Lexie an einem schwülen Frühlingsabend in Paris. Sie sitzt in ihrem Hotelzimmer an der Schreibmaschine, die sie behelfsmäßig auf der Frisierkommode aufgebaut hat. Die Schuhe hat sie sich von den Füßen geschlenkert, ihre Kleidung kunterbunt durcheinander auf das schmale Bett geworfen. Sie trägt lediglich einen Unterrock; die Haare hat sie sich mit einem Bleistift hochgesteckt. Das Zimmer ist eng, unerträglich heiß; die Tür zu dem winzigen Eisenbalkon steht offen. Eine leichte Brise bläht die dünnen Gardinen und saugt sie wieder an. Von der Straße dringen Geräusche herauf: rennende Schritte, Schreie, Polizeisirenen, splitterndes Glas. Sie war die ganze Nacht auf den Beinen, war dabei, als die Studenten auf dem Boulevard St-Michel und an der Sorbonne Barrikaden errichteten, Pflastersteine herausrissen und Autos umkippten, als die Polizei mit Schlagstöcken und Tränengas zum Gegenangriff überging.
Sie überprüft, was sie geschrieben hat. Ob sie aufgewiegelt oder provoziert wurden, muss sich erst noch zeigen, aber eine solche Überreaktion der Polizeikräfte … Da bricht es ab. Noch hat sie nicht die leiseste Ahnung, wie der Satz enden soll.
Sie tippt einen Punkt, fängt einen neuen Absatz an, und sieht zu, wie die Frau im Frisierspiegel das Gleiche tut. Wie dünn sie ist, in ihrem Unterrock, so mager, dass die Schlüsselbeine hervorspringen, und sie hat dunkle Ringe um die Augen. Lexie legt sich die Hand auf die Stirn, beugt sich ganz nah zum Spiegel. Um den Mund und in den Augenwinkeln zeigen sich erste Fältchen. Für sie sind es Verwerfungslinien, Ausblicke in die Zukunft; sie markieren die Stellen, wo ihr Gesicht einsinken und sich die Haut von den Knochen lösen wird.
Sie weiß nicht, dass es dazu nie kommen wird.
Es klopft an der Tür, und ihr Kopf fährt herum.
»Lexie?«, flüstert Felix laut. »Bist du da?«
Vor ein paar Stunden hat sie ihn neben einer brennenden Barrikade gesehen, hektisch nach der Kamera winkend, hinter ihm vorbeihetzende Gestalten.
Sie rührt sich nicht von ihrem Hocker. Sie beißt auf ihren Bleistift, fältelt an ihrem Unterrock herum. Jeder Mann, der nicht Innes ist, wäre in dieser Nacht ein Hohn auf ihn, wäre ein Verbrechen. Sie kann es sich nicht erklären, aber sie hatte den ganzen Tag das Gefühl, ihn um sich zu haben, einen halben Schritt hinter ihr, einen halben Schritt links von ihr. Immer wieder hat sie sich umgeschaut, als ob sie einen Blick auf ihn erhaschen könnte. Plötzlich drängt es sie, seinen Namen laut auszuprechen, hier, in diesem Hotelzimmer mit den zerschrammten Möbeln und dem fleckigen Bettzeug. So stark ist dieser Drang, dass sie fast daran erstickt.
Es klopft noch einmal. »Lexie!«, zischelt Felix. »Ich bin’s.«
Er wartet noch einen Augenblick, dann gibt er auf. Sie hört, wie er sich gähnend entfernt. Sie legt sich aufs Bett. Starrt an die Decke. Schließt die Augen. Sofort sieht sie Innes vor sich. Er sitzt auf dem Frisierhocker, von dem sie gerade aufgestanden ist, er ist hier bei ihr im Zimmer. Sie öffnet die Augen. Tränen laufen ihr über die Schläfen, sickern in ihre Haare, rinnen ihr in die Ohren. Sie macht die Augen wieder zu. Sie sieht: die Aussicht aus dem Fenster ihrer Wohnung in Haverstock Hill. Sie sieht: Innes’ Hand, die einen Stift hält mit seinem schiefen Linkshändergriff. Sie sieht: wie er an ihrem Bücherregal lehnt und nach einem Buch sucht. Sie sieht: wie er sich in der Küche über der Spüle rasiert, das halbe Gesicht voll Schaum. Sie sieht: sich selbst, wie sie einen Krankenhauskorridor entlanggeht und eine Spur aus Veilchen hinter sich her zieht.
023
London, etwa vierzehn Tage später, Lexie und Felix bei der Eröffnung von Laurences neuer Galerie. In der drangvollen Enge und dem hektisch nervösen, weinseligen Treiben wirkt Felix mit seinen makellosen Manschetten und seiner breitschultrigen Blondheit so fehl am Platz, dass Lexie sich das Lachen verkneifen muss. Aber er tritt mit einer solchen Selbstverständlichkeit auf, als ob die Galerie ihm gehört, als ob die vielen Menschen nur darauf warten, seine Bekanntschaft zu machen.
Womit er, wie sie zu ihrem Ärger feststellen muss, gar nicht einmal so unrecht hat. Nachdem er zum dritten Mal mit den Worten »Entschuldigen Sie, aber sind Sie nicht …« angesprochen worden ist, hakt Lexie sich von ihm los und schlägt sich durch das Gewühl zu Daphne und Laurence durch, die am anderen Ende des Raums stehen und die Köpfe zusammenstecken. Sie weiß, dass sie über sie reden, und sie wissen, dass sie es weiß, und sie lächeln ihr zu, als sie sie kommen sehen.
»Entschuldigung«, sagt sie, während sie sich zwischen einer Frau, die mit wiehernder Stimme von Roy Lichtenstein schwärmt, und einem Mann, der auf einen Zug sein Weinglas leert, hindurchzwängt.
»Da ist sie«, sagt Daphne.
»Na, ihr zwei Klatschbasen.« Lexie begrüßt erst Daphne, dann Laurence mit einem Wangenküsschen. »Herzlichen Glückwunsch, Laurence. Klasse Party. Tolle Resonanz.«
»Ja, läuft gar nicht mal so schlecht, was?« Laurence lässt den Blick durch den Raum schweifen. »Bis jetzt zumindest.«
»Sag doch so was nicht«, schimpft Daphne. »Es läuft prima. Die Leute kommen. Die Leute kaufen. Freu dich. Genieß den Abend.«
»Wenn ich das bloß könnte«, murmelt Laurence und fährt sich mit dem Finger um den Hemdkragen. »Das kann ich erst, wenn es vorbei ist.«
Daphne wendet sich Lexie zu und mustert sie von oben bis unten. »Wir müssen mit dir reden«, sagt sie.
»Müsst ihr?«
»Wir müssen. Also dann: Pack aus. Wir wollen alles wissen.«
Lexie nippt an ihrem Cocktail. »Was denn?«
Daphne gibt ein gereiztes Stöhnen von sich. Im selben Moment sagt Laurence anerkennend: »Schicke Klamotten, Lexie.«
»Wen interessieren denn ihre Klamotten?«, blafft Daphne, aber sie hält kurz inne, als ob sie Lexies Kleid zum ersten Mal richtig wahrnimmt, und fährt fort: »Ist wirklich ein tolles Teil. Woher hast du das?« Ohne eine Antwort abzuwarten, packt sie Lexie beim Ellenbogen. »Das da. Darüber wollen wir alles wissen.« Sie zeigt zum Eingang.
Lexie folgt ihrem Finger. Dort steht Felix und unterhält sich mit zwei Frauen, die ihm dicht auf die Pelle gerückt sind.
»Ach das«, sagt sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Das ist bloß Felix.«
»Wir wissen, wer das ist«, entgegnet Laurence. »Wir haben ihn auf der Mattscheibe gesehen, als beherzten Berichterstatter vor den Barrikaden.«
»Und dann«, mischt Daphne sich ein, »haben wir zwei und zwei zusammengezählt. Du musst mit ihm zusammen in Paris gewesen sein. Was unterstehst du dich, uns nichts davon zu erzählen? Wir dachten, euer kleines Techtelmechtel wäre schon lange vorbei. Aber jetzt sieht es ja ganz so aus, als ob der Kerl noch aktuell wäre. Los.« Sie stößt Lexie in die Rippen. »Raus mit der Sprache. Was läuft da?«
»Gar nichts«, antwortet Lexie.
»Gar nichts«, spottet Laurence.
»Mal mehr, mal weniger.« Mit einem Achselzucken leert Lexie ihr Glas. »Jedenfalls nichts Weltbewegendes.«
Während sie einen Augenblick lang schweigend in ihre Gläser blicken, gesellt sich Laurences Partner David zu ihnen. »Warum guckt ihr denn so düster aus der Wäsche?« Er legt seinem Freund die Hand auf die Schulter. »Und wieso mischst du dich nicht unter die zahlende Kundschaft?«
»Wir haben Lexie gerade nach ihrem Gespielen ausgehorcht«, erklärt Daphne.
»Ihrem Gespielen?«, wiederholt David f ragend. Laurence deutet mit dem Kopf auf Felix, der inzwischen von einer gebannt an seinen Lippen hängenden Anhängerschar umringt ist und sie mit einer Anekdote unterhält, die offenbar nicht ohne weit ausholende Gesten auskommt. »Aha.« David zieht die Augenbrauen hoch. »Verstehe. Was bist du doch für ein stilles Wasser, Lexie.«
»Es ist nicht weiter der Rede wert.« Lexie zupft den Saum ihres Kleides zurecht.
»Nicht der Rede wert?«, protestiert Daphne. »Wenn du in der Öffentlichkeit mit ihm auftrittst?«
»Ich trete nicht in der Öffentlichkeit mit ihm auf. Als ich ihm erzählt habe, wo ich heute Abend hinwollte, hat er gesagt, dass er mitkommt.«
»Stellst du uns ihm vor?«, fragt Laurence. »Wir benehmen uns auch. Versprochen.«
»Jetzt nicht«, sagt David. »Der Mann hat zu tun. Siehst du denn nicht, dass er an seiner Karriere bastelt?«
»Eines muss ich dich noch f ragen«, sagt Daphne in ernsterem Ton. »Dann lassen wir dich auch wieder in Frieden. Wieso ausgerechnet er?«
Lexie sieht sie an. »Was meinst du damit?«
»Ich kann es mir nicht erklären. Warum er und nicht einer von den tausend anderen, die hinter dir her waren?«
»Da kann ich mir mehrere Gründe vorstellen«, murmelt David mit einem beifälligen Blick auf Felix. Laurence lacht leise.
