Lexie an einem schwülen Frühlingsabend in
Paris. Sie sitzt in ihrem Hotelzimmer an der Schreibmaschine, die
sie behelfsmäßig auf der Frisierkommode aufgebaut hat. Die Schuhe
hat sie sich von den Füßen geschlenkert, ihre Kleidung kunterbunt
durcheinander auf das schmale Bett geworfen. Sie trägt lediglich
einen Unterrock; die Haare hat sie sich mit einem Bleistift
hochgesteckt. Das Zimmer ist eng, unerträglich heiß; die Tür zu dem
winzigen Eisenbalkon steht offen. Eine leichte Brise bläht die
dünnen Gardinen und saugt sie wieder an. Von der Straße dringen
Geräusche herauf: rennende Schritte, Schreie, Polizeisirenen,
splitterndes Glas. Sie war die ganze Nacht auf den Beinen, war
dabei, als die Studenten auf dem Boulevard St-Michel und an der
Sorbonne Barrikaden errichteten, Pflastersteine herausrissen und
Autos umkippten, als die Polizei mit Schlagstöcken und Tränengas
zum Gegenangriff überging.
Sie überprüft, was sie geschrieben hat. Ob sie
aufgewiegelt oder provoziert wurden, muss sich erst noch zeigen,
aber eine solche Überreaktion der Polizeikräfte … Da bricht es
ab. Noch hat sie nicht die leiseste Ahnung, wie der Satz enden
soll.
Sie tippt einen Punkt, fängt einen neuen Absatz an,
und sieht zu, wie die Frau im Frisierspiegel das Gleiche tut. Wie
dünn sie ist, in ihrem Unterrock, so mager, dass die Schlüsselbeine
hervorspringen, und sie hat dunkle Ringe um die
Augen. Lexie legt sich die Hand auf die Stirn, beugt sich ganz nah
zum Spiegel. Um den Mund und in den Augenwinkeln zeigen sich erste
Fältchen. Für sie sind es Verwerfungslinien, Ausblicke in die
Zukunft; sie markieren die Stellen, wo ihr Gesicht einsinken und
sich die Haut von den Knochen lösen wird.
Sie weiß nicht, dass es dazu nie kommen wird.
Es klopft an der Tür, und ihr Kopf fährt
herum.
»Lexie?«, flüstert Felix laut. »Bist du da?«
Vor ein paar Stunden hat sie ihn neben einer
brennenden Barrikade gesehen, hektisch nach der Kamera winkend,
hinter ihm vorbeihetzende Gestalten.
Sie rührt sich nicht von ihrem Hocker. Sie beißt
auf ihren Bleistift, fältelt an ihrem Unterrock herum. Jeder Mann,
der nicht Innes ist, wäre in dieser Nacht ein Hohn auf ihn, wäre
ein Verbrechen. Sie kann es sich nicht erklären, aber sie hatte den
ganzen Tag das Gefühl, ihn um sich zu haben, einen halben Schritt
hinter ihr, einen halben Schritt links von ihr. Immer wieder hat
sie sich umgeschaut, als ob sie einen Blick auf ihn erhaschen
könnte. Plötzlich drängt es sie, seinen Namen laut auszuprechen,
hier, in diesem Hotelzimmer mit den zerschrammten Möbeln und dem
fleckigen Bettzeug. So stark ist dieser Drang, dass sie fast daran
erstickt.
Es klopft noch einmal. »Lexie!«, zischelt Felix.
»Ich bin’s.«
Er wartet noch einen Augenblick, dann gibt er auf.
Sie hört, wie er sich gähnend entfernt. Sie legt sich aufs Bett.
Starrt an die Decke. Schließt die Augen. Sofort sieht sie Innes vor
sich. Er sitzt auf dem Frisierhocker, von dem sie gerade
aufgestanden ist, er ist hier bei ihr im Zimmer. Sie öffnet die
Augen. Tränen laufen ihr über die Schläfen, sickern in ihre Haare,
rinnen ihr in die Ohren. Sie macht die Augen wieder zu. Sie sieht:
die Aussicht aus dem Fenster ihrer
Wohnung in Haverstock Hill. Sie sieht: Innes’ Hand, die einen
Stift hält mit seinem schiefen Linkshändergriff. Sie sieht: wie er
an ihrem Bücherregal lehnt und nach einem Buch sucht. Sie sieht:
wie er sich in der Küche über der Spüle rasiert, das halbe Gesicht
voll Schaum. Sie sieht: sich selbst, wie sie einen
Krankenhauskorridor entlanggeht und eine Spur aus Veilchen hinter
sich her zieht.

London, etwa vierzehn Tage später, Lexie und Felix
bei der Eröffnung von Laurences neuer Galerie. In der drangvollen
Enge und dem hektisch nervösen, weinseligen Treiben wirkt Felix mit
seinen makellosen Manschetten und seiner breitschultrigen Blondheit
so fehl am Platz, dass Lexie sich das Lachen verkneifen muss. Aber
er tritt mit einer solchen Selbstverständlichkeit auf, als ob die
Galerie ihm gehört, als ob die vielen Menschen nur darauf warten,
seine Bekanntschaft zu machen.
Womit er, wie sie zu ihrem Ärger feststellen muss,
gar nicht einmal so unrecht hat. Nachdem er zum dritten Mal mit den
Worten »Entschuldigen Sie, aber sind Sie nicht …« angesprochen
worden ist, hakt Lexie sich von ihm los und schlägt sich durch das
Gewühl zu Daphne und Laurence durch, die am anderen Ende des Raums
stehen und die Köpfe zusammenstecken. Sie weiß, dass sie über sie
reden, und sie wissen, dass sie es weiß, und sie lächeln ihr zu,
als sie sie kommen sehen.
»Entschuldigung«, sagt sie, während sie sich
zwischen einer Frau, die mit wiehernder Stimme von Roy Lichtenstein
schwärmt, und einem Mann, der auf einen Zug sein Weinglas leert,
hindurchzwängt.
»Da ist sie«, sagt Daphne.
»Na, ihr zwei Klatschbasen.« Lexie begrüßt erst
Daphne, dann Laurence mit einem Wangenküsschen. »Herzlichen
Glückwunsch, Laurence. Klasse Party. Tolle Resonanz.«
»Ja, läuft gar nicht mal so schlecht, was?«
Laurence lässt den Blick durch den Raum schweifen. »Bis jetzt
zumindest.«
»Sag doch so was nicht«, schimpft Daphne. »Es läuft
prima. Die Leute kommen. Die Leute kaufen. Freu dich. Genieß den
Abend.«
»Wenn ich das bloß könnte«, murmelt Laurence und
fährt sich mit dem Finger um den Hemdkragen. »Das kann ich erst,
wenn es vorbei ist.«
Daphne wendet sich Lexie zu und mustert sie von
oben bis unten. »Wir müssen mit dir reden«, sagt sie.
»Müsst ihr?«
»Wir müssen. Also dann: Pack aus. Wir wollen alles
wissen.«
Lexie nippt an ihrem Cocktail. »Was denn?«
Daphne gibt ein gereiztes Stöhnen von sich. Im
selben Moment sagt Laurence anerkennend: »Schicke Klamotten,
Lexie.«
»Wen interessieren denn ihre Klamotten?«, blafft
Daphne, aber sie hält kurz inne, als ob sie Lexies Kleid zum ersten
Mal richtig wahrnimmt, und fährt fort: »Ist wirklich ein tolles
Teil. Woher hast du das?« Ohne eine Antwort abzuwarten, packt sie
Lexie beim Ellenbogen. »Das da. Darüber wollen wir alles wissen.«
Sie zeigt zum Eingang.
Lexie folgt ihrem Finger. Dort steht Felix und
unterhält sich mit zwei Frauen, die ihm dicht auf die Pelle gerückt
sind.
»Ach das«, sagt sie mit einer wegwerfenden
Handbewegung. »Das ist bloß Felix.«
»Wir wissen, wer das ist«, entgegnet Laurence. »Wir
haben ihn auf der Mattscheibe gesehen, als beherzten
Berichterstatter vor den Barrikaden.«
»Und dann«, mischt Daphne sich ein, »haben wir zwei
und zwei zusammengezählt. Du musst mit ihm zusammen in Paris
gewesen sein. Was unterstehst du dich, uns nichts davon zu
erzählen? Wir dachten, euer kleines Techtelmechtel wäre schon lange
vorbei. Aber jetzt sieht es ja ganz so aus, als ob der Kerl noch
aktuell wäre. Los.« Sie stößt Lexie in die Rippen. »Raus mit der
Sprache. Was läuft da?«
»Gar nichts«, antwortet Lexie.
»Gar nichts«, spottet Laurence.
»Mal mehr, mal weniger.« Mit einem Achselzucken
leert Lexie ihr Glas. »Jedenfalls nichts Weltbewegendes.«
Während sie einen Augenblick lang schweigend in
ihre Gläser blicken, gesellt sich Laurences Partner David zu ihnen.
»Warum guckt ihr denn so düster aus der Wäsche?« Er legt seinem
Freund die Hand auf die Schulter. »Und wieso mischst du dich nicht
unter die zahlende Kundschaft?«
»Wir haben Lexie gerade nach ihrem Gespielen
ausgehorcht«, erklärt Daphne.
»Ihrem Gespielen?«, wiederholt David f ragend.
Laurence deutet mit dem Kopf auf Felix, der inzwischen von einer
gebannt an seinen Lippen hängenden Anhängerschar umringt ist und
sie mit einer Anekdote unterhält, die offenbar nicht ohne weit
ausholende Gesten auskommt. »Aha.« David zieht die Augenbrauen
hoch. »Verstehe. Was bist du doch für ein stilles Wasser,
Lexie.«
»Es ist nicht weiter der Rede wert.« Lexie zupft
den Saum ihres Kleides zurecht.
»Nicht der Rede wert?«, protestiert Daphne. »Wenn
du in der Öffentlichkeit mit ihm auftrittst?«
»Ich trete nicht in der Öffentlichkeit mit ihm auf.
Als ich ihm erzählt habe, wo ich heute Abend hinwollte, hat er
gesagt, dass er mitkommt.«
»Stellst du uns ihm vor?«, fragt Laurence. »Wir
benehmen uns auch. Versprochen.«
»Jetzt nicht«, sagt David. »Der Mann hat zu tun.
Siehst du denn nicht, dass er an seiner Karriere bastelt?«
»Eines muss ich dich noch f ragen«, sagt Daphne in
ernsterem Ton. »Dann lassen wir dich auch wieder in Frieden. Wieso
ausgerechnet er?«
Lexie sieht sie an. »Was meinst du damit?«
»Ich kann es mir nicht erklären. Warum er und nicht
einer von den tausend anderen, die hinter dir her waren?«
»Da kann ich mir mehrere Gründe vorstellen«,
murmelt David mit einem beifälligen Blick auf Felix. Laurence lacht
leise.
