Es ist heißer, als Elina gedacht hat. Im Haus war es wie immer gewesen - kühl, etwas klamm, die Luft still und stehend. Jetzt aber, seit sie draußen ist, in ihrer Jeans, den roten Sandalen und der Bluse mit dem Apfelmuster, ist es ihr zu heiß. Schweiß rinnt ihr am Rückgrat hinunter. Ihre Jeans ist aus der Zeit vorher - eine stinknormale Jeans ohne Gummizug, wie sie stinknormale Leute tragen. Es ist ihr egal, dass sie ihr am Bund eine Spur zu eng ist. Endlich trägt sie wieder richtige Sachen. Darin hat sie ein Gefühl, eine Ahnung, wie es sein könnte, sich wieder normal zu fühlen.
Neben ihr ist Ted mit dem Stadtplan, in dem ein Brief vom Arzt liegt. Sie wollen in das Gesundheitszentrum auf der anderen Seite des Parks, zur Vorsorgeuntersuchung für Säuglinge. Als Ted vorgeschlagen hat, dass sie zu Fuß hingehen, hat Elina ihm nicht erzählt, dass sie vor zwei Tagen schon einmal einen Spaziergang mit dem Kind machen wollte und nur bis zur nächsten Straßenecke gekommen ist, bevor die Seiten des Kinderwagens vor ihren Augen verschwammen und sich die Sterne schimmernd von der Decke ablösten. Sie hatte sich auf die Bordsteinkante setzen müssen, die Füße in der Gosse, den Kopf zwischen den Knien, bevor sie sich zum Haus zurückschleppen konnte. Sie hat nur gesagt: »Lass uns ein Taxi nehmen.«
In dieser Gegend kennen sie sich beide nicht aus, in diesem Straßenraster hinter einer Hauptverkehrsader, die in Richtung Norden führt. Ted sagt, der Stadtteil heißt Dartmouth Park. Der Taxifahrer hat sie auf der Hauptstraße abgesetzt, angeblich wegen des Einbahnsystems, und jetzt suchen sie das Gesundheitszentrum. Ted ist überzeugt, den Weg gefunden zu haben. Dann überlegt er es sich anders und meint, es sei die entgegengesetzte Richtung. Sie müssen das ganze Stück wieder zurück. Er setzt Elina das Kind auf den Arm, um in den Stadtplan zu schauen.
»Da drüben«, sagt er und marschiert los, quer über eine Straße. Elina trottet hinter ihm her. Sie hat Angst, dass das Kind zu viel Sonne abbekommt, dass die Decke zu warm ist, dass sie gleich in der Hitze umkippt, wenn Ted sie noch sehr viel weiter durch die Gegend schleppt.
An der nächsten Ecke bleibt er stehen. Er sieht die Straße hinauf, sieht sie hinunter. Der Stadtplan baumelt in seiner Hand. Elina wartet. Sie atmet tief ein, und die Luft brennt ihr heiß in der Kehle. Sie wird nicht ohnmächtig werden. Alles ist bestens. Nichts, was sich nicht bewegen sollte, bewegt sich; die Sterne auf der Kinderdecke sind nur Stickereien, sonst nichts. Der Kleine schläft, er zieht eine Schnute. Ein Händchen liegt halb geschlossen an seiner Wange, als ob er sich einen unsichtbaren Telefonhörer ans Ohr hält. Darüber muss Elina lächeln. Plötzlich merkt sie, dass Ted etwas sagt.
»… irgendwo anders …«
»Wie bitte?«
Er antwortet nicht. Der Brief rutscht aus dem Stadtplan und fällt auf den Bürgersteig. Ted bückt sich nicht danach, sondern steht einfach nur da, den Rücken zu ihr und mit schlaff herunterhängenden Händen.
Elina runzelt die Stirn. Sie kauert sich hin und fischt nach dem Brief, das schlafende Kind gut festhaltend. »Ted?«, sagt sie. Sie tippt ihm auf den Arm. »Ted, wir müssen weiter. Der Termin ist schon in zwei Minuten.« Sie nimmt ihm den Stadtplan ab. Sie sieht auf den Brief, sieht auf den Plan. »Noch ein Stück hier entlang und dann links.«
Er dreht sich in die falsche Richtung und scheint wie gebannt von einem Gartenzaun auf der anderen Straßenseite.
