, sieht sie drei Menschen - einen Mann und zwei Frauen -, die inmitten von Zeitschriftenstapeln und Kuverts auf dem Fußboden hocken. Innes kniet sich zu ihnen, greift sich ein Magazin, stopft es in einen Umschlag und wirft es auf einen Haufen.
»Um Himmels willen, Innes!«, ruft eine der Frauen und rauft sich - für Lexies Geschmack eine Spur zu melodramatisch - die Haare.
»Hierher.« Der Mann tippt auf einen anderen Haufen. »Die Fertigen kommen hierher. Daphne führt die Liste. Sie hat die beste Handschrift. Wir haben es verglichen, ihre war mit Abstand die lesbarste.«
Innes, der schon das nächste Heft verpackt hat, wirft es der anderen Frau zu, die Lexie den Rücken zudreht.
»Kann ich helfen?«, fragt Lexie.
Alles dreht sich nach ihr um. Daphne, die Frau mit der Liste, nimmt den Stift aus dem Mund.
»Leute, das ist Lexie«, sagt Innes und deutet auf sie. »Lexie, das sind meine Leute.«
Lexie hebt die Hand zum Gruß. »Hallo, Leute.«
Es entsteht eine kurze Pause. Der Mann räuspert sich; die Frau wirft Daphne einen raschen Blick zu. Lexie zieht die Jacke ihrer Livree gerade und streicht sich die Haare aus dem Gesicht.
»Kommen Sie, setzen Sie sich her.« Innes klopft auf den Platz neben sich. »Sie können mir beim Eintüten helfen, doch nur, wenn Sie wollen. Lexie ist nämlich die Sklavin einer Kaufhausmaschinerie«, erläutert er den anderen. »Wir können zwar jede Hilfe gebrauchen, aber wir wollen sie natürlich nicht knechten.«
Lexie und Innes kuvertieren die Zeitschriften, Daphne adressiert sie anhand ihrer Liste. Der Mann, der Laurence heißt, f rankiert sie. Die andere Frau, Amelia, versorgt sie mit Nachschub an Heften und Umschlägen, kocht Tee für alle, holt das Tintenfass, als Daphnes Füller leer ist. Innes erzählt eine Anekdote über einen Galeristen, mit dem er am Vortag zum Lunch verabredet war, und dass sich der Mann seit ihrer letzten Begegnung die Haare gefärbt hat. Laurence erkundigt sich bei Lexie über ihre Arbeit und ihre Unterkunft. Innes beschreibt ihnen, wie Lexie wohnt, und sagt, die Pension sei wie aus einem Roman von Colette entsprungen. Laurence und Amelia kabbeln sich wegen einer Ausstellung in Paris. Daphne wirft ein, sie hätten beide keine Ahnung. Da es einer der wenigen Sätze ist, die sie überhaupt von sich gibt, nutzt Lexie die Gelegenheit, sie verstohlen zu mustern: eine zierliche Frau mit akkurat geschnittenem, dunklem Haar, die ein langes, locker geschnittenes Dirndl trägt. Sie dreht den Kopf und bemerkt, dass Lexie sie beobachtet.
Als alle Umschläge adressiert und alle Briefmarken aufgeklebt sind, steckt Laurence die ganze Lieferung in einen großen Postsack. Dann streift er sich seine Fahrradklammern über, winkt noch einmal in die Runde und bricht auf. Amelia wird von ihrem Freund abgeholt. Lexie und Innes sehen schweigend zu, wie Daphne umständlich ihre Sachen zusammensucht, sich den Mantel anzieht, sich mit dem Kamm durch die Haare fährt. Lexie starrt auf das verdreckte blaue Blumenmuster des Teppichs. Kurz vor dem Hinausgehen dreht sich Daphne in der Tür noch einmal um.
»Ach, übrigens, Innes«, sagt sie mit einem dünnen Lächeln. »Deine Frau hat heute angerufen.«
Innes lässt sich keine Gefühlsregung anmerken. Er blättert in einem Ordner. »Danke, Daphne«, sagt er, ohne aufzublicken.