»Weil …« Lexie überlegt. »Weil er nichts wissen
will«, antwortet sie schließlich.
»Was hast du gesagt?«, fragt David und beugt sich
zu ihr. »Er fragt nichts?«
»Er will nichts wissen«, sagt Lexie. »Er stellt mir
keine Fragen. Ich habe noch nie einen Menschen gekannt, der so
wenig neugierig war. Und das …«
»Das kommt dir sehr entgegen«, beendet Laurence den
Satz für sie.
Sie lächelt. »Ja«, nickt sie. »Das kommt mir sehr
entgegen.«
Alles schweigt. Dann lehnt Daphne sich nach hinten
und fischt eine Flasche Wein vom Schreibtisch. »Einen Toast!«, ruft
sie. »Wir haben noch gar nicht auf die Galerie getrunken.« Sie
schenkt ihnen schwungvoll ein. »Auf Laurence und David und die
Angle Gallery«, sagt sie. »Möge ihnen
ein langes, glückliches und einträgliches Leben beschieden
sein.«

Es ist Nacht, tiefste Nacht, und in Belsize Park
ist alles ruhig. Vor einer Weile ist ein Auto den Haverstock Hill
hinuntergerast. Ein Eichhörnchen - eines von der rattenartigen,
überfütterten grauen Sorte - verharrt kurz auf der Fahrbahn, blickt
sich um und huscht dann auf die andere Seite der Straße.
Vor dem Haus liegt ein kleiner Irrgarten aus
akkurat gestutzten Buchsbaumhecken. Kinder laufen gern durch die
niedrige Spirale, die in immer neuen Windungen unaufhaltsam zum
Mittelpunkt führt, auch wenn die Mütter es nicht so gern sehen.
Weil es nicht gut für die Wurzeln ist, sagen sie. Zwischen dem
Labyrinth und dem Bürgersteig steht ein Mäuerchen aus rotem
Backstein, das es schon zu Lexies Zeiten gegeben hat. Daneben ein
Torpfosten mit einem schweren, weißen Abschlussstein, der sich bei
frostigem Wetter glitzernd mit Raureif überzieht.
Als Lexie nach Innes’ Tod aus dem Krankenhaus kam,
hat sie sich auf diesen Stein gestützt. Es war früher Abend.
Irgendwie hatte sie es bis nach Hause geschafft, in der Hand noch
immer den Schal und die Illustrierten - die Veilchen waren längst
verstreut. Sie wollte gerade den Gartenweg hinaufgehen, als ein
Mann von dem Mäuerchen aufstand.
»Miss Sinclair?«, f ragte er.
Sie fuhr zu ihm herum, die Hand auf dem
Pfosten.
»Miss Alexandra Sinclair?«
»Ja«, antwortete sie.
Er übergab ihr einen Briefumschlag. »Hiermit gilt
dieses Schriftstück als persönlich zugestellt«, sagte er.
Der Umschlag war schlicht, braun und nicht
verschlossen. »Schriftstück?«
»Ein Räumungsbefehl, Madam.«
Sie sah ihn an, ihn und seinen Schnurrbart. Wie
seltsam, dass der Schnurrbart braun war, seine Haare aber grau. Der
Torpfosten fühlte sich rau und froststarr an. Sie nahm die Hand weg
und tastete ihre Manteltasche nach dem Hausschlüssel ab. »Ich
verstehe nicht.«
»Meine Mandantin, Mrs. Gloria Kent, fordert Sie
auf, die genannte Immobilie bis morgen zu räumen und den
Räumlichkeiten dabei nur solche Gegenstände zu entnehmen, bei denen
es sich nachgewiesenermaßen um Ihr persönliches Eigentum handelt.
Sollten Sie etwas entfernen, was zur Erbmasse ihres verstorbenen
Ehema…«
Mehr hörte sie nicht. Sie rannte den Weg hinauf,
rannte ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu.
Am selben Abend kam Laurence vorbei. Er hatte
überall in London nach ihr gesucht. Er nahm ihr den rosafarbenen
Räumungsbescheid aus der Hand und las ihn sich durch. Nach ein paar
deftigen Flüchen sagte er, Gloria mache ihrem schlechten Ruf alle
Ehre. Lexie fand erst später heraus, dass Gloria bereits zu diesem
Zeitpunkt ein anwaltliches Schreiben in die
elsewhere-Redaktion geschickt hatte, in dem sie die
Mitarbeiter über den beabsichtigten Verkauf der Zeitschrift in
Kenntnis setzte. Doch an diesem Abend sagte Laurence ihr nichts
davon, und er behielt auch für sich, dass Daphne und er erst durch
dieses Schreiben von Innes’ Tod erfahren hatten. Er schenkte ihr
einen Whisky ein, setzte sie in einen Sessel und packte sie warm in
eine Daunendecke ein. Dann machte er sich daran, die Wohnung
aufzulösen, ihr Heim, ihr Leben.
In aller Frühe warteten Laurence und Lexie am
nächsten
Morgen vor dem Haus auf ein Taxi. Neben ihnen standen zwei Koffer.
Lexie zitterte, obwohl sie noch immer in die Daunendecke
eingewickelt war.
»Meinst du«, sagte sie mit klappernden Zähnen und
deutete auf die Decke, »dass die hier zu Innes Kents Erbmasse
gehört?«
Laurence warf einen traurigen Blick darauf, dann
sah er zum Himmel, der allmählich hell wurde. Die Wolken waren
golden gestreift, die Bäume reglos, wie schwarze Scherenschnitte.
Er lachte, aber er hatte Tränen in den Augen. »Mein Gott, Lex«,
murmelte er. »Sachen gibt’s.«
Sie hielten ein Taxi an, und nachdem Laurence Lexie
und die Koffer darin verstaut hatte, wandte er sich an den Fahrer.
»Augenblick noch. Bin gleich wieder da.« Er lief noch einmal ins
Haus.
Lexie saß im Taxi, ihre ganze Habe in zwei Koffern
und ein paar Bündeln, die Daunendecke um sich gerafft. Ein langer
schwarzer Wagen fuhr vor, hinter dem Steuer Gloria, das Profil
unverkennbar, der arrogante Mund, die hochgezogenen Brauen. Sie
kippte den Rückspiegel, überprüfte ihren Lippenstift und scherzte
mit jemandem, der neben ihr saß. Mit ihrer Tochter. Da war sie, auf
dem Beifahrersitz. Sie nickte: Ja, Mutter, nein, Mutter.
Sie stiegen aus. Gloria schwang ihren Rock aus der
Autotür und schlug sie mit einem resoluten Schlenker hinter sich
zu. Sie sahen zum Haus hinauf, zur obersten Wohnung. Plötzlich
verfinsterte sich Glorias Miene, und sie rief: »Sie! Sie da!«
Laurence kam im Laufschritt die Treppe herunter,
ein großes, eckiges, in Decken gehülltes Paket unter dem Arm. Lexie
wusste sofort, worum es sich handelte - um Innes’ Gemälde. Laurence
rettete die Bilder.
»Stehen bleiben! Ich fordere Sie auf stehen zu
bleiben!«, kreischte Gloria. »Ich muss wissen, was Sie da
wegschaffen.«
Laurence sprang ins Taxi. »Fahren Sie«, befahl er.
»Los, fahren Sie bitte!«
Der Fahrer nahm den Fuß von der Bremse und gab Gas.
Sie rollten los. Gloria rannte in ihren Stöckelschuhen neben ihnen
her, um einen Blick ins Wageninnere zu werfen; auf der anderen
Seite des Taxis rannte ihre Tochter. Ihr gelang es besser
mitzuhalten. Sekundenlang lief sie neben Lexie her, das Gesicht nur
Zentimeter von ihr entfernt hinter der Scheibe, die Augen
unverwandt auf sie geheftet. Ihr Blick war dumpf und unergründlich,
stier wie der eines Haifischs. Was für ein Gefühl lag darin? Ein
stummer Vorwurf? Neugier? Wut? Unmöglich zu sagen. Lexie legte die
Hand auf die Scheibe, um sich vor dem schrecklichen Medusenblick zu
schützen. Als sie sie wieder wegnahm, war Margot
verschwunden.
Die Zeit nach Innes’ Tod bestand für Lexie aus
einer endlosen Reihe von Tagen, leeren Stunden und Jahren, die
irgendwie vorübergingen. In mancher Hinsicht gibt es nichts darüber
zu sagen. Denn es war eine Zeit des Nichts, der Ödnis, des Vakuums.
Als Innes starb, endete das Leben, wie Lexie es kannte, und ein
anderes begann: Sie fiel wie Innes mit seinem Fallschirm aus ihrer
Existenz heraus und in eine andere hinein. Die Zeitschrift gab es
nicht mehr, die Wohnung gab es nicht mehr, Innes gab es nicht mehr.
Auch wenn sie es damals noch nicht wusste: Sie würde nie wieder
einen Fuß nach Soho setzen, nicht ein einziges Mal.
Wenn sie an die erste Zeit nach ihrer Flucht aus
der Wohnung zurückdachte, hätte sie wahrscheinlich gesagt, dass sie
sich an nichts erinnern könne und dass es lange gedauert
habe, bevor das Leben und ihr Empfindungsvermögen zurückkehrten.
Aber hin und wieder tauchten bestimmte Szenen vor ihr auf, lebenden
Bildern ähnlich. Wie sie die Koffer in Holborn den Kingsway
entlangschleppt. Wie sich der Saum ihres Mantels an einem Geländer
verfängt und einreißt. Wie sie ein Zimmer in einem Kellergeschoss
besichtigt und die Vermieterin eine große dreifarbige Glückskatze
an ihren Busen presst. Das Zimmer, ein schmaler Schlauch, riecht
nach Mäusen und Feuchtigkeit, das Fenster ist klein und hat eine
seltsame längliche Form. »Was ist mit dem Fenster passiert?«, fragt
Lexie. »Abgeteilt«, sagt die Vermieterin. »Mitten durch.« Lexie
starrt die Katze an, und die Katze starrt zurück, mit weit offenen,
glänzenden Pupillen. In den Pupillen spiegelt sich das Bild des
abgeteilten Fensters. Wie sie versucht, den Gaskamin anzuzünden,
und es nicht schafft. Wie sie deswegen in Tränen ausbricht. Wie sie
deswegen ihren Schuh an die Wand wirft. Wie um sie herum auf dem
Teppich abgebrannte Streichhölzer liegen. Wie sie im Regents Park
eine Handvoll Waldhyazinthen stiehlt. Der Saft aus den Stängeln
tropft ihr in die Hand, läuft ihr in den Ärmel. Sie stellt sie in
ein Marmeladenglas. Die Blumen halten nicht. Sie wirft sie aus dem
Fenster, mitsamt dem Marmeladenglas. Wie sie an ihrem abgeteilten
Fenster steht und zum Bürgersteig hinaufsieht, auf die Fußknöchel
der Passanten und ihre Schuhe, auf die Pfoten von Hunden und die
Räder von Kinderwagen. In der einen Hand hält sie eine Zigarette,
die sie nicht raucht, mit der anderen reißt sie sich die Haare
einzeln aus und lässt sie zu Boden schweben.