»Ted!«, sagt sie, eine Spur schärfer. »Wir haben noch genau zwei Minuten bis zu unserem Termin.«
»Geh du allein«, antwortet er, ohne sich umzudrehen.
»Wie bitte?«
»Geh allein. Ich warte hier.«
»Du … Du schickst mich allein zur Vorsorgeuntersuchung deines …« Elina ist so wütend, dass sie den Satz nicht zu Ende bringen kann. Sie hält es keine Minute mehr mit ihm aus. Sie rückt sich den Riemen ihrer Schultertasche zurecht, macht kehrt und stapft davon, das Kind an sich gedrückt. Sie hat das Gefühl, als ob ihr ihre roten Sandalen die Füße verbrennen. Der Bund ihrer Jeans hat sich mit Schweiß vollgesogen.
»›Ich warte hier‹«, schimpft sie leise vor sich hin, als sie durch die Drehtür geht. »›Ich warte hier‹, toll. Dieser egoistische Mistkerl …« Sie bricht ab, weil sie am Empfang ihren Namen sagen muss. In dem Gebäude ist es kühl, und es riecht nach Linoleum. Elina hat sich immer noch nicht wieder beruhigt, als sie auf einem Plastikstuhl Platz nimmt. Fast rechnet sie damit, dass Ted doch noch kommt. Während sie sich die Poster ansieht - Stillen, Rauchen, Meningitis, Impfungen -, studiert sie im Geist eine Lektion zum Thema elterliche Fürsorgepflicht ein, die Ted zu hören bekommen soll, falls er sich doch noch herbequemt. Ihr ist gerade der Ausdruck »aus der Verantwortung stehlen« eingefallen, als sie hereingerufen wird.
»Name?«, sagt die Schwester und beugt sich zum Monitor.
»Äh.« Elina spielt nervös mit ihrem Armreif. »Wir haben uns noch nicht entschieden. Das ist lächerlich, ich weiß.« Sie hört sich verkrampft lachen. »Schließlich ist er schon fast sechs Wochen alt, aber …«
»Ich meinte Ihren Namen«, sagt die Schwester.
»Ach so.« Wieder das seltsame, schrille Lachen. Was ist bloß mit ihr los? »Ich …« Und da passiert etwas, was Elina seit ihrer Jugend nicht mehr erlebt hat. Sie fängt an zu stottern. Wörter, die mit i anfangen, bekam sie einfach nicht heraus. Es war, als ob sie an ihren Rachenmandeln hängen blieben. Sie schluckt ein paarmal, sie räuspert sich und bringt den Satz zu Ende. »Ich heiße Elina Vilkuna.«
»Sind Sie Schwedin?«
»Finnin.« Gott sei Dank, ihre Stimme klingt normal. Vielleicht hat sich das Stottern wieder dahin verkrochen, wo es sich all die Jahre versteckt gehalten hat. »Aber meine Mutter ist Schwedin«, fügt sie überflüssigerweise hinzu.
»Ach. Würden Sie mir sagen, wie man das schreibt?«
Elina buchstabiert ihren Namen; zweimal muss sie darauf hinweisen, dass Vilkuna mit k und nicht mit c geschrieben wird.
»Sie beherrschen unsere Sprache aber ausgezeichnet«, sagt die Schwester, als sie ihr das Kind abnimmt.
Sie streckt seine Ärmchen und Beinchen und streicht ihm über das Köpfchen. »Ich lebe schon ziemlich lange hier, und …«
»In London?«
»Hauptsächlich.« Elina hat keine Lust, sich näher darüber auszulassen. »Aber nicht nur«, ergänzt sie vage. »Ich bin ziemlich viel rumgekommen.«
»Ich konnte Ihren Akzent nicht gleich einordnen. Anfangs dachte ich, Sie wären vielleicht Australierin.« Die Schwester nimmt dem Kind das Ding aus dem Ohr. »Alles in Ordnung«, sagt sie. »Alles bestens. Sie haben einen prächtigen, gesunden Jungen.«
Elina schwebt mit dem Kind auf dem Arm aus dem Gesundheitszentrum hinaus, die Decke über den Kleinen gebreitet, um ihn vor der blendenden Sonne zu schützen. Sie liebt die Schwester, sie könnte sie küssen. Die Worte prächtig, gesund und Junge flattern wie Schmetterlinge in ihrem Kopf herum. Am liebsten würde Elina sie laut aussprechen oder wieder hineingehen und sie sich von der Schwester noch einmal sagen lassen.