»Weil …« Lexie überlegt. »Weil er nichts wissen will«, antwortet sie schließlich.
»Was hast du gesagt?«, fragt David und beugt sich zu ihr. »Er fragt nichts?«
»Er will nichts wissen«, sagt Lexie. »Er stellt mir keine Fragen. Ich habe noch nie einen Menschen gekannt, der so wenig neugierig war. Und das …«
»Das kommt dir sehr entgegen«, beendet Laurence den Satz für sie.
Sie lächelt. »Ja«, nickt sie. »Das kommt mir sehr entgegen.«
Alles schweigt. Dann lehnt Daphne sich nach hinten und fischt eine Flasche Wein vom Schreibtisch. »Einen Toast!«, ruft sie. »Wir haben noch gar nicht auf die Galerie getrunken.« Sie schenkt ihnen schwungvoll ein. »Auf Laurence und David und die Angle Gallery«, sagt sie. »Möge ihnen ein langes, glückliches und einträgliches Leben beschieden sein.«
024
Es ist Nacht, tiefste Nacht, und in Belsize Park ist alles ruhig. Vor einer Weile ist ein Auto den Haverstock Hill hinuntergerast. Ein Eichhörnchen - eines von der rattenartigen, überfütterten grauen Sorte - verharrt kurz auf der Fahrbahn, blickt sich um und huscht dann auf die andere Seite der Straße.
Vor dem Haus liegt ein kleiner Irrgarten aus akkurat gestutzten Buchsbaumhecken. Kinder laufen gern durch die niedrige Spirale, die in immer neuen Windungen unaufhaltsam zum Mittelpunkt führt, auch wenn die Mütter es nicht so gern sehen. Weil es nicht gut für die Wurzeln ist, sagen sie. Zwischen dem Labyrinth und dem Bürgersteig steht ein Mäuerchen aus rotem Backstein, das es schon zu Lexies Zeiten gegeben hat. Daneben ein Torpfosten mit einem schweren, weißen Abschlussstein, der sich bei frostigem Wetter glitzernd mit Raureif überzieht.
Als Lexie nach Innes’ Tod aus dem Krankenhaus kam, hat sie sich auf diesen Stein gestützt. Es war früher Abend. Irgendwie hatte sie es bis nach Hause geschafft, in der Hand noch immer den Schal und die Illustrierten - die Veilchen waren längst verstreut. Sie wollte gerade den Gartenweg hinaufgehen, als ein Mann von dem Mäuerchen aufstand.
»Miss Sinclair?«, f ragte er.
Sie fuhr zu ihm herum, die Hand auf dem Pfosten.
»Miss Alexandra Sinclair?«
»Ja«, antwortete sie.
Er übergab ihr einen Briefumschlag. »Hiermit gilt dieses Schriftstück als persönlich zugestellt«, sagte er.
Der Umschlag war schlicht, braun und nicht verschlossen. »Schriftstück?«
»Ein Räumungsbefehl, Madam.«
Sie sah ihn an, ihn und seinen Schnurrbart. Wie seltsam, dass der Schnurrbart braun war, seine Haare aber grau. Der Torpfosten fühlte sich rau und froststarr an. Sie nahm die Hand weg und tastete ihre Manteltasche nach dem Hausschlüssel ab. »Ich verstehe nicht.«
»Meine Mandantin, Mrs. Gloria Kent, fordert Sie auf, die genannte Immobilie bis morgen zu räumen und den Räumlichkeiten dabei nur solche Gegenstände zu entnehmen, bei denen es sich nachgewiesenermaßen um Ihr persönliches Eigentum handelt. Sollten Sie etwas entfernen, was zur Erbmasse ihres verstorbenen Ehema…«
Mehr hörte sie nicht. Sie rannte den Weg hinauf, rannte ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu.
Am selben Abend kam Laurence vorbei. Er hatte überall in London nach ihr gesucht. Er nahm ihr den rosafarbenen Räumungsbescheid aus der Hand und las ihn sich durch. Nach ein paar deftigen Flüchen sagte er, Gloria mache ihrem schlechten Ruf alle Ehre. Lexie fand erst später heraus, dass Gloria bereits zu diesem Zeitpunkt ein anwaltliches Schreiben in die elsewhere-Redaktion geschickt hatte, in dem sie die Mitarbeiter über den beabsichtigten Verkauf der Zeitschrift in Kenntnis setzte. Doch an diesem Abend sagte Laurence ihr nichts davon, und er behielt auch für sich, dass Daphne und er erst durch dieses Schreiben von Innes’ Tod erfahren hatten. Er schenkte ihr einen Whisky ein, setzte sie in einen Sessel und packte sie warm in eine Daunendecke ein. Dann machte er sich daran, die Wohnung aufzulösen, ihr Heim, ihr Leben.
In aller Frühe warteten Laurence und Lexie am nächsten Morgen vor dem Haus auf ein Taxi. Neben ihnen standen zwei Koffer. Lexie zitterte, obwohl sie noch immer in die Daunendecke eingewickelt war.
»Meinst du«, sagte sie mit klappernden Zähnen und deutete auf die Decke, »dass die hier zu Innes Kents Erbmasse gehört?«
Laurence warf einen traurigen Blick darauf, dann sah er zum Himmel, der allmählich hell wurde. Die Wolken waren golden gestreift, die Bäume reglos, wie schwarze Scherenschnitte. Er lachte, aber er hatte Tränen in den Augen. »Mein Gott, Lex«, murmelte er. »Sachen gibt’s.«
Sie hielten ein Taxi an, und nachdem Laurence Lexie und die Koffer darin verstaut hatte, wandte er sich an den Fahrer. »Augenblick noch. Bin gleich wieder da.« Er lief noch einmal ins Haus.
Lexie saß im Taxi, ihre ganze Habe in zwei Koffern und ein paar Bündeln, die Daunendecke um sich gerafft. Ein langer schwarzer Wagen fuhr vor, hinter dem Steuer Gloria, das Profil unverkennbar, der arrogante Mund, die hochgezogenen Brauen. Sie kippte den Rückspiegel, überprüfte ihren Lippenstift und scherzte mit jemandem, der neben ihr saß. Mit ihrer Tochter. Da war sie, auf dem Beifahrersitz. Sie nickte: Ja, Mutter, nein, Mutter.
Sie stiegen aus. Gloria schwang ihren Rock aus der Autotür und schlug sie mit einem resoluten Schlenker hinter sich zu. Sie sahen zum Haus hinauf, zur obersten Wohnung. Plötzlich verfinsterte sich Glorias Miene, und sie rief: »Sie! Sie da!«
Laurence kam im Laufschritt die Treppe herunter, ein großes, eckiges, in Decken gehülltes Paket unter dem Arm. Lexie wusste sofort, worum es sich handelte - um Innes’ Gemälde. Laurence rettete die Bilder.
»Stehen bleiben! Ich fordere Sie auf stehen zu bleiben!«, kreischte Gloria. »Ich muss wissen, was Sie da wegschaffen.«
Laurence sprang ins Taxi. »Fahren Sie«, befahl er. »Los, fahren Sie bitte!«
Der Fahrer nahm den Fuß von der Bremse und gab Gas. Sie rollten los. Gloria rannte in ihren Stöckelschuhen neben ihnen her, um einen Blick ins Wageninnere zu werfen; auf der anderen Seite des Taxis rannte ihre Tochter. Ihr gelang es besser mitzuhalten. Sekundenlang lief sie neben Lexie her, das Gesicht nur Zentimeter von ihr entfernt hinter der Scheibe, die Augen unverwandt auf sie geheftet. Ihr Blick war dumpf und unergründlich, stier wie der eines Haifischs. Was für ein Gefühl lag darin? Ein stummer Vorwurf? Neugier? Wut? Unmöglich zu sagen. Lexie legte die Hand auf die Scheibe, um sich vor dem schrecklichen Medusenblick zu schützen. Als sie sie wieder wegnahm, war Margot verschwunden.
Die Zeit nach Innes’ Tod bestand für Lexie aus einer endlosen Reihe von Tagen, leeren Stunden und Jahren, die irgendwie vorübergingen. In mancher Hinsicht gibt es nichts darüber zu sagen. Denn es war eine Zeit des Nichts, der Ödnis, des Vakuums. Als Innes starb, endete das Leben, wie Lexie es kannte, und ein anderes begann: Sie fiel wie Innes mit seinem Fallschirm aus ihrer Existenz heraus und in eine andere hinein. Die Zeitschrift gab es nicht mehr, die Wohnung gab es nicht mehr, Innes gab es nicht mehr. Auch wenn sie es damals noch nicht wusste: Sie würde nie wieder einen Fuß nach Soho setzen, nicht ein einziges Mal.
Wenn sie an die erste Zeit nach ihrer Flucht aus der Wohnung zurückdachte, hätte sie wahrscheinlich gesagt, dass sie sich an nichts erinnern könne und dass es lange gedauert habe, bevor das Leben und ihr Empfindungsvermögen zurückkehrten. Aber hin und wieder tauchten bestimmte Szenen vor ihr auf, lebenden Bildern ähnlich. Wie sie die Koffer in Holborn den Kingsway entlangschleppt. Wie sich der Saum ihres Mantels an einem Geländer verfängt und einreißt. Wie sie ein Zimmer in einem Kellergeschoss besichtigt und die Vermieterin eine große dreifarbige Glückskatze an ihren Busen presst. Das Zimmer, ein schmaler Schlauch, riecht nach Mäusen und Feuchtigkeit, das Fenster ist klein und hat eine seltsame längliche Form. »Was ist mit dem Fenster passiert?«, fragt Lexie. »Abgeteilt«, sagt die Vermieterin. »Mitten durch.« Lexie starrt die Katze an, und die Katze starrt zurück, mit weit offenen, glänzenden Pupillen. In den Pupillen spiegelt sich das Bild des abgeteilten Fensters. Wie sie versucht, den Gaskamin anzuzünden, und es nicht schafft. Wie sie deswegen in Tränen ausbricht. Wie sie deswegen ihren Schuh an die Wand wirft. Wie um sie herum auf dem Teppich abgebrannte Streichhölzer liegen. Wie sie im Regents Park eine Handvoll Waldhyazinthen stiehlt. Der Saft aus den Stängeln tropft ihr in die Hand, läuft ihr in den Ärmel. Sie stellt sie in ein Marmeladenglas. Die Blumen halten nicht. Sie wirft sie aus dem Fenster, mitsamt dem Marmeladenglas. Wie sie an ihrem abgeteilten Fenster steht und zum Bürgersteig hinaufsieht, auf die Fußknöchel der Passanten und ihre Schuhe, auf die Pfoten von Hunden und die Räder von Kinderwagen. In der einen Hand hält sie eine Zigarette, die sie nicht raucht, mit der anderen reißt sie sich die Haare einzeln aus und lässt sie zu Boden schweben.