Genauso stand sie da, als eines Tages plötzlich
ihre Tür aufging.
»Hier hast du dich also verkrochen«, sagte die
Besucherin.
Lexie sah sie an, aber sie erkannte sie nicht
gleich. Es war
eine Frau mit kurzgeschnittenen Haaren, in einem Hängermantel und
flachen Schnallenschuhen.
»Daph?«, sagte Lexie.
»Du großer Gott.« Daphne blieb kopfschüttelnd vor
ihr stehen und musterte sie stumm, als ob es ihr momentan die
Sprache verschlagen hätte. »Wie siehst du denn aus?«, fragte sie
schließlich.
»Wieso?«
»Was hast du denn mit deinen …?«
»Meinen was?
»Ach, egal.« Daphne schnalzte missbilligend mit der
Zunge. Sie bediente sich aus der Zigarettenschachtel, die auf der
Fensterbank lag, und knöpfte ihren Mantel auf. Sie wollte ihn wohl
auch ablegen, aber nachdem sie sich das Zimmer ein bisschen genauer
angesehen hatte, besann sie sich eines Besseren. Sie wanderte auf
und ab, verpasste dem Bett einen Fußtritt, drehte den Wasserhahn
auf und wieder zu, zupfte an der sich abschälenden Tapete.
»Herrgott«, sagte sie zuletzt. »Was für ein Verlies. Und stinken
tut es auch. Wie viel zahlst du dafür?«
»Das geht dich nichts an.«
»Lex.« Daphne packte sie bei den Schultern. »Das
kann so nicht weitergehen. Hast du verstanden?«
»Was kann so nicht weitergehen?«
»Das hier.« Sie zeigte auf das Zimmer. »Und das
da.« Sie zeigte auf Lexies Kopf.
Lexie riss sich los. »Ich weiß nicht, was du
meinst.«
»Du darfst dir das nicht antun. Dir nicht. Und
Laurence und mir nicht. Wir haben uns wahnsinnige Sorgen um dich
gemacht. Wir dachten schon …«
»Tut mir leid.« Lexie drückte ihre Zigarette in dem
Aschenbecher auf der Fensterbank aus.
Daphne nahm den Kaschmirschal vom Sessel und
fuchtelte ihr damit wütend vor dem Gesicht herum. »Das bringt ihn
doch auch nicht wieder zurück. Und was meinst du eigentlich, was er
dazu sagen würde? Wenn er dich jetzt sehen könnte?«
»Leg das wieder hin«, sagte Lexie. Daphne merkte,
dass sie zu weit gegangen war, und gehorchte sofort. Sie ließ sich
auf einen Stuhl sinken und paffte nachdenklich vor sich hin. Lexie
drehte sich wieder zum Fenster, wo gerade jemand in braunen Schuhen
vorüberging.
»Erinnerst du dich an Jimmy?«, f ragte
Daphne.
»Jimmy?«
»Großer Kerl, rote Haare, arbeitet beim Daily
Courier. Hatte vor Urzeiten mal ein Techtelmechtel mit
Amelia.«
»Hm.« Lexie hob den Aschenbecher hoch und stellte
ihn wieder hin. »Kann sein.«
»Ich hab ihn gestern Abend im French Pub getroffen.
Er hat einen Job für dich.«
Lexie drehte sich um. »Einen Job?«
»Ja, einen Job. Du weißt doch noch, was das ist?
Man arbeitet und kriegt Geld dafür. Draußen in der Welt.« Daphne
schnippte ihre Asche in den Kamin. »Es ist alles bereits geregelt.
Du fängst Montag an.«
Lexie suchte fieberhaft nach einer glaubhaften
Ausrede, aber ihr fiel keine ein. »Was ist denn das für ein Job?«,
fragte sie.
»Sie brauchen jemanden bei den
Familienanzeigen.«
»Bei den Familienanzeigen?«
»Ja.« Daphne seufzte genervt. »Schon mal gehört?
Geburten, Todesfälle, Eheschließungen? Ist nicht besonders
spannend, und du könntest das im Schlaf, aber es ist immer noch
besser als das hier.«
»Geburten, Todesfälle, Eheschließungen«,
wiederholte Lexie.
»Ja. Alle wichtigen Dinge im Leben.«
»Warum nimmst du den Job nicht selber an?«
Daphne zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht,
ob ich die Richtige dafür wäre. Ich in der Fleet Street? Wohl eher
nicht.«
»Vielleicht bin ich auch nicht die Richtige
dafür.«
Daphne stand auf und klopfte ihren Mantel ab.
»Doch«, sagte sie. »Das bist du. Oder du könntest es zumindest
werden. Auf jeden Fall ist es besser, als in diesem Rattenloch
langsam den Verstand zu verlieren. Also dann. Montag, neun Uhr.
Pünktlich. Komm ja nicht zu spät.« Sie hakte sich bei ihr unter.
»Los, Lexie. Zieh dir was über.«
»Wo willst du mit mir hin?«
»Wir gehen essen. Du siehst so aus, als ob du eine
anständige Mahlzeit vertragen könntest. Ich hab Jimmy um zehn
Shilling angehauen. Das Glück ist uns hold. Auf geht’s.«

An Lexies erstem Tag beim Daily Courier
bekam sie einen Arbeitsplatz zugewiesen, der zwischen einem
größeren Schreibtisch und einem Bücherregal eingezwängt war, in
einem kleinen Büro, das von einem langen Korridor abging; die Decke
war niedrig, der Boden uneben, und das trübe Fenster gab den Blick
frei auf einen Durchgang, der den Nash Court mit der Fleet Street
verband. Es war gespenstisch still hier drin. Kein Mensch war zu
sehen. Ob sie zu früh dran war?
Sie setzte sich an ihren Tisch und stellte die
Tasche darunter. Der grüne Lack des Stuhls war stellenweise
abgeplatzt, ein Bein wackelte. Auf dem Tisch waren eine
Schreibmaschine,
eine Schreibunterlage und eine rostige Schere. Lexie nahm die
Schere in die Hand, öffnete sie, schloss sie wieder. Wenigstens
waren die Klingen scharf. Auf dem Nachbarschreibtisch war ein
Papierstapel ins Rutschen geraten und hatte sich halb auf den ihren
ergossen. Sie schob ihn wieder hinüber und schichtete ihn
ordentlich auf. Sie nahm eine große Henkeltasse von ihrem Tisch und
sah in die dunklen Tiefen. Ein starker Kaffeegeruch stieg ihr in
die Nase. Sie stellte die Tasse wieder hin. Auf ihrer
Schreibmaschine lehnte ein Zettel: »Jones wg. Abgabe f ragen,
Termin zwei Wo.«
Als es unten im Durchgang laut wurde, stand sie auf
und trat ans Fenster. Von der Fleet Street kamen Leute herüber. Aus
ihrer erhöhten Perspektive wirkten ihre Köpfe und Nacken merkwürdig
verwundbar.
Kurz vor der Mittagspause kam ein grauhaariger Mann
im wehenden Trenchcoat ins Büro gestürzt. Vor sich hin schimpfend,
wuchtete er eine prallvolle Aktentasche auf seinen Schreibtisch,
warf sich auf den Stuhl und griff zum Telefonhörer. »GEO fünf sechs
neun eins«, murmelte er. Während er die Nummer wählte, bemerkte er
Lexie.
»Hoppla«, sagte er überrascht und ließ den Hörer
klappernd auf die Gabel fallen. »Wer sind Sie denn?«
»Lexie Sinclair. Die neue Anzeigenkraft. Man hat
mir gesagt …«
Aber der Mann hatte die Hände vors Gesicht
geschlagen und wetterte: »O Gott, o Gott, o Gott, hört denn
hier eigentlich keiner auf mich? Hab ich es ihnen nicht gesagt? Hab
ich es ihnen nicht ausdrücklich gesagt? Ich will nicht schon wieder
eine …« Er zeigte mit dem Finger auf Lexie. »Nichts für ungut,
Werteste, aber so geht das nicht. Nicht mit mir. Ich rufe sofort
Carruthers an.« Er riss den Hörer
hoch. »Nein, doch nicht.« Er knallte ihn wieder auf die Gabel.
»Was soll ich machen?« Die Frage schien an Lexie gerichtet.
»Carruthers ist bestimmt noch nicht im Haus. Simpson? Vielleicht
kann der helfen.«
Lexie stand auf. »Ich wusste nicht, wo ich anfangen
sollte«, sagte sie. »Aber vorhin hat ein Korrektor die Druckfahnen
für die heutige Ausgabe gebracht, also hab ich sie durchgesehen.
Bitte sehr.« Er riss sie ihr misstrauisch aus der Hand. »Ich kenne
ja Ihre Hausregeln noch nicht«, fuhr sie fort. »Deshalb habe ich
alle Stellen, bei denen ich mir nicht hundertprozentig sicher war,
mit einem Fragezeichen gekennzeichnet.«
Der Mann schob sich die Brille in die strubbeligen
Haare und beugte sich tief über die Fahnen. Erst über die eine,
dann die nächste, dann die dritte. »Hmm«, machte er. »Aha.« Als er
fertig war, ließ er die Seiten auf den Schreibtisch sinken. Er
legte den Kopf in den Nacken und faltete die Hände. »Beim
Courier setzen wir die Titel von Einzelgedichten nicht
kursiv«, sagte er schließlich mit Blick an die Decke.
»Verstehe.«
»Von Buchtiteln ja, aber nicht von Einzelgedichten
oder Aufsätzen aus einer Sammlung.«
»Mein Fehler.«
»Wo haben Sie so gut Korrekturlesen gelernt?«
»Bei … meiner letzten Stelle.«
»Hmm«, sagt er noch einmal. »Können Sie
tippen?«
»Ja.«
»Können Sie kürzen?«
»Ja.«
»Können Sie redigieren?«
»Auch.«
»Und wo war das, wo Sie zuletzt gearbeitet
haben?«
Lexie hielt kurz inne. »Bei einer
Zeitschrift.«
»Hmm.« Er warf die Fahnen auf ihren Schreibtisch.