Während sie zurück in Richtung Hauptstraße geht, spricht sie die Worte unhörbar vor sich hin, die Lippen zum Lächeln geöffnet, und sie denkt daran, dass man beim Telefonieren immer am Klang der Stimme merkt, ob der andere lächelt, und dass es bestimmt an der Lippenform liegt.
Sie geht bis zu der Ecke, wo sie Ted stehen gelassen hat, und blickt sich um. Prächtig, raunt es ihr in den Ohren, gesund. Sie dreht sich nach links, sie dreht sich nach rechts. Keine Spur von Ted. Die Sonne brennt ihr auf die Schultern, auf den Streifen Hals, der ungeschützt aus der Apfelbluse herausschaut. Sie runzelt die Stirn. Wo steckt er? Sie überquert die Straße, und ihre Verwunderung geht in Gereiztheit über. Wo zum Teufel ist der Kerl abgeblieben? Und was ist heute bloß mit ihm los?
Als sie um die nächste Ecke biegt, sieht sie ihn. Er steht auf dem Bürgersteig, die Hand zum Schutz gegen die Sonne vor die Augen gelegt, und blickt nach oben.
»Was machst du hier?«, fragt sie, als sie bei ihm ist. »Ich hab’ dich überall gesucht.«
Er dreht sich zu ihr um und macht ein Gesicht, als ob er weder sie noch das Kind jemals zuvor gesehen hat.
»Was machst du hier?«, fragt sie noch einmal. »Was ist los?«
Mit zusammengekniffenen Augen sieht er zu dem Baum hinter ihr hoch, in die Sonne. »Kennst du das Lied?«, fragt er. »Über die drei Raben?«
Elina starrt ihn an. »Was für ein Lied?«
»Weißt du nicht?« Mit brüchiger Stimme fängt er an zu singen: »Drei Raben sitzen auf dem Stein,
sitzen auf dem Stein,
sitzen auf dem Stein,
Drei Raben sitzen auf dem Stein
an einem kalten Morgen.«
»Ted …«
Er setzt sich auf ein Gartenmäuerchen. »Die nächste Strophe geht: ›Der erste Rabe weint um seine Ma, weint um seine Ma‹ - und so weiter. Aber ich kann mich nicht erinnern, was danach kommt.«
Sie nimmt das Kind auf den anderen Arm, zupft die Decke zurecht. Vor ihrem inneren Augen tauchen die drei Raben auf, sie hocken in einer Reihe neben Ted auf der Mauer, glänzendes, grünlich schwarzes Gefieder, krumme Schnäbel, schuppige Krallen, die sich an den Stein klammern.
»Es muss mit ›Der zweite Rabe‹ weitergehen.« Ted schließt die Augen. Er öffnet sie wieder und legt erst die eine, dann die andere Hand darüber, wie bei einem Sehtest. Er schüttelt den Kopf. »Ich weiß es nicht mehr.«
Elina setzt sich neben ihn. Sie legt ihm die Hand aufs Bein, fühlt das Zucken in seinen Muskeln.
»Alles in Ordnung mit dir?«
»Mit mir?«, sagt er.
»Hast du wieder diese Sache mit den Augen?«
Er legt grübelnd die Stirn in Falten. »Das dachte ich«, antwortet er langsam. »Aber es scheint schon wieder vorbei zu sein.«
»Gut.«
»Ja?«
Elina schluckt. Ihr ist nach Weinen zumute. Sie dreht schnell den Kopf weg, damit er es nicht merkt. Was hat er bloß? Kann es sein, dass manche Männer einen Knacks kriegen, wenn ihre Frau ein Kind bekommt? Elina weiß es nicht, und sie weiß auch nicht, wen sie fragen kann. Vielleicht ist es ganz normal, dass junge Väter ein bisschen verwirrt sind, ein bisschen in sich gekehrt. Genau in dem Moment, da ihr selbst das Wasser nicht mehr bis zum Hals steht und sie allmählich wieder auftaucht, sich strampelnd, blinzelnd und keuchend an die Oberfläche kämpft, droht er unterzugehen. Sie drückt sein Bein, als ob sie etwas von sich auf ihn übertragen könnte. Bitte, will sie sagen, bitte sei nicht so, ich schaff das alles nicht allein. Andererseits muss sie sich beherrschen, um ihn nicht anzuschreien, steh verdammt noch mal von dieser Mauer auf und hilf mir, ein Taxi anzuhalten. Sie zwingt sich, einen ruhigen Ton anzuschlagen. »Warum nicht nach?«, fragt sie. »Wieso weint er um seine Ma und nicht nach seiner Ma?«
Er legt seine Hand auf das andere Auge. »Das bedeutet, dass seine Mutter nicht nur kurz weg ist, sondern, dass er sie verloren hat.«
»Ach.« Elina senkt den Blick und schrickt leicht zusammen. Das Kind ist aufgewacht und starrt sie mit weit geöffneten Augen an.