Genauso stand sie da, als eines Tages plötzlich ihre Tür aufging.
»Hier hast du dich also verkrochen«, sagte die Besucherin.
Lexie sah sie an, aber sie erkannte sie nicht gleich. Es war eine Frau mit kurzgeschnittenen Haaren, in einem Hängermantel und flachen Schnallenschuhen.
»Daph?«, sagte Lexie.
»Du großer Gott.« Daphne blieb kopfschüttelnd vor ihr stehen und musterte sie stumm, als ob es ihr momentan die Sprache verschlagen hätte. »Wie siehst du denn aus?«, fragte sie schließlich.
»Wieso?«
»Was hast du denn mit deinen …?«
»Meinen was?
»Ach, egal.« Daphne schnalzte missbilligend mit der Zunge. Sie bediente sich aus der Zigarettenschachtel, die auf der Fensterbank lag, und knöpfte ihren Mantel auf. Sie wollte ihn wohl auch ablegen, aber nachdem sie sich das Zimmer ein bisschen genauer angesehen hatte, besann sie sich eines Besseren. Sie wanderte auf und ab, verpasste dem Bett einen Fußtritt, drehte den Wasserhahn auf und wieder zu, zupfte an der sich abschälenden Tapete. »Herrgott«, sagte sie zuletzt. »Was für ein Verlies. Und stinken tut es auch. Wie viel zahlst du dafür?«
»Das geht dich nichts an.«
»Lex.« Daphne packte sie bei den Schultern. »Das kann so nicht weitergehen. Hast du verstanden?«
»Was kann so nicht weitergehen?«
»Das hier.« Sie zeigte auf das Zimmer. »Und das da.« Sie zeigte auf Lexies Kopf.
Lexie riss sich los. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Du darfst dir das nicht antun. Dir nicht. Und Laurence und mir nicht. Wir haben uns wahnsinnige Sorgen um dich gemacht. Wir dachten schon …«
»Tut mir leid.« Lexie drückte ihre Zigarette in dem Aschenbecher auf der Fensterbank aus.
Daphne nahm den Kaschmirschal vom Sessel und fuchtelte ihr damit wütend vor dem Gesicht herum. »Das bringt ihn doch auch nicht wieder zurück. Und was meinst du eigentlich, was er dazu sagen würde? Wenn er dich jetzt sehen könnte?«
»Leg das wieder hin«, sagte Lexie. Daphne merkte, dass sie zu weit gegangen war, und gehorchte sofort. Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und paffte nachdenklich vor sich hin. Lexie drehte sich wieder zum Fenster, wo gerade jemand in braunen Schuhen vorüberging.
»Erinnerst du dich an Jimmy?«, f ragte Daphne.
»Jimmy?«
»Großer Kerl, rote Haare, arbeitet beim Daily Courier. Hatte vor Urzeiten mal ein Techtelmechtel mit Amelia.«
»Hm.« Lexie hob den Aschenbecher hoch und stellte ihn wieder hin. »Kann sein.«
»Ich hab ihn gestern Abend im French Pub getroffen. Er hat einen Job für dich.«
Lexie drehte sich um. »Einen Job?«
»Ja, einen Job. Du weißt doch noch, was das ist? Man arbeitet und kriegt Geld dafür. Draußen in der Welt.« Daphne schnippte ihre Asche in den Kamin. »Es ist alles bereits geregelt. Du fängst Montag an.«
Lexie suchte fieberhaft nach einer glaubhaften Ausrede, aber ihr fiel keine ein. »Was ist denn das für ein Job?«, fragte sie.
»Sie brauchen jemanden bei den Familienanzeigen.«
»Bei den Familienanzeigen?«
»Ja.« Daphne seufzte genervt. »Schon mal gehört? Geburten, Todesfälle, Eheschließungen? Ist nicht besonders spannend, und du könntest das im Schlaf, aber es ist immer noch besser als das hier.«
»Geburten, Todesfälle, Eheschließungen«, wiederholte Lexie.
»Ja. Alle wichtigen Dinge im Leben.«
»Warum nimmst du den Job nicht selber an?«
Daphne zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob ich die Richtige dafür wäre. Ich in der Fleet Street? Wohl eher nicht.«
»Vielleicht bin ich auch nicht die Richtige dafür.«
Daphne stand auf und klopfte ihren Mantel ab. »Doch«, sagte sie. »Das bist du. Oder du könntest es zumindest werden. Auf jeden Fall ist es besser, als in diesem Rattenloch langsam den Verstand zu verlieren. Also dann. Montag, neun Uhr. Pünktlich. Komm ja nicht zu spät.« Sie hakte sich bei ihr unter. »Los, Lexie. Zieh dir was über.«
»Wo willst du mit mir hin?«
»Wir gehen essen. Du siehst so aus, als ob du eine anständige Mahlzeit vertragen könntest. Ich hab Jimmy um zehn Shilling angehauen. Das Glück ist uns hold. Auf geht’s.«
025
An Lexies erstem Tag beim Daily Courier bekam sie einen Arbeitsplatz zugewiesen, der zwischen einem größeren Schreibtisch und einem Bücherregal eingezwängt war, in einem kleinen Büro, das von einem langen Korridor abging; die Decke war niedrig, der Boden uneben, und das trübe Fenster gab den Blick frei auf einen Durchgang, der den Nash Court mit der Fleet Street verband. Es war gespenstisch still hier drin. Kein Mensch war zu sehen. Ob sie zu früh dran war?
Sie setzte sich an ihren Tisch und stellte die Tasche darunter. Der grüne Lack des Stuhls war stellenweise abgeplatzt, ein Bein wackelte. Auf dem Tisch waren eine Schreibmaschine, eine Schreibunterlage und eine rostige Schere. Lexie nahm die Schere in die Hand, öffnete sie, schloss sie wieder. Wenigstens waren die Klingen scharf. Auf dem Nachbarschreibtisch war ein Papierstapel ins Rutschen geraten und hatte sich halb auf den ihren ergossen. Sie schob ihn wieder hinüber und schichtete ihn ordentlich auf. Sie nahm eine große Henkeltasse von ihrem Tisch und sah in die dunklen Tiefen. Ein starker Kaffeegeruch stieg ihr in die Nase. Sie stellte die Tasse wieder hin. Auf ihrer Schreibmaschine lehnte ein Zettel: »Jones wg. Abgabe f ragen, Termin zwei Wo.«
Als es unten im Durchgang laut wurde, stand sie auf und trat ans Fenster. Von der Fleet Street kamen Leute herüber. Aus ihrer erhöhten Perspektive wirkten ihre Köpfe und Nacken merkwürdig verwundbar.
Kurz vor der Mittagspause kam ein grauhaariger Mann im wehenden Trenchcoat ins Büro gestürzt. Vor sich hin schimpfend, wuchtete er eine prallvolle Aktentasche auf seinen Schreibtisch, warf sich auf den Stuhl und griff zum Telefonhörer. »GEO fünf sechs neun eins«, murmelte er. Während er die Nummer wählte, bemerkte er Lexie.
»Hoppla«, sagte er überrascht und ließ den Hörer klappernd auf die Gabel fallen. »Wer sind Sie denn?«
»Lexie Sinclair. Die neue Anzeigenkraft. Man hat mir gesagt …«
Aber der Mann hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und wetterte: »O Gott, o Gott, o Gott, hört denn hier eigentlich keiner auf mich? Hab ich es ihnen nicht gesagt? Hab ich es ihnen nicht ausdrücklich gesagt? Ich will nicht schon wieder eine …« Er zeigte mit dem Finger auf Lexie. »Nichts für ungut, Werteste, aber so geht das nicht. Nicht mit mir. Ich rufe sofort Carruthers an.« Er riss den Hörer hoch. »Nein, doch nicht.« Er knallte ihn wieder auf die Gabel. »Was soll ich machen?« Die Frage schien an Lexie gerichtet. »Carruthers ist bestimmt noch nicht im Haus. Simpson? Vielleicht kann der helfen.«
Lexie stand auf. »Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte«, sagte sie. »Aber vorhin hat ein Korrektor die Druckfahnen für die heutige Ausgabe gebracht, also hab ich sie durchgesehen. Bitte sehr.« Er riss sie ihr misstrauisch aus der Hand. »Ich kenne ja Ihre Hausregeln noch nicht«, fuhr sie fort. »Deshalb habe ich alle Stellen, bei denen ich mir nicht hundertprozentig sicher war, mit einem Fragezeichen gekennzeichnet.«
Der Mann schob sich die Brille in die strubbeligen Haare und beugte sich tief über die Fahnen. Erst über die eine, dann die nächste, dann die dritte. »Hmm«, machte er. »Aha.« Als er fertig war, ließ er die Seiten auf den Schreibtisch sinken. Er legte den Kopf in den Nacken und faltete die Hände. »Beim Courier setzen wir die Titel von Einzelgedichten nicht kursiv«, sagte er schließlich mit Blick an die Decke.