Daphne geht einen Schritt weiter ins Licht. »Ich wollte es dir eigentlich schon früher sagen.« Sie reckt das Kinn vor. »Aber dann hab’ ich es vergessen. Sie möchte, dass du sie zurückrufst.«
»So, so.« Er blättert weiter. »Also dann, gute Nacht. Und wie immer: danke für deine tatkräftige Hilfe.«
Mit wehendem Mantel geht sie endgültig hinaus. Innes stellt den Ordner wieder ins Regal. Er streicht mit dem Finger über den Kaminsims, setzt sich hin, steht wieder auf. Lexie sitzt auf ihrem Stuhl, die Beine übereinandergeschlagen, die Hände im Schoß, und rührt sich nicht. Sie starrt auf die blauen Blumen, die sich wie von selbst bewegen, bebende Blütenblätter und Staubgefäße auf grauem Grund.
Sie merkt, dass Innes sich ihr gegenübersetzt, einen Schreibtisch als Barriere zwischen ihnen.
»Also«, sagt er leise, »dann wollen wir mal die Karten offen auf den Tisch legen.« Er nimmt einen Stapel Visitenkarten vom Tisch und fängt an, sie zu mischen, als ob er Lexie zu einem Spiel einladen will. Er ist ein Könner, der die Karten surrend zwischen den Händen hin und her sausen lässt.
Er legt eine Karte verdeckt auf die Tischplatte. »Punkt eins«, beginnt er. »Ich habe eine Frau. Ich hätte es Ihnen selbst gesagt, aber Daphne, die kleine Hexe, ist mir zuvorgekommen. « Er hält einen Augenblick inne, dann fährt er mit beherrschter Stimme fort: »Ich habe Gloria geheiratet, als ich noch sehr jung war, so jung wie Sie jetzt. Es war während des Krieges, und es erschien mir damals als eine gute Idee. Gloria ist … Wie soll ich es ausdrücken, ohne ungalant zu klingen? Sie ist der schlimmste Alptraum, den man sich vorstellen kann. Bis dahin irgendwelche Fragen?«
Lexie schüttelt den Kopf. Innes teilt die nächste Karte aus.
»Punkt zwei«, sagt er. »Sie müssen wissen, dass es eine Tochter gibt. Sie trägt meinen Namen, mehr auch nicht.« Die dritte Karte landet auf dem Tisch. »Ich habe so gut wie kein Geld, und ich schlafe fast nie.« Eine vierte Karte gesellt sich zu den anderen. »Man sagt mir nach, dass ich zu viel arbeite.« Er legt die fünfte Karte ab, dicht neben Lexies Hand. »Ich bin vollkommen vernarrt in Sie, und zwar seit dem allerersten Augenblick. Was Ihnen möglicherweise nicht entgangen ist. Ich glaube, das Wort dafür ist liebestoll. Beziehungsweise Lexie-toll.«
Sie sieht ihn an. Er zerwühlt sich die Haare, sein Hemdkragen hängt schief. »Ach ja?«, sagt sie.
Er seufzt. »Ja.« Er legt eine Hand auf sein Herz. »Voll und ganz. Ja.«
»Kann ich Sie etwas fragen?«
»Alles.«
»Haben Sie mit Daphne geschlafen?«
»Ja«, antwortet er, wie aus der Pistole geschossen. »Sonst noch etwas?«
»Waren Sie verliebt in sie?«
»Nein. Und sie auch nicht in mich.«
Lexie runzelt die Stirn. »Ich glaube fast, da täuschen Sie sich.«
»Nein.« Er schüttelt den Kopf. »Daphne ist schon seit Jahren in Laurence verliebt. Aber Laurence ist anders gepolt. Er macht sich nichts aus Frauen.«
Lexie sagt: »Und Amelia?«
Eine kleine, verräterische Pause. »Wieso Amelia?«
»Haben Sie mit ihr geschlafen?«
Sein Gesicht verdüstert sich, dann nickt er. »Vor einer Ewigkeit.« Etwas aufgekratzter fügt er an: »Aber nur ein einziges Mal.«
Lexie sammelt die Karten auf. Sie dreht sie um, sieht Innes’ Namen und denkt an eine dichte grüne Hecke, hunderte von Kilometern entfernt. Sie legt die Visitenkarten erst der Länge und dann der Breite nach aneinander. Innes zündet sich eine Zigarette an. Seine Hände zittern leicht. Sie blickt noch einmal auf die Karten.