»Sie müssen sie mit Ihrem Kürzel abzeichnen«, sagte er. »Sonst
finden sie nie wieder zu uns zurück.« Er blätterte in ein paar
Papieren, nahm einen Bleistift aus dem Ständer und steckte ihn sich
hinters Ohr. »Was stehen Sie noch da herum?« Er scheuchte sie zur
Tür. »Bringen Sie die Fahnen zurück in die Korrekturabteilung.
Rufen Sie Jones an. Finden Sie heraus, wann er zu liefern gedenkt.
Schauen Sie nach, ob das Kreuzworträtsel schon gesetzt ist. Und Sie
müssen die Familienanzeigen tippen. Mir ist es immer am liebsten,
wir haben für mindestens drei Tage Material im Sack. Und die
Landleben-Kolumne. Husch, husch, Beeilung.«
Die folgenden Monate verbrachte Lexie mit dem
Tippen von Familienanzeigen: Geburten, Heiraten und Sterbefälle -
samt Lebensdaten der Verblichenen und den Namen ihrer
Hinterbliebenen sowie den Adressen der Bestattungsinstitute für
Blumenspenden. Sie entwickelte ein besonderes Geschick dafür, dem
widerspenstigen Jones Texte abzuringen, ihren Chef Andrew Fuller zu
beruhigen, wenn er die Beherrschung zu verlieren drohte, weil das
Polster an Landleben-Kolumnen auf unter fünf geschrumpft war, und
ihm Nachrichten von Mrs. Fuller zu übermitteln, wann in Kennington
das Abendessen auf dem Tisch stehen würde. Darüber hinaus musste
sie Strategien entwickeln, sich den Annäherungsversuchen ihrer
ledigen männlichen Kollegenschaft - sowie einiger Ehemänner - zu
entziehen. Es dauerte nicht lange, und sie hatte mehrere Antworten
auf Lager, um Einladungen zum Mittagessen, zu einem Bierchen nach
Feierabend oder einem Theaterbesuch todsicher abzuschmettern.
Fuller unterstützte sie dabei nach besten Kräften. Er sah es ganz
und gar nicht gern, wenn jemand versuchte, seine Mitarbeiterin
von ihren Aufgaben abzulenken. »Sie brauchen gar nicht hier
herumzuschwarwenzeln«, schnauzte er jeden an, der sich mit einem
Blumenstrauß oder Konzertprospekt in der Hand hoffnungsf roh in ihr
Büro wagte. »Lassen Sie die Frau arbeiten!« Sie erwarb sich den
Ruf, ernst, distanziert und unnahbar zu sein. Einer ihrer
Möchtegernverehrer taufte sie einen »Blaustrumpf«, und das war das
einzige Mal, dass sie wirklich ungemütlich wurde. Mittags ging sie
mit Fuller, dem Redakteur der Frauenseiten oder Jimmy zum Essen in
den Pub. Eine Zeitlang hielt sich das - von Jimmy nicht aus der
Welt geräumte - Gerücht, sie hätte ein Verhältnis mit ihm
angefangen, dabei beriet sie ihn nur bei seinen Liebesproblemen mit
einer anderweitig verlobten Frau. Das hektische Tempo der Zeitung,
das ihr kaum Zeit zum Nachdenken ließ, tat ihr gut. Der
Courier war wie eine unersättliche Maschine, die ständig
gefüttert werden musste, und sobald das Tagespensum geschafft war,
ging es nahtlos mit der Arbeit für die nächste Augabe weiter. Es
gab keinen Stillstand, keine Verschnaufpausen, in denen sie zur
Besinnung hätte kommen können. Das einzige Foto, das aus ihrer
Anfangszeit beim Courier erhalten geblieben ist, zeigt eine
ernste Frau mit kurzem Haar, die, den unvermeidlichen Kaschmirschal
um den Hals, auf einer Schreibtischkante hockt.
So hätte es noch jahrelang weitergehen können, wenn
sie sich - so kam es ihr zumindest später vor - nicht selbst
verraten hätte. Sie hatte gerade die Fahnen eines Kreuzworträtsels
in der Korrekturabteilung abgegeben, als sie im Korridor an drei
Männern vorbeikam, die sich unterhielten. Es waren der
stellvertretende Chef redakteur, der Redaktionsassistent und der
Ressortleiter der »Letzten Seite«.
»… ein Porträt vorgeschlagen«, sagte der
Ressortleiter gerade. »Und zwar von Hans Hofmann.«
»Von wem?«, unterbrach ihn Carruthers, der
stellvertretende Chefredakteur.
»Eben. Das ist es ja gerade. Meiner Meinung nach
…«
»Abstrakter Expressionist, geboren in Bayern«,
hörte Lexie sich zu ihnen sagen »Anfang der Dreißiger in die USA
emigriert. Nicht nur als Maler, sondern auch als Lehrer bekannt. Zu
seinen Schülern gehören Lee Krasner, Helen Frankenthaler und Ray
Eames.«
Die drei Männer starrten sie an. Dem Ressortleiter
schien eine Bemerkung auf der Zunge zu liegen, aber auch er blieb
stumm.
»Entschuldigung«, murmelte Lexie. Im Weggehen hörte
sie noch, wie Carruthers, den sie lediglich vom Sehen kannte,
sagte: »Na, wie mir scheint, haben Sie Ihren Experten bereits
gefunden.«
Zehn Minuten später kreuzte der Ressortleiter bei
Lexie auf. Fuller, der in die Kreuzworträtselliste vertieft war,
blickte misstrauisch hoch, aber diesen Besucher schnauzte er nicht
an, er solle gefälligst nicht hier herumscharwenzeln.
»Hören Sie«, sagte der Mann. »Anscheinend kennen
Sie sich mit diesem Hofmann aus. Die Tate hat gerade zwei seiner
Bilder angekauft. Könnten Sie mir darüber bis morgen tausend Wörter
liefern? Machen Sie sich nicht allzu viele Gedanken um den Stil -
die Fakten würden mir schon reichen. Ich lass es dann von einem
meiner Jungs umschreiben.«
Der Artikel erschien ohne eine einzige Änderung. Es
folgte ein Text über David Hockneys künstlerische
Auseinandersetzung mit William Hogarth, dann ein Porträt des neuen
Chefintendanten des National Theater, danach ein Beitrag für die
Frauenseiten zu dem Thema, warum sich
nicht mehr junge Frauen an Kunstakademien bewerben. Nachdem dieser
Artikel erschienen war, bestellte Carruthers Lexie in sein
Büro.
Er hatte seine langen Beine auf den Schreibtisch
gelegt, so dass man seine burgunderroten Socken sehen konnte, und
balancierte ein Lineal zwischen den Zeigefingern. Er bedeutete ihr,
Platz zu nehmen. »Eine Frage«, sagte er. »In welcher Funktion
beschäftigen wir Sie zur Zeit?«
»Als Anzeigenassistentin.«
»Anzeigenassistentin«, wiederholte Carruthers
bedächtig. »Ich wusste gar nicht, dass es so einen Job bei uns
gibt. Sie arbeiten unter Andrew Fuller, richtig?«
Lexie nickte.
»Und zu Ihren Aufgaben gehört was genau?«
»Geburts-, Todes- und Heiratsanzeigen aufnehmen.
Dem Kreuzworträtsel und der Landleben-Kolumne nachjagen. Das
Vermischte Korrektur lesen, Texte redigie…«
»Gut, gut.« Er schnitt ihr mit einem Flippen des
Lineals das Wort ab. »Mir scheint, wir haben Sie
unterschätzt.«
»Ach?«
Carruthers schwang die Beine vom Tisch und fixierte
sie mit zusammengekniffenen Augen. »Und jetzt verraten Sie mir doch
mal, wo Sie in Wahrheit herkommen, Miss Lexie Sinclair.«
»Was meinen Sie damit?«
»So wie Sie schreiben, schreibt keine Tippse. Wer
so berichtet, wie Sie berichten, dem hat man das nicht in der
Anzeigenabteilung in die Wiege gelegt. Sie müssen es irgendwo
gelernt haben, und ich will wissen, wo.«
Lexie faltete die Hände. Sie sah ihm in die Augen.
»Bevor ich hier angefangen habe, war ich bei einer
Zeitschrift.«
»Was für eine Zeitschrift?«
»Elsewhere.« Sie hatte das Wort seit vielen
Monaten nicht mehr ausgesprochen. Es war ein seltsames Gefühl, als
ob es ein Fremdwort wäre, dessen Bedeutung man sich nicht ganz
gewiss ist.
»Bei Innes Kent?«, f ragte Carruthers.
Sie starrten sich an. Dann neigte Lexie bejahend
den Kopf, einmal. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und
lächelte leise.
»Aha«, sagte er. »Jetzt verstehe ich alles. Wenn
ich gewusst hätte, dass Innes Kent Ihr Lehrer war, hätte ich Sie
schon vor Monaten aus der Anzeigenabteilung rausgeholt. Ein
Herausgeber von seinem Kaliber. Was für eine Tragödie, was mit ihm
passiert ist. Von der Zeitschrift ganz zu schweigen. Ich kannte ihn
ein bisschen. Ich wäre auf seine Beerdigung gegangen, wenn ich
davon gewusst hätte, aber …« Er redete immer weiter. Lexie krallte
ihre Hände ineinander und fing an, die Stifte in dem Topf auf
seinem Schreibtisch zu zählen. Drei orangefarbene. Vier rote. Sechs
blaue, zwei kürzer als die anderen.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Carruthers sie
interessiert musterte. »Wie bitte?«, f ragte sie.
»Sie sind nicht die Frau, mit der er …?«
Sie ließ das Kinn auf die Brust sinken. Wenn sie
lange genug auf den Stoff ihres Kleides blickte und den Strömen und
Wirbeln des Paisleymusters bis zu ihrem Ende folgte, würde dieser
Kelch an ihr vorübergehen.
