Lexie sitzt in der Courier-Redaktion
an ihrem Schreibtisch und tippt nachdenklich mit dem Stift an das
Telefon. Dann reißt sie den Hörer hoch und wählt. »Felix? Ich
bin’s.«
»Mein Liebling«, sagt er. »Ich hab’ gerade an dich
gedacht. Sehen wir uns heute Abend?«
»Nein. Ich habe Redaktionsschluss.«
»Dann komme ich einfach später vorbei.«
»Nein. Hast du nicht gehört? Ich habe
Redaktionsschluss. Sobald Theo eingeschlafen ist, muss ich
arbeiten.«
»Ach.«
»Du kannst natürlich kommen und ihm das Abendessen
machen. Dann könnte ich früher anfangen.«
Eine kurze Pause. »Hm«, macht Felix. »Das wäre
natürlich auch eine Möglichkeit. Das Problem ist bloß …«
»Schwamm drüber«, unterbricht Lexie ihn ungeduldig.
»Warum ich dich anrufe … Du musst mir einen Gefallen tun.«
»Du brauchst es nur zu sagen.«
»Die Zeitung möchte, dass ich nach Irland fahre, um
Eugene Fitzgerald zu interviewen.«
»Wen?«
»Bildhauer. Größter lebender. Es kommt so gut wie
nie vor, dass er sich zu einem Interview bereit erklärt, und
…«
»Verstehe.«
»Deshalb …« Lexie lässt sich nicht aus dem Konzept
bringen. Sie muss ihre Bitte schnell vortragen, sonst kriegt sie
sie gar nicht über die Lippen. »… muss ich natürlich fahren. Und
deshalb wollte ich f ragen, ob du nicht auf Theo aufpassen kannst,
solange ich weg bin.«
Wieder eine Pause. Sie dauert eine Schrecksekunde.
»Theo?«, fragt Felix.
»Unser Sohn«, erläutert sie.
»Ja, aber … Es ist nämlich so … Kann das denn nicht
deine Italienerin machen?«
»Mrs. Gallo? Sie hat keine Zeit. Ich hab sie schon
gefragt. Sie bekommt Besuch aus Italien.«
»Verstehe. Also, ich würde es wahnsinnig gern
machen. Ist doch klar. Bloß …«
»Okay«, knurrt Lexie. »Vergiss es. Mir war sowieso
nicht wohl bei dem Gedanken, dich zu fragen. Aber wenn du es nicht
mal in Erwägung ziehen kannst, dich drei Tage um ihn zu kümmern,
dann vergiss es einfach.«
Felix seufzt. »Hab ich das etwa gesagt? Hab ich
nein gesagt?«
»Das war gar nicht nötig.«
»Drei Tage, sagst du?«
»Ich sage, vergiss es. Ich hab’s mir anders
überlegt. Ich finde schon jemanden.«
»Aber natürlich nehme ich ihn dir ab, Liebling.
Sehr gern sogar.«
Diesmal schweigt Lexie, um herauszuspüren, ob er
sich ein Hintertürchen offenhält, ob er lügt.
»Meine Mutter würde sofort kommen«, fährt er fort.
»Sie wäre begeistert. Du weißt doch, wie sie den Jungen
vergöttert.«
Lexie überlegt. Zur allgemeinen Überraschung hat
Felix’ Mutter ihren anfänglichen Schock darüber, dass ihr Sohn und
Lexie unverheiratet geblieben sind, überwunden und sich als
liebevolle Großmutter entpuppt, die, wenn Lexie einen dringenden
Termin hat, mir nichts, dir nichts ihren Frauenverein in Suffolk im
Stich lässt, um nach London zu kommen und auf Theo aufzupassen. Und
wenn Lexie ehrlich ist, ist das genau der Vorschlag, auf den sie
gehofft hat. Niemals würde sie Theo allein Felix’Obhut anvertrauen.
Seiner Mutter Geraldine dagegen schon. In ihren lehmigen
Gummistiefeln und den seidenen Kopftüchern strahlt sie etwas
ungeheuer Beruhigendes und zutiefst Verlässliches aus. Und Theo ist
ganz vernarrt in sie. Aber Lexie ist immer noch verärgert, dass
Felix im ersten Moment so zögerlich reagiert hat. »Ich denk darüber
nach«, sagt sie zähneknirschend.
»Wie du meinst.« Sie hört ihm seine Belustigung an.
»Dann rede ich mal mit meiner Mutter, ja? Frag sie, ob sie kommen
würde?«
»Wenn du möchtest«, sagt Lexie und legt auf.

Doch Geraldine Roffe ist bereits anderweitig
gebunden. Es tue ihr sehr leid, aber sie habe in ihrer
Kirchengemeinde eine Verpflichtung übernommen, der sie sich nicht
entziehen könne. Es hat irgendetwas damit zu tun, dass die
Altardecken gewaschen werden müssen - so ganz versteht Lexie den
Sachverhalt auch nicht. Ihr bleibt jedenfalls nichts anderes übrig,
als Theo mitzunehmen. Es ist Anfang Februar. In England herrscht
nebliges Winterwetter; auf den Bürgersteigen türmt sich der
schmutzige Schnee zu Bergen. Lexie fährt mit dem Zug nach Holyhead
und steigt in die
Nachtfähre nach Cork um. Während das Schiff durch die stahlgrauen
Wellen der Irischen See stampft, klammert sie sich an die Reling,
zieht Theo die Strickmütze tief über die Ohren, packt ihn warm in
eine Decke ein. Bei Nieselregen läuft die Fähre in der blauen
Morgendämmerung in Cork ein. Lexie wickelt Theo auf dem Fußboden
der Hafentoilette. Er schreit und strampelt ob dieser unwürdigen
Behandlung, und bald sind sie von neugierigen Frauen umringt. Sie
fährt mit dem Zug an die zerklüftete Küste. Theo presst das Gesicht
an die Scheibe und gibt staunend eine Reihe von Substantiven von
sich: Pferd, Tor, Trecker, Baum. Als sie gegen Mittag die Halbinsel
Dingle erreichen, ist sein Wortschatz erschöpft. Meer, sagt Lexie
zu ihm, Strand, Sand.
Der Zug wird langsamer, ein grünes Schild mit der
Aufschrift SKIBBERLOUGH huscht vorbei. Lexie springt auf, setzt
Theo in die Trage, schlingt ihn sich auf den Rücken und hebt ihren
Koffer aus der Gepäckablage. SKIBBERLOUGH - SKIBBERLOUGH -
SKIBBERLOUGH - läuft der Name im Fenster vorbei, SKIBB- Nachdem sie
die Tür aufgedrückt hat, stockt sie erst einmal: Es gibt keinen
Bahnsteig, nur einen schlammigen Trampelpfad neben den Gleisen, zu
dem es tief hinuntergeht. Lexie streckt den Kopf durch die Tür,
sieht nach links, sieht nach rechts. Der Bahnhof, wenn man ihn denn
so nennen kann, ist menschenleer. Es gibt ein kleines Wartehäuschen
aus Holz, das grüne Schild und ein Gleis - sonst nichts.
Sie wirft den Koffer aus dem Zug, der mit einem
Plumps mit Matsch landet, und klettert hinterher. Unter Klappern
und Ächzen setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Theo juchzt und
staunt über den Anblick, den Lärm. Lexie hievt den Koffer hoch, und
als sie an dem Wartehäuschen ankommt, tritt dahinter ein Mann
hervor.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagt Lexie. »Vielleicht
können Sie mir helfen.«
»Miss Sinclair vom Daily Courier, wenn ich
mich nicht irre?«, sagt der Mann. Er spricht ein gestochenes
Englisch. Fitzgerald wäre er demnach also schon einmal nicht. Er
hat ein ernstes Gesicht und sieht ein wenig unordentlich aus: der
Kragen schief, die Jacke offen. Er ist erkennbar schockiert über
ihren Anblick - die dreckigen Schuhe, das Kind auf dem Rücken, die
zerzauste Frisur -, enthält sich aber jeden Kommentars. Wozu Lexie
ihm insgeheim gratuliert. »Hier entlang.« Er will ihr den Koffer
abnehmen, schließt die Finger um den Griff.
Lexie hält ihn fest. »Das kann ich schon«, sagt
sie. »Danke.«
Achselzuckend lässt er los.
Am Straßenrand steht ein Pritschenwagen, der unter
all dem Dreck und Rost vermutlich einmal rot gewesen ist. Der Mann
setzt sich hinters Steuer und lässt den Motor an, während Lexie
versucht, auf der Ladefläche zwischen Hundekörben und
Maschendrahtrollen einen Platz für ihren Koffer zu finden.