Sie legt eine auf den Tisch und die nächste schief darüber. Und auf einmal empfindet sie große Erleichterung darüber, dass sie im letzten Jahr mit einem Kommilitonen geschlafen hat. Jungfrau zu sein, war ihr immer als ein lästiger, wenig beneidenswerter Zustand erschienen, der schleunigst beendet gehörte. Sie hat den Jungen danach ausgesucht, dass er reinlich und witzig war und ein Auge auf sie geworfen hatte. Sie legt eine weitere Karte auf die letzte und noch eine und noch eine, ausgebreitet wie einen Fächer. Im Grunde haben sie beide nur ihre Neugierde befriedigen wollen. Es war ein kurzer Akt, ein Wühlen in und Zerren an Kleidern im hohen Gras einer feuchten Wiese. Sie erinnert sich, wie sie beide an der jeweils fremden Unterwäsche herumnestelten und wie sich ihre Haare in seinem Hemdknopf verfingen, an das letzten Endes gar nicht einmal so unangenehme Schaukeln und Schieben. Aber ihr Gefühl sagt ihr, dass es mit Innes völlig anders sein wird. Sie schiebt den Fächer zusammen, so dass alle Karten akkurat unter der obersten liegen.
»Passen Sie mal auf«, sagt er. Von seiner Zigarette fällt Asche auf den Schreibtisch. »Das war bis jetzt kein besonders erfreulicher Abend für Sie. Was müssen Sie nur von mir denken? Erst entführe ich Sie, dann lasse ich Sie in meiner Redaktion schuften wie einen Kuli, und zuletzt behellige ich Sie auch noch mit meiner schäbigen Vergangenheit. So etwas gehört sich einfach nicht. Und Sie müssen doch halb verhungert sein. Ich kenne da einen Club, wo es bestimmt auch einen Happen zu essen gibt. Oder wir holen uns unterwegs etwas. Was meinen Sie?«
»Ich meine …« Sie betrachtet ihn nachdenklich. Er sieht mit einem Mal erbärmlich aus, die Haare zerwühlt, die Zigarette zum Stummel heruntergebrannt, den Blick nervös auf sie geheftet.
»Um Gottes willen«, platzt es aus ihm heraus. »Sie wollen mir doch jetzt nicht weglaufen, oder? Habe ich etwa alles verdorben? Damit, dass ich Ihnen mit meinen Geschichten in den Ohren liege?« Er macht eine hilflose Geste. »Wahrscheinlich halten Sie mich für einen verkommenen, unmoralischen Idioten. Dabei sind Sie eigentlich noch ein Kind, ein unschuldiges Ding, eine …«
Das kann sie nicht auf sich sitzen lassen. »Ich bin nichts dergleichen«, faucht sie. »Ich bin einundzwanzig Jahre alt, und ich bin kein unschuldiges Ding, ich habe …«
»Sie ist einundzwanzig.« Er richtet flehend den Blick zur Decke. »Ist das alt genug? Ist das überhaupt erlaubt?« Er beugt sich so weit über den Schreibtisch, dass sie ihn riechen kann - Haaröl, ein Hauch Seife, frischer Zigarettenqualm. Sie sieht, wie stoppelig sein Kinn ist, wie sich seine Pupillen fast unmerklich weiten und verengen. »Ich bin vierunddreißig«, murmelt er. »Ist das zu alt für Sie? Habe ich noch eine Chance?«
Ihr Herz schlägt so heftig, dass es wehtut. Es ist, als ob sie seine Lippen wieder auf den ihren spürt, und sie will, dass er sie noch einmal küsst, aber heftiger diesmal und länger. »Ja«, bringt sie hervor.
Er strahlt. »Gut.« Er nimmt ihre Hand. »Gut«, sagt er noch einmal.