»Das hat mir meine Mutter immer vorgesungen«, sagt Ted, »als ich noch klein war. Sie kennt bestimmt die anderen Strophen. Wenn ich sie das nächste Mal sehe, frage ich sie.«
Elina nickt und streicht dem Kind über die Wange. Ted beugt sich darüber.
013
Ted denkt über seinen Elternurlaub nach. Er spukt ihm im Kopf herum, seit er mit der Einkaufsliste aus dem Haus gegangen ist. Alles Sachen, die Elina für den Kleinen braucht. Beziehungsweise, die sie für ihn brauchen. Feuchttücher, Watte, Wundschutzcreme - die Liste hört und hört nicht auf. Wer hätte gedacht, dass so ein kleiner Mensch so viele und so große Bedürfnisse haben könnte?
Seine Rolle als frischgebackener Vater in den zwei Wochen Elternurlaub kommt ihm vor wie die eines Runners auf einem Filmset. Das Baby ist der Star, keine Frage. Jede seiner Launen und jeder seiner Wünsche ist Befehl, seine Zeiten sind Gesetz. Elina ist die Regisseurin, die für den Ablauf verantwortlich ist und versuchen muss, den Laden in Schwung zu halten. Und er, Ted, ist der Runner. Der Handlanger und Laufbursche, der die Regisseurin unterstützt, Pfützen aufwischt, den Tee macht.
Ted gefällt der Vergleich nicht schlecht. Schmunzelnd geht er den Bürgersteig entlang, von einem Platanenschatten zum nächsten. Er schlenkert die Einkaufstüten, dem einen oder anderen Hundehaufen ausweichend.
Im Vorgarten kramt er seinen Schlüssel heraus. Er schließt die Tür auf, streift die Schuhe auf der Fußmatte ab und ruft: »Hi, ich wieder da. Ich hab’ alles bekommen. Nur die biologisch abbaubaren Feuchttücher nicht. Die waren aus. Also hab ich die normalen genommen. Ich weiß, dass du sie nicht magst, aber ich dachte mir, immer noch besser als gar keine. « Er wartet auf eine Antwort, doch im Haus bleibt es still. »Elina?«, ruft er, aber nur einmal. Vielleicht schläft sie ja. Er bringt die Einkaufstüten in die Küche und stellt sie auf die Arbeitsplatte. Das Wohnzimmer ist verlassen, auf dem Sofa liegt niemand. Der Kinderwagen steht in der Diele, leer, die Decken zerwühlt, als ob das Kind gerade erst herausgehoben worden ist. Ted legt die Hand auf die Stelle, wo immer das Köpfchen liegt, und bildet sich fast ein, dass sie sich noch ein bisschen warm anfühlt.
Ein Geräusch im ersten Stock - ein Fallen, ein Schritt, ein Klicken. Er hebt den Kopf. »Elina?«, sagt er noch einmal. Wieder bekommt er keine Antwort.
Er geht die Treppe hinauf, erst langsam, dann zwei Stufen zugleich nehmend. »El«, sagt er, als er oben ist. »Wo bist du?« Irgendwo muss sie doch stecken, sie kann unmöglich weggegangen sein.
Aber auch das Schlafzimmer ist leer, die Decke straff gezogen, die Kleiderschränke geschlossen. Der blanke Spiegel über dem Kaminsims flimmert silbern. Im Badezimmer steht das Fenster offen, die Gardine weht wie ein Rauchschwaden herein.
Er bleibt einen Augenblick lang rätselnd auf dem Treppenabsatz stehen. Wo kann sie sein? Er sieht noch einmal im Schlafzimmer nach, im Wohnzimmer, in der Küche, um sich zu überzeugen, dass sie nicht doch irgendwo eingeschlafen ist. Zuletzt wirft er sogar einen Blick hinter das Bett, nur um ganz sicher zu sein. Die Frage, warum er »ganz sicher« sein will, beantwortet er sich lieber nicht. Aber dort ist sie auch nicht. Sie ist verschwunden - genau wie das Kind.