»Verstehe.«
»Von Buchtiteln ja, aber nicht von Einzelgedichten oder Aufsätzen aus einer Sammlung.«
»Mein Fehler.«
»Wo haben Sie so gut Korrekturlesen gelernt?«
»Bei … meiner letzten Stelle.«
»Hmm«, sagt er noch einmal. »Können Sie tippen?«
»Ja.«
»Können Sie kürzen?«
»Ja.«
»Können Sie redigieren?«
»Auch.«
»Und wo war das, wo Sie zuletzt gearbeitet haben?«
Lexie hielt kurz inne. »Bei einer Zeitschrift.«
»Hmm.« Er warf die Fahnen auf ihren Schreibtisch. »Sie müssen sie mit Ihrem Kürzel abzeichnen«, sagte er. »Sonst finden sie nie wieder zu uns zurück.« Er blätterte in ein paar Papieren, nahm einen Bleistift aus dem Ständer und steckte ihn sich hinters Ohr. »Was stehen Sie noch da herum?« Er scheuchte sie zur Tür. »Bringen Sie die Fahnen zurück in die Korrekturabteilung. Rufen Sie Jones an. Finden Sie heraus, wann er zu liefern gedenkt. Schauen Sie nach, ob das Kreuzworträtsel schon gesetzt ist. Und Sie müssen die Familienanzeigen tippen. Mir ist es immer am liebsten, wir haben für mindestens drei Tage Material im Sack. Und die Landleben-Kolumne. Husch, husch, Beeilung.«
Die folgenden Monate verbrachte Lexie mit dem Tippen von Familienanzeigen: Geburten, Heiraten und Sterbefälle - samt Lebensdaten der Verblichenen und den Namen ihrer Hinterbliebenen sowie den Adressen der Bestattungsinstitute für Blumenspenden. Sie entwickelte ein besonderes Geschick dafür, dem widerspenstigen Jones Texte abzuringen, ihren Chef Andrew Fuller zu beruhigen, wenn er die Beherrschung zu verlieren drohte, weil das Polster an Landleben-Kolumnen auf unter fünf geschrumpft war, und ihm Nachrichten von Mrs. Fuller zu übermitteln, wann in Kennington das Abendessen auf dem Tisch stehen würde. Darüber hinaus musste sie Strategien entwickeln, sich den Annäherungsversuchen ihrer ledigen männlichen Kollegenschaft - sowie einiger Ehemänner - zu entziehen. Es dauerte nicht lange, und sie hatte mehrere Antworten auf Lager, um Einladungen zum Mittagessen, zu einem Bierchen nach Feierabend oder einem Theaterbesuch todsicher abzuschmettern. Fuller unterstützte sie dabei nach besten Kräften. Er sah es ganz und gar nicht gern, wenn jemand versuchte, seine Mitarbeiterin von ihren Aufgaben abzulenken. »Sie brauchen gar nicht hier herumzuschwarwenzeln«, schnauzte er jeden an, der sich mit einem Blumenstrauß oder Konzertprospekt in der Hand hoffnungsf roh in ihr Büro wagte. »Lassen Sie die Frau arbeiten!« Sie erwarb sich den Ruf, ernst, distanziert und unnahbar zu sein. Einer ihrer Möchtegernverehrer taufte sie einen »Blaustrumpf«, und das war das einzige Mal, dass sie wirklich ungemütlich wurde. Mittags ging sie mit Fuller, dem Redakteur der Frauenseiten oder Jimmy zum Essen in den Pub. Eine Zeitlang hielt sich das - von Jimmy nicht aus der Welt geräumte - Gerücht, sie hätte ein Verhältnis mit ihm angefangen, dabei beriet sie ihn nur bei seinen Liebesproblemen mit einer anderweitig verlobten Frau. Das hektische Tempo der Zeitung, das ihr kaum Zeit zum Nachdenken ließ, tat ihr gut. Der Courier war wie eine unersättliche Maschine, die ständig gefüttert werden musste, und sobald das Tagespensum geschafft war, ging es nahtlos mit der Arbeit für die nächste Augabe weiter. Es gab keinen Stillstand, keine Verschnaufpausen, in denen sie zur Besinnung hätte kommen können. Das einzige Foto, das aus ihrer Anfangszeit beim Courier erhalten geblieben ist, zeigt eine ernste Frau mit kurzem Haar, die, den unvermeidlichen Kaschmirschal um den Hals, auf einer Schreibtischkante hockt.
So hätte es noch jahrelang weitergehen können, wenn sie sich - so kam es ihr zumindest später vor - nicht selbst verraten hätte. Sie hatte gerade die Fahnen eines Kreuzworträtsels in der Korrekturabteilung abgegeben, als sie im Korridor an drei Männern vorbeikam, die sich unterhielten. Es waren der stellvertretende Chef redakteur, der Redaktionsassistent und der Ressortleiter der »Letzten Seite«.
»… ein Porträt vorgeschlagen«, sagte der Ressortleiter gerade. »Und zwar von Hans Hofmann.«
»Von wem?«, unterbrach ihn Carruthers, der stellvertretende Chefredakteur.
»Eben. Das ist es ja gerade. Meiner Meinung nach …«
»Abstrakter Expressionist, geboren in Bayern«, hörte Lexie sich zu ihnen sagen »Anfang der Dreißiger in die USA emigriert. Nicht nur als Maler, sondern auch als Lehrer bekannt. Zu seinen Schülern gehören Lee Krasner, Helen Frankenthaler und Ray Eames.«
Die drei Männer starrten sie an. Dem Ressortleiter schien eine Bemerkung auf der Zunge zu liegen, aber auch er blieb stumm.
»Entschuldigung«, murmelte Lexie. Im Weggehen hörte sie noch, wie Carruthers, den sie lediglich vom Sehen kannte, sagte: »Na, wie mir scheint, haben Sie Ihren Experten bereits gefunden.«
Zehn Minuten später kreuzte der Ressortleiter bei Lexie auf. Fuller, der in die Kreuzworträtselliste vertieft war, blickte misstrauisch hoch, aber diesen Besucher schnauzte er nicht an, er solle gefälligst nicht hier herumscharwenzeln.
»Hören Sie«, sagte der Mann. »Anscheinend kennen Sie sich mit diesem Hofmann aus. Die Tate hat gerade zwei seiner Bilder angekauft. Könnten Sie mir darüber bis morgen tausend Wörter liefern? Machen Sie sich nicht allzu viele Gedanken um den Stil - die Fakten würden mir schon reichen. Ich lass es dann von einem meiner Jungs umschreiben.«
Der Artikel erschien ohne eine einzige Änderung. Es folgte ein Text über David Hockneys künstlerische Auseinandersetzung mit William Hogarth, dann ein Porträt des neuen Chefintendanten des National Theater, danach ein Beitrag für die Frauenseiten zu dem Thema, warum sich nicht mehr junge Frauen an Kunstakademien bewerben. Nachdem dieser Artikel erschienen war, bestellte Carruthers Lexie in sein Büro.
Er hatte seine langen Beine auf den Schreibtisch gelegt, so dass man seine burgunderroten Socken sehen konnte, und balancierte ein Lineal zwischen den Zeigefingern. Er bedeutete ihr, Platz zu nehmen. »Eine Frage«, sagte er. »In welcher Funktion beschäftigen wir Sie zur Zeit?«
»Als Anzeigenassistentin.«
»Anzeigenassistentin«, wiederholte Carruthers bedächtig. »Ich wusste gar nicht, dass es so einen Job bei uns gibt. Sie arbeiten unter Andrew Fuller, richtig?«
Lexie nickte.
»Und zu Ihren Aufgaben gehört was genau?«
»Geburts-, Todes- und Heiratsanzeigen aufnehmen. Dem Kreuzworträtsel und der Landleben-Kolumne nachjagen. Das Vermischte Korrektur lesen, Texte redigie…«
»Gut, gut.« Er schnitt ihr mit einem Flippen des Lineals das Wort ab. »Mir scheint, wir haben Sie unterschätzt.«
»Ach?«
Carruthers schwang die Beine vom Tisch und fixierte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Und jetzt verraten Sie mir doch mal, wo Sie in Wahrheit herkommen, Miss Lexie Sinclair.«
»Was meinen Sie damit?«
»So wie Sie schreiben, schreibt keine Tippse. Wer so berichtet, wie Sie berichten, dem hat man das nicht in der Anzeigenabteilung in die Wiege gelegt. Sie müssen es irgendwo gelernt haben, und ich will wissen, wo.«
Lexie faltete die Hände. Sie sah ihm in die Augen. »Bevor ich hier angefangen habe, war ich bei einer Zeitschrift.«
»Was für eine Zeitschrift?«
»Elsewhere.« Sie hatte das Wort seit vielen Monaten nicht mehr ausgesprochen. Es war ein seltsames Gefühl, als ob es ein Fremdwort wäre, dessen Bedeutung man sich nicht ganz gewiss ist.
»Bei Innes Kent?«, f ragte Carruthers.
Sie starrten sich an. Dann neigte Lexie bejahend den Kopf, einmal. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und lächelte leise.
»Aha«, sagte er. »Jetzt verstehe ich alles. Wenn ich gewusst hätte, dass Innes Kent Ihr Lehrer war, hätte ich Sie schon vor Monaten aus der Anzeigenabteilung rausgeholt. Ein Herausgeber von seinem Kaliber. Was für eine Tragödie, was mit ihm passiert ist. Von der Zeitschrift ganz zu schweigen. Ich kannte ihn ein bisschen. Ich wäre auf seine Beerdigung gegangen, wenn ich davon gewusst hätte, aber …« Er redete immer weiter. Lexie krallte ihre Hände ineinander und fing an, die Stifte in dem Topf auf seinem Schreibtisch zu zählen. Drei orangefarbene. Vier rote. Sechs blaue, zwei kürzer als die anderen.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Carruthers sie interessiert musterte. »Wie bitte?«, f ragte sie.
»Sie sind nicht die Frau, mit der er …?«
Sie ließ das Kinn auf die Brust sinken. Wenn sie lange genug auf den Stoff ihres Kleides blickte und den Strömen und Wirbeln des Paisleymusters bis zu ihrem Ende folgte, würde dieser Kelch an ihr vorübergehen.