»Ich finde …« Sie ringt nach Luft, ihre Kehle ist wie zugeschnürt. »Wir sollten den Jazzclub ausfallen lassen. Gehen wir lieber ins Bett.«
Innes verlor keine Zeit. Souverän führte er sie ins Hinterzimmer, räumte das Sofa von Papier, Kaffeetassen und Stiften frei und ließ sie Platz nehmen. Er küsste sie, sanft, aber fest. Lexie rechnete damit, dass der Akt ohne viel Federlesen über die Bühne gehen würde. So war es bei dem Jungen auf der Wiese gewesen - kaum hatte sie den Vorschlag gemacht, riss er sich auch schon die Schuhe von den Füßen. Aber Innes schien es überhaupt nicht eilig zu haben. Er strich ihr über das Haar, er liebkoste ihren Hals, ihre Arme, ihre Schultern, er überflutete sie mit dem üblichen Redestrom über alles und nichts. Und während er redete, entledigte er sie Stück um Stück ihrer Fahrstuhlführerlivree: der Jacke mit den Messingknöpfen und dem aufgestickten Kaufhausnamen in Gold, des roten Halstuchs, der Bluse, die am Hals kratzte. Sehr bedächtig, sehr aufmerksam. Sie unterhielten sich noch ein wenig: über die Zeitschrift, darüber, wo sie ihre Schuhe gekauft hatte, wie sie an dem Tag zur Arbeit gekommen war - es hatte irgendwelche Probleme mit der U-Bahn gegeben -, über eine undichte Leitung in seiner Wohnung, über eine Buchhandlung, bei der er anfragen wollte, ob man nicht elsewhere ins Sortiment aufnehmen könnte. Es war, als gäbe es nichts Natürlicheres auf der Welt. Und es kam ihr seltsamerweise überhaupt nicht seltsam vor, dass sie dabei nichts anhatte, dass er fast nackt war, dass er - o Gott - völlig nackt war, dass er da war, neben ihr, um sie und in ihr. Er barg ihren Kopf in seinen Händen. Er sagte: »Mein Schatz«; er sagte: »Mein Liebling.«
Und hinterher redete er weiter, ihm fiel immer etwas ein. Er erzählte ihr von dem Pekinesen seiner Mutter, der während des Abendessens auf dem Tisch herumlaufen durfte. Und während Lexie zuhörte, ging sie, weil es in dem Hinterzimmer zog, eine Decke holen, und breitete sie über ihn und sich. Er legte wieder die Arme um sie, fragte sie, ob sie auch bequem liege, und erzählte weiter, dass einmal ein Russe bei ihnen zu Besuch gewesen sei, der mit einer Spielzeugpistole auf den Pekinesen habe schießen wollen. Er zündete zwei Zigaretten an, und erst als sie ihm eine davon aus dem Mund nahm und sich selbst zwischen die Lippen steckte, wurde ihr die Tragweite dessen, was soeben geschehen war, wirklich bewusst. Tränen stiegen ihr in die Augen. Was machte sie hier, nackt mit einem Mann auf einer Couch? Einem Mann, der Frau und Kind hatte? Sie musste ein paarmal heftig schlucken.
Anscheinend bemerkte er, wie ihr zumute war, denn er umschlang sie fester, zog sie noch näher an sich heran. »Weißt du was?«, sagte er und drückte ihr einen Kuss aufs Haar. »Ich finde …« Er brach ab und verlagerte sein Gewicht. »Dieses Sofa ist mörderisch unbequem. Nächstes Mal lieben wir uns im Bett, und zwar bei mir zu Hause. Deine Wirtin würde derartige Ausschweifungen wohl kaum erlauben.« Er küsste sie auf die Schläfe. »Ich finde, du solltest für mich arbeiten.«
Sie richtete sich so ruckartig auf, dass sie ihre Asche über ihn und sich und die Decke verteilte. »Wie bitte?«
Innes lächelte und zog nachdenklich an seiner Zigarette. »Du hast mich schon richtig verstanden.« Er schlug die Decke von ihren Schultern zurück und seufzte glücklich auf. »Ich war schon sehr gespannt, wie deine Brüste nackt aussehen, und ich muss sagen, sie sind alles andere als eine Enttäuschung.«
»Innes …«
»Nicht zu klein, nicht zu groß, ein bisschen vorwitzig - wusstest du das? So in etwa hatte ich sie mir vorgestellt. Ich war schon immer ein großer Freund von kecken Brüsten mit einem leichten Drang nach oben. Hängetitten waren noch nie mein Fall.«
Sie tippte ihn leicht auf den Arm. »Hör mal …«