In der Diele fummelt er sein Handy aus der Gesäßtasche. Während er darauf herumdrückt und zu ihrer Nummer herunterscrollt, fällt sein Blick wieder auf den Kinderwagen. Wohin könnte sie gegangen sein mit dem Kind, aber ohne den Wagen? Bevor er das Handy ans Ohr nimmt, räuspert er sich. Er muss aufpassen, dass er sich locker anhört, entspannt. Seine Stimme darf nicht panisch klingen. Er darf sich nicht anmerken lassen, was für eine Angst er hat.
Er hört ein Knacken, dann das blecherne Klingeln. Und sofort antwortet ganz in der Nähe ein Echo. Ted nimmt das Handy herunter und lauscht. Im Wohnzimmer klingelt ein Telefon, das gar nicht wieder aufhören will. Ted schaltet sein Handy aus, und Elinas Handy verstummt. Er lässt sich auf die Treppe sinken und sitzt da, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, die Hände in seine Haare gekrallt. Wo kann sie sein? Was soll er machen? Die Polizei anrufen? Aber was würde er sagen? Er zwingt sich zur Ruhe, er darf sich nicht aufregen, nicht in Panik geraten, er muss nachdenken. Die ganze Zeit schreit es jedoch in ihm, sie ist weg, sie hat das Kind mitgenommen, sie ist verschwunden, und sie ist so schwach, sie kommt noch nicht mal bis zur nächsten …
Ein ohrenbetäubendes Schrillen lässt ihn von der Treppe aufspringen. Im ersten Augenblick hat er keine Ahnung, was es ist oder woher es kommt. Dann weiß er es; es war die Türklingel, die direkt über ihm hängt. Elina! Sie ist wieder da. Mit einem Seufzer der Erleichterung reißt er die Tür auf und sagt: »Mensch, was hast du mir für einen Schrecken eingejagt. Ich war …«
Er bricht ab. Auf der Schwelle steht seine Mutter.
»Liebling«, sagt sie. »Ich war gerade zufällig in der Gegend. Ich habe mich mit Joan getroffen - du erinnerst dich doch an Joan von gegenüber, die den Cockerspaniel hat. Wir waren in South End Green einen Kaffee trinken. Da hat ein wunderhübsches neues Café aufgemacht, kennst du es schon?« Sie segelt durch die Tür, presst ihre Wange auf seine, hält ihn an den Schultern fest. »Jedenfalls konnte ich einfach nicht an eurem Haus vorbeifahren, ohne kurz reinzuschauen und ein bisschen mit meinem Enkel zu schmusen. Und da bin ich!« Sie wirft die Arme in die Luft, wie eine Schauspielerin bei einem großen Bühnenauftritt.
»Ach«, sagt Ted. Er fährt sich durchs Haar. »Ich komme auch gerade erst rein«, murmelt er. »Ich … äh …« Bevor er die Tür schließt, schaut er hinaus, den Bürgersteig entlang, nur um zu sehen, ob sie da ist, ob sie kommt. »Ich weiß nicht genau, wo Elina gerade steckt.«
»Aha.« Seine Mutter nimmt ihr seidenes Halstuch ab, knöpft ihre Jacke auf. »Ist sie auf einen Sprung weggegangen?«
»Schon möglich.« Er lehnt sich mit dem Rücken an die Tür und sieht seine Mutter an. Irgendetwas ist anders an ihr. Er mustert ihre Frisur, ihre Wangen, ihre Nase, die Haut an ihrem Hals, die Hände, mit denen sie die Jacke auf einen Kleiderbügel hängt, die Füße in den hochhackigen Lackschuhen. Er hat das seltsame Gefühl, dass er sie nicht erkennt, dass er nicht weiß, wer sie ist, dass sie eine Fremde ist und nicht der Mensch, mit dem er in seinem Leben mehr Zeit verbracht hat als mit jedem anderen auf der Welt. »Ich … Ich … weiß nicht. Du siehst anders aus«, platzt es aus ihm heraus. »Hast du etwas an dir gemacht?«
Sie dreht sich wieder zu ihm, streicht ihren Rock glatt. »Was denn gemacht?«
»Ich weiß auch nicht. Irgendwas mit deinen Haaren. Hast du eine neue Frisur?«
Sie fasst sich verlegen an ihren platinblonden Helm. »Nein.«
»Eine neue Bluse?«
»Nein.« Sie tippt sich leicht mit dem Finger an die Augenbraue - eine ungeduldige Geste, die Ted nur zu gut kennt. »Wann erwartest du Elina zurück?«
Er starrt sie immer noch an. Er kann nicht genau sagen, was ihn stört. Das Muttermal an ihrem Hals, die Rundung ihres Kiefers, die Ringe an ihren Fingern: Es ist, als hätte er nichts davon je zuvor gesehen.