»Entschuldigen Sie«, murmelte Carruthers. Er räusperte sich, legte raschelnd ein paar Papiere auf die andere Schreibtischseite. »Die Sache ist die«, dröhnte er schließlich mit seiner normalen Stimme weiter. »Wir möchten, das Sie für uns schreiben. Sie bekommen das Doppelte von dem, was Sie mit ihrer derzeitigen Tätigkeit verdienen, und Sie werden für die unterschiedlichsten Ressorts arbeiten. Außerdem schließt Ihr neuer Aufgabenbereich unter Umständen einiges an Reisetätigkeit mit ein. Sie werden die einzige Frau in der Redaktion sein, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie damit Probleme haben. Nach allem, was ich gehört habe, können Sie gut auf sich selber aufpassen.« Er winkte sie hinaus. »Gehen Sie, und suchen Sie sich einen Schreibtisch beim Rest der Truppe. Viel Glück.«
Lexie wurde beim Courier zur festangestellten Journalistin befördert. Sie war tatsächlich die einzige Frau in dieser Funktion und sollte es auch noch einige Jahre bleiben. Die Einladungen zum Mittagessen ebbten ab, als ob von ihr in ihrer neuen Position ein Kraftfeld ausginge, dem sich kein Kollege zu nähern wagte. Sie nahm sich eine kleine Wohnung in Chalk Farm, aber sie war fast nie zu Hause. Sie lebte, sie arbeitete, sie reiste. Sie fing eine bedeutungslose Affäre mit Felix an, ließ ihn fallen, ließ sich wieder mit ihm ein. Daphne zog mit einem Künstler nach Paris und ward nie mehr gesehen; Laurence und Lexie fehlte sie sehr. Die Angle Gallery lief so gut, dass Laurence und David eine zweite eröffnen konnten, die New Angle Gallery. Elsewhere kam als London Lights wieder auf den Markt, mit einem neuen Herausgeber, neuen Mitarbeitern und einem neuen Redaktionsbüro. Man konnte die Zeitschrift an jedem Kiosk kaufen. Lexie flog nach New York, Barcelona, Berlin, Florenz. Sie interviewte Künstler, Schauspieler, Schriftsteller, Politiker, Musiker. Sie schrieb Artikel über Radiosender, Abtreibungsgesetze, Atomwaffengegner, Teenager und ihre Motorräder, Häftlingsrechte, Witwenrenten, die Scheidungsreform, die längst fällige Erhöhung des Frauenanteils unter den Parlamentsabgeordneten. Während dieser Zeit erhielt sie über die Poststelle der Zeitung hin und wieder einen anonymen Brief in einer ungelenken, jugendlichen Handschrift. Weiß Ihr Arbeitgeber, dass Sie Bilder stehlen?, stand in dem einen. Erst nehmen Sie mir meinen Vater weg und dann mein Erbe, in einem anderen. Lexie zerriss sie in kleine Schnipsel und versenkte sie auf dem Grund des Papierkorbs. Sie nahm ab, sie rauchte mehr und bekam von den vielen Zigaretten eine tiefere, rauere Stimme. Wer von ihr interviewt wurde, empfand sie als einfühlsam und prägnant, manchmal allerdings auch als brutal direkt. Den meisten ihrer männlichen Kollegen ging sie auf die Nerven. Das wusste sie, aber es war ihr egal. Sie spulte das Leben und ihre Arbeit herunter, ohne sich eine Pause zu gönnen; abends und am Wochenende fand man sie meistens an ihrem Schreibtisch. Sie trug die Mode der Zeit - Miniröcke, hohe Stiefel, grelle Farben -, aber mit einer Lässigkeit, die an Desinteresse grenzte. Über Innes sprach sie nie, mit niemandem. Wenn Laurence ihn erwähnte, sagte sie nichts darauf. Sie hängte seine Bilder in ihrer kleinen Wohnung auf. Sie aß im Stehen und sah sie sich an.
Und als sie irgendwann glaubte, ihr Leben würde unabänderlich im selben Trott weitergehen, geschah - und wie sollte es auch anders sein? - natürlich doch etwas, das sie aus ihrer Abkapselung wieder herausholte.
026
Lexie rauscht durch die Gänge der BBC, biegt um eine Ecke und betritt, ohne anzuklopfen, Felix’ Büro. Felix hat die Füße auf dem Schreibtisch und telefoniert, den Hörer zwischen Kinn und Schulter geklemmt. Als sie hereinkommt, schießen seine Augenbrauen in die Höhe. Sie haben sich seit Wochen nicht mehr gesehen. Zurzeit haben sie wieder einmal eine Beziehungspause.
Felix legt auf und springt vom Stuhl, er fasst sie bei den Schultern und küsst sie auf beide Wangen.
»Liebling«, säuselt er. »Was für eine unerwartete Freude.«
»Geht es nicht ein bisschen weniger schwülstig?« Lexie nimmt Platz und stellt ihre Tasche neben sich auf den Boden. Sie kann es selbst nicht ganz verstehen, aber sie ist tatsächlich etwas nervös.
Felix lehnt sich lässig an seinen Schreibtisch, verschränkt die Arme und betrachtet die wunderschöne Erscheinung im smaragdgrünen Kleid, die ihm so unverhofft ins Büro geschneit ist. Sie hat eine neue Frisur, im Nacken kürzer als früher. Trotz ihrer Ruppigkeit freut er sich sehr darüber, dass sie ihn, schön wie immer, einfach aus heiterem Himmel überfallen hat. Bis jetzt musste er immer ihr nachlaufen. Er wird sie zum Mittagessen einladen. Zu Claridge’s vielleicht. Er lächelt. Lexie ist wieder da. Ihr letzter Streit - worum ging es dabei noch mal? - ist kaum mehr als eine blasse Erinnerung. Was als ein stinknormaler Tag angefangen hat, verspricht plötzlich, ein auf regendes Ende zu nehmen.
Er will gerade vorschlagen, dass sie zusammen einen Happen essen gehen, da sagt Lexie: »Ich muss mit dir reden.«
Felix’ Miene verdüstert sich. »Liebling, wenn es um die kleine Amerikanerin geht, musst du mir glauben, die Sache ist vorbei und …«
»Es geht nicht um die Amerikanerin.«
»Aha.« Felix runzelt die Stirn und widersteht dem Impuls, auf seine Uhr zu sehen. »Wollen wir es dann vielleicht beim Essen besprechen? Ich dachte an Claridge’s.«
»Gute Idee.«
Sie steigen in ein Taxi. Als er ihr die Hand aufs Bein legt, stößt sie sie nicht weg, was Felix als gutes Zeichen dafür nimmt, dass ihm weitere Verlegenheiten wegen seiner Affäre erspart bleiben und sie noch heute zusammen im Bett landen könnten. Die Fahrt bis zum Claridge’s dauert nur wenige Minuten. Sie gehen durch die Drehtür hinein, Felix wird vom Oberkellner erkannt, sie bekommen einen guten Tisch, unter der Kuppel. Während sie die Speisekarte studieren, sagt Lexie: »Übrigens …«
Felix kann sich nicht zwischen gegrillter Seezunge und Steak entscheiden. Wie ist seine Stimmung? Ist ihm eher nach Fisch oder nach Fleisch? Steak oder Seezunge? »Hmm?«, brummt er, um zu zeigen, dass er ihr zuhört.
»Ich bin schwanger.«
Er klappt die Speisekarte zu. Er legt sie hin. Er fasst nach Lexies Hand. »Verstehe«, sagt er bedächtig. »Und hast du dich schon entschieden, was du …?«
»Ich behalte es«, antwortet sie, den Blick fest auf die Speisekarte geheftet.
»Natürlich.« Wenn sie doch bloß die verdammte Karte weglegen würde. Am liebsten würde er sie ihr aus der Hand reißen und auf den Boden schmeißen. Doch dann ist seine Wut plötzlich verflogen. Im Gegenteil, ihm ist zum Lachen zumute. Er muss sich die Hand vor den Mund halten, um nicht laut loszuprusten.
»Tja, mein Liebling«, sagt er. Sie sieht, dass er sich das Lachen verbeißt, der Mistkerl. »Du bist eben immer für eine Überraschung gut. Ich hätte dich nie als den mütterlichen Typ eingeschätzt.«
Sie zieht ihm die Hand weg. »Ob ich das wirklich bin, muss sich erst noch zeigen.«
Er bestellt Champagner, und er trinkt zu viel. Er sonnt sich in Selbstgefälligkeit und macht sogar ein, zwei Bemerkungen über seine Manneskraft, die Lexie geflissentlich überhört. Er bringt wieder einmal das Thema Heirat zur Sprache. Lexie lässt sich auf keine Diskussion darüber ein. Als ihnen der Kellner das Essen bringt, sagt er, jetzt müsse sie ihn heiraten. Sie blafft zurück, sie müsse gar nichts. Erbost will er wissen, warum sie ihm immer einen Korb gibt. Wo doch die Frauen Schlange stehen, um ihn vor den Traualtar zu schleppen? Dann heirate eben eine von denen, sagt Lexie, such dir eine aus. Aber ich will dich, sagt Felix, und sieht sie über sein Champagnerglas hinweg finster an.
Als sie wieder draußen auf dem Bürgersteig stehen, sind sie immer noch in gereizter Stimmung.
»Sehen wir uns heute Abend?«, fragt Felix.
»Ich geb dir Bescheid.«
»Jetzt sei doch nicht so. Ich kann es nicht haben, wenn du mich abwimmelst.«
»Felix, du bist blau.«
Er nimmt ihren Arm und will gerade anfangen, ihr zu erklären, dass es langsam Zeit wird, ihren Dauerstreit zu beenden und sich in die Notwendigkeit einer Heirat zu fügen, als Lexie hinter ihm ein bekanntes Gesicht entdeckt.
Im ersten Augenblick weiß sie nur, dass sie diese Person kennt, aber sie kann sie nicht einordnen. Sie starrt in das bleiche, breite Gesicht, die runden Augen, auf die sehnigen Hände, die sich um die Henkel einer Handtasche krallen, das dünne Haar, das mit einem gepunkteten Band nach hinten gebunden ist, den leicht geöffneten Mund. Wer ist die Frau? Und woher kennt Lexie sie?
Dann weiß sie es plötzlich. Es ist Margot Kent. Als erwachsene Frau. In Stöckelschuhen und Minirock kommt sie die Brook Street herauf. Die Worte Bilder und das wird Ihnen noch leidtun zucken Lexie durch den Kopf. Die ungelenke blaue Jungmädchenschrift.
Sie kommt immer näher, ihre Schuhe scharren über das Pflaster. Ihre Blicke treffen sich, und im Vorbeigehen verdreht Margot den Kopf nach ihr. Dann bleibt sie stehen. Sie sieht Lexie mit dem gleichen stieren Blick an, den sie früher auch schon hatte.