Er hielt ihre Hand fest. »Fang hier bei mir an«, sagte er. »Warum nicht? Irgendwelche Geldsäcke auf und ab zu kutschieren, ist eine Verschwendung deiner Talente. Das sieht doch ein Blinder. Außerdem gefällt es mir ganz und gar nicht, wie dich dein Kollege mit lüsternen Blicken verschlingt.« Er machte ein Gesicht wie eine Bulldogge. »Du bist ein kluges Kind. Die Arbeit wäre auch nicht zu schwierig, zumindest am Anfang nicht. Du wärst mehr oder weniger unser Mädchen für alles. Müsstest tippen und Botengänge erledigen. Dabei fällt mir ein, wie sieht es denn jetzt eigentlich mit deinen Schreibmaschinenkenntnissen aus?«
»Besser«, sagte sie. »Ich übe brav und bin schon im vierten Kapitel meines Handbuchs. Ich kann sogar Tabulatoren für Wäschelisten setzen.«
»Perfekt. Das wird dir bei elsewhere natürlich sehr zustattenkommen.«
Sie sah ihm tief in die Augen, und er hielt ihrem Blick stand. »Sag nicht nein«, murmelte er. »Ich kann es nicht vertragen, wenn man mir einen Korb gibt, das müsstest du inzwischen wissen. Und mit einem Nein lasse ich mich nie abspeisen. Ich werde dir damit so lange in den Ohren liegen, bis du dich geschlagen gibst. Lass uns morgen früh in deinem Konsumtempel anrufen und ihnen die Kündigung präsentieren.«
»Hmm.« Sie setzte sich wieder aufrecht hin. »Vielleicht.« Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, warf sie nach hinten. »Kommt ganz darauf an.«
»Worauf?«
»Was für ein Gehalt du mir zahlen willst.«
Innes Gesicht verdüsterte sich. »Du geldgieriges kleines Biest. Ich biete dir die Chance deines Lebens, die Gelegenheit, dich - sozusagen - am eigenen Schopf aus dem langweiligsten aller sterbenslangweiligen Jobs herauszuziehen, und du …«
»Ich bin überhaupt nicht geldgierig. Bloß praktisch. Ich kann nicht von Luft leben. Ich muss meine Miete bezahlen, ich muss essen, ich brauche eine Monatskarte, ich muss …«
»Schon gut, schon gut«, sagte er gereizt. »Erspar mir die Inventur.« Er zog stirnrunzelnd an seiner Zigarette. »So, so. Sie will also Geld.« Er überlegte. »Geld ist natürlich keines da, gar keines. Ich könnte allerdings eines von meinen Bildern verkaufen. Dann wärst du eine Zeitlang mit Nylonstrümpfen versorgt und …«
»Ich trage keine Nylonstrümpfe«, warf sie ein.
»Nein? Gut. Ich kann die Dinger sowieso nicht ausstehen.« Er sah an die Decke. »Also gut. Ich verkaufe ein Bild. Davon können wir dich bezahlen, bis mir eine bessere Lösung einfällt. Und natürlich musst du zu mir ziehen.«
»Wie bitte?«
»Dann kannst du dir die Miete sparen. Kost und Logis bekommst du gratis.«
»Innes, ich kann unmöglich …«
»Wir müssen alle Opfer bringen.« Er grinste, eine Hand hinter dem Kopf. »Wenn ich schon meine Hepworth-Lithographie von der zweigeteilten Kugel verkaufe, kannst du wenigstens bei mir einziehen.«
»Aber … Aber …« Sie geriet ins Stocken. Innes nutzte die Gelegenheit, um liebevoll an ihrer rechten Brust herumzuspielen. »Lass das«, sagte sie. »Wir versuchen hier, ein ernsthaftes Gespräch zu führen.« Sie schob seine Hand weg. »Aber was ist mit deiner Frau?«, fragte sie schließlich.
Die Hand kam zurück. »Wieso? Ich brauche doch nicht ihre Erlaubnis, wenn ich jemanden einstellen will«, murmelte er, und schmiegte sich schmusend von unten an ihre Brust.
»Nein, aber weil ich doch bei dir einziehen soll.«
»Ach so.« Er ließ sich wieder aufs Sofa fallen. Einen Augenblick lang verfolgte er die sich kräuselnde Rauchfahne, die er ausgestoßen hatte, dann drückte er seine Zigarette in einer Untertasse aus. »Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Wir leben nicht zusammen - schon ewig nicht mehr. Das geht sie nichts an.«
Schweigend flocht sie die Fransen der Decke zusammen.
»Das geht sie nichts an«, wiederholte er.
Lexie nestelte weiter an den Fransen. »Kommt das oft vor, dass du junge Frauen einlädst, zu dir zu ziehen?«, fragte sie, ohne ihn anzusehen. Die anderen Frauen waren ihr egal, aber sie wollte lieber vorher wissen, wie sie sich in sein Leben hineinfügte.