»Entschuldigen Sie«, murmelte Carruthers. Er
räusperte sich, legte raschelnd ein paar Papiere auf die andere
Schreibtischseite. »Die Sache ist die«, dröhnte er schließlich mit
seiner normalen Stimme weiter. »Wir möchten, das Sie für uns
schreiben. Sie bekommen das Doppelte von dem, was Sie mit ihrer
derzeitigen Tätigkeit verdienen, und Sie werden
für die unterschiedlichsten Ressorts arbeiten. Außerdem schließt
Ihr neuer Aufgabenbereich unter Umständen einiges an Reisetätigkeit
mit ein. Sie werden die einzige Frau in der Redaktion sein, aber
ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie damit Probleme haben. Nach
allem, was ich gehört habe, können Sie gut auf sich selber
aufpassen.« Er winkte sie hinaus. »Gehen Sie, und suchen Sie sich
einen Schreibtisch beim Rest der Truppe. Viel Glück.«
Lexie wurde beim Courier zur
festangestellten Journalistin befördert. Sie war tatsächlich die
einzige Frau in dieser Funktion und sollte es auch noch einige
Jahre bleiben. Die Einladungen zum Mittagessen ebbten ab, als ob
von ihr in ihrer neuen Position ein Kraftfeld ausginge, dem sich
kein Kollege zu nähern wagte. Sie nahm sich eine kleine Wohnung in
Chalk Farm, aber sie war fast nie zu Hause. Sie lebte, sie
arbeitete, sie reiste. Sie fing eine bedeutungslose Affäre mit
Felix an, ließ ihn fallen, ließ sich wieder mit ihm ein. Daphne zog
mit einem Künstler nach Paris und ward nie mehr gesehen; Laurence
und Lexie fehlte sie sehr. Die Angle Gallery lief so gut, dass
Laurence und David eine zweite eröffnen konnten, die New Angle
Gallery. Elsewhere kam als London Lights wieder auf
den Markt, mit einem neuen Herausgeber, neuen Mitarbeitern und
einem neuen Redaktionsbüro. Man konnte die Zeitschrift an jedem
Kiosk kaufen. Lexie flog nach New York, Barcelona, Berlin, Florenz.
Sie interviewte Künstler, Schauspieler, Schriftsteller, Politiker,
Musiker. Sie schrieb Artikel über Radiosender, Abtreibungsgesetze,
Atomwaffengegner, Teenager und ihre Motorräder, Häftlingsrechte,
Witwenrenten, die Scheidungsreform, die längst fällige Erhöhung des
Frauenanteils unter den Parlamentsabgeordneten. Während dieser Zeit
erhielt sie über die Poststelle der Zeitung hin und
wieder einen anonymen Brief in einer ungelenken, jugendlichen
Handschrift. Weiß Ihr Arbeitgeber, dass Sie Bilder stehlen?,
stand in dem einen. Erst nehmen Sie mir meinen Vater weg und
dann mein Erbe, in einem anderen. Lexie zerriss sie in kleine
Schnipsel und versenkte sie auf dem Grund des Papierkorbs. Sie nahm
ab, sie rauchte mehr und bekam von den vielen Zigaretten eine
tiefere, rauere Stimme. Wer von ihr interviewt wurde, empfand sie
als einfühlsam und prägnant, manchmal allerdings auch als brutal
direkt. Den meisten ihrer männlichen Kollegen ging sie auf die
Nerven. Das wusste sie, aber es war ihr egal. Sie spulte das Leben
und ihre Arbeit herunter, ohne sich eine Pause zu gönnen; abends
und am Wochenende fand man sie meistens an ihrem Schreibtisch. Sie
trug die Mode der Zeit - Miniröcke, hohe Stiefel, grelle Farben -,
aber mit einer Lässigkeit, die an Desinteresse grenzte. Über Innes
sprach sie nie, mit niemandem. Wenn Laurence ihn erwähnte, sagte
sie nichts darauf. Sie hängte seine Bilder in ihrer kleinen Wohnung
auf. Sie aß im Stehen und sah sie sich an.
Und als sie irgendwann glaubte, ihr Leben würde
unabänderlich im selben Trott weitergehen, geschah - und wie sollte
es auch anders sein? - natürlich doch etwas, das sie aus ihrer
Abkapselung wieder herausholte.

Lexie rauscht durch die Gänge der BBC, biegt um
eine Ecke und betritt, ohne anzuklopfen, Felix’ Büro. Felix hat die
Füße auf dem Schreibtisch und telefoniert, den Hörer zwischen Kinn
und Schulter geklemmt. Als sie hereinkommt, schießen seine
Augenbrauen in die Höhe. Sie haben sich seit Wochen nicht mehr
gesehen. Zurzeit haben sie wieder einmal eine
Beziehungspause.
Felix legt auf und springt vom Stuhl, er fasst sie
bei den Schultern und küsst sie auf beide Wangen.
»Liebling«, säuselt er. »Was für eine unerwartete
Freude.«
»Geht es nicht ein bisschen weniger schwülstig?«
Lexie nimmt Platz und stellt ihre Tasche neben sich auf den Boden.
Sie kann es selbst nicht ganz verstehen, aber sie ist tatsächlich
etwas nervös.
Felix lehnt sich lässig an seinen Schreibtisch,
verschränkt die Arme und betrachtet die wunderschöne Erscheinung im
smaragdgrünen Kleid, die ihm so unverhofft ins Büro geschneit ist.
Sie hat eine neue Frisur, im Nacken kürzer als früher. Trotz ihrer
Ruppigkeit freut er sich sehr darüber, dass sie ihn, schön wie
immer, einfach aus heiterem Himmel überfallen hat. Bis jetzt musste
er immer ihr nachlaufen. Er wird sie zum Mittagessen
einladen. Zu Claridge’s vielleicht. Er lächelt. Lexie ist wieder
da. Ihr letzter Streit - worum ging es dabei noch mal? - ist kaum
mehr als eine blasse Erinnerung. Was als ein stinknormaler Tag
angefangen hat, verspricht plötzlich, ein auf regendes Ende zu
nehmen.
Er will gerade vorschlagen, dass sie zusammen einen
Happen essen gehen, da sagt Lexie: »Ich muss mit dir reden.«
Felix’ Miene verdüstert sich. »Liebling, wenn es um
die kleine Amerikanerin geht, musst du mir glauben, die Sache ist
vorbei und …«
»Es geht nicht um die Amerikanerin.«
»Aha.« Felix runzelt die Stirn und widersteht dem
Impuls, auf seine Uhr zu sehen. »Wollen wir es dann vielleicht beim
Essen besprechen? Ich dachte an Claridge’s.«
»Gute Idee.«
Sie steigen in ein Taxi. Als er ihr die Hand aufs
Bein legt, stößt sie sie nicht weg, was Felix als gutes Zeichen
dafür
nimmt, dass ihm weitere Verlegenheiten wegen seiner Affäre erspart
bleiben und sie noch heute zusammen im Bett landen könnten. Die
Fahrt bis zum Claridge’s dauert nur wenige Minuten. Sie gehen durch
die Drehtür hinein, Felix wird vom Oberkellner erkannt, sie
bekommen einen guten Tisch, unter der Kuppel. Während sie die
Speisekarte studieren, sagt Lexie: »Übrigens …«
Felix kann sich nicht zwischen gegrillter Seezunge
und Steak entscheiden. Wie ist seine Stimmung? Ist ihm eher nach
Fisch oder nach Fleisch? Steak oder Seezunge? »Hmm?«, brummt er, um
zu zeigen, dass er ihr zuhört.
»Ich bin schwanger.«
Er klappt die Speisekarte zu. Er legt sie hin. Er
fasst nach Lexies Hand. »Verstehe«, sagt er bedächtig. »Und hast du
dich schon entschieden, was du …?«
»Ich behalte es«, antwortet sie, den Blick fest auf
die Speisekarte geheftet.
»Natürlich.« Wenn sie doch bloß die verdammte Karte
weglegen würde. Am liebsten würde er sie ihr aus der Hand reißen
und auf den Boden schmeißen. Doch dann ist seine Wut plötzlich
verflogen. Im Gegenteil, ihm ist zum Lachen zumute. Er muss sich
die Hand vor den Mund halten, um nicht laut loszuprusten.
»Tja, mein Liebling«, sagt er. Sie sieht, dass er
sich das Lachen verbeißt, der Mistkerl. »Du bist eben immer für
eine Überraschung gut. Ich hätte dich nie als den mütterlichen Typ
eingeschätzt.«
Sie zieht ihm die Hand weg. »Ob ich das wirklich
bin, muss sich erst noch zeigen.«
Er bestellt Champagner, und er trinkt zu viel. Er
sonnt sich in Selbstgefälligkeit und macht sogar ein, zwei
Bemerkungen über seine Manneskraft, die Lexie geflissentlich
überhört. Er bringt wieder einmal das Thema Heirat zur Sprache.
Lexie lässt sich auf keine Diskussion darüber ein. Als ihnen der
Kellner das Essen bringt, sagt er, jetzt müsse sie ihn heiraten.
Sie blafft zurück, sie müsse gar nichts. Erbost will er wissen,
warum sie ihm immer einen Korb gibt. Wo doch die Frauen Schlange
stehen, um ihn vor den Traualtar zu schleppen? Dann heirate eben
eine von denen, sagt Lexie, such dir eine aus. Aber ich will dich,
sagt Felix, und sieht sie über sein Champagnerglas hinweg finster
an.
Als sie wieder draußen auf dem Bürgersteig stehen,
sind sie immer noch in gereizter Stimmung.
»Sehen wir uns heute Abend?«, fragt Felix.
»Ich geb dir Bescheid.«
»Jetzt sei doch nicht so. Ich kann es nicht haben,
wenn du mich abwimmelst.«
»Felix, du bist blau.«
Er nimmt ihren Arm und will gerade anfangen, ihr zu
erklären, dass es langsam Zeit wird, ihren Dauerstreit zu beenden
und sich in die Notwendigkeit einer Heirat zu fügen, als Lexie
hinter ihm ein bekanntes Gesicht entdeckt.
Im ersten Augenblick weiß sie nur, dass sie diese
Person kennt, aber sie kann sie nicht einordnen. Sie starrt in das
bleiche, breite Gesicht, die runden Augen, auf die sehnigen Hände,
die sich um die Henkel einer Handtasche krallen, das dünne Haar,
das mit einem gepunkteten Band nach hinten gebunden ist, den leicht
geöffneten Mund. Wer ist die Frau? Und woher kennt Lexie sie?
Dann weiß sie es plötzlich. Es ist Margot Kent. Als
erwachsene Frau. In Stöckelschuhen und Minirock kommt sie die Brook
Street herauf. Die Worte Bilder und das wird Ihnen noch
leidtun zucken Lexie durch den Kopf. Die ungelenke blaue
Jungmädchenschrift.
Sie kommt immer näher, ihre Schuhe scharren über
das Pflaster. Ihre Blicke treffen sich, und im Vorbeigehen verdreht
Margot den Kopf nach ihr. Dann bleibt sie stehen. Sie sieht Lexie
mit dem gleichen stieren Blick an, den sie früher auch schon
hatte.