»Ich nehme an, sie hat den Kleinen mitgenommen?«, sagt sie.
»Hm.«
»Liebling, könntest du sie vielleicht anrufen und ihr sagen, dass ich hier bin? Ich muss spätestens um sechs wieder zu Hause sein. Dein Vater braucht sein …«
»Sie hat ihr Handy nicht mitgenommen. Es liegt im Wohnzimmer.«
Seine Mutter seufzt gereizt. »Das ist wirklich ein Jammer. Ich hätte so gern …«
»Ich weiß nicht, wo sie ist, Mum.«
Sie mustert ihn scharf. Das Zittern in seiner Stimme ist ihr nicht entgangen. »Was soll das heißen?«
»Dass sie nicht da ist. Und ich nicht weiß, wo sie sein kann.«
»Mit dem Kind?«
»Ja.«
»Sicher geht sie eine Runde mit ihm spazieren. Sie kommt bestimmt bald zurück. Wir trinken ein Tässchen Tee im Garten und …«
»Mum, sie schafft es kaum die Treppe rauf.«
Sie runzelt die Stirn. »Wovon redest du?«
»Seit damals. Seit der Geburt. Du weißt schon. Sie ist sehr … schwach. Sie ist sehr krank. Sie wäre fast gestorben, Mum. Das weißt du doch noch? Und ich komme vom Einkaufen, und sie ist nicht da, und ich weiß nicht, wo sie hin ist oder wie sie überhaupt dahin kommen konnte, weil …« Ted bricht ab. »Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
Sie geht ins Wohnzimmer, kommt wieder heraus, geht in die Küche. »Ist sie ganz bestimmt nicht hier?«
Ted verdreht die Augen. »Nein.«
Sie setzt Teewasser auf.
»Mum, was machst du da?«, fragt er entsetzt. »Wie kannst du jetzt ans Teekochen denken, wo …« Er verstummt, denn plötzlich sieht er, dass der Schlüssel der Hintertür im Schloss steckt. Er hängt nicht am Haken. Er steckt im Schloss. Ted stößt die Tür auf, und der Geruch des Gartens schlägt ihm entgegen. Von der Holzveranda aus kann er erkennen, dass auch in der Tür zum Atelier ein Schlüssel steckt. Sein Herz schlägt wie wild vor Freude, und er läuft los, durch das Gras.
Als er durch das Fenster schaut, traut er seinen Augen nicht: Elina steht an der Spüle. Sie trägt ihren Arbeitskittel und ist mit irgendetwas beschäftigt. Vielleicht mischt sie eine Farbe oder wäscht einen Pinsel aus, Ted kann es nicht genau erkennen, weil er sie nur im Profil sieht. Womit auch immer sie dort hantiert, sie macht es mit geschickten, routinierten Bewegungen, und auf ihrem Gesicht liegt ein Ausdruck konzentrierter Heiterkeit. Sie sieht aus wie früher. Wie damals, als Ted sie kennengelernt hat, als sie mit dem zerbeulten Kombi, den sie sich von irgendwem geliehen hatte, bei ihm ankam und sich sogleich daranmachte, ganz allein ihre schweren Umzugskartons zwei Treppen hoch in die Mansarde zu wuchten. Weil er es nicht mit ansehen konnte, wie sich diese zierliche, elfengleiche Person mit der kurzen Blondhaarfrisur geduldig mit einem riesigen Leuchtkasten abplackte, ging er hinaus und bot ihr seine Hilfe an. Sie schien überrascht. »Das schaff ich schon«, sagte sie, und er hätte fast laut lachen müssen, so eindeutig war sie mit dieser Last überfordert. In den Wochen danach verfolgte er ihr Kommen und Gehen - rauf auf den Dachboden, runter vom Dachboden. Abends ging sie aus dem Haus, wohin auch immer, tagsüber tauchte sie zu den unmöglichsten Zeiten in der Küche auf, um etwas zu essen. Wenn er sie mitten in der Nacht über sich hin und her laufen hörte, fragte er sich, was sie wohl da oben machte, und er fühlte sich seltsam geehrt, an den privaten Vorgängen in diesem ungewöhnlichen Leben teilhaben zu dürfen. Nach diesen unruhigen Nächten strahlte ihr Gesicht oft etwas so Beseeltes, Verinnerlichtes aus, dass er sie am liebsten gefragt hätte: Was ist dein Geheimnis, was treibst du da oben?