»Nie«, versicherte er ihr. »Das habe ich noch nie jemanden gefragt. Ich hatte noch nie eine Frau in meiner Wohnung, noch nicht einmal für eine Nacht. Ich hab nicht gern« - er fuhr mit der Hand durch die Luft - »irgendwelche Leute um mich.« Der letzte Satz stand ein paar Sekunden lang unkommentiert im Raum, dann sprang Innes ohne Vorwarnung vom Sofa auf. »Gehen wir«, sagte er und fing an, sich anzuziehen.
»Wohin?«, fragte sie verwirrt. Sie musste sich erst noch an seine abrupten Kurswechsel gewöhnen.
»Deine Sachen holen.« Er gab ihr die Hand und zog sie hoch.
»Was für Sachen?«
»Aus deinem Zimmer.« Obwohl sie noch splitternackt war, reichte er ihr ihre Jacke. »Du hast lange genug in diesem Tempel der Jungfräulichkeit gelebt. Von jetzt an wohnst du bei mir.«
011
Innes’ Wohnung ist keine Wohnung mehr. Heute, fünfzig Jahre später, ist sie auf den ersten Blick kaum wiederzuerkennen. Aber die Türrahmen sind noch dieselben, genau wie die Fensterverriegelungen, die Lichtschalter und die Stuckleisten an der Decke. Unter der abscheulichen violetten Wandfarbe kann man mit ein bisschen gutem Willen noch die Struktur der Tapete ausmachen. Das Brett auf dem Treppenabsatz, über das früher jeder gestolpert ist, ist immer noch locker, aber jetzt liegt ein beigefarbener Teppichboden darüber, und keiner der Bewohner ahnt, dass in dem Hohlraum darunter noch immer ein Ersatzschlüssel für die elsewhere-Redaktion versteckt ist. Der frühviktorianische Eisenkamin mit dem Muster aus Ranken und Blättern hat die verschiedenen Renovierungen und Reinkarnationen des Zimmers heil überstanden. Auf der linken Seite hat er eine Brandstelle, wo Lexie im Sommer 1959 ein Missgeschick mit einer Kerze passiert ist, als sie keine Münzen für den Gaszähler mehr im Haus hatten. Der Fleck neben der Tür, unter dem Teppich, ist im selben Jahr während einer Party entstanden. Beide, Innes und Lexie, sind in diesen Räumen noch sehr gegenwärtig. Es ist, als könnte man die Zeit zurückdrehen und, wenn man sich genau im richtigen Moment umwendet, einen Blick auf Innes erhaschen. Wie er mit einem Buch auf dem Schoß in einem Sessel sitzt, die Beine übereinandergeschlagen, von Zigarettenrauch umwabert. Oder wie er am Fenster steht und auf die Straße hinuntersieht. Wie er am Schreibtisch sitzt und fluchend ein neues Farbband in die Maschine einlegt.
Aber er ist nicht mehr. Genau wie Lexie. Momentan bewohnt eine junge Frau aus Tschechien diese Zimmer. Sie hört blecherne Electronica-Musik auf ihrer Anlage und schreibt mit blauem Kugelschreiber Briefe auf kariertes Papier. Sie arbeitet als Aupair bei der Familie, der das Haus inzwischen gehört. Nach der Rückumwandlung ist die Wohnung heute das ausgebaute Dachgeschoss einer Stadtvilla. Innes hätte seine Freude an dieser Entwicklung. Er war immer überzeugt, dass es sich um ein ehemaliges Dienstbotenquartier handelte.
Bei allen Veränderungen ist die Wohnung dieselbe geblieben. Sie hat Heizkörper, einen Teppichboden und Jalousien bekommen. Die tapezierten Wände sind überstrichen. Die winzige Küche mit dem Gasherd, dem launischen Wasserboiler und der Zinkbadewanne gibt es nicht mehr. Man hat die Wand herausgebrochen, um den Treppenabsatz zu vergrößern. Aus dem Zimmerchen, das nach hinten hinausgeht, in dem sie gegessen haben und Innes gearbeitet hat, ist ein Badezimmer mit einer riesigen Eckwanne geworden. Ihre Eingangstür mit dem rostigen Schloss, die sie von den übrigen Wohnungen trennte, ist verschwunden, und die Kinder der Familie laufen ungehindert treppauf und treppab. Manchmal sitzt das Aupair an der Stelle, wo Innes’ Fußmatte lag, und telefoniert unter Tränen mit ihrem Freund in Tschechien.