Felix dreht sich um. Er sieht eine junge Frau, und
da er nun einmal ist, wer er ist, geht er selbstverständlich davon
aus, dass sie seinetwegen stehen geblieben ist. »Hallo.« Er nickt
ihr zu. »Schöner Tag, nicht wahr?«
»Ja«, antwortet Margot. »Ein wunderschöner Tag.«
Sie sieht ihn fest und abwartend an, dann breitet sich ein Lächeln
auf ihrem Gesicht aus. »Ich kenne Sie«, sagt sie und macht einen
Schritt auf ihn zu. »Sie sind im Fernsehen.«
Felix lächelt zurück, charmant wie immer, aber auch
ein wenig verächtlich. »Momentan nicht, wenn ich das sagen
darf.«
Margot lacht, ein unvorteilhaftes Gackern. Sie
lässt den Blick zwischen Felix und Lexie hin und her wandern und
entfernt sich rückwärtsgehend mit einem kleinen Winken. »Man sieht
sich.«
»Auf Wiedersehen«, sagt Felix und legt den Arm um
Lexie. »Jetzt hör mir mal zu«, beginnt er.
Lexie schüttelt ihn ab. Umweht von ihren dünnen
Haarsträhnen, sieht Margot noch immer zu ihnen herüber. »Kennst du
sie?«, zischelt Lexie.
»Wen?«
»Die Frau.«
»Was für eine Frau?«
»Die, zu der du gerade hallo gesagt hast.«
»Die? Nein.«
»Bestimmt nicht?«
»Bestimmt nicht was?«
»Du kennst sie bestimmt nicht?«
»Wen?«
»Felix.« Lexie trommelt ihm auf die Brust. »Stell
dich nicht blöder, als du bist. Die Frau da, gerade. Kennst du
sie?«
»Nein, das sag ich doch. Ich hab sie noch nie im
Leben gesehen.«
»Aber warum hast du sie dann …«
Felix umfasst ihr Gesicht. »Was soll eigentlich das
ganze Palaver?«
»Du musst mir versprechen …« Lexie bricht ab. Sie
weiß nicht, was für ein Versprechen sie ihm abnehmen soll, aber
irgendetwas beunruhigt sie. Sie denkt an Margot und ihren Minirock,
an ihr träges Lächeln und ihr dünnes, blond gefärbtes Haar. Wie sie
Felix angesehen hat, mit einem Hauch von Schadenfreude. Erst
nehmen Sie mir meinen Vater weg. »Du musst mir versprechen …
Ich weiß auch nicht. Versprich mir, dass du, wenn du sie jemals
wiedersiehst, nicht hallo zu ihr sagst. Dass du die Finger von ihr
lässt.«
»Um Himmels willen, Lexie, was …«
»Versprich es mir!«
Er lächelt zu ihr hinunter. »Ich verspreche es,
wenn du mich heiratest.«
»Felix, es ist mir bitterernst. Sie ist … Sie ist …
Versprich es mir einfach, bitte.«
»Okay, okay.« Er gibt gereizt nach. »Versprochen.
Also, was ist, sehen wir uns heute Abend?«

Lexie hockt umringt von ihren Notizen im
Schneidersitz auf dem Bett, dem einzigen Ort, wo sie noch
einigermaßen bequem arbeiten kann. Sie ist im neunten Monat, und
bis in die Redaktion ist es ihr inzwischen zu weit. Bevor sie sich
schlafen legt, will sie unbedingt noch diesen Artikel über das
italienische Kino fertigschreiben.
Sie nimmt den Bleistift hinter ihrem Ohr hervor und
greift nach einem Blatt Papier, das links von ihr liegt; der Stift
rutscht ihr aus den Fingern, rollt über die Bettdecke und fällt auf
den Boden. Am liebsten würde sie ihn liegen lassen, aber sie hat
keinen anderen. Sie hebt sich die Schreibmaschine vom Schoß, wühlt
sich durch ihre Notizen, lässt sich auf alle viere nieder und sieht
unter das Bett.
Keine Spur von dem Stift. Sie krabbelt zum
Nachttisch und lugt auch darunter. Dabei durchfährt sie auf einmal
ein reißendes Gefühl in der Magengrube. Der Stift ist vergessen;
Lexie richtet sich auf. Der Schmerz verschwindet so schnell, wie er
gekommen ist. Sie setzt sich wieder aufs Bett und liest sich durch,
was sie geschrieben hat. Gegen Ende des Artikels kommt das Gefühl
wieder zurück. Lexie sieht auf ihren Bauch und runzelt die Stirn.
Es kann nicht sein, es kann einfach nicht sein. Es ist noch viel zu
früh. Sie muss morgen ein Interview führen - mit einem politischen
Aktivisten, hinter dem sie schon seit Monaten her ist -, und bis
Ende der Woche muss sie einen Leitartikel schreiben. Das Gefühl
kommt wieder, stärker diesmal. Fluchend knallt Lexie die Blätter
aufs Bett. Das darf einfach nicht wahr sein. Sie stapft in die
Küche, um sich eine Tasse Tee zu machen, und als sie den Kessel
volllaufen lässt, spürt sie die Kontraktion der nächsten Wehe - ein
kleiner Stoß, wie wenn man zu schnell über eine Buckelbrücke fährt
oder im Meer durch eine Welle schwimmt.
»Hör mal«, sagt sie laut. »Das kannst du vergessen.
Du musst noch warten. Du kannst noch nicht raus. Hast du
verstanden?«
Während sie den Tee trinkt, sieht sie sich die
Bilder an -
den Bacon, den Pollock, die Hepworth, die Freuds. Sie bürstet sich
die Haare. Sie putzt ihre Zähne, und als sie ausspuckt, werden die
Stöße zu Krämpfen, als ob sich eine Faust ballt, als ob ein
Stoffbeutel zu stramm geschnürt wird.
Sie greift zum Telefon und ruft ein Taxi. »Zum
Royal Free Hosp…« Das Wort reißt ab; sie bringt nur noch ein »Au«
hervor.
Als sie sich auf der Entbindungsstation einfindet,
wird es draußen dunkel.
»Passen Sie auf«, sagt sie zu der Schwester am
Empfang. »Es ist noch viel zu früh dafür. Ich habe diese Woche noch
einen ganzen Berg Arbeit zu erledigen. Können Sie nicht irgendetwas
machen, dass es aufhört?«
»Das was aufhört?«, fragt die Schwester
verblüfft.
»Das hier.« Lexie zeigt auf ihren Bauch. Ist die
Frau ein bisschen schwer von Begriff? »Es ist zu früh. Es darf
jetzt noch nicht kommen.«
Die Schwester sieht sie über ihre Brille hinweg an.
»Mrs. Sinclair …«
»Miss.«
Schockierte Hebammen umringen sie. »Wo ist Ihr
Mann?«, fragt die eine und blickt sich suchend um. »Sie sind doch
wohl nicht allein gekommen?«
»Doch«, sagt Lexie und lehnt sich auf die Theke.
Die nächste Wehe ist im Anzug.
»Wo ist Ihr Mann?«
»Hab keinen.«
»Aber Mrs. Sinclair, es …«
»Miss«, verbessert sie erneut. »Und noch was …«
Doch wieder wird der Satz von einer Wehe abgeschnitten. Sie
klammert sich an die Theke. »Verdammt und zugenäht«, hört sie sich
brüllen.
»Du lieber Himmel.« Die Schwester schnalzt
missbilligend mit der Zunge. Dann hört Lexie, wie sie zu jemand
anderem sagt: »Rufen Sie den Kindsvater an? Wir haben seine
Telefonnummer hier und …«
»Unterstehen Sie sich«, schreit Lexie. »Ich will
ihn hier nicht haben, verflucht noch mal.«
Einige Stunden später klammert sie sich an das Bein
eines Krankenhausbetts, wie ein Matrose im Sturm, der sich
verzweifelt am Mast festhält, und immer noch sagt sie, dass es zu
früh ist, dass sie zu arbeiten hat, und sie flucht - pausenlos. Sie
flucht, wie sie noch nie in ihrem Leben geflucht hat.
»Stehen Sie vom Fußboden auf, Mrs. Sinclair.
Sofort«, sagt die Hebamme.
»Kommt gar nicht in Frage«, bringt Lexie zwischen
zusammengebissenen Zähnen hervor. »Und es heißt Miss, nicht Mrs.
Wie oft muss ich Ihnen das noch sagen?«
»Mrs. Sinclair, stehen Sie auf, und legen Sie sich
ins Bett.«
»Sie können mich mal«, sagt sie, und dann heult sie
und schreit und schiebt einen Schwall von Flüchen und üblen
Beschimpfungen hinterher.
»Keine Ausdrücke«, sagt die Hebamme tadelnd. Und
sie sagt es wieder und wieder. Wenn sie ihr nicht gerade befiehlt,
sich aufs Bett zu legen. Lexie kauert immer noch auf dem Boden, als
sie entbindet. Sie müssen das Kind in einem Handtuch auffangen. Der
Arzt sagt, er habe noch nie im Leben etwas Vergleichbares gesehen.
Wie eine Wilde, sagt er, oder ein Tier.
Keine Ausdrücke. So lauteten die ersten
Worte, die Lexies Sohn in seinem Leben hörte.
Später, während der Besuchszeit, strömten Männer in
Hüten und Trenchcoats auf die Station, die Blumensträuße brachten.
Lexie beobachtete sie, wie sie nervös an ihren Pralinenschachteln
nestelten. Enge Hemdkragen, viel zu glatt rasierte Gesichter.
Quietschende Schuhe und regennasse Hüte - und rote Hände, mit denen
sie sich auf die Bettchen ihrer Neugeborenen stützten. Lexie
lächelte auf ihren Sohn hinunter. In eine gelbe Decke gewickelt sah
er mit einem Blick zu ihr auf, in dem stand: Da bist du ja
endlich.
»Hallo«, flüsterte Lexie und schob ihm den
Zeigefinger in das kleine Händchen.
Neben ihr tauchte eine Schwester auf. »Sie sollen
das Kind lediglich beim Stillen halten. Sie ruinieren sich den
Rücken. Legen Sie ihn in sein Bettchen.«
»Aber ich will nicht«, sagte Lexie, ohne den Blick
von ihm zu nehmen.
Die Schwester seufzte. »Soll ich den Vorhang
zuziehen?«
Lexie riss den Kopf hoch. »Nein.« Sie zog das Kind
an sich. »Nein«, sagte sie noch einmal.
Gegen Ende der Besuchszeit hallten plötzlich feste,
selbstbewusste Schritte durch den Saal. Lexie kannte diese
Schritte. Da kam Felix auch schon an den Betten vorbeidefiliert,
und auf den Gesichtern der Frauen, die ihn mit bewundernden Blicken
verfolgten, leuchtete ein schwärmerisches Lächeln auf. Zu jener
Zeit war er jeden Tag im Fernsehen. Huldvoll lächelte er zurück.
Sein Mantel stand offen, als ob er in fliegender Eile hergehetzt
wäre, in der einen Hand einen riesigen Strauß Orchideen, in der
anderen einen Obstkorb. Lexie verdrehte die Augen.