Nachdem sie losgefahren sind - Lexie auf dem
Beifahrersitz mit Theo auf dem Schoß -, betrachtet sie sich ihren
Chauffeur ein wenig genauer. Ihr entgeht nichts: nicht die
zusammengeklappte Brille, die in der Brusttasche seiner Tweedjacke
steckt, nicht der blaue Tintenfleck an seinem rechten Zeigefinger,
nicht das Buch, das zwischen den Sitzen klemmt, daneben eine
wochenalte englische Zeitung - nicht ihr Courier, sondern
sein schärfster Rivale -, nicht das nach hinten gekämmte, an den
Schläfen leicht ergraute Haar.
»So«, sagt sie. »Dann arbeiten Sie also für
Fitzgerald?«
Er runzelt die Stirn. Sie hat es nicht anders
erwartet. »Nein.«
Die nächsten Minuten auf der engen Landstraße legen
sie schweigend zurück.
»Brrm, brrm«, macht Theo.
Lexie lächelt ihn an.Draußen gleitet eine Kirche
mit einem Gebetsstock am Straßenrand vorbei. Aus dem Tor kommt eine
Frau heraus. »Also sind Sie ein Freund von ihm?«
Diesmal legt er nicht die Stirn in Falten, sondern
brummt nur: »Nein.«
»Ein Nachbar?«
»Nein.«
»Ein Verwandter?«
»Nein.«
»Sein Diener?«
»Nein.«
»Sein Galerist? Sein Arzt? Sein Priester?«
»Weder noch.«
»Beantworten Sie alle Fragen so einsilbig?«
Der Mann wirft einen Blick in den Rückspiegel,
nimmt eine Hand vom Steuer und kratzt sich das Kinn. Die Straße
fliegt an ihnen vorbei. Weißdorne mit krummen, schwarzen Ästen, ein
angepflockter Esel. »Genau genommen, waren das gar keine
Fragen.«
»Doch.«
»Nein.« Der Mann schüttelt den Kopf. »Es waren
Behauptungen. Sie sagten: ›Sie arbeiten für Fitzgerald. Sie sind
ein Verwandter.‹ Ich habe lediglich Ihre Aussagen widerlegt.«
Lexie mustert diesen Eindringling in ihr
Spezialgebiet. »Man kann Fragen auch in Form von Behauptungen
fassen.«
»Nein.«
»Grammatisch gesehen schon.«
»Nein. Vor Gericht würden Sie damit nicht
durchkommen.«
»Wir sind aber nicht vor Gericht«, sagt Lexie. »Wir
sind, wenn ich mich nicht täusche, in Ihrem Auto.«
»Auto!«, tönt Theo.
»Es ist nicht mein Auto«, sagt der Mann. »Es ist
Fitzgeralds Auto. Eines seiner Autos.«
»Also, was sind Sie dann? Anwalt?«
Er scheint einen Augenblick darüber nachdenken zu
müssen. Dann sagt er: »Nein.«
»Jurist?«, rät sie.
Er schüttelt den Kopf.
»Richter?«
»Wieder falsch.«
»Spion? Geheimagent?«
Da lacht er zum ersten Mal, ein erstaunlich nettes
Lachen, tief und klangvoll. Als Theo es hört, fängt er ebenfalls an
zu lachen.
»Sonst kann ich mir keinen Grund vorstellen, warum
Sie so geheimnisvoll tun. Sie können es mir ruhig sagen. Ich
verrate keiner Menschenseele etwas.«
Er steuert durch eine Haarnadelkurve. »Glauben Sie,
das nehme ich Ihnen ab? Sie sind schließlich Journalistin.« Als sie
durch ein Schlagloch fahren, macht der Wagen einen heftigen Satz,
so dass sie auf ihren Sitzen durchgeschüttelt werden. Das findet
Theo ebenfalls sehr lustig. »Die Wahrheit ist so langweilig, dass
ich sie Ihnen jetzt gar nicht mehr sagen möchte. Ich fühle mich
moralisch verpflichtet, das Fantasieleben noch etwas zu verlängern,
das Sie sich für mich ausgedacht haben.«
»Bitte. Erlösen Sie mich von meinen Qualen.«
»Ich bin Biograph.«
Der Finger mit dem Tintenfleck, die Brille - alles
fügt sich zusammen. »Jetzt verstehe ich«, sagt sie mit einem
Schmunzeln.
»Was verstehen Sie?«
Achselzuckend schaut sie durch die
Windschutzscheibe. »Jetzt verstehe ich alles.«
»Und was wäre das genau?«
»Sie. Warum Sie so … widerborstig sind. Sie wollen
mich hier nicht haben. Sie basteln fleißig an einer
Fitzgerald-Biographie, und das Letzte, was Sie dabei gebrauchen
können, ist, dass Ihnen die Konkurrenz ins Haus schneit.«
»Die Konkurrenz?« Es geht noch einen steilen Berg
hinauf, dann kommen sie unter den Bäumen heraus und halten neben
einem großen, halb zerfallenen Gebäude an, das an der Steilküste
steht. »Werteste, wenn Sie sich einbilden, dass Sie mir und meiner
Arbeit mit Ihrem Interview - oder was auch immer Sie sonst mit
Fitzgerald vorhaben - gefährlich werden können, muss ich Sie leider
darüber aufklären, dass Sie an schweren Wahnvorstellungen
leiden.«
Lexie steigt aus, setzt sich Theo auf die Hüfte und
fischt ihren Koffer von der Ladefläche. »Sagen Sie mal, schreiben
Sie eigentlich auch so, wie Sie reden?«, fragt sie.
Er hievt sich aus dem Wagen und mustert sie über
das Dach hinweg. »Wie meinen Sie das?«
»Ich frage mich bloß, ob Sie aus Prinzip lieber
zwanzig Wörter benutzen, wo es zehn genauso gut tun würden.«
Er lacht und marschiert über den Kies zum Haus. An
der Tür dreht er sich noch einmal halb zu ihr um. »Wenigstens kenne
ich den Unterschied zwischen einer Frage und einer
Behauptung.«
Lexie knallt die Autotür zu und folgt ihm.
Von Fitzgerald ist keine Spur zu sehen. Bis sie mit
Theo über die Schwelle getreten ist, ist auch ihr Fahrer
verschwunden. Lexie bleibt in der Diele stehen. Auf den
Steinplatten des Fußbodens liegen mehrere fadenscheinige Läufer.
Eine große, breite Treppe schwingt sich in den ersten Stock empor.
An den Wänden hängen fleckige alte Jagdstiche und abstrakte
Kohleskizzen wild durcheinander. Ein Kleiderständer biegt sich
unter mottenzerf ressenen Jacken und mehreren unbespannten
Regenschirmen. In einem Korbsessel türmt sich schmutziges Geschirr.
Die Diele hat eine Gewölbedecke. Theo legt den Kopf in den Nacken
und ruft: »Echo! Echo!« Als der Widerhall leise und verzerrt
zurückkommt, müssen Lexie und er lachen.
Der Lärm lockt eine Frau mit Schürze herbei, die
missbilligend die Stirn runzelt. Während sie durch eine Tür
vorausgeht, schimpft sie vor sich hin, dass hier aber auch kein
Mensch einen Finger krumm macht, außer ihr. Durch einen düsteren
Korridor geht es bis zu einer schmalen Treppe im hinteren Teil des
Hauses. Oben angekommen, stößt sie die Tür zu einem weiß getünchten
Raum mit Dachschrägen und einem ungewöhnlich hohen Bett auf und
winkt sie hinein. Lexie erkundigt sich nach dem Namen des Mannes,
der das Auto gefahren hat, und bekommt zur Antwort: »Mr.
Lowe.«
Lexie überlegt kurz. »Robert Lowe?«
Die Haushälterin zuckt mit den Schultern. »Woher
soll ich das wissen?«
Als Lexie wissen möchte, wie lange sie schon hier
arbeitet, verdreht die Haushälterin die Augen und sagt: »Zu lange.«
Lexie lacht. Der Bann ist gebrochen. Plötzlich macht es der Frau
nichts aus, sich mit Theo zu beschäftigen, während
Lexie auspackt. Robert Lowe arbeite den ganzen Tag, erzählt sie,
während sie mit Theo »Backe, backe Kuchen« spielt. Sein Zimmer sei
ein Schweinestall, überall Berge von Notizen, Papier und Büchern.