Felix dreht sich um. Er sieht eine junge Frau, und da er nun einmal ist, wer er ist, geht er selbstverständlich davon aus, dass sie seinetwegen stehen geblieben ist. »Hallo.« Er nickt ihr zu. »Schöner Tag, nicht wahr?«
»Ja«, antwortet Margot. »Ein wunderschöner Tag.« Sie sieht ihn fest und abwartend an, dann breitet sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Ich kenne Sie«, sagt sie und macht einen Schritt auf ihn zu. »Sie sind im Fernsehen.«
Felix lächelt zurück, charmant wie immer, aber auch ein wenig verächtlich. »Momentan nicht, wenn ich das sagen darf.«
Margot lacht, ein unvorteilhaftes Gackern. Sie lässt den Blick zwischen Felix und Lexie hin und her wandern und entfernt sich rückwärtsgehend mit einem kleinen Winken. »Man sieht sich.«
»Auf Wiedersehen«, sagt Felix und legt den Arm um Lexie. »Jetzt hör mir mal zu«, beginnt er.
Lexie schüttelt ihn ab. Umweht von ihren dünnen Haarsträhnen, sieht Margot noch immer zu ihnen herüber. »Kennst du sie?«, zischelt Lexie.
»Wen?«
»Die Frau.«
»Was für eine Frau?«
»Die, zu der du gerade hallo gesagt hast.«
»Die? Nein.«
»Bestimmt nicht?«
»Bestimmt nicht was?«
»Du kennst sie bestimmt nicht?«
»Wen?«
»Felix.« Lexie trommelt ihm auf die Brust. »Stell dich nicht blöder, als du bist. Die Frau da, gerade. Kennst du sie?«
»Nein, das sag ich doch. Ich hab sie noch nie im Leben gesehen.«
»Aber warum hast du sie dann …«
Felix umfasst ihr Gesicht. »Was soll eigentlich das ganze Palaver?«
»Du musst mir versprechen …« Lexie bricht ab. Sie weiß nicht, was für ein Versprechen sie ihm abnehmen soll, aber irgendetwas beunruhigt sie. Sie denkt an Margot und ihren Minirock, an ihr träges Lächeln und ihr dünnes, blond gefärbtes Haar. Wie sie Felix angesehen hat, mit einem Hauch von Schadenfreude. Erst nehmen Sie mir meinen Vater weg. »Du musst mir versprechen … Ich weiß auch nicht. Versprich mir, dass du, wenn du sie jemals wiedersiehst, nicht hallo zu ihr sagst. Dass du die Finger von ihr lässt.«
»Um Himmels willen, Lexie, was …«
»Versprich es mir!«
Er lächelt zu ihr hinunter. »Ich verspreche es, wenn du mich heiratest.«
»Felix, es ist mir bitterernst. Sie ist … Sie ist … Versprich es mir einfach, bitte.«
»Okay, okay.« Er gibt gereizt nach. »Versprochen. Also, was ist, sehen wir uns heute Abend?«
027
Lexie hockt umringt von ihren Notizen im Schneidersitz auf dem Bett, dem einzigen Ort, wo sie noch einigermaßen bequem arbeiten kann. Sie ist im neunten Monat, und bis in die Redaktion ist es ihr inzwischen zu weit. Bevor sie sich schlafen legt, will sie unbedingt noch diesen Artikel über das italienische Kino fertigschreiben.
Sie nimmt den Bleistift hinter ihrem Ohr hervor und greift nach einem Blatt Papier, das links von ihr liegt; der Stift rutscht ihr aus den Fingern, rollt über die Bettdecke und fällt auf den Boden. Am liebsten würde sie ihn liegen lassen, aber sie hat keinen anderen. Sie hebt sich die Schreibmaschine vom Schoß, wühlt sich durch ihre Notizen, lässt sich auf alle viere nieder und sieht unter das Bett.
Keine Spur von dem Stift. Sie krabbelt zum Nachttisch und lugt auch darunter. Dabei durchfährt sie auf einmal ein reißendes Gefühl in der Magengrube. Der Stift ist vergessen; Lexie richtet sich auf. Der Schmerz verschwindet so schnell, wie er gekommen ist. Sie setzt sich wieder aufs Bett und liest sich durch, was sie geschrieben hat. Gegen Ende des Artikels kommt das Gefühl wieder zurück. Lexie sieht auf ihren Bauch und runzelt die Stirn. Es kann nicht sein, es kann einfach nicht sein. Es ist noch viel zu früh. Sie muss morgen ein Interview führen - mit einem politischen Aktivisten, hinter dem sie schon seit Monaten her ist -, und bis Ende der Woche muss sie einen Leitartikel schreiben. Das Gefühl kommt wieder, stärker diesmal. Fluchend knallt Lexie die Blätter aufs Bett. Das darf einfach nicht wahr sein. Sie stapft in die Küche, um sich eine Tasse Tee zu machen, und als sie den Kessel volllaufen lässt, spürt sie die Kontraktion der nächsten Wehe - ein kleiner Stoß, wie wenn man zu schnell über eine Buckelbrücke fährt oder im Meer durch eine Welle schwimmt.
»Hör mal«, sagt sie laut. »Das kannst du vergessen. Du musst noch warten. Du kannst noch nicht raus. Hast du verstanden?«
Während sie den Tee trinkt, sieht sie sich die Bilder an - den Bacon, den Pollock, die Hepworth, die Freuds. Sie bürstet sich die Haare. Sie putzt ihre Zähne, und als sie ausspuckt, werden die Stöße zu Krämpfen, als ob sich eine Faust ballt, als ob ein Stoffbeutel zu stramm geschnürt wird.
Sie greift zum Telefon und ruft ein Taxi. »Zum Royal Free Hosp…« Das Wort reißt ab; sie bringt nur noch ein »Au« hervor.
Als sie sich auf der Entbindungsstation einfindet, wird es draußen dunkel.
»Passen Sie auf«, sagt sie zu der Schwester am Empfang. »Es ist noch viel zu früh dafür. Ich habe diese Woche noch einen ganzen Berg Arbeit zu erledigen. Können Sie nicht irgendetwas machen, dass es aufhört?«
»Das was aufhört?«, fragt die Schwester verblüfft.
»Das hier.« Lexie zeigt auf ihren Bauch. Ist die Frau ein bisschen schwer von Begriff? »Es ist zu früh. Es darf jetzt noch nicht kommen.«
Die Schwester sieht sie über ihre Brille hinweg an. »Mrs. Sinclair …«
»Miss.«
Schockierte Hebammen umringen sie. »Wo ist Ihr Mann?«, fragt die eine und blickt sich suchend um. »Sie sind doch wohl nicht allein gekommen?«
»Doch«, sagt Lexie und lehnt sich auf die Theke. Die nächste Wehe ist im Anzug.
»Wo ist Ihr Mann?«
»Hab keinen.«
»Aber Mrs. Sinclair, es …«
»Miss«, verbessert sie erneut. »Und noch was …« Doch wieder wird der Satz von einer Wehe abgeschnitten. Sie klammert sich an die Theke. »Verdammt und zugenäht«, hört sie sich brüllen.
»Du lieber Himmel.« Die Schwester schnalzt missbilligend mit der Zunge. Dann hört Lexie, wie sie zu jemand anderem sagt: »Rufen Sie den Kindsvater an? Wir haben seine Telefonnummer hier und …«
»Unterstehen Sie sich«, schreit Lexie. »Ich will ihn hier nicht haben, verflucht noch mal.«
Einige Stunden später klammert sie sich an das Bein eines Krankenhausbetts, wie ein Matrose im Sturm, der sich verzweifelt am Mast festhält, und immer noch sagt sie, dass es zu früh ist, dass sie zu arbeiten hat, und sie flucht - pausenlos. Sie flucht, wie sie noch nie in ihrem Leben geflucht hat.
»Stehen Sie vom Fußboden auf, Mrs. Sinclair. Sofort«, sagt die Hebamme.
»Kommt gar nicht in Frage«, bringt Lexie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Und es heißt Miss, nicht Mrs. Wie oft muss ich Ihnen das noch sagen?«
»Mrs. Sinclair, stehen Sie auf, und legen Sie sich ins Bett.«
»Sie können mich mal«, sagt sie, und dann heult sie und schreit und schiebt einen Schwall von Flüchen und üblen Beschimpfungen hinterher.
»Keine Ausdrücke«, sagt die Hebamme tadelnd. Und sie sagt es wieder und wieder. Wenn sie ihr nicht gerade befiehlt, sich aufs Bett zu legen. Lexie kauert immer noch auf dem Boden, als sie entbindet. Sie müssen das Kind in einem Handtuch auffangen. Der Arzt sagt, er habe noch nie im Leben etwas Vergleichbares gesehen. Wie eine Wilde, sagt er, oder ein Tier.
Keine Ausdrücke. So lauteten die ersten Worte, die Lexies Sohn in seinem Leben hörte.
Später, während der Besuchszeit, strömten Männer in Hüten und Trenchcoats auf die Station, die Blumensträuße brachten. Lexie beobachtete sie, wie sie nervös an ihren Pralinenschachteln nestelten. Enge Hemdkragen, viel zu glatt rasierte Gesichter. Quietschende Schuhe und regennasse Hüte - und rote Hände, mit denen sie sich auf die Bettchen ihrer Neugeborenen stützten. Lexie lächelte auf ihren Sohn hinunter. In eine gelbe Decke gewickelt sah er mit einem Blick zu ihr auf, in dem stand: Da bist du ja endlich.
»Hallo«, flüsterte Lexie und schob ihm den Zeigefinger in das kleine Händchen.
Neben ihr tauchte eine Schwester auf. »Sie sollen das Kind lediglich beim Stillen halten. Sie ruinieren sich den Rücken. Legen Sie ihn in sein Bettchen.«
»Aber ich will nicht«, sagte Lexie, ohne den Blick von ihm zu nehmen.
Die Schwester seufzte. »Soll ich den Vorhang zuziehen?«
Lexie riss den Kopf hoch. »Nein.« Sie zog das Kind an sich. »Nein«, sagte sie noch einmal.
Gegen Ende der Besuchszeit hallten plötzlich feste, selbstbewusste Schritte durch den Saal. Lexie kannte diese Schritte. Da kam Felix auch schon an den Betten vorbeidefiliert, und auf den Gesichtern der Frauen, die ihn mit bewundernden Blicken verfolgten, leuchtete ein schwärmerisches Lächeln auf. Zu jener Zeit war er jeden Tag im Fernsehen. Huldvoll lächelte er zurück. Sein Mantel stand offen, als ob er in fliegender Eile hergehetzt wäre, in der einen Hand einen riesigen Strauß Orchideen, in der anderen einen Obstkorb. Lexie verdrehte die Augen.
»Liebling«, dröhnte er, als er an ihr Bett trat. »Man hat mich gerade erst verständigt. Sonst wäre ich natürlich viel früher gekommen.«
»Ach ja?«, sagte Lexie mit einem Blick auf die Wanduhr. »Musstest du nicht bis vor ein paar Minuten im Studio sein?«
Er legte die Blumen aufs Bett, auf Lexies Füße, und sagte: »Ein Junge. Wunderbar. Wie geht es dir?«
»Es geht uns ausgezeichnet.«
Lächelnd beugte er sich zu ihr. »Herzlichen Glückwunsch. Gut gemacht.« Er küsste sie auf die Wange. Dann ließ er sich auf einen Stuhl fallen. »Obwohl ich ein bisschen böse mit dir bin, dass du mir nicht gleich Bescheid gesagt hast. Du armer Liebling, ganz allein hierherzufahren. Das war sehr ungezogen von dir.« Er sah ihr tief in die Augen. »Ich habe meiner Mutter ein Telegramm geschickt. Sie wird entzückt sein. Bestimmt ist sie schon dabei, das Familientaufkleid rauszusuchen.«
»O Gott«, murmelte Lexie. »Die Mühe braucht sie sich wirklich nicht zu machen. Felix, hast du nicht etwas vergessen?«
»Was denn?«
»Warum du hergekommen bist, zum Beispiel.«
»Um dich zu besuchen, natürlich.«
»Und nicht vielleicht auch das Kind? Deinen Sohn? Den du bis jetzt keines Blickes gewürdigt hast?«
Felix sprang auf und sah sich das Kind an. Ein Anflug von Widerwillen, vermischt mit Angst, huschte über seine Züge, bevor er sich schnell wieder auf seinen Stuhl flüchtete. »Wunderschön«, verkündete er. »Perfekt. Wie wollen wir ihn nennen?«
»Theo.«
»Ach.«
»Kurz für Theodore.«
»Ist das nicht ein bisschen zu …?« Er lächelte. »Warum Theodore?«
»Weil mir der Name gefällt. Und zu ihm passt.«
Er fasste nach ihrer Hand. »Mein Liebling«, begann er leise. »Ich habe beim Hereinkommen mit den Schwestern gesprochen. Sie sind der Meinung - die ich natürlich voll und ganz teile -, dass du unmöglich allein leben kannst. Ich finde wirklich …«
»Fang nicht wieder damit an, Felix.«
»Willst du nicht zu mir in die Gilliland Street ziehen?«
»Nein.«
»Ich rede nicht vom Heiraten, ehrlich nicht. Aber überleg es dir. Wir zwei, unter einem Dach …«
»Drei.«
»Wie bitte?«
»Das Kind, Felix.«
»Aber natürlich, drei. Ein Versprecher. Wir drei, unter einem Dach. Das wäre das Beste. Die Schwestern finden das auch, und …«
»Sei still!«, fuhr Lexie ihn an, so laut, dass einige der in Bettjäckchen gehüllten Mütter zu ihnen herübersahen. »Und was unterstehst du dich überhaupt, hinter meinem Rücken mit den Schwestern über mich zu reden? Was bildest du dir eigentlich ein? Ich werde nicht mit dir zusammenleben. Niemals.«
Felix ließ sich nicht erschüttern. »Wir werden sehen«, sagte er und schloss seine Hand um die ihre.
Lexie verlässt das Krankenhaus auf eigene Verantwortung so schnell wie möglich - sie kann die plumpe Vertraulichkeit auf der Station nicht ertragen, dieses quasi öffentliche Leben. Sie fährt mit dem Kind im Taxi nach Hause. Es erscheint ihr als eine äußerst simple Gleichung: Sie ist als ein Mensch ins Krankenhaus gegangen, sie kommt als zwei Menschen wieder zurück. Theo schläft in der untersten Schublade einer Kommode. Lexie fährt ihn in einem großen, quietschenden silberfarbenen Kinderwagen spazieren, den sie von einer Nachbarin geschenkt bekommen hat. Sie ist fast immer die halbe Nacht auf. Obwohl sie damit gerechnet hat, zehrt es an ihren Kräften. Sie steht im Morgenrock mit dem Kind am Fenster, sieht auf die Straße hinunter, wartet auf das Surr-stop-surr des Milchwagens und fragt sich, ob sie in der ganzen Stadt der einzige Mensch ist, der nicht schläft. Theos Köpfchen liegt warm und schwer in ihrer linken Armbeuge, immer in der linken, sein Ohr an ihrem Herzen, die Glieder im Schlaf erschlafft. Im Zimmer schimmert metallisch weiß die Morgendämmerung herauf. Um das Bett herum liegen die Spuren der langen Nacht, die sie zusammen hinter sich gebracht haben: mehrere volle Windeln, zwei zerknüllte Spucktücher, ein leeres Glas Wasser, ein Töpfchen Zinksalbe. Lexie bleibt mit dem nackten Fuß an der Teppichkante hängen und sieht erschrocken ihren Sohn an. Seine schlafenden Züge umwölken sich für einen Augenblick, dann entspannen sie sich wieder. Sein Händchen hebt sich und fährt durch die Luft - er sucht etwas, zum Festhalten, zum Greifen, zum Trost -, und als er eine Falte ihres Morgenrocks erwischt, klammert er sich entschlossen fest.
Der Schock des Mutterseins besteht für Lexie nicht in der Schlaflosigkeit, nicht in den Erschöpfungstiefs, nicht in den Beschneidungen ihrer Freiheit, die sie auf die unmittelbare Nachbarschaft einengen, sondern in der schieren Menge an Hausarbeit: im ständigen Waschen, Zusammenlegen und Trocknen. Vor Langeweile und Wut kommen ihr dabei fast die Tränen, und mehr als einmal wirft sie einen Armvoll Wäsche an die Wand. Die anderen Mütter, denen sie auf der Straße begegnet, sehen alle so kompetent, so beherrscht aus, die Handtasche über dem Kinderwagengriff, die akkurat festgesteckten, fein bestickten Laken. Aber was ist mit dem Waschen?, möchte Lexie sie f ragen. Hasst ihr das Aufhängen und Zusammenlegen nicht auch?
Theo wächst aus der Schublade heraus. Er wächst aus den selbstgestrickten, geschenkten Jäckchen heraus. Auch das kommt für Lexie nicht überraschend, aber schneller als erwartet. Sie ruft beim Courier an. Sie schreibt einen Artikel über die Anthony-Caro-Ausstellung in der Hayward Gallery und kann ein Bettchen kaufen. Theo wächst, bis er mit den Füßen unten am Kinderwagen anstößt. Sie ruft wieder beim Courier an und wird zu einer Redaktionssitzung eingeladen. Theo nimmt sie mit. Carruthers ist anfangs entsetzt, dann fasziniert. Lexie lässt Theo während der Besprechung auf ihren Knien wippen. Sie bekommt den Auftrag, eine Schauspielerin zu interviewen. Sie nimmt Theo zu dem Termin mit. Die Schauspielerin ist entzückt; Theo krabbelt unter ihr Sofa, jagt ihre Katze. Dann schleppt er einen Schuh der Schauspielerin an, dessen Riemchen er angekaut hat. Plötzlich ist die Dame nicht mehr ganz so entzückt. Lexie kauft von ihrem Honorar einen Sportkinderwagen. Er hat rote und weiße Streifen. Theo rutscht darin ganz nach vorne, hält sich an seinen Knien fest und lehnt sich in die Kurven. Eine Nachbarin, Mrs. Gallo, ist bereit, Theo ein paar Tage in der Woche zu hüten. Sie stammt aus Ligurien und hat acht Kinder großgezogen. Sie nimmt Theo auf den Schoß, nennt ihn »angelino«, zwickt ihn in die Bäckchen und sagt: »Möge Gott ihn beschützen.« Und Lexie fängt wieder an, in der Redaktion zu arbeiten, um ein Einkommen zu haben und an ihr altes Leben wieder anzuknüpfen. Obwohl ihre Kollegen wissen, warum sie eine Zeitlang gefehlt hat, erwähnt kaum einer von ihnen das Kind, als ob es sich nicht gehöre, in dem lauten, konzentrierten Getriebe der Zeitung über so etwas zu sprechen. Wenn sie morgens das Haus verlässt, hat sie das Gefühl, dass zwischen ihr und ihrem Sohn ein Faden gespannt ist, der sich, während sie durch die Straßen geht, Stück um Stück abspult. Am Ende des Tages kommt es ihr so vor, als hätte sich der Faden vollkommen aufgelöst. Fast wahnsinnig vor Sehnsucht nach ihrem Kind, treibt sie die U-Bahn an, noch rasanter durch den Tunnel zu rattern und die Schienen entlangzurasen, um sie möglichst schnell zu ihm zurückzubringen. Wenn sie wieder bei ihm ist, dauert es eine Weile, bis der Faden wiederhergestellt ist und genau die richtige Länge hat - ungefähr einen halben Meter, dann ist sie beruhigt. Sobald Theo abends eingeschlafen ist, setzt sie sich an den Schreibtisch und beendet die Arbeiten, die sie tagsüber nicht geschafft hat. Manchmal denkt sie, dass das Klappern der Schreibmaschine, das sich in Theos Träume schleicht, für ihn so etwas wie ein Schlaflied sein muss.
Als Theo anfängt, sich an den Stuhlbeinen hochzuziehen, als er anfängt zu laufen und Sachen vom Tisch zu reißen, als er die Schreibmaschine auf sich kippt und sich dabei fast umbringt, fasst Lexie einen Entschluss.
028
»Ich muss umziehen«, sagte sie zu Laurence.
Laurence beobachtete interessiert, wie Theo unter lautem Geschepper einen Küchenschrank ausräumte.
»Unglaublich«, bemerkte er, »dass so etwas Simples so viel Spaß machen kann. Da möchte man glatt wieder ein Kleinkind sein.« Er wandte sich ihr zu. »Du musst umziehen? Warum? Setzt dich dein Vermieter vor die Tür?«
»Nein.« Lexie sah sich um. Zugegeben, der Raum war nicht klein, aber er enthielt ihr Bett und Theos Bettchen, das Sofa, einen Laufstall und den Schreibtisch, an dem sie nachts arbeitete. Laurence folgte ihrem Blick.
»Verstehe«, meinte er. »Aber wo willst du hin?«
Theo ließ ein Sieb fallen, das klappernd auf dem Fußboden landete. »Ha«, sagte er. »Ha.« Er bückte sich danach. Laurence schnitt sich ein zweites Stück Kuchen ab. Lexie sah zu, wie ihr Sohn das Sieb noch einmal auf den Boden schleuderte. Wie lieb er aussah in seinem grünen Frotteeanzug und mit seinem herzförmigen Haaransatz.
»Ich dachte … Ich habe mir überlegt …« begann sie, »dass ich vielleicht … etwas kaufen sollte.«
Laurence verschluckte sich. »Hast du im Fußballtoto gewonnen?«
»Schön wär’s.«
»Zahlt Theos Erzeuger?«
»Auf keinen Fall. Eine solche Summe würde ich nie von ihm annehmen.«
Laurence runzelte die Stirn. »Schön dumm. Und wie willst du …« Er stellte seinen Kuchenteller hin. »A-ha!«, sagte er. Unter anderen Umständen hätte Lexie vielleicht gelächelt. Das war etwas, das sie besonders an ihm mochte: seine blitzschnelle Auffassungsgabe.
Sie sahen sich einen Augenblick an, dann drehten sie sich wie auf Kommando gleichzeitig zur Wand. Der Pollock, der Bacon, der Freud, der Klein, der Giacometti. Lexie schlug die Hände vors Gesicht und ließ sich aufs Sofa sinken.
»Ich glaube, ich kann das nicht«, sagte sie.
»Es wird dir nicht viel anderes übrig bleiben. Entweder du bittest Theos Erzeuger, dass er dir ein Scheibchen von seinem Vermögen abschneidet …«
»Ausgeschlossen.«
»Oder du verkauft Theo an Menschenhändler.«
»Ebenfalls ausgeschlossen.«
»Oder du trennst dich von einem Bild.«
»Aber ich will nicht«, stöhnte sie. »Ich kann nicht.«
Laurence stand auf. »Wenn es dir ein Trost ist«, sagte er, während er vor dem Porträt von Lucian Freud stehen blieb, »ich glaube, er hätte dir genau das Gleiche geraten. Und das weißt du auch. Er hätte keine Sekunde gezögert. Du erinnerst dich doch, wie er die Hepworth-Lithographie verkauft hat, damit du bei uns anfangen konntest?«
Lexie schwieg, aber sie nahm langsam die Hände herunter.
Laurence ging weiter, vorbei an dem Minton, dem Colquhoun und dem Bacon. Vor dem Pollock blieb er stehen und klopfte mit dem Fingernagel auf den Rahmen. »Dafür bekommt ihr ein Haus, Theo und du. Es gibt doch wirklich keine bessere Werbung für einen Künstler als den Tod.«
»Nicht den Pollock«, murmelte Lexie, während sie Kuchenkrümel aus den Falten ihres Kleides klaubte.
Laurence drehte sich fragend zu ihr um.
»Sein Lieblingsbild«, sagte Lexie.
In der Kochnische stieß Theo plötzlich ein jämmerliches Geheul aus. Lexie ging zu ihm und hob ihn aus seinem Berg aus Töpfen, Backblechen und Plätzchenformen heraus. Erschöpft kuschelte er sich an ihre Schulter, steckte den Daumen in den Mund und schlang die andere Hand in ihre Haare.
»Die Skizze von Giacometti könnte etwas einbringen. Sie ist signiert«, sagte Laurence. »Die Preise haben in den letzten Jahren angezogen. David und ich können ihn für dich verkaufen, wenn du möchtest.«
»Danke«, murmelte Lexie.
»Und zwar anonym. Es braucht kein Mensch etwas davon zu erfahren.«
»Einverstanden.« Sie wandte sich ab. »Nimmst du ihn dann bitte gleich mit?«
029
Sie kaufte das dritte Objekt, das sie besichtigte - die untere Hälfte eines Hauses in Dartmouth Park. Zwei Zimmer oben, zwei unten, eine Diele, die von der Haustür bis zur Hintertür führte. Dahinter ein Fleckchen Garten mit einem verwachsenen Apfelbaum, der im Herbst süßfleischige gelbe Früchte trug. Lexie hängte an den Ästen eine Schaukel auf, in der Theo in den ersten Wochen nach dem Umzug oft saß, die Füße auf den hölzernen Sprossen, und erstaunt zusah, wie sie barfuß auf den Baum kletterte und Äpfel in ihren geschürzten Rock sammelte. Sie riss die verrotteten Teppichböden heraus und das alte, feuchte Linoleum, scheuerte die Dielenbretter blank und lackierte sie. Sie tünchte die Rückseite des Hauses weiß. Während Theo mit einer Gießkanne im Garten hin und her lief, putzte sie die Fenster mit Zeitungspapier und Essig, bis die Sonne hell hindurchscheinen konnte. Sie konnte es kaum glauben, dass sie ein eigenes kleines Grundstück besaß, ein Gebilde aus Ziegeln, Mörtel und Glas. Es war ein unfassbarer Tausch: Geld gegen Freiheit. Abends, wenn Theo schlief, ging sie oft von Zimmer zu Zimmer und einmal rund um den Garten. Sie konnte ihr Glück nicht fassen.
Nur der verlorene Giacometti hing ihr nach. Sie hängte die Bilder immer wieder um, um eine Anordnung zu finden, bei der das Fehlen der Skizze nicht auffiel. Du hattest keine andere Wahl, sagte sie sich immer wieder, du hattest keine andere Wahl. Und: Er hätte nichts dagegen gehabt in dieser Situation, er hätte es selbst vorgeschlagen. Aber das schlechte Gewissen und die Reue nagten trotzdem an ihr, spät in der Nacht, wenn sie die Bilder von der Wand nahm, um wieder einmal eine neue Hängung zu probieren.
Um sich abzulenken, arbeitete sie, wie immer. Die Frauen, zu denen wir werden, nachdem wir ein Kind bekommen haben, schrieb sie, dann hielt sie inne, um das Blatt Papier geradezurücken. Sie warf einen Blick auf die Bilder, ohne sie richtig zu sehen, legte den Kopf auf die Seite, um auf Theo zu horchen. Nichts. Stille. Die schwere Stille des Schlafes. Sie konzentrierte sich wieder auf die Schreibmaschine, auf den Satz, den sie getippt hatte.
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Wir sehen mit einem Mal anders aus, schrieb sie weiter. Wir kaufen Schuhe mit flachen Absätzen, wir schneiden uns die langen Haare ab. In unseren Handtaschen haben wir angebissene Zwiebäcke, einen kleinen Traktor, einen geliebten Stofffetzen, eine Plastikpuppe. Unsere Muskeln werden schlaff. Wir werden um unseren Schlaf, unsere Vernunft, unseren gesunden Menschenverstand gebracht. Unsere Herzen verlagern sich aus unserem Körper heraus. Sie atmen, sie essen, sie krabbeln und - siehe da! - sie laufen, sie fangen an, mit uns zu reden. Wir lernen, dass wir manchmal nur schrittweise vorankommen können, weil jeder Stock, jeder Stein, jede zerquetschte Dose auf dem Weg untersucht werden will. Wir gewöhnen uns daran, nicht ans Ziel zu kommen. Wir lernen stopfen, vielleicht sogar kochen, die Knie von Latzhosen zu flicken. Wir gewöhnen uns daran, mit einer Liebe zu leben, die uns durchdringt und erstickt, die uns blendet und beherrscht. Wir leben. Wir betrachten unseren Körper, unsere gedehnte Haut, die silbernen Fäden am Haaransatz, unsere seltsam vergrößerten Füße. Wir lernen, weniger oft in den Spiegel zu schauen. Wir hängen die Kleider, die chemisch gereinigt werden müssen, ganz hinten in den Schrank. Und irgendwann werfen wir sie weg. Wir trainieren uns ab, »Scheiße« und »verdammt« zu sagen, und gewöhnen uns stattdessen »Scheibenkleister« und »Herrschaftzeiten« an. Wir hören auf zu rauchen, wir färben uns die Haare, wir suchen in Parks, Schwimmbädern, Büchereien und Cafés nach unseresgleichen. Wir erkennen uns an unseren Kinderwagen, unseren müden Blicken nach schlaflosen Nächten, an den Trinkbechern, die wir in der Hand halten. Wir lernen, wie man Brust- und Wadenwickel macht, wie man die vier Symptome der Hirnhautentzündung erkennt und dass man eine Schaukel manchmal zwei Stunden lang anschieben muss. Wir kaufen Plätzchenformen, auswaschbare Farben, Schürzen, Plastikschüsseln. Wir haben etwas gegen Busse, die zu spät kommen, gegen Streitereien auf offener Straße, gegen Raucher im Restaurant, gegen Sex nach Mitternacht. Wir dulden keinen Widerspruch, keine Faulheit, keine kalten Füße. Und wenn wir auf der Straße die jüngeren Frauen sehen, mit ihren Zigaretten, ihrem Make-up, ihren engen Kleidern, ihren winzigen Handtäschchen, ihren ordentlich gekämmten, f risch gewaschenen Haaren, wenden wir uns ab, nehmen den Kopf zwischen die Schultern und schieben den Kinderwagen weiter den Berg hinauf.
Wenn Felix nicht in Malaysia, Vietnam, Nordirland oder am Suezkanal war, kam er vorbei. Mal blieb er einen halben, mal einen ganzen Tag, manchmal auch mehrere Wochen. Er ließ Theo auf seinem Schoß reiten, hob ihn nach ein paar Minuten wieder hinunter und griff zu seiner Zeitung oder legte sich im Garten auf die Decke, während der Junge neben ihm spielte. Als Lexie einmal in den Garten kam, war Felix eingeschlafen und über und über mit Sand bedeckt. Theo lief mit seiner Schaufel in der Hand eifrig zwischen dem Sandkasten und seinem Vater hin und her und grub ihn Stück um Stück ein.
Es ist schwer zu sagen, was Theo von Felix hielt, von diesem Mann, der in langen Abständen zu Besuch kam und ihm teure, aber unpassende Geschenke mitbrachte - einen Technikbaukasten für einen Einjährigen, einen Kricketschläger für ein Kind, das noch nicht laufen konnte. Theo nannte ihn weder »Daddy« noch »Dad« (»Alberne Namen, findest du nicht?«, sagte Felix), sondern »Felix«. Felix nannte ihn »alter Knabe«, worüber Lexie sich jedes Mal ärgerte.