»Liebling«, dröhnte er, als er an ihr Bett trat.
»Man hat mich gerade erst verständigt. Sonst wäre ich natürlich
viel früher gekommen.«
»Ach ja?«, sagte Lexie mit einem Blick auf die
Wanduhr.
»Musstest du nicht bis vor ein paar Minuten im Studio sein?«
Er legte die Blumen aufs Bett, auf Lexies Füße, und
sagte: »Ein Junge. Wunderbar. Wie geht es dir?«
»Es geht uns ausgezeichnet.«
Lächelnd beugte er sich zu ihr. »Herzlichen
Glückwunsch. Gut gemacht.« Er küsste sie auf die Wange. Dann ließ
er sich auf einen Stuhl fallen. »Obwohl ich ein bisschen böse mit
dir bin, dass du mir nicht gleich Bescheid gesagt hast. Du armer
Liebling, ganz allein hierherzufahren. Das war sehr ungezogen von
dir.« Er sah ihr tief in die Augen. »Ich habe meiner Mutter ein
Telegramm geschickt. Sie wird entzückt sein. Bestimmt ist sie schon
dabei, das Familientaufkleid rauszusuchen.«
»O Gott«, murmelte Lexie. »Die Mühe braucht sie
sich wirklich nicht zu machen. Felix, hast du nicht etwas
vergessen?«
»Was denn?«
»Warum du hergekommen bist, zum Beispiel.«
»Um dich zu besuchen, natürlich.«
»Und nicht vielleicht auch das Kind? Deinen Sohn?
Den du bis jetzt keines Blickes gewürdigt hast?«
Felix sprang auf und sah sich das Kind an. Ein
Anflug von Widerwillen, vermischt mit Angst, huschte über seine
Züge, bevor er sich schnell wieder auf seinen Stuhl flüchtete.
»Wunderschön«, verkündete er. »Perfekt. Wie wollen wir ihn
nennen?«
»Theo.«
»Ach.«
»Kurz für Theodore.«
»Ist das nicht ein bisschen zu …?« Er lächelte.
»Warum Theodore?«
»Weil mir der Name gefällt. Und zu ihm
passt.«
Er fasste nach ihrer Hand. »Mein Liebling«, begann
er leise. »Ich habe beim Hereinkommen mit den Schwestern
gesprochen. Sie sind der Meinung - die ich natürlich voll und ganz
teile -, dass du unmöglich allein leben kannst. Ich finde wirklich
…«
»Fang nicht wieder damit an, Felix.«
»Willst du nicht zu mir in die Gilliland Street
ziehen?«
»Nein.«
»Ich rede nicht vom Heiraten, ehrlich nicht. Aber
überleg es dir. Wir zwei, unter einem Dach …«
»Drei.«
»Wie bitte?«
»Das Kind, Felix.«
»Aber natürlich, drei. Ein Versprecher. Wir drei,
unter einem Dach. Das wäre das Beste. Die Schwestern finden das
auch, und …«
»Sei still!«, fuhr Lexie ihn an, so laut, dass
einige der in Bettjäckchen gehüllten Mütter zu ihnen herübersahen.
»Und was unterstehst du dich überhaupt, hinter meinem Rücken mit
den Schwestern über mich zu reden? Was bildest du dir eigentlich
ein? Ich werde nicht mit dir zusammenleben. Niemals.«
Felix ließ sich nicht erschüttern. »Wir werden
sehen«, sagte er und schloss seine Hand um die ihre.
Lexie verlässt das Krankenhaus auf eigene
Verantwortung so schnell wie möglich - sie kann die plumpe
Vertraulichkeit auf der Station nicht ertragen, dieses quasi
öffentliche Leben. Sie fährt mit dem Kind im Taxi nach Hause. Es
erscheint ihr als eine äußerst simple Gleichung: Sie ist als ein
Mensch ins Krankenhaus gegangen, sie kommt als zwei Menschen wieder
zurück. Theo schläft in der untersten
Schublade einer Kommode. Lexie fährt ihn in einem großen,
quietschenden silberfarbenen Kinderwagen spazieren, den sie von
einer Nachbarin geschenkt bekommen hat. Sie ist fast immer die
halbe Nacht auf. Obwohl sie damit gerechnet hat, zehrt es an ihren
Kräften. Sie steht im Morgenrock mit dem Kind am Fenster, sieht auf
die Straße hinunter, wartet auf das Surr-stop-surr des Milchwagens
und fragt sich, ob sie in der ganzen Stadt der einzige Mensch ist,
der nicht schläft. Theos Köpfchen liegt warm und schwer in ihrer
linken Armbeuge, immer in der linken, sein Ohr an ihrem Herzen, die
Glieder im Schlaf erschlafft. Im Zimmer schimmert metallisch weiß
die Morgendämmerung herauf. Um das Bett herum liegen die Spuren der
langen Nacht, die sie zusammen hinter sich gebracht haben: mehrere
volle Windeln, zwei zerknüllte Spucktücher, ein leeres Glas Wasser,
ein Töpfchen Zinksalbe. Lexie bleibt mit dem nackten Fuß an der
Teppichkante hängen und sieht erschrocken ihren Sohn an. Seine
schlafenden Züge umwölken sich für einen Augenblick, dann
entspannen sie sich wieder. Sein Händchen hebt sich und fährt durch
die Luft - er sucht etwas, zum Festhalten, zum Greifen, zum Trost
-, und als er eine Falte ihres Morgenrocks erwischt, klammert er
sich entschlossen fest.
Der Schock des Mutterseins besteht für Lexie nicht
in der Schlaflosigkeit, nicht in den Erschöpfungstiefs, nicht in
den Beschneidungen ihrer Freiheit, die sie auf die unmittelbare
Nachbarschaft einengen, sondern in der schieren Menge an
Hausarbeit: im ständigen Waschen, Zusammenlegen und Trocknen. Vor
Langeweile und Wut kommen ihr dabei fast die Tränen, und mehr als
einmal wirft sie einen Armvoll Wäsche an die Wand. Die anderen
Mütter, denen sie auf der Straße begegnet, sehen alle so kompetent,
so beherrscht
aus, die Handtasche über dem Kinderwagengriff, die akkurat
festgesteckten, fein bestickten Laken. Aber was ist mit dem
Waschen?, möchte Lexie sie f ragen. Hasst ihr das
Aufhängen und Zusammenlegen nicht auch?
Theo wächst aus der Schublade heraus. Er wächst aus
den selbstgestrickten, geschenkten Jäckchen heraus. Auch das kommt
für Lexie nicht überraschend, aber schneller als erwartet. Sie ruft
beim Courier an. Sie schreibt einen Artikel über die
Anthony-Caro-Ausstellung in der Hayward Gallery und kann ein
Bettchen kaufen. Theo wächst, bis er mit den Füßen unten am
Kinderwagen anstößt. Sie ruft wieder beim Courier an und
wird zu einer Redaktionssitzung eingeladen. Theo nimmt sie mit.
Carruthers ist anfangs entsetzt, dann fasziniert. Lexie lässt Theo
während der Besprechung auf ihren Knien wippen. Sie bekommt den
Auftrag, eine Schauspielerin zu interviewen. Sie nimmt Theo zu dem
Termin mit. Die Schauspielerin ist entzückt; Theo krabbelt unter
ihr Sofa, jagt ihre Katze. Dann schleppt er einen Schuh der
Schauspielerin an, dessen Riemchen er angekaut hat. Plötzlich ist
die Dame nicht mehr ganz so entzückt. Lexie kauft von ihrem Honorar
einen Sportkinderwagen. Er hat rote und weiße Streifen. Theo
rutscht darin ganz nach vorne, hält sich an seinen Knien fest und
lehnt sich in die Kurven. Eine Nachbarin, Mrs. Gallo, ist bereit,
Theo ein paar Tage in der Woche zu hüten. Sie stammt aus Ligurien
und hat acht Kinder großgezogen. Sie nimmt Theo auf den Schoß,
nennt ihn »angelino«, zwickt ihn in die Bäckchen und sagt: »Möge
Gott ihn beschützen.« Und Lexie fängt wieder an, in der Redaktion
zu arbeiten, um ein Einkommen zu haben und an ihr altes Leben
wieder anzuknüpfen. Obwohl ihre Kollegen wissen, warum sie eine
Zeitlang gefehlt hat, erwähnt kaum einer von ihnen das Kind, als ob
es sich nicht gehöre,
in dem lauten, konzentrierten Getriebe der Zeitung über so etwas
zu sprechen. Wenn sie morgens das Haus verlässt, hat sie das
Gefühl, dass zwischen ihr und ihrem Sohn ein Faden gespannt ist,
der sich, während sie durch die Straßen geht, Stück um Stück
abspult. Am Ende des Tages kommt es ihr so vor, als hätte sich der
Faden vollkommen aufgelöst. Fast wahnsinnig vor Sehnsucht nach
ihrem Kind, treibt sie die U-Bahn an, noch rasanter durch den
Tunnel zu rattern und die Schienen entlangzurasen, um sie möglichst
schnell zu ihm zurückzubringen. Wenn sie wieder bei ihm ist, dauert
es eine Weile, bis der Faden wiederhergestellt ist und genau die
richtige Länge hat - ungefähr einen halben Meter, dann ist sie
beruhigt. Sobald Theo abends eingeschlafen ist, setzt sie sich an
den Schreibtisch und beendet die Arbeiten, die sie tagsüber nicht
geschafft hat. Manchmal denkt sie, dass das Klappern der
Schreibmaschine, das sich in Theos Träume schleicht, für ihn so
etwas wie ein Schlaflied sein muss.
Als Theo anfängt, sich an den Stuhlbeinen
hochzuziehen, als er anfängt zu laufen und Sachen vom Tisch zu
reißen, als er die Schreibmaschine auf sich kippt und sich dabei
fast umbringt, fasst Lexie einen Entschluss.

»Ich muss umziehen«, sagte sie zu Laurence.
Laurence beobachtete interessiert, wie Theo unter
lautem Geschepper einen Küchenschrank ausräumte.
»Unglaublich«, bemerkte er, »dass so etwas Simples
so viel Spaß machen kann. Da möchte man glatt wieder ein Kleinkind
sein.« Er wandte sich ihr zu. »Du musst umziehen? Warum? Setzt dich
dein Vermieter vor die Tür?«
»Nein.« Lexie sah sich um. Zugegeben, der Raum war
nicht klein, aber er enthielt ihr Bett und Theos Bettchen, das
Sofa, einen Laufstall und den Schreibtisch, an dem sie nachts
arbeitete. Laurence folgte ihrem Blick.