Ein Saustall. Er rede nicht viel, aber seine Frau schicke ihm jede
Woche ein Telegramm. Was das kosten müsse! Mr. Lowe schreibe ihr
jeden Tag. Er gehe zu Fuß ins Dorf, um die Briefe aufzugeben. Seine
Frau sei Invalidin. Das letzte Wort flüstert die Haushälterin. Sie
sitze im Rollstuhl, das arme Geschöpf. Verstehe, sagt Lexie. Ob Mr.
Lowe viel Zeit mit Mr. Fitzgerald verbringe? Die Frau grinst und
schüttelt den Kopf. Nein. Er - und damit meint sie Fitzgerald -
arbeite an etwas, an etwas Großem, und wolle nicht gestört werden.
Jeden Tag klopfe Mr. Lowe an die Ateliertür, und jeden Tag sage er,
nein, heute nicht.
Nachdem die Haushälterin hinausgegangen ist,
schläft Theo fast auf der Stelle ein. Lexie legt ihre Notizbücher
und Stifte auf den Frisiertisch. Sie zieht sich einen wärmeren
Pullover an und späht aus dem quadratischen Fensterchen, das in die
dicke Bruchsteinmauer eingelassen ist. Sie sieht eine kleine, mit
Moos überzogene Terrasse, einen einsamen Holztisch, an dem ein paar
Stühle lehnen. Ein langbeiniger schwarzer Hund trottet über die
Terrasse, bleibt stehen, um den Boden zu beschnuppern, und läuft in
die entgegengesetzte Richtung weiter.
Plötzlich merkt Lexie, wie ausgehungert sie ist.
Vorsichtig, ganz vorsichtig, damit er nicht aufwacht, setzt sie
Theo in die Trage. Der schmale Gang, der zur Treppe führt, ist
leer, an den Wänden Reihen von Stühlen. Sie öffnet auf gut Glück
eine Tür: eine Bibliothek, die nach Schimmel riecht; sie öffnet
eine zweite: ein Badezimmer mit abgeblätterter Wandfarbe, in der
Wanne ein grüner Fleck von einem tropfenden Wasserhahn. Sie geht
nach unten. Nachdem sie die
Küche gefunden hat, zögert sie kurz, dann schaut sie in einen
Schrank. Ein buntes Sammelsurium aus Tellern, Tassen und Angelzeug.
In einem Tontopf mit Deckel entdeckt sie ein halbes Brot. Sie reißt
sich ein Stück ab und steckt es in den Mund.
Sie spaziert über die Terrasse, durch den Garten,
über die Rasenflächen, die von Ampfer und Klee überwuchert sind.
Theo schläft und schläft; sein Kopf liegt schwer und warm an ihrem
Hals. Sie findet einen Swimmingpool, der nur Blätter und eine
schmutzige Pfütze enthält. Sie geht bis ans Ende des Sprungbretts;
eine Frau und ein Kind über dem Abgrund. Als sie um eine Scheune
oder einen Schuppen mit hohen, gelb erleuchteten Fenstern
herumwandert, dringen schabende, klappernde Geräusche heraus. Das
muss Fitzgeralds Atelier sein. Sie umkreist es noch einmal, aber
außer der mit Lampen übersäten Scheunendecke kann sie nichts
erkennen. Sie kehrt auf ihr Zimmer zurück, legt Theo vorsichtig ins
Bett und streckt sich neben ihm aus. Keine fünf Sekunden später ist
sie eingeschlafen.
Von einem lauten Scheppern wird sie geweckt. Sie
fährt erschrocken hoch, aus einem Traum von Innes, von der
elsewhere -Redaktion gerissen. Im Zimmer ist es dunkel und
eiskalt. Theo liegt neben ihr, die Füßchen in der Luft, den Daumen
im Mund, und summt vor sich hin.
»Mama.« Er schlingt ihr den Arm mit einem
Klammergriff um den Hals. »Mama schlafen.«
»Ja, Mama hat geschlafen«, sagt sie. »Aber jetzt
bin ich wieder wach.«
Sie steht auf. Wieder scheppert es, und diesmal
weiß sie, was es ist. Ein Gong. Sicher das Signal fürs Abendessen.
Sie macht Licht und kramt aus ihren Sachen eine Strickjacke hervor,
die sie über den Pullover zieht; sie fährt sich einmal
mit der Bürste durchs Haar, schminkt ihre Lippen nach und hebt
Theo aus dem Bett. Sie gehen nach unten.
Das Esszimmer ist leer. Auf dem Tisch stehen drei
dampfende Teller Suppe. Esser gibt es keine. Lexie, die sich wie
Goldlöckchen im falschen Haus vorkommt, setzt sich und fängt an zu
essen. Jeden zweiten Löffel bekommt Theo, der neben ihr
steht.
»Wo sind denn wohl die anderen?«, sagt sie. Er
sieht sie an, als ob er sie verstehen könnte.
»Anderen«, wiederholt er.
Sie trinkt ein Glas Wein. Sie muss sich
beherrschen, um sich nicht über einen zweiten Teller Suppe
herzumachen. Sie zerkrümelt ein Brötchen und isst die Stücke. Theo
findet einen Korb mit Kiefernzapfen. Er nimmt sie heraus, einen
nach dem anderen, und legt sie wieder zurück, einen nach dem
anderen. Die Haushälterin bringt eine Platte mit Röstkartoffeln und
kaltem Braten, die sie unwirsch auf den Tisch knallt, während sie
über die leeren Plätze schimpft. Lexie bedient sich. Sie isst und
blickt sich im Zimmer um, sie füttert Theo, wenn sie ihn von den
Kiefernzapfen losreißen kann.
Sie steht auf und geht zum Kamin, der riesengroß
ist, wärmt sich an dem lodernden Feuer den Rücken und sieht Theo
dabei zu, wie er die wackeligen Zapfen auf der Kaminumrandung
aufreiht. Sie knabbert an einem Stück Brot. Leere Sofas und Sessel
umringen sie, als wäre sie die Hausherrin, die eine große
Gästeschar erwartet. An den Wänden hängen zahlreiche gerahmte
Bilder. Lexie wandert hinüber und sieht sie sich an. Eine Skizze
von Fitzgerald, noch eine Skizze, eine Bleistiftstudie (weiblicher
Akt). Sie geht ein paar Schritte weiter. Während sie vor einem Yves
Klein steht, kaut sie auf dem letzten Stückchen Kruste.
»Der ist nicht von ihm«, sagt eine Stimme hinter
ihr.
Lexie dreht sich nicht um. »Das weiß ich«, sagt
sie. Sie hört, wie er sich auf einen der Stühle am Esstisch fallen
lässt. Wie er sich Kartoffeln nimmt. Sie tritt vor das nächste Bild
- eine Skizze von Dalí.
»Hallo«, ruft Theo und läuft auch schon zu ihm
hinüber. Offenbar f reut er sich, dass noch jemand gekommen
ist.
Er murmelt »Hallo« und: »Was hast du denn
da?«
»Hallo!«, kräht Theo noch einmal.
»Ich habe ein Buch von Ihnen gelesen«, sagt
Lexie.
»Tatsächlich?« Er gibt sich lässig, doch sie lässt
sich dadurch nicht täuschen. »Welches denn?«
»Das über Picasso.«
»Ach.«
»Ich fand es gut.«
»Danke.«
»Auch wenn Sie mit Dora Maar ein bisschen hart ins
Gericht gehen.«
»Meinen Sie?«
Lexie dreht sich zu ihm um. Er hat sich umgezogen.
Weißes Hemd mit offenem Kragen, ein anderes Jackett. »Ja. Sie haben
sie als Groupie dargestellt, als Anhängsel. Dabei war sie selbst
eine begabte Künstlerin.«
Robert Lowe zieht eine Augenbraue in die Höhe.
»Kennen Sie ihre Arbeiten?«
»Nein«, antwortet Lexie. »Meine Meinung ist
natürlich von keinerlei Fachkenntnis getrübt.« Sie setzt sich zu
ihm an den Tisch. Theo klettert auf ihren Schoß, in jeder Hand
einen Kiefernzapfen.
»Heiß«, sagt er zu Robert. »Toffeln heiß.«
Robert lächelt ihn an. »Danke sehr. Ich bin auch
ganz vorsichtig.«
»Wo steckt eigentlich Fitzgerald?«, fragt
Lexie.
»Heiß, Toffeln heiß«, sagt Theo noch einmal
warnend.
Robert zuckt ratlos mit den Schultern. »Gute
Frage.«
»Hat er sein Atelier in der Scheune da
draußen?«
Robert nickt. »Er könnte in der Scheune sein oder
auf der Fasanenjagd. Genauso gut aber auch in der Dorfkneipe, auf
der Pirsch nach jungen Mädchen. Oder er spürt einem Fuchs nach.
Vielleicht ist er auch nach Dublin gefahren. Niemand weiß es.
Fitzgerald tut, was ihm beliebt.«
»Heiß«, ruft Theo. Robert nickt und tut so, als ob
er auf die Kartoffeln pustet.
Lexie spielt mit ihrer Serviette. »Ich überlege, ob
ich nicht einfach bei ihm anklopfen soll, um ihm zu sagen, dass
…«
»Er macht nicht auf. Auch nicht, wenn er da
ist.«
Lexie mustert ihn, aber sie kann ihm nicht ansehen,
ob er die Wahrheit sagt. »Vielleicht weiß er gar nicht, dass das
Essen auf dem Tisch steht.«
»Glauben Sie mir, er weiß es. Er hat nur
beschlossen, nicht zu kommen. Wir sind ihm ausgeliefert. Wir müssen
warten, bis er sich zu uns bequemt.«
»Tatsächlich?« Sie nimmt sich einen Apfel aus der
Obstschale. »Wie ausgesprochen … viktorianisch.«
»Viktorianisch?«
»Ja. Als ob wir holde Maiden wären, die züchtig der
Visite ihres Verehrers harren.«
Robert hüstelt. »Wie eine holde Maid fühle ich mich
nicht gerade.«
Sie lacht. »Sie sehen auch nicht so aus.«
Robert legt sein Besteck weg. »Danke. Oder so.«
Umständlich sucht er sich eine Frucht aus. Er greift nach einem
Apfel, legt ihn zurück, spielt mit einer Pflaume und entscheidet
sich schließlich für eine Birne. »Sie sind mit diesem
Kriegsberichterstatter verheiratet, richtig?«, sagt er, während er
die Frucht der Länge nach zerteilt.
»Birne!«, ruft Theo begeistert. »Birne!«
Lexie dreht mit einem Knacks den Stiel aus ihrem
Apfel. »Nicht verheiratet, nein.«
»Ach. Aha. Ich meinte auch eher, Sie sind …« Er
beschreibt einen Bogen mit seinem Obstmesser und wartet darauf,
dass sie den Rest ergänzt.
Sie denkt nicht daran, ihm zu helfen. »Ich bin
was?«
»Mit ihm zusammen. Verbandelt. Ein Paar.
Lebensgefährten. Partner. Wie auch immer man es nennen will.« Er
gibt Theo einen Schnitz von der Birne.
»Hmmm.« Lexie schlägt die Zähne in den Apfel.
»Woher wissen Sie das?«
»Was?«
»Das mit Felix und mir?«
»Sie können ziemlich hartnäckig sein«, sagt
er.
»Ach ja?«
»Ich hab Sie mal zusammen mit ihm gesehen, bei
einer Buchpräsentation. Vor ein, zwei Jahren. Sie waren damals
schwanger.«
»Ach ja? Was für eine Buchpräsentation?«
»Die Hitler-Biographie.«
Lexie überlegt. »Ich kann mich nicht erinnern, Sie
kennengelernt zu haben.«
»Haben Sie auch nicht.« Er grinst. »Fernsehleute
haben für Literaten in der Regel nichts übrig.«
Sie geht hoch. »Ich bin kein Fernsehmensch.«
»Aber Sie sind mit einem verheiratet.«
»Bin ich nicht.«
»Verheiratet, verbandelt. Wir wollen doch keine
Haarspalterei betreiben.« Er schneidet Theo noch ein Scheibchen
von der Birne ab. »Aber wir hatten uns sogar schon vorher einmal
gesehen.«
Lexie sieht ihn f ragend an. »Wann?«
»Es ist schon ewig her.« Er konzentriert sich auf
seinen Teller, auf das Stück Birne, das er schält, das er
entkleidet. »Sie waren mal bei mir zu Hause.«
»Wirklich?«
»Mit Innes Kent.«
Lexie legt den Apfel weg, richtet ihre Gabel gerade
aus. Sie streicht Theo die Haare aus der Stirn, zieht sein Lätzchen
zurecht.
»Meine Frau ist eine begeisterte Kunstsammlerin«,
sagt Robert. »Sie hat ein paar Stücke von Innes gekauft. Wir haben
uns immer auf sein Urteil verlassen - er kannte sich aus.«
Sie räuspert sich. »Ja.«
»Ich glaube, es war eine Lithographie von Barbara
Hepworth. Wir haben sie immer noch. Er hatte sie auf dem Rücksitz
seines Autos. Sie standen bei uns in der Diele und haben sich mit
unserer Tochter über Feuerwehrautos unterhalten, während Innes die
Lithographie ins Haus gebracht hat.«
Sie nimmt ihre Gabel wieder in die Hand, ein
schlankes, silbernes Ding, das sich etwas kopflastig anfühlt, als
ob es ihr aus der Hand kippen würde, wenn sie es nicht mit aller
Gewalt festhielte. »Ich erinnere mich«, sagt sie. »Das ist …«
Er sieht sie verstohlen von der Seite an. »Das ist
schon sehr lange her«, beendet er den Satz für sie.
»Ja.«
Sie essen schweigend weiter.

Am nächsten Tag ist Theo schon früh wach und Lexie
zwangsläufig auch. Sie schafft es, ihn bis sieben Uhr im Zimmer zu
halten. Dann badet sie; das Wasser ist überraschend kalt. Nach dem
Frühstück gehen sie in den Hof. Sie muss das Interview mit
Fitzgerald heute führen. Sie muss zurück nach London.
Die Haushälterin ist gern bereit, auf Theo
aufzupassen, als Lexie sie darum bittet. Mit Wäschekorb und
Klammern bewaffnet, gehen sie zusammen in den Obstgarten. Die Frau
redet, und Theo plappert ihr nach: Klammer, Blume, Fuß, Schuh,
Gras.
Die Tür des Ateliers ist zu, aber das
Vorhängeschloss, das ihr am Abend aufgefallen ist, hängt
unversperrt daneben an einer Kette. Lexie starrt es an. Sie legt
eine Hand darum. Es hat die Größe eines menschlichen Herzens.
»Er ist bestimmt nicht drin«, sagt Robert, der
plötzlich hinter ihr steht. »Nicht um diese Uhrzeit.«
Sie fährt herum. »Schleichen Sie sich immer so
heimlich an?«
»Nicht immer.«
Sie seufzt, ihr Atem umhüllt sie als weiße Wolke.
»Ich muss zurück nach London. Eigentlich wollte ich heute Abend die
Fähre nehmen.«
Er runzelt die Stirn, scharrt mit dem Fuß im Staub.
»Machen Sie die lange Reise ganz allein?«
»Nein«, antwortet sie. »Ich habe doch Theo bei
mir.«
»Das meinte ich nicht«, murmelt er. »Ich finde nur,
es ist … alles andere als ideal.«
»Inwiefern?«
»Eine Frau, die ganz allein mit einem kleinen Kind
durch die Weltgeschichte reisen muss.«
»Es geht schon«, antwortet sie etwas gereizt.
»Außerdem
habe ich keine andere Wahl.« Sie entfernt sich zwei Schritte von
der Ateliertür und bleibt wieder stehen. »Ich weiß nicht, was ich
machen soll«, sagt sie, wie zu sich selbst. »Ich kann nicht auf
unabsehbare Zeit hierbleiben.«
Hinter ihr ertönt ein lautes Hämmern. Robert Lowe
schlägt mit der geballten Faust an die Tür. Keine Sekunde später
geht sie einen Spaltbreit auf.
»Fitzgerald«, sagt Lowe. »Darf ich Ihnen Lexie
Sinclair vom Daily Courier vorstellen? Sie wollten sich doch
von ihr interviewen lassen, nicht wahr? Sie muss heute Abend
dringend nach London zurück. Könnten Sie sie vielleicht jetzt
empfangen? Hier wäre sie.«
Das Interview verläuft recht erfolgreich.
Fitzgerald zeigt Lexie eine Aktskulptur, an der er gerade arbeitet.
Er erweist sich als entgegenkommend und auskunftsf reudig, was
angeblich nicht immer der Fall sein soll. Vielleicht, weil sie ihn
so früh am Tag erwischt hat. Sie fragt ihn nach seiner Kindheit,
und er erzählt ihr mehrere zitierfähige Geschichten über seinen
gewalttätigen Vater. Streitbar reagiert er auf Fragen nach seinen
Inspirationsquellen, der Geschichte seines Hauses und seinen
Ansichten über die Anglo-Iren in Irland. Schließlich legt Lexie
ostentativ ihren Stenoblock beiseite, weil ein Interviewter die
interessantesten, aufschlussreichsten Sachen erfahrungsgemäß immer
erst dann erzählt, wenn er denkt, dass seine Äußerungen nicht mehr
aufgezeichnet werden. Den Trick hat sie von Innes gelernt, und wenn
sie ihren Stenoblock weglegt, muss sie jedes Mal an ihn denken.
Wieg sie in dem Glauben, du seist ihr Freund, Lex, lautete sein
Rat, dann erzählen und zeigen sie dir alles.
Fitzgerald zeigt ihr seine Werkzeuge, die vielen
verschiedenen Meißel, die Sorte Hammer, die er am liebsten benutzt.
Er zeigt ihr seine unbearbeiteten Marmorblöcke. Er
erzählt ihr von seinen Ehefrauen und zählt sie an seinen Fingern
ab. Er äußert sich immer derber zum Thema Liebe. Lexie reagiert mit
einem kühlen Kopfnicken. Sie passt auf, dass sie immer die Werkbank
zwischen sich haben. Aber während sie sich bedankt und sich zum
Gehen wendet, erwischt er ihren Arm und rammt sie mit dem Rücken
gegen die harte Kante des Waschbeckens. Sein Altmänneratem schlägt
ihr ins Gesicht, seine arthritischen Finger umklammern ihre
Taille.
Lexie räuspert sich. »Sosehr ich mich auch
geschmeichelt fühle«, beginnt sie mit der Ansprache, die sie in
solchen Situationen immer hält, »aber ich fürchte …« Den Rest
verschluckt sie, denn plötzlich steht Robert Lowe bei ihnen im
Atelier.
Fitzgerald dreht sich um. »Ja?«, kläfft er seinen
Biographen an. »Was wollen Sie?«
»Miss Sinclair wird am Telefon verlangt«, sagt
Robert mit abgewandtem Blick.
Lexie schlüpft zwischen dem Waschbecken und
Fitzgeralds Hüftkochen hervor und schlendert mit größtmöglicher
Nonchalance zur Tür.
In der Diele des Hauses nimmt sie den Hörer ans
Ohr. »Lexie Sinclair«, meldet sie sich. Sie wartet einen
Augenblick, dann legt sie auf und geht in die Küche. Robert sitzt
neben dem Herd in einem Sessel, ein Buch auf dem Schoß. »Da war
niemand«, sagt sie.
Er blickt nicht auf. »Ich weiß.«
»Aber wieso? Was …?« Sie sieht ihn verwundert an.
»Warum haben Sie das gemacht?«, fragt sie.
Mit einem Räuspern antwortet er etwas, das sich wie
»Ende« anhört.
»Wie bitte?«
»Ich hatte den Eindruck, das Interview sei zu
Ende.«
Lexie schweigt.
»Aber es tut mir leid, wenn ich Sie unterbrochen
haben sollte.«
»Nein.« Sie blickt in den Garten hinaus. »Ganz und
gar nicht. Es war … Das Interview war zu Ende. Ich hätte … Ich
wollte … Jedenfalls danke ich Ihnen.«
»Es war mir eine Freude«, sagt er leise. Sie sehen
sich in die Augen, dann dreht sie sich um und geht nach oben, um
ihren Koffer zu packen.

Ein Samstag. Lexie ist in ihrem Schlafzimmer, Theo
liegt nebenan und schläft, fix und fertig nach einem langen
Spaziergang im Park. Sie sortiert den Spielzeugberg aus, der sich
rings um ihre Kommode gebildet hat. Ein Hund an einer Schnur, eine
Blechtrommel und ein Gummiball, der ihr aus der Hand fällt, ein
paarmal auf dem Holzfußboden aufspringt und unter das Bett
rollt.
Sie hebt die Tagesdecke an und sieht unter das
Bett. Da liegt der Ball, knapp außer Reichweite; da liegt ein
Schuh, umgekippt auf der Seite; und da liegt noch etwas. Ein
Haarreif. Eines von diesen starren Gebilden aus Plastik, die man
sich in die Haare schiebt. Weiße Punkte auf dunkelblauem Grund.
Kleine scharfe Zähnchen.
Lexie kauert sich vor das Bett. Mit spitzen Fingern
hält sie den Haarreif von sich. Ein langes, helles Haar hängt
daran, wie ein klebriger Spinnenfaden. Sie zupft es ab und hält es
ins Licht. Mit der anderen Hand dreht sie den Reif um. Nachdem sie
ihn von allen Seiten und bis auf das letzte Zähnchen untersucht
hat, legt sie ihn mitsamt dem Haar auf den Nachttisch.
Sie steht auf. Geht ans Fenster. Verschränkt die
Arme und sieht hinunter auf die Straße. Ein Mann und eine Frau
steigen aus einem Auto; während sie ihren Rocksaum herunterzieht,
lässt er einen Tennisball aufticken: ticken, fangen, ticken,
fangen; sie wirft lachend ihr Haar nach hinten. Die Sonne
scheint.
Lexie dreht sich um. Sie geht hinunter in die Küche
und schenkt sich ein Glas Wein ein. Sie nippt daran, während sie
durch das Haus läuft. Sie geht von einem Bild zum anderen, als ob
sie sie durchzählt: den Pollock, die Hepworth, den Klein. Es sind
alle da. Sie berührt jedes einzelne, wie um sich zu beruhigen.
Wieder die Treppe hinauf, einen prüfenden Blick ins Kinderzimmer,
zurück ins Schlafzimmer, ohne den Haarreif eines Blickes zu
würdigen. Sie ordnet die Notizen auf ihrem Schreibtisch, liest ein
paar Zeilen des Artikels, an dem sie gerade arbeitet. Rückt eine
Lampe gerade. Greift nach einer Haarbürste, legt sie wieder hin.
Dann macht sie das Fenster auf. Sie angelt sich das graue Hemd mit
dem langen Kragen, das Felix gestern Abend ausgezogen hat, vom
Stuhl, und wirft es in den warmen Nachmittag hinaus. Mit
ausgebreiteten Ärmeln schwebt es durch in den Vorgarten und landet
neben einem Tulpenbeet. Sie trinkt ein Schlückchen Wein. Nimmt ein
Paar Socken und lässt sie aus dem Fenster fallen. Genauso ergeht es
den Manschettenknöpfen von der Frisierkommode, einem Gürtel und
einer geballten Handvoll Krawatten, die sich durch die Luft
schlängeln und winden.

Während Felix das Taxi bezahlt, bemerkt er den
kleinen Menschenauflauf auf dem Bürgersteig, die gereckten Köpfe,
die gestreckten Zeigefinger. Er nimmt die Brieftasche in die
andere Hand. Auch als ihm klar wird, dass die Leute vor Lexies
Haus stehen, denkt er sich weiter nichts dabei.
Dann sieht er, dass sie zu ihrem Schlafzimmer
hinaufzeigen. Er läuft über die Straße, steckt hastig die
Brieftasche weg. Da taucht Lexie auch schon im Fenster auf, genauer
gesagt, ihr Kopf und ihre Schultern. Sie hat einen Koffer in der
Hand. Den sie fallen lässt. Der laut krachend vor der Haustür
landet. Keine zwei Sekunden später erscheint sie ein zweites Mal,
diesmal mit einer ganzen Ladung Kleidungsstücke. Auch die verf
rachtet sie in den Garten.
Felix rennt los. »Lexie!«, ruft er, als er durch
das Gartentor kommt. »Was zum Teufel machst du da?«
Sie lehnt sich an den Fensterrahmen. Lässig wirft
sie ein seidenes Taschentuch in die Luft, eine Krawatte, eine
Unterhose - wie ein Kartengeber in der Spielbank. Felix will
hinspringen, um die Sachen aufzufangen, aber er stolpert über den
Koffer und rutscht auch noch auf einem Stapel Schallplatten
aus.
»Nichts«, antwortet sie. »Was dachtest du
denn?«
»Herrschaftzeiten, Lexie.« Felix ist außer sich.
»Was um alles in der Welt soll denn das?«
»Ich helfe dir nur, deine Sachen aus meinem Haus zu
schaffen.« Sie macht einen eleganten Schlenker mit dem Handgelenk,
und eine Zahnbürste kommt auf ihn zugeflogen.
Felix macht einen Satz, aber er greift daneben.
Zwei Gaffer aus der Gruppe sagen: »Ooooh.«
Felix richtet sich zu seiner vollen, nicht gerade
unbeträchtlichen Größe auf. »Dürfte ich erfahren, worum es hier
eigentlich geht?«
Lexie verschwindet kurz, taucht wieder auf und hält
ein schmales, hufeisenförmiges Ding aus dem Fenster. »Darum.« Sie
lässt es fallen.
Es dreht sich in der Luft, schlägt auf der Treppe
auf und springt auf Felix zu. Er hebt es auf. Es ist blau und hat
weiße Punkte. Ein Haarreif. Er kann ihn nicht gleich einordnen,
aber eines weiß er mit Sicherheit - Lexie gehört er nicht. Ihn
überfällt eine böse Vorahnung. »Mein Liebling«, sagt er, »ich habe
keine Ahnung, wo das herkommt. Ich glaube nicht, dass ich es schon
einmal gesehen habe und …«
»Es lag unter dem Bett.«
»Es wäre doch vielleicht nicht ganz ausgeschlossen,
dass es der Putzfrau gehört. Ich meine … Hör mal«, sagt er. »Das
ist doch keine Art, darüber zu reden. Ich komme rein.«
»Kommst du nicht.« Sie streicht sich die Haare aus
dem Gesicht. »Ich habe die Tür verriegelt. Du setzt nie wieder
einen Fuß in dieses Haus, Felix. Nie mehr!«
»Lexie, ich sage es dir noch einmal. Ich weiß
nicht, wo das Teil herkommt. Es hat nichts mit mir zu tun, das
musst du mir glauben.«
»Ich kann dir verraten, wo es herkommt.« Lexie
beugt sich drohend aus dem Fenster. »Von Margot Kents Kopf.«
»Das kann ich mir nicht …« Er bricht ab. Nach einer
verheerenden Pause fährt er fort: »Ich weiß doch noch nicht mal
…«
Lexie verschränkt die Arme und sieht auf ihn
hinunter. »Ich hab dich gewarnt«, sagt sie leise. »Ich habe dich
gewarnt. Ich hab dir gesagt, du sollst die Finger von ihr lassen.
Und du besitzt die Unverf rorenheit …?« Ihre Stimme schwillt zum
Schreien an. »Du erdreistest dich, es hier in meinem Haus mit ihr
zu treiben? In meinem Bett? Du bist ein Schwein, Felix
Roffe. Wie konntest du es wagen?«
Er hat keine Ahnung, wovon sie redet. Er kann sich
an das Mädchen noch nicht mal erinnern. Es sei denn, es wäre
diese bleiche Halbzarte, die sich ihm damals an den Hals
geschmissen hat und die ihm seitdem dauernd hinterhertelefoniert.
Ob sie die meint? Felix wird es flau ums Herz. Als Lexie in Irland
war, hat er sie tatsächlich einmal mit hierhergenommen, weil er den
Klempner in der Wohnung hatte. Normalerweise hätte er das nie
getan. Und überhaupt sieht es Lexie gar nicht ähnlich, sich von so
einer kleinen Gans bedroht zu fühlen.
»Liebling.« Er probiert es auf die bewährte sanfte
Tour. »Findest du nicht, dass du ein bisschen übertreibst? Was es
auch immer war, es hatte nichts zu bedeuten. Du kennst mich doch.
Es war völlig belanglos. Lass mich rein, damit wir vernünftig
darüber reden können.«
Lexie schüttelt den Kopf. »Nein. Verschwinde. Ich
habe es kommen sehen. Ich hab dich gewarnt, Felix, ich habe dich
gewarnt. Und es war mir bitterernst damit.«
»Du willst mich gewarnt haben?«, fragt er. »Wovor
denn, bitteschön?«
»Vor ihr. Vor Margot Kent.«
»Wann?«
»Nach dem Mittagessen im Claridge’s.«
»Welches Mittagessen im Claridge’s?«
»Sie hat uns auf der Straße angesprochen. Ich habe
dir gesagt, du sollst die Finger von ihr lassen, und du hast es mir
versprochen.«
»Hab ich nicht.«
»Hast du doch.«
»Lexie, ich kann mich beim besten Willen nicht an
das Gespräch erinnern. Aber ich sehe, wie aufgebracht du bist. Lass
mich doch rein, dann können wir …«
»Nein. Es ist aus. Tut mir leid. Es müsste alles da
sein.« Sie deutet auf die Sachen im Garten. »Auf Wiedersehen,
Felix. Irgendwie wirst du dein Zeug schon nach Hause kriegen.« Sie
knallt das Fenster zu.
Es ist eine ihrer dramatischeren Trennungsszenen.
Und wie sich herausstellen wird, auch die letzte.

Es war ungefähr eine Woche später. Für Lexie ging
an diesem Tag alles einfach schief. Erst war sie zu spät zu einem
Gespräch beim Arts Council erschienen, weil sie eine halbe Stunde
mit der U-Bahn im Tunnel festgesessen hatte. Dann sagte der
Regisseur von Zufälliger Tod eines Anarchisten seinen
Interviewtermin ab, weil er an einer Gürtelrose erkrankt war, so
dass sie den geplanten Artikel um eine Woche verschieben und sich
auf die Schnelle ein neues Thema einfallen lassen musste.
Zwischendurch rief Felix dreimal an, spielte den Reuigen und
verlegte sich aufs Betteln. Lexie knallte dreimal den Hörer auf die
Gabel. Und nachdem Theo beim Aufstehen so ausgesehen hatte, als ob
er eine Erkältung ausbrütete, machte sie sich schon den ganzen
Vormittag Sorgen um ihn und hoffte, dass es nichts Schlimmeres war.
Sie hatte sich noch immer nicht an die leisen Ängste gewöhnt, die
einen als Mutter ständig begleiteten. Und daran, dass ihr Kind von
zu Hause aus eine solche Anziehungskraft auf sie ausübte, während
sie bei der Arbeit war. Es war ihr magnetischer Nordpol, nach dem
sich ihre innere Kompassnadel stets ausrichtete.
»Herzlichen Dank«, sagte Lexie in den Hörer,
während sie schon halb aufgestanden war und mit der freien Hand
unter dem Schreibtisch nach ihrer Tasche tastete. »Bitte richten
Sie ihr doch aus, wie sehr ich mich f reue, dass sie so kurzfristig
… Ja, unbedingt … Ich bin in spätestens einer halben Stunde
da.«
Sie warf sich den Mantel über, hievte die Tasche
auf den Tisch, warf Block und Stift hinein. »Ich bin auf einen
Sprung in Westminster, falls jemand nach mir fragt«, sagte sie zu
ihren Kollegen. »Es dauert nicht lange.«
Sie lief aus dem Büro, band sich im Korridor den
Gürtel um und ging in Gedanken schon einmal die Interviewfragen
durch, die sie stellen wollte, als sie plötzlich jemand am
Ellenbogen berührte. Sie zuckte zusammen und fuhr herum. Neben ihr
stand ein Mann in einer Cordjacke und einem am Hals offenen weißen
Hemd, die ihr irgendwie bekannt vorkamen. Aber es dauerte einen
Augenblick, bis sie sie einordnen konnte.
Robert Lowe. Sie traute ihren Augen kaum. In dem
schmuddeligen Korridor des Courier stach er derart hervor,
das sie laut lachen musste. »Robert«, sagte sie. »Sind Sie es
wirklich?«
Er zuckte mit den Schultern. »In Person.«
»Was führt Sie denn hierher?«
»Eigentlich …« Er fing noch einmal von vorn an.
»Ich habe einen Freund besucht, der beim Telegraph arbeitet,
und da dachte ich mir, wo ich schon einmal in der Fleet Street bin,
könnte ich auch kurz bei Ihnen vorbeischauen. Aber …« Er zeigte auf
ihren Mantel und die Tasche. »… anscheinend habe ich einen
ungünstigen Zeitpunkt erwischt.«
»Oh«, sagte sie. »Ja, stimmt. Bei mir geht es heute
ziemlich drunter und drüber. Ich wollte gerade nach
Westminster.«
»Verstehe.« Er nickte und steckte die Hände in die
Taschen. »Na, dann …«
»Sie können mich ein Stück begleiten, wenn Sie Lust
haben.«
»Begleiten?«
»Ich muss mir erst ein Taxi suchen.«
»Ach so.«
»Aber nur, wenn Sie Zeit haben.«
»Hab ich«, sagte er. »Ich begleite sie.«
Lexie ging vor ihm die Treppe hinunter. »Wie geht
es Ihnen denn so?«
»Gut. Und Ihnen?«
»Auch gut. Seit wann sind Sie aus Irland wieder
zurück?«
»Seit gestern.«
»Konnten Sie Fitzgerald noch etwas
entlocken?«
»Nicht viel.« Er lächelte.
»Er ist ein bisschen schwierig, aber das haben Sie
ja selbst erlebt.«
»Ja.«
»Ich muss noch einmal zu ihm. In einem Monat oder
so. Er hat ja auch hin und wieder einen gesprächigen Tag. So wie
bei Ihnen. Er war sehr enttäuscht, dass Sie so schnell wieder
abreisen mussten.«
Er hielt ihr die Tür auf. Als sie hindurchging,
meinte sie, ihn hinzufügen zu hören: »Wie wir alle.«
Draußen hing ein mattweißer Himmel über ihnen.
Lexie stellte sich an die Bordsteinkante und sah die Fleet Street
auf und ab. »Keine Taxen«, sagte sie. »Typisch.«
»Es gibt nie ein Taxi, wenn man mal eines braucht.«
Er räusperte sich, verschränkte die Arme, ließ sie wieder
herunterhängen. »Wie geht es Theo?«
»Er ist etwas erkältet. Aber sonst geht’s ihm
gut.«
Robert stellte sich neben sie. »Es bedeutet
›Geschenk Gottes‹«, sagte er.
»Was denn?« Lexie hörte nicht richtig zu, sie
konzentrierte sich auf den Verkehr und hielt nach einer
orangefarbenen Leuchte Ausschau.
»Sein Name. Theodore.«
Sie sah ihn erstaunt an. »Tatsächlich?«
»Ja. Er kommt aus dem Griechischen, zusammengesetzt
aus theos, Gott, und doron, Geschenk.«
»Das wusste ich ja gar nicht. Geschenk Gottes. Das
weiß außer Ihnen bestimmt kein Mensch.«
Sie schwiegen. Zwei Menschen, die im faden Londoner
Sonnenschein auf dem Bürgersteig standen und auf ein Taxi warteten.
Eine schlichte Szene, die plötzlich mit Bedeutung aufgeladen zu
sein schien. Lexie war sich nicht sicher, woher dieses Gefühl
rührte. Sie musste schlucken und den Blick senken, um den Kopf
wieder frei zu bekommen. »Es war schön, Sie wiederzusehen«, sagte
sie, weil es stimmte, und weil sie sich um nichts in der Welt
erklären konnte, warum er gekommen war, was er hier wollte, an
einem Mittwochmorgen in der Fleet Street.
»Ja?« Er fuhr sich durchs Haar. Dann reckte er den
Arm in die Luft. »Es geht ja doch«, sagte er. »Sehen Sie?« Ein Taxi
wurde langsamer, machte einen Schlenker und hielt vor ihnen
an.
»Gott sei Dank«, antwortete Lexie und stieg ein.
Robert schloss die Tür. »Auf Wiedersehen«, sagte sie und gab ihm
durchs Fenster die Hand. »Tut mir leid, dass ich es so eilig
habe.«
Er hielt ihre Hand fest. »Das tut mir auch
leid.«
»Ich habe mich gef reut, Sie wiederzusehen.«
»Ich habe mich auch gef reut.« Sie redeten wie zwei
Karikaturen oder wie Figuren in einem sehr schlechten Theaterstück.
Es war unerträglich. Er ließ ihre Hand los, und dann fuhr sie auch
schon und sah durch das Taxifenster, wie seine Gestalt immer
kleiner wurde.
Als sie einige Tage später in die Reaktion kam,
winkte
ihr ihr Kollege Daniel mit dem Telefonhörer. »Für dich,
Lexie.«
»Lexie Sinclair«, meldete sie sich.
»Robert Lowe hier«, sagte eine vertraute Stimme.
»Verraten Sie mir etwas? Müssen Sie heute auch wieder durch die
Weltgeschichte gondeln?«
»Nein. Heute nicht. Mal sehen. Was steht heute auf
dem Programm? Ein fauler Tag. Vergleichsweise zumindest.«
»Verstehe. Mir ist nicht ganz klar, was Sie unter
einem faulen Tag verstehen, aber könnte er auch ein Mittagessen mit
einschließen?«
»Könnte er.«
»Gut. Dann warte ich um eins unten auf Sie.«
Sie kamen sofort zur Sache. Es gab kein Abtasten,
kein verspieltes Drumherum, keine Unsicherheit, keine Verführung.
Sie verzichteten auf jede Begrüßung. Lexie holte ihre Zigaretten
heraus.
»Sie kommen mir so vor«, sagte er statt einer
Begrüßung, »als ob ein Geheimnis bei Ihnen gut aufgehoben
wäre.«
»In welcher Hinsicht?«, fragte sie und kramte in
ihrer Handtasche nach Streichhölzern.
»Dass Sie es für sich behalten können.«
»Ach so. Ja.« Sie zündete sich die Zigarette an.
»Ja, natürlich.«
»Sie wissen, dass ich verheiratet bin?«
»Ja.«
»Genau wie Sie.« Er wischte den Widerspruch, der
ihr auf den Lippen lag, mit einer Handbewegung beiseite. »Nennen
Sie es, wie Sie wollen. Ich habe nicht die Absicht, meine Frau zu
verlassen.«
Lexie stieß den Rauch aus. »Nichtsdestotrotz
…«
»Was sollen wir machen?«
Sie überlegte kurz. Später kam ihr der Gedanke,
dass er vielleicht nur ein Restaurant gemeint hatte. Aber was sie
vorschlug war: »Ein Hotel?«

So leicht kann es manchmal gehen.
Sie fuhren in die Nähe des Britischen Museums, wo
es mehrere Stundenhotels gab. Lexie f ragte Robert nicht, woher er
das wusste. Das Zimmer hatte verschossene blaue Samtvorhänge, eine
Topfpflanze, ein Waschbecken mit einem angeschlagenen Spiegel. Der
Stromzähler schluckte ihre Shilling-Münzen nicht. Die Kopfkissen
waren hart, die spitzen Federkiele stachen aus den Baumwollbezügen.
Sie waren beide nervös. Von dem Wunsch getrieben, den Neubeginn
tatsächlich gewagt zu haben, brachten sie den Liebesakt schnell
hinter sich. Dann unterhielten sie sich. Ein zweiter Versuch, den
Stromzähler zu füttern, blieb ebenfalls erfolglos. Sie liebten sich
noch einmal, diesmal mit mehr Muße und mehr Geschick. Während Lexie
sich anzog, beobachtete sie, wie sich auf der anderen Seite des
schmalen Fensters die Wolken türmten.
Das Arrangement, auf das sie sich verständigten,
war simpel und unkompliziert, perfekt, könnte man sagen. Sie würden
sich zweimal im Jahr treffen, nicht öfter, und niemals in London.
Sie verabredeten sich per Telegramm. GRAND HOTEL, SCARBOROUGH,
lautete beispielsweise die Botschaft, DONNERSTAG, 9. MÄRZ. Mehr
nicht. Niemand durfte je etwas davon erfahren. Sie sprachen nie
über Roberts Familie, seine Frau Marie. Lexie klärte ihn nie
darüber auf, was aus ihr und Felix geworden war. Robert f ragte
nicht, warum sie Theo zu ihren Rendezvous mitbrachte. Vielleicht
erriet er den Grund, vielleicht auch nicht.
Es war schwer zu sagen, ob Theo sich von einem zum
anderen Mal an Robert erinnerte. Er f reute sich immer, ihn zu
sehen, nahm zutraulich seine Hand und schleppte ihn weg, um ihm
irgendetwas zu zeigen - einen Krebs in einem Eimer, eine
Muschelschale vom Strand, einen Stein mit einem Loch.

Mrs. Gallo und Lexie trugen in der Küche einen
freundschaftlichen Streit darüber aus, ob Mrs. Gallo für Lexie eine
Hühnerpastete backen sollte oder nicht. Die Italienerin hatte
gerade den Backofen requiriert, als es an der Tür klingelte.
»Ich mach schon auf«, sagte Lexie. Sie schaute noch
schnell ins Wohnzimmer, wo Theo damit beschäftigt war, einen hohen,
weichen Kissenberg zu bauen, und legte ihm im Vorbeigehen kurz die
Hand auf den Kopf.
»Liebling«, sagte Felix, der sich, als die Tür
aufging, sofort auf sie stürzte und sie eine Spur zu lange umarmte.
»Wie geht es dir?«
»Gut.« Lexie machte sich von ihm los. »Ich wusste
ja gar nicht, dass du kommen wolltest. Warum hast du nicht
angerufen?«
»Jetzt hab dich nicht so. Darf ich denn meinen
Stammhalter nicht mal spontan besuchen?«
»Doch, natürlich. Aber du könntest trotzdem vorher
anrufen.« Sie funkelten sich böse an.
»Warum?«, f ragte er. »Du hast doch wohl nicht etwa
Herrenbesuch?«
Sie seufzte. »Aber klar. Paul Newman ist da. Und
Robert Redford auch. Möchtest du sie kennenlernen? Dann komm
rein.«
»Wollt ihr verreisen?«, f ragte er. Er zeigte auf
die Taschen, die in der Diele standen. Lexie und Theo waren in
Eastbourne gewesen, wo sie sich mit Robert getroffen hatten.
»Wir sind schon wieder zurück«, sagte sie, während
sie ins Wohnzimmer vorausging, wo Mrs. Gallo auf Theo aufpasste,
der vom Sofa in den Kissenberg sprang.
Felix blieb zögernd an der Teppichkante stehen, wie
jemand, der sich nicht traut, ins tiefe Becken zu springen. »Hallo,
junger Mann«, dröhnte er auf Theo hinunter. Die Italienerin
begrüßte er mit einem Kopfnicken. »Wie geht es Ihnen, Gnädigste?
Sie sehen fantastisch aus.«
Mrs. Gallo, die keine hohe Meinung von Felix hatte,
weil in ihren Augen ein Mann, der etwas taugte, Lexie schon vor
Jahren geehelicht hätte, gab einen Laut von sich, der halb nach
vorwurfsvollem Zungeschnalzen, halb nach verlegenem Hüsteln
klang.
Theo sah zu seinem Vater hoch und sagte klar und
deutlich: »Robert.«
Lexie musste sich ein Lachen verbeißen. »Nicht
Robert, Theo. Das ist Felix. Felix. Weißt du nicht mehr?«
»Wer ist Robert?«, f ragte Felix, während Lexie
schon die Küche ansteuerte.
Sie ging nicht darauf ein. »Möchtest du Tee, Felix?
Oder Kaffee?«
Er kam hinter ihr her, genau, wie sie es erwartet
hatte. Während sie drei große Tassen und die Milch auf den Tisch
stellte, musterte sie Felix verstohlen. Er las die Zettel, die am
Kühlschrank hingen; er nahm Theos Trinkbecher in die Hand, sah ihn
sich an, stellte ihn wieder hin; er nahm einen Apfel aus der
Obstschale und legte ihn wieder zurück.
»Was macht die Arbeit?«, fragte er
unvermittelt.
Lexie hielt den Kessel unter den Wasserhahn. »Gut.
Zu viel zu tun, zu wenig Zeit. Das Übliche.«
»Ich hab deinen Artikel über Louise Bourgeois
gelesen.«
»Ach ja?«
»Er war ausgezeichnet.«
»Danke.«
»Ich …« Er brach ab. Er stützte sich auf den
Küchenschrank und vergrub den Kopf in den Händen. Lexie setzte den
Deckel auf den Kessel, stellte ihn auf den Herd, riss ein
Streichholz an und hielt die Flamme ins Gas, ohne Felix dabei aus
den Augen zu lassen.
»Ich sitze ziemlich in der Klemme.« Seine Stimme
kam dumpf hinter seinen Händen hervor.
»Ja?« Lexie schraubte die Teedose auf und löffelte
den losen Tee in die Kanne. »Was für eine Art von Klemme?«
»Es geht um eine Frau.« Felix richtete sich
auf.
»Ach ja? Und weiter?«
»Sie … Sie sagt, sie hat einen Braten in der Röhre.
Und ich soll ihn ihr reingeschoben haben.«
»Stimmt das?«
»Stimmt was?«
»Dass es von dir ist?«
»Ich weiß es nicht! Klar, möglich wäre es schon.
Aber wie kann man das je genau wissen?« Er warf Lexie einen Blick
zu und ergänzte hastig: »Das sollte jetzt keine Anspielung auf dich
sein, Liebling. Nur auf sie. Ich hab nicht oft mit ihr … Wir haben
nicht oft … Also, es ist eigentlich so gut wie nie etwas
vorgefallen.«
»Verstehe. Nun, du wirst es ihr wohl einfach
glauben müssen.« Sie sah ihn von der Seite an. »Und was will sie
jetzt von dir?«
»Das ist es ja eben«, antwortete er. »Sie sagt, wir
müssen
heiraten. Heiraten!« Er stieß sich vom Küchenschrank ab und
stampfte zum Fenster. »Ich könnte das Kotzen kriegen. Und jetzt«,
knurrte er, »sitzt mir auch noch ihre verdammte Mutter im Genick.
Das Weib ist ein echter Drachen.«
Der Kessel summte und brummte, Dampf quoll heraus.
Sobald er zu pfeifen begann, nahm Lexie ihn vom Feuer und beugte
sich mit gesenktem Kopf über die Spüle. Felix stand immer noch am
Fenster. Sie sah von ihm nur die Rückseiten seiner Hosenaufschläge,
seiner Absätze. »Geht es hier zufälligerweise um Margot Kent?«, f
ragte sie.
Sein Schweigen war Antwort genug. Sie hatte den
Eindruck, dass er auf sie zukommen wollte, doch dann bewegten sich
seine Füße weiter bis zum Tisch, und sie hörte, wie er sich einen
Stuhl zurechtrückte und Platz nahm. »Was für ein Pech«, murmelte
er. »Was für ein verfluchtes Pech.«
Als sie nicht darauf einging, rutschte er nervös
auf dem Stuhl herum. »Ich will sie nicht heiraten.« Er klang wie
ein trotziges Kind. »Ich glaube, ihre Mutter hat ihr diesen Floh
ins Ohr gesetzt. Das ist alles auf ihrem Mist gewachsen.«
Lexie stieß ein hartes Lachen aus. »Darauf kannst
du Gift nehmen.«
Felix stand auf und trat zu ihr. »Dann kennst du
ihre Mutter auch?«, f ragte er.
»Ja«, antwortete sie. »Ich hatte das zweifelhafte
Vergnügen.«
In Felix’ Blick flackerte Interesse auf. »Wie war
noch mal genau deine Beziehung zu der Familie?«
»Das geht dich nichts an.« Ihre Kehle fühlte sich
rau und wund an. »Überhaupt nichts.« Sie überlegte kurz. »Hat
Margot es dir nie gesagt?«
Felix pflückte eine Weintraube aus der Obstschale
und warf sie sich wütend in den Mund. »Ich glaube nicht. Hör
mal, Lex«, sagte er kauend. »Du bist der einzige Mensch, der mir
helfen kann.«
Sie sah ihn an. »Wie bitte?«
»Der einzige«, wiederholte er eindringlich. »Wenn
ich … Wenn wir sagen, dass wir, dass wir verheiratet sind, du und
ich, dann kann ich sie nicht heiraten. Dann können sie mich nicht
zwingen. Verstehst du? Sie wissen über dich und mich Bescheid. Und
über Theodore. Keine Ahnung, woher. Aber wenn ich ihnen sagen
würde, dass wir geheiratet haben - was ja nicht völlig undenkbar
ist, oder? -, wäre ich aus dem Schneider. Problem gelöst.« Er
strahlte sie an, eine Mischung aus Hoffnung und Begehren, fasste
nach ihrer Schulter und wollte sie an sich ziehen.
Lexie legte ihm die Hand auf die Brust. »Es fällt
mir schwer zu sagen, welchen Teil deines Vorschlags ich am
widerwärtigsten finde«, begann sie bedächtig. »Vielleicht die bloße
Idee, mit dir verheiratet zu sein. Oder dass du mich heiraten
willst, um dich vor einer Muss-Ehe zu retten? Nein. Dass es deiner
Meinung nach - wie hast du es ausgedrückt? - nicht völlig undenkbar
ist, dass wir verheiratet sind. Vielleicht ist es aber auch der
Gedanke, in irgendeinem, wie auch immer gearteten Verhältnis zu
diesen bösen, berechnenden, satanischen« - sie suchte nach dem
passenden Wort - »Mänaden zu stehen, der mich bis in die Seele
hinein mit kaltem Grauen erfüllt. Aber wie schon gesagt, es fällt
mir schwer.« Sie schlug seine Hand von ihrer Schulter. »Verlass
mein Haus«, sagte sie. »Auf der Stelle.«