Er liebt diesen Gesichtsausdruck. Er hat ihm gefehlt. Dieser Ausdruck hat ihm die Richtung gewiesen, hat ihm gezeigt, was er tun musste. Denn nach einer Weile wurde ihm immer stärker bewusst, dass Elina ihn an nichts so sehr erinnerte wie an einen Luftballon - bunt und mit Helium gefüllt, in einer Kinderhand an einer Schnur auf und ab tanzend. Eine Unvorsichtigkeit, und schon fliegt er auf und davon. Elina hatte schon überall gelebt, auf der ganzen Welt; sie kam und ging und zog weiter. Ihr Geheimnis - das, was sie mit ihren Farben, Verdünnern und Leinwänden da oben in ihrer Mansarde machte, wenn ihr niemand zusah -, war alles, was sie brauchte. Sie brauchte keinen Anker, keine Schwerkraft. Und wenn er sie nicht festhielt, wenn er sie nicht an sich band, würde sie früher oder später ihre Zelte abbrechen. Also tat er es. Er packte zu und hielt sie fest; manchmal sieht er es regelrecht vor sich, wie er sich die Ballonschnur um das Handgelenk knotet und einfach weiter seinem gewohnten Leben nachgeht, während das bunte Heliumding über ihm in der Luft schaukelt, direkt über seinem Kopf. Seitdem hat er sie nie wieder losgelassen. Anfangs musste er sich erst daran gewöhnen, dass sie manchmal nicht da war, wenn er in der Nacht aufwachte, dass das Bett leer war. In der ersten Zeit lief er dann jedes Mal panisch durchs Haus. Aber irgendwann merkte er, dass sie sich nur davonstahl, um zu arbeiten, um ihr anderes Leben zu führen. Trotzdem musste er immer erst aus dem Fenster sehen, um sich zu vergewissern, ob in ihrem Studio Licht brannte, bevor er sich wieder allein ins Bett legen konnte.
Und jetzt ist dieser Gesichtsausdruck wieder da! Er muss sich beherrschen, um nicht in die Hände zu klatschen, während er durch das Studiofenster zu ihr hineinsieht. Sie kommt wieder auf die Beine, sie hat überlebt. Sie hat sich nicht unterkriegen lassen, nicht durch das Gemetzel im Krankenhaus, nicht durch seine geflüsterte Frage Sollen wir es nicht dieses eine Mal ohne machen? Sie wird wieder ganz gesund werden. Das sieht er, an dem Ausdruck in ihrem Gesicht, am Spiel ihrer Schultermuskeln, an dem angespannten Zug um ihren Mund. Sie arbeitet. Er spürt die Aufregung, die von ihr ausgeht. Sie arbeitet.
In diesem Moment hört er links von sich eine Stimme: »Ist sie da drin?« Und Ted ist so versunken in das, was er durch das Fenster sieht, dass er zu langsam reagiert, um seine Mutter aufzuhalten.
Jetzt geschehen mehrere Dinge gleichzeitig. Die Tür, die etwas lose in den Angeln hängt, kracht nach hinten gegen die Holzwand. Elina wirbelt so heftig herum, dass eine Untertasse von der Spüle auf den Boden knallt und zerbricht. Das Kind wacht auf und stößt einen durchdringenden Schrei aus.
»Oh!«, ruft Elina und schlägt sich eine blau gefärbte Hand auf die Brust. »Was soll das?«
Ted ist in Sekundenschnelle durch die Tür. Ohne seine Mutter zu Wort kommen zu lassen, will er zu einer Erklärung ansetzten, als Elina, die sofort zu dem Kind stürzt, mit den nackten Füßen in die Porzellanscherben tritt, so dass Ted den Kleinen hochnimmt, der außer sich ist, weil man ihn aus dem Schlaf gerissen hat. Elina setzt sich auf einen Stuhl und hält sich mit ihren blauen Händen den Fuß, und sie sagt: Ich fass es nicht, dass ihr ihn geweckt habt, nachdem ich ihn endlich zum Schlafen gekriegt hatte. Und ihr Fuß blutet, und sie klingt, als ob sie gleich in Tränen ausbrechen wird. Während sie sich eine Untertassenscherbe aus der Ferse zieht, stößt sie ein finnisches Wort aus, das sich für Ted sehr nach einem Fluch anhört.