»Verstehe«, meinte er. »Aber wo willst du
hin?«
Theo ließ ein Sieb fallen, das klappernd auf dem
Fußboden landete. »Ha«, sagte er. »Ha.« Er bückte sich danach.
Laurence schnitt sich ein zweites Stück Kuchen ab. Lexie sah zu,
wie ihr Sohn das Sieb noch einmal auf den Boden schleuderte. Wie
lieb er aussah in seinem grünen Frotteeanzug und mit seinem
herzförmigen Haaransatz.
»Ich dachte … Ich habe mir überlegt …« begann sie,
»dass ich vielleicht … etwas kaufen sollte.«
Laurence verschluckte sich. »Hast du im Fußballtoto
gewonnen?«
»Schön wär’s.«
»Zahlt Theos Erzeuger?«
»Auf keinen Fall. Eine solche Summe würde ich nie
von ihm annehmen.«
Laurence runzelte die Stirn. »Schön dumm. Und wie
willst du …« Er stellte seinen Kuchenteller hin. »A-ha!«,
sagte er. Unter anderen Umständen hätte Lexie vielleicht gelächelt.
Das war etwas, das sie besonders an ihm mochte: seine blitzschnelle
Auffassungsgabe.
Sie sahen sich einen Augenblick an, dann drehten
sie sich wie auf Kommando gleichzeitig zur Wand. Der Pollock, der
Bacon, der Freud, der Klein, der Giacometti. Lexie schlug die Hände
vors Gesicht und ließ sich aufs Sofa sinken.
»Ich glaube, ich kann das nicht«, sagte sie.
»Es wird dir nicht viel anderes übrig bleiben.
Entweder du bittest Theos Erzeuger, dass er dir ein Scheibchen von
seinem Vermögen abschneidet …«
»Ausgeschlossen.«
»Oder du verkauft Theo an Menschenhändler.«
»Ebenfalls ausgeschlossen.«
»Oder du trennst dich von einem Bild.«
»Aber ich will nicht«, stöhnte sie. »Ich kann
nicht.«
Laurence stand auf. »Wenn es dir ein Trost ist«,
sagte er, während er vor dem Porträt von Lucian Freud stehen blieb,
»ich glaube, er hätte dir genau das Gleiche geraten. Und das weißt
du auch. Er hätte keine Sekunde gezögert. Du erinnerst dich doch,
wie er die Hepworth-Lithographie verkauft hat, damit du bei uns
anfangen konntest?«
Lexie schwieg, aber sie nahm langsam die Hände
herunter.
Laurence ging weiter, vorbei an dem Minton, dem
Colquhoun und dem Bacon. Vor dem Pollock blieb er stehen und
klopfte mit dem Fingernagel auf den Rahmen. »Dafür bekommt ihr ein
Haus, Theo und du. Es gibt doch wirklich keine bessere Werbung für
einen Künstler als den Tod.«
»Nicht den Pollock«, murmelte Lexie, während sie
Kuchenkrümel aus den Falten ihres Kleides klaubte.
Laurence drehte sich fragend zu ihr um.
»Sein Lieblingsbild«, sagte Lexie.
In der Kochnische stieß Theo plötzlich ein
jämmerliches Geheul aus. Lexie ging zu ihm und hob ihn aus seinem
Berg aus Töpfen, Backblechen und Plätzchenformen heraus. Erschöpft
kuschelte er sich an ihre Schulter, steckte den Daumen in den Mund
und schlang die andere Hand in ihre Haare.
»Die Skizze von Giacometti könnte etwas einbringen.
Sie ist signiert«, sagte Laurence. »Die Preise haben in den letzten
Jahren angezogen. David und ich können ihn für dich verkaufen, wenn
du möchtest.«
»Danke«, murmelte Lexie.
»Und zwar anonym. Es braucht kein Mensch etwas
davon zu erfahren.«
»Einverstanden.« Sie wandte sich ab. »Nimmst du ihn
dann bitte gleich mit?«

Sie kaufte das dritte Objekt, das sie besichtigte
- die untere Hälfte eines Hauses in Dartmouth Park. Zwei Zimmer
oben, zwei unten, eine Diele, die von der Haustür bis zur Hintertür
führte. Dahinter ein Fleckchen Garten mit einem verwachsenen
Apfelbaum, der im Herbst süßfleischige gelbe Früchte trug. Lexie
hängte an den Ästen eine Schaukel auf, in der Theo in den ersten
Wochen nach dem Umzug oft saß, die Füße auf den hölzernen Sprossen,
und erstaunt zusah, wie sie barfuß auf den Baum kletterte und Äpfel
in ihren geschürzten Rock sammelte. Sie riss die verrotteten
Teppichböden heraus und das alte, feuchte Linoleum, scheuerte die
Dielenbretter blank und lackierte sie. Sie tünchte die Rückseite
des Hauses weiß. Während Theo mit einer Gießkanne im Garten hin und
her lief, putzte sie die Fenster mit Zeitungspapier und Essig, bis
die Sonne hell hindurchscheinen konnte. Sie konnte es kaum glauben,
dass sie ein eigenes kleines Grundstück besaß, ein Gebilde aus
Ziegeln, Mörtel und Glas. Es war ein unfassbarer Tausch: Geld gegen
Freiheit. Abends, wenn Theo schlief, ging sie oft von Zimmer zu
Zimmer und einmal rund um den Garten. Sie konnte ihr Glück nicht
fassen.
Nur der verlorene Giacometti hing ihr nach. Sie
hängte die Bilder immer wieder um, um eine Anordnung zu finden, bei
der das Fehlen der Skizze nicht auffiel. Du hattest keine andere
Wahl, sagte sie sich immer wieder, du hattest keine andere Wahl.
Und: Er hätte nichts dagegen gehabt in
dieser Situation, er hätte es selbst vorgeschlagen. Aber das
schlechte Gewissen und die Reue nagten trotzdem an ihr, spät in der
Nacht, wenn sie die Bilder von der Wand nahm, um wieder einmal eine
neue Hängung zu probieren.
Um sich abzulenken, arbeitete sie, wie immer.
Die Frauen, zu denen wir werden, nachdem wir ein Kind bekommen
haben, schrieb sie, dann hielt sie inne, um das Blatt Papier
geradezurücken. Sie warf einen Blick auf die Bilder, ohne sie
richtig zu sehen, legte den Kopf auf die Seite, um auf Theo zu
horchen. Nichts. Stille. Die schwere Stille des Schlafes. Sie
konzentrierte sich wieder auf die Schreibmaschine, auf den Satz,
den sie getippt hatte.

Wir sehen mit einem Mal anders aus, schrieb
sie weiter. Wir kaufen Schuhe mit flachen Absätzen, wir
schneiden uns die langen Haare ab. In unseren Handtaschen haben wir
angebissene Zwiebäcke, einen kleinen Traktor, einen geliebten
Stofffetzen, eine Plastikpuppe. Unsere Muskeln werden schlaff. Wir
werden um unseren Schlaf, unsere Vernunft, unseren gesunden
Menschenverstand gebracht. Unsere Herzen verlagern sich aus unserem
Körper heraus. Sie atmen, sie essen, sie krabbeln und - siehe da! -
sie laufen, sie fangen an, mit uns zu reden. Wir lernen, dass wir
manchmal nur schrittweise vorankommen können, weil jeder Stock,
jeder Stein, jede zerquetschte Dose auf dem Weg untersucht werden
will. Wir gewöhnen uns daran, nicht ans Ziel zu kommen. Wir lernen
stopfen, vielleicht sogar kochen, die Knie von Latzhosen zu
flicken. Wir gewöhnen uns daran, mit einer Liebe zu leben, die uns
durchdringt und erstickt, die uns blendet und beherrscht. Wir
leben. Wir betrachten unseren Körper, unsere gedehnte Haut, die
silbernen Fäden am Haaransatz, unsere seltsam vergrößerten Füße.
Wir lernen, weniger oft in den Spiegel
zu schauen. Wir hängen die Kleider, die chemisch gereinigt werden
müssen, ganz hinten in den Schrank. Und irgendwann werfen wir sie
weg. Wir trainieren uns ab, »Scheiße« und »verdammt« zu sagen, und
gewöhnen uns stattdessen »Scheibenkleister« und »Herrschaftzeiten«
an. Wir hören auf zu rauchen, wir färben uns die Haare, wir suchen
in Parks, Schwimmbädern, Büchereien und Cafés nach unseresgleichen.
Wir erkennen uns an unseren Kinderwagen, unseren müden Blicken nach
schlaflosen Nächten, an den Trinkbechern, die wir in der Hand
halten. Wir lernen, wie man Brust- und Wadenwickel macht, wie man
die vier Symptome der Hirnhautentzündung erkennt und dass man eine
Schaukel manchmal zwei Stunden lang anschieben muss. Wir kaufen
Plätzchenformen, auswaschbare Farben, Schürzen, Plastikschüsseln.
Wir haben etwas gegen Busse, die zu spät kommen, gegen Streitereien
auf offener Straße, gegen Raucher im Restaurant, gegen Sex nach
Mitternacht. Wir dulden keinen Widerspruch, keine Faulheit, keine
kalten Füße. Und wenn wir auf der Straße die jüngeren Frauen sehen,
mit ihren Zigaretten, ihrem Make-up, ihren engen Kleidern, ihren
winzigen Handtäschchen, ihren ordentlich gekämmten, f risch
gewaschenen Haaren, wenden wir uns ab, nehmen den Kopf zwischen die
Schultern und schieben den Kinderwagen weiter den Berg
hinauf.
Wenn Felix nicht in Malaysia, Vietnam, Nordirland
oder am Suezkanal war, kam er vorbei. Mal blieb er einen halben,
mal einen ganzen Tag, manchmal auch mehrere Wochen. Er ließ Theo
auf seinem Schoß reiten, hob ihn nach ein paar Minuten wieder
hinunter und griff zu seiner Zeitung oder legte sich im Garten auf
die Decke, während der Junge neben ihm spielte. Als Lexie einmal in
den Garten kam, war Felix eingeschlafen und über und über mit Sand
bedeckt. Theo lief mit seiner Schaufel in der Hand eifrig zwischen
dem Sandkasten und seinem Vater hin und her und grub ihn Stück um
Stück ein.
Es ist schwer zu sagen, was Theo von Felix hielt,
von diesem Mann, der in langen Abständen zu Besuch kam und ihm
teure, aber unpassende Geschenke mitbrachte - einen
Technikbaukasten für einen Einjährigen, einen Kricketschläger für
ein Kind, das noch nicht laufen konnte. Theo nannte ihn weder
»Daddy« noch »Dad« (»Alberne Namen, findest du nicht?«, sagte
Felix), sondern »Felix«. Felix nannte ihn »alter Knabe«, worüber
Lexie sich jedes Mal ärgerte.