012
Lexie zog nicht gleich am selben Abend bei Innes ein. Innes meinte zwar, seinen Kopf wie immer durchsetzen zu müssen, doch Lexie stellte sich bockig. Was Sturheit anging, passten die beiden bestens zueinander. Er fuhr Lexie zurück in die Pension. Unterwegs hatten sie einen heftigen Streit, weil sie sich weigerte, ihre Sachen zu packen. Sie stritten sich bis zur Treppe, bis Lexie wütend durch die Haustür stürmte. Am nächsten Tag wartete er mit seinem MG wieder vor dem Kaufhaus. Nach einer weiteren Partie auf dem elsewhere-Sofa schafften sie es diesmal sogar noch, anschließend essen zu gehen. Lexie kündigte und fing bei elsewhere an. Ihr Zimmer behielt sie.
In der Redaktion war sie in der ersten Zeit nur für den Telefondienst zuständig und für Botengänge: zur Druckerei, zu Buchhandlungen, Galerien und Theatern. Unterwegs wälzte sie in ihrem Kopf die vielen neuen Dinge, die sie aufschnappte, die die anderen zueinander sagten, die sie erst noch lernen musste.
»Der beschissenste Anreißer aller Zeiten.« - Daphne empört zu Laurence.
»Wo sind die Fahnen?« - Innes, vom Schreibtisch aufstehend.
»Die Dachzeile fehlt.« - Laurence, während er auf den sogenannten »Umbruch« zeigte.
Hurenkind, Schusterjunge, Fliegenkopf, Zwiebelfisch: All diese Wörter hatten bei elsewhere eine ganz eigene, schwer fassbare Bedeutung, die sie sich erst erschließen musste. Sie baute ihren Wortschatz beständig aus, und nachdem sie die anderen einige Wochen lang mehr schlecht als recht - und ungern - mit Tee bekocht hatte, durfte sie die handgeschriebenen Artikel in die Maschine schreiben. Leider war Tippen nie ihre große Stärke. Innes platzte häufiger der Kragen. »Was ist Drukturalismus, Lex?«, brüllte er ihr quer durch die Redaktion zu. »Schon mal einer was von Drukturalismus gehört? Oder ›Bahrnehmung‹? Was zum Teufel soll denn ein ›Bahrnehmungshorizont‹ sein?«
Laurence entwickelte sich zum Experten für die Entschlüsselung ihrer Fehler. »Wahrnehmung, Innes«, antwortete er, ohne von seiner Arbeit hochzusehen. »Sie meint ›Wahrnehmungshorizont‹.« Zum Dank dafür brachte sie ihm unaufgefordert und gern eine Tasse Tee.
Und die ganze Zeit kochte Innes vor Wut, weil Lexie immer noch nicht bei ihm eingezogen war. Doch sie wollte sich auf gar keinen Fall von ihm unterbuttern lassen. Er sei ihr Boss, ob ihm das nicht genüge? Warum müsse er unbedingt auch noch ihr Vermieter werden? Liebhaber ja, antwortete er, aber Vermieter? Niemals. Innes und Lexie waren wie Flipperkugeln, die dauernd aufs Heftigste miteinander kollidierten. Über die Frage, wo und warum sie wo wohnte, konnten sie immer streiten - auf dem Sofa in der Bayton Street oder in einem Jazzclub, in einem Restaurant, in Innes’ Wohnung oder auf einer Vernissage, in einer Kaschemme mit dem Namen Jimmy’s in der Frith Street oder während einer Dichterlesung in einem rauchverhangenen Kellergewölbe, wo die bärtigen, Bierglas schwenkenden Poeten von mageren, mittelgescheitelten Mädchen in schwarzen Rollkragenpullovern umschwärmt wurden. Auf dem Bürgersteig vor dem Coach and Horses erspähten sie eines Abends Lexies ehemaligen Kollegen, Arm in Arm mit einem Mädchen aus der Parfümerieabteilung. Das könntest du sein, stellte Innes fest und legte ihr unter dem mit Feuchtigkeitsringen bedeckten Kneipentisch die Hand aufs Bein. Lexie beugte sich vor und stibitzte ihm die Zigarette aus dem Mund.
Wie ein Reisender, der auf einem anderen Kontinent eintrifft, musste sie ihre Zeit umstellen. Sie schlief länger, weil sie erst am späten Vormittag oder hin und wieder auch erst mittags in der Redaktion sein musste. Mrs. Collins war jedes Mal entsetzt, wenn sie Lexie um zehn oder elf Uhr ins Bad gehen sah. »Ich wusste es!«, keifte sie eines Morgens. »Ich wusste, dass Sie auf Abwege geraten würden!« Lexie machte die Tür hinter sich zu, drehte das Wasser voll auf und schmunzelte in sich hinein. Sie arbeiteten bis zum Abend, und dann machten sie Soho unsicher - manchmal alle zusammen, manchmal in einem Dreier- oder Vierergrüppchen. Laurence ging am liebsten in den Mandrake Club, ein Musiklokal, wo sie meistens einen freien Tisch fanden. Aber Daphne beschwerte sich, mit ihm sei im Mandrake »überhaupt nichts anzufangen«, weil er sich so sehr von der Musik fesseln ließe, dass man sich nicht mehr mit ihm unterhalten könne. Sie wollte die anderen immer in den French Pub schleppen, einen stickigen, stinkenden Schuppen. Sie fühlte sich wohl unter den Horden von Huren und Matrosen und fand es schick, dass der Wirt sie mit Handkuss begrüßte und dass es auf der Theke eine Vorrichtung gab, mit der man Wasser durch einen Zuckerwürfel in ein Glas Absinth träufeln konnte. Innes votierte meistens für den Colony Room. Er war im Grunde kein großer Trinker, doch er argumentierte damit, dass die grünen und goldenen Wände des Lokals ihn zu neuen Ideen inspirierten. Laurence dagegen hatte zu oft die scharfe Zunge der Wirtin zu spüren bekommen, die bei Daphne nur »die böse Belcher-Schlange« hieß. Man konnte die elsewhere-Redaktion mit schöner Regelmäßigkeit an irgendeiner Straßenecke antreffen, wo sie darüber stritten, wer mit wem wohin wollte.
Da diese Nächte oft erst um zwei, drei Uhr morgens endeten, verstieß Lexie mehr als einmal gegen Mrs. Collins’ Ausgangssperre. Nachdem sie einmal eine ganze Woche lang nicht in ihrem Zimmer übernachtet hatte, holte Lexie ihre Sachen, während Innes mit laufendem Motor in seinem MG auf sie wartete, Zigarette im Mund, Sonnenbrille auf der Nase. Mrs. Collins war sprachlos vor Empörung und würdigte sie keines Blickes. Als Lexie die Haustür hinter sich zuzog, schrie sie »Liederliches Weibsbild!« hinter ihr her, worauf Innes in brüllendes Gelächter ausbrach. Er nannte sie noch Jahre später so.
Innes’ Wohnung war eine Offenbarung für Lexie. Sie hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Es gab keine Gardinen vor den Fenstern, die Fußböden bestanden aus nackten Dielen, die Wände waren weiß getüncht, und die wenigen Möbel waren aus einem glatten, hellen Holz, zum Sitz, zum Regal, zum Sideboard gebogen. Skandinavisch, warf Innes ihr zu, als sie mit den Fingern über eine glatte Oberfläche fuhr, wie jemand, der einen Hund streichelt. Er besaß ein Bücherbord, das unterhalb der Decke einmal um die ganze Wohnung herumlief. »Damit sie mir verdammt noch mal keiner klaut«, antwortete er, als sie wissen wollte, warum. An den Wänden hing Kunst: ein John Minton, sagte er, ein Nicholson, ein de Kooning, ein Klein, mehrere Bacons, ein Lucian Freud, ein Pollock. Dann nahm er ihre Hand. Genug von denen, sagte er, komm, ich zeig dir das Schlafzimmer. Da geht’s rein.
In einer Boutique in Chelsea kaufte Innes ihr einen scharlachroten Mantel mit riesengroßen Stoffknöpfen, ein Kleid aus grünem Wollkrepe mit gerüschten Manschetten, ein Paar pfauenblaue Strümpfe - »Als alter Blaustrumpf kannst du genauso gut welche tragen.« -, einen Pullover mit weitem Kapuzenkragen. Er ging mit ihr zum Friseur und blieb neben dem Stuhl stehen. »So«, sagte er und fuhr mit dem Finger an ihrem Kinn entlang. »Und so.«
Als ihre Eltern erfuhren, dass Lexie mit einem Mann zusammenlebte, teilten sie ihr mit, dass sie für sie gestorben sei und sich nie wieder bei ihnen blicken lassen solle. Sie tat ihnen den Gefallen.