»Du kannst ruhig weiterarbeiten«, sagt Ted über das Geschrei hinweg und ohne auf das Blut zu sehen, das aus ihrer Wunde tropft. Er klingt wenig überzeugend. »Wenn du möchtest. Wir nehmen den Kleinen und …«
Mit einem weiteren finnischen Fluch schmeißt Elina eine Scherbe in den Mülleimer. »Wie soll ich denn weiterarbeiten?«, ruft sie und deutet auf das schreiende Kind. »Willst du ihn stillen? Oder deine Mutter?«
Ted schaukelt seinen Sohn. »Wir können nichts dafür«, sagt er. »Wir wussten nicht, wo du warst. Als ich nach Hause kam, warst du weg. Ich hab mir wirklich Sorgen um dich gemacht. Ich habe überall gesucht und …«
»Überall?«, wiederholt Elina.
»Ich dachte … Ich dachte …«
»Du dachtest was?« Sie starren einander wutentbrannt an, dann senken sie im selben Moment den Blick. »Gib mir das Kind«, sagt sie leise und fängt an, ihren Kittel aufzuknöpfen.
»Elina, komm ins Haus. Du brauchst ein Pflaster und …«
»Gib mir das Kind.«
»Still ihn doch lieber im Haus. Meine Mutter ist zu Besuch. Komm mit rein und …«
»Nein!«, schreit sie. »Ich bleibe hier. Und jetzt gib mir endlich das Kind!«
Aus den Augenwinkeln sieht Ted, wie seine Mutter, die neben der Tür steht, den Kopf schüttelt. »Du große Güte«, sagt sie. »Was für ein Lärm.« Beim Klang ihrer Stimme zuckt Elina zusammen. Ted hat ein schlechtes Gewissen, weil er weiß, dass sie niemanden in ihrem Atelier haben will, keinen Menschen, nicht einmal ihn, nicht einmal ihren Galeristen. Aber Teds Mutter interessiert sich nicht für Elinas Arbeiten, für die unfertigen Skizzen und die gespannten Leinwände, für die Fotos und Dias auf dem Leuchtkasten und die Werkzeuge an der Wand, sie hat nur Augen für das Kind, einen hungrigen, gierigen Blick.
»Was hast du denn?«, sagt sie säuselnd zu dem Kleinen. »Was ist denn los, kleiner Mann?« Ihre lackierten Fingernägel raspeln über Teds Handflächen, als sie ihm den Kleinen abnimmt. »Bist du traurig, weil Mummy und Daddy streiten? Bist du traurig? Keine Bange. Du kommst jetzt mit Grandma mit, und dann wird alles wieder gut.«
Sie geht mit ihm hinaus. In dem leeren Studio sehen Ted und Elina sich an. Elinas Gesicht ist kreideweiß, ihre Lippen einen Spaltbreit geöffnet, als ob sie etwas sagen will.
»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht«, sagt Ted noch einmal. Er stupst mit dem Schuh gegen die Teppichkante.
Elina springt vom Stuhl und baut sich vor ihm auf. »Weißt du was, Ted?« Sie umschließt sein Gesicht mit beiden Händen. »Mir geht es gut. Wirklich. Anfangs war das anders, aber jetzt geht es mir wieder gut. Du bist derjenige, um den wir uns Sorgen machen müssen.«
Stumm versenkt er sich in ihre Augen, in das vertraute Schieferblau, links einen Hauch dunkler als rechts, aus dem ihn eine Miniaturversion seiner selbst ansieht. So stehen sie einige Sekunden voreinander. Durch die offene Tür dringt das Babygeschrei herein, immer lauter und gellender werdend.
Ted macht sich von Elina los. Er schlägt die Augen nieder und dreht sich weg. Er weiß, dass sie ihn immer noch ansieht. »Der Kleine hat Hunger«, murmelt er im Hinausgehen. »Ich bringe ihn dir.«