Sie haben sich diesen Tag anders
vorgestellt. Als sie in London losgefahren sind, hat sich der
Himmel wie eine blaue Stoffbahn über die in der Sonne funkelnde
Stadt gebreitet. Sie konnten mit heruntergeklapptem Verdeck und
offenen Fenstern durch die Straßen sausen. Aber je weiter sie nach
Westen kamen, desto mehr umwölkte sich der Himmel, desto stärker
wurde der Wagen vom Wind durchgerüttelt. Inzwischen regnet es,
nadelspitze Tropfen, die sich an der Scheibe zu Streifen
auseinanderziehen.
Sie wollen das Wochenende im Haus von Simmys Eltern
verbringen, die verreist sind. Wie meinte er scherzhaft? Sturmfreie
Hütte. Elina war noch nie auf einem - wie hat Ted es gestern Abend
genannt? - auf einem Landsitz. Gibt es da Diener?, wollte
sie wissen. Er schüttelte den Kopf. So nobel ist es auch wieder
nicht.
Jonah schläft in seinem Kindersitz, beide Fäustchen
von sich gestreckt, als ob er im Traum mit einer Stange in der Hand
auf einem Hochseil balanciert. Ted und Simmy sitzen vorn. Sie hören
sich eine improvisierte Comedy-Sendung im Radio an und brechen
immer wieder in schallendes Gelächter aus. Elina kann den Witzen
nicht folgen. Sie sind zu schnell für sie, die Wortspiele zu
kompliziert.
Bei Elina kündigen sich Kopfschmerzen an, sie spürt
es an dem leisen Ziehen und leichten Spannen in den Kiefergelenken
und Halsmuskeln. Aber es ist nichts Ernstes. Sie ist f roh, aus
London heraus zu sein, f reut sich über die vorbeihuschenden Bäume
und Felder. Sie denkt an die Fahrt nach Nauvo, zum Haus ihrer
Mutter, an die Schärenstraße, die sich von einer Insel zur anderen
spannt, an die Brücken und an die gelbe Fähre, an die flachen
grünen Weiten, die rot-weißen Holzhäuser, das Gefühl, so weit zu
fahren, bis es nicht mehr weitergeht, bis Erde und Steine aufhören
und es nur noch Wasser gibt, platschendes, aufgewühltes Wasser, und
erst dann ist man angekommen, hält man an auf dem Kies neben der
Veranda, neben den Bäumen mit den silbernen Stämmen.
Sie muss eingeschlafen sein, denn sie träumt, dass
sie mit Jonah in Nauvo ist und ihn nicht aus dem Kindersitz heben
kann - sie kann die Gurte nicht lösen, die Schnalle nicht öffnen.
Und plötzlich merkt sie, dass sie den Kopf an die Autoscheibe
presst, und als sie aufwacht, sind sie nicht mehr auf der
Hauptstraße, sondern auf einer schmalen, gewundenen Landstraße, die
zwischen hohen Hecken hindurch hinunter ans Meer führt in eine
Hafenstadt.
»Sind wir da?«, fragt sie.
»Noch nicht«, antwortet Simmy, über seine Schulter
gewandt. »Wir dachten uns, wir legen hier eine Mittagspause
ein.«
Die Straßen der Stadt sind eng und steil, die
Bürgersteige voller Menschen. Sie parken hinter einem öffentlichen
Toilettenhäuschen. Der Himmel hängt tief über ihnen, als sie
aussteigen. Elina trägt Jonah im Tragetuch; er hat ein ziemliches
Gewicht, und sie spürt ihre Halsmuskeln. Simmy und Ted marschieren
so zügig den Berg hinauf, dass Elina, die Arme schützend um Jonah
geschlungen, kaum mitkommt. Das erste Café lassen sie links liegen;
beim zweiten konsultieren
sie kurz die Speisekarte am Eingang und befinden das Angebot als
»zu mickrig«; ein Drittes hat ein gutes Angebot, aber keinen freien
Tisch; ein anderes hat ein annehmbares Angebot, doch man kann nicht
draußen sitzen. Sie gehen den Berg erst hinauf, dann wieder
hinunter. Sie gehen die ganze Promenade entlang, vom einen Ende der
Stadt bis zum anderen. In der Nähe des Hafens bleiben sie vor einem
Pub stehen und diskutieren über die Vorzüge der Leinenfischerei.
Jonah wacht auf, merkt, dass er im Tragetuch sitzt, findet es
grässlich, schreit und strampelt. Elina wickelt ihn aus und nimmt
ihn huckepack auf die Schultern. Er brüllt weiter.
»Eine Fleischpastete«, sagt Simmy. »Ist denn das zu
viel verlangt?«
Ted späht in das mit Fischernetzen dekorierte
Fenster eines Restaurants. »Wieso gibt es eigentlich in jedem
Seebad Scampi?«, brummelt er. »Es ist ja schließlich nicht so, als
ob man die Dinger hier fangen würde.«
Als Elina Jonahs Position ein wenig verändert,
fällt ihr das lange, violette Tragetuch herunter, und sie muss in
die Knie gehen, um es aufzuheben. Eine Mutter mit zwei verschieden
alten Kindern in einem rosafarbenen, chromglitzernden
Zwillingsbuggy mustert sie mit fassungslosem Abscheu. Elina sieht
an sich hinunter. Sie trägt eine gestreifte Strumpfhose, von der
sie die Füßlinge abgeschnitten hat, abgewetzte Turnschuhe, ein
Kleid, das ihr eine Freundin genäht hat. Es hat einen zipfeligen
Saum, asymmetrische Ärmel und einen U-Boot-Ausschnitt. Elina liebt
es.
»Ich setze mich jetzt da vorne hin und stille
Jonah«, sagt sie zu den Männern. »Holt mich einfach ab, wenn ihr
euch entschieden habt.«
Elina sucht sich eine Bank im Windschatten der
Hafenmauer.
In ihrem Zipfelsaumkleid macht sie es sich mit Jonah im Arm
bequem. Während sie noch mit ihrem Kleid beschäftigt ist und sich
den BH aufhakt, wird er vor Hunger und Wut stocksteif. Gierig wie
ein Despot aus Tudorzeiten, der sich über ein Bankett hermacht,
saugt er die Milch in sich hinein. Sie sieht währenddessen aufs
Meer. Die Mauer, die einen großen Bogen beschreibt, streckt sich
wie ein beschützender Arm ins Wasser hinaus. Elina runzelt die
Stirn. Ihr ist so, als hätte sie dieses Bild schon einmal gesehen.
War sie schon einmal in dieser Stadt? Sie glaubt es nicht.
Das Meer hebt und senkt sich, zieht sich von der
Mauer zurück, kommt wieder. Als sie schon glaubt, im nächsten
Augenblick vor Hunger von der Bank zu kippen, taucht Simmy bei ihr
auf. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, sagt er. »Es
ist überall brechend voll. Wir haben dann doch nur Sandwiches
gekauft.« Er hält ihr ein braunes Päckchen hin. »Käse und Mixed
Pickles, in Ordnung?«
Sie nickt. »Hauptsache essbar.« Als sie versucht,
es mit einer Hand zu öffnen, nimmt Simmy es ihr ab und sagt:
»Entschuldige, da hätte ich auch selbst dran denken können.« Er
wickelt ihre Brote aus und legt sie ihr, die entblößte Brust
geflissentlich übersehend, aufs Knie. Sie nimmt einen Bissen und
blickt sich suchend nach Ted um.
Er ist nicht in der unmittelbaren Nähe, er ist
nicht auf der Hafenmauer. »Wo ist Ted?«, fragt sie.
Simmy zuckt mit den Schultern und beißt ebenfalls
in sein Sandwich. »Wahrscheinlich pinkeln.«
»Aha.«
Nachdem Elina ein Brot gegessen hat, ordnet sie ihr
Kleid, lässt Jonah ein Bäuerchen machen, tupft sich einen Faden
ausgespuckter Milch von der Brust und trinkt einen Schluck
Wasser.
»Soll ich ihn mal ein bisschen nehmen?«, fragt
Simmy.
Elina reicht ihm den Jungen hinüber. »Hallo«, sagt
Simmy feierlich, während er ihn sich auf den Schoß setzt. »Na, wie
hat dir dein Mittagessen geschmeckt? Gab es schon wieder Milch?«
Jonah starrt ihn gebannt an.
Elina steht auf, schwingt die Arme über den Kopf.
Sie sieht zum Hafen hinüber. Keine Spur von Ted. Sie wirft einen
Blick auf die Bank, wo ein Päckchen mit Sandwiches auf ihn wartet.
Elina entfernt sich ein paar Schritte und sieht in die andere
Richtung. Nichts. Wo kann er nur abgeblieben sein? Elina läuft die
schmalen, hervorspringenden Stufen in der Hafenmauer hinauf. Oben
findet sie sich auf einer steinernen Plattform wieder, die sich
steil dem Meer zuneigt. Sie hält sich die Haare aus dem Gesicht und
schaut sich suchend um.
»Kannst du ihn sehen?«, fragt Simmy von
unten.
»Nein.«
Und dann sieht sie ihn plötzlich doch. Er kommt um
die Biegung der grauen Mauer. Wahrscheinlich ist er bis ans Ende
gegangen. Aber er hat etwas an sich, was sie in Angst und Schrecken
versetzt. Wie er mit dem rechten Arm den linken umklammert, wie er
den Kopf hängen lässt. Der stockende, unregelmäßige Gang. Elina
macht ein paar Schritte auf den schiefen Steinen. Als sie die Hand
hebt, um ihm zu winken, wendet Ted sich ab. Er starrt ins Meer, das
genau unter ihm auf und nieder schwappt, und sie hat fast das
Gefühl, dass er hineinspringen will, dabei geht Ted nie schwimmen,
sie weiß noch nicht mal, ob er es überhaupt kann - allein der
Gedanke sei ihm zuwider, sagt er immer, und er verstehe nicht, was
irgendjemand daran finden könne. Doch dann taumelt er vom Wasser
zurück und schlägt hin. Oder stolpert. Oder bricht zusammen. Sie
kann es nicht sagen.
Elina ruft seinen Namen, doch der Wind reißt ihr
den Schrei von den Lippen. Sie rennt los, aber sie ist eine ganze
Ebene über ihm, und es gibt keinen Weg nach unten, und als sie doch
noch eine Treppe findet, ist sie ausgetreten und steil, und sie
muss sich in Acht nehmen, dass sie nicht ausrutscht und stürzt. Als
sie endlich bei ihm ist, hat sich bereits ein Auflauf um ihn
gebildet. Simmy ist auch da, mit Jonah auf dem Arm - Elina kann
seinen gestreiften Hemdrücken erkennen. Er beugt sich über Ted,
horcht an seiner Brust. Anscheinend merken die Menschen, die sich
um Ted geschart haben, dass sie zu ihm gehört, oder aber sie sehen
auch nur ihre Panik, denn sie bilden eine Gasse und lassen sie
durch, und schon kniet sie neben ihm auf den nassen Steinen und
nimmt seine Hand; sie streichelt ihm über den Kopf, sie redet erst
auf Finnisch und dann auf Englisch auf ihn ein, und als der
Krankenwagen kommt, fährt sie mit, und sie lässt seine Hand nicht
los.
Danach heißt es warten. Warten und Formulare
ausfüllen. Umzüge von einem Krankenhausgang in den nächsten. Und
für Elina immer wieder die gleichen Fragen von vielen verschiedenen
Leuten. Wie alt ist Ted? Wo wohnt er? Wie lautet sein vollständiger
Name? Nimmt er Medikamente? Nimmt er Drogen? Gibt es in seiner
Familie Herzversagen, Diabetes, niedrigen Blutdruck? Ist so etwas
schon einmal passiert? Nein, sagt Elina, nein, keine Drogen, keine
Medikamente, Roffe, Ted Roffe, Theodore Roffe. Jemand bringt ihr
eine Tasse Tee, und später besorgt ihr jemand frische Windeln für
Jonah. Danke, sagte Elina, und sie sagt es oft, danke, danke
sehr.
Simmy und sie warten in einem Korridor. Jonah ist
quengelig und weint, er trinkt noch einmal und erbricht sich mit
großer Selbstverständlichkeit auf den Nachbarstuhl. Er fasst
in Elinas Haare und nuckelt wütend an einer Strähne, dann
untersucht er die Verschlüsse an Simmys Jacke. Er wirkt ratlos und
ungeduldig, als ob er nicht begreifen kann, warum man ihn vom Meer
weggebracht und in diesen kahlen, beigefarbenen Krankenhausgang
verf rachtet hat. Elina schaukelt ihn rhythmisch auf ihrem Schoß,
aber Jonah macht seine Beine steif, und sie weiß jetzt schon, dass
ihre Oberschenkel morgen über und über mit kleinen blauen Flecken
übersät sein werden.
Dann schwirren plötzlich Ärzte und Assistenzärzte
und Schwestern herbei, um ihnen zu sagen, dass es eine gute
Nachricht gibt. Eine gute Nachricht! Simmy springt auf; er lacht.
Dann war es also doch kein Herzinfarkt! Jetzt laufen alle im
Korridor auf und ab, alle reden durcheinander. Es fällt das Wort
»Ehkahgeh«, und Elina hat keine Ahnung, was es bedeutet, aber Simmy
nickt, und er lacht immer noch, und dann die Worte »klar« und
»negativer Befund«. Als sie ein Zimmer betreten, sagt der Arzt noch
»eine Panikattacke«, aber Elina hört ihm schon nicht mehr zu, denn
auf dem Bett sitzt Ted, und er ist angezogen, und er sieht aus wie
immer.
Elina läuft zu ihm und legt ihm die Hand auf den
Arm, und als sie sich zu ihm beugt, um ihn auf die Wange zu küssen,
reißt Jonah an ihren Haaren, so dass sie genau in dem Moment, als
ihre Lippen ihn berühren, »Au!« ruft.
Ted macht ein erschrockenes Gesicht. »Was ist
los?«, ruft er und weicht vor ihr zurück.
»Nichts. Entschuldige.«
»Warum hast du das gesagt?«
»Jonah hat mich an den Haaren gezogen. Es ist
nichts weiter. Wie geht es dir?«
Ted starrt sie immer noch an. Sein Gesicht ist
weiß, seine Pupillen groß und schwarz. Nun starrt er Jonah an. Dann
wieder Elina. Sie wirft Simmy einen Blick zu. Der mustert Ted
forschend.
»Ähem«, macht sie. »Geht es dir wieder gut?
Ted?«
Ted sieht wieder seinen Sohn an. Dann legt er sich
nach hinten in die Kissen und starrt an die Decke. Er schlägt die
Hände vors Gesicht. »Geht es mir wieder gut?«, wiederholt er sehr
langsam hinter seinen schützenden Fingern. »Geht es mir wieder
gut?«
Simmy räuspert sich. »Der Arzt sagt, du kannst nach
Hause, aber wenn du lieber noch …«
»Ich weiß es nicht«, sagt Ted ausdruckslos. »Das
ist meine Antwort.«
Simmy und Elina sehen sich über Ted hinweg an.
Jonah prustet Elina gegen den Hals, luscht an ihrem Schlüsselbein,
greift in ihr Kleid, um daran zu nuckeln, biegt sich in ihren Armen
nach hinten, um die Zimmerdecke zu inspizieren, tritt ihr in den
Unterleib.
»Ich muss mal kurz verschwinden«, sagt Simmy. »Bin
gleich wieder da.«
Und dann sind sie allein, Elina, ihr Mann und ihr
Kind. Sie kann es kaum fassen, dass sie Ted zurückbekommen hat,
nachdem sie ihn hat stürzen sehen, nachdem er wie ein Haufen Lumpen
dagelegen hat, schlaff und mit diesen schrecklichen Zuckungen. Es
will ihr fast wie ein Wunder erscheinen, dass sie es durchgestanden
haben und jetzt hier, in einem Krankenhauszimmer mit gestreifter
Bettwäsche, wieder zusammen sind. Elina starrt auf die Streifen,
die ihr, wie alles andere in dieser Sekunde, wie Zauberei
vorkommen. Wie sie sich abwechseln, weiß, blau, weiß, blau, wie
sich Kette und Schuss zum Baumwollstoff verbinden. Zu einem Laken.
Damit Ted darauf liegen kann.
Elina setzt sich zu ihm aufs Bett, schmiegt sich
mit ihrer
Hüfte an seine. »Du hast mir einen solchen Schrecken eingejagt«,
murmelt sie. Jonah zappelt wie ein Fisch in ihren Armen. »Der Arzt
hat gesagt, du musst sofort zu deinem Hausarzt gehen, wenn wir
wieder in London sind …«
»Die Sache ist die.« Ted starrt noch immer an die
Decke. »Es passt nichts zusammen. Ich weiß bloß eins, dass mich
alle angelogen haben. In Bezug auf alles. Das sehe ich jetzt. Und
ich weiß nicht, wohin ich mich wenden soll, wen ich f ragen kann,
weil alles eine einzige Täuschung ist, und ich niemandem vertrauen
kann. Verstehst du?« Er sieht sie an oder an ihr vorbei oder durch
sie hindurch. »Verstehst du das?«
Jonah strampelt, er stampft mit seinen Füßchen auf
ihre Beine. Elinas Arme zittern, ihr ganzer Körper bebt. Sie hat
keine Ahnung, was sie sagen, was sie tun soll. Vielleicht wäre es
das Beste, einen Arzt zu rufen, aber was dann? Was soll das Ganze
überhaupt?
»Ted«, bringt sie hervor. Ihre Stimme ist brüchig,
als ob ihr gleich die Tränen kommen. »Wovon redest …«
»Also dann.« Simmy ist wieder da, er reibt sich die
Hände. »Der Arzt sagt, wir dürfen gehen. Wollen wir dann?«
»Sim«, sagt Elina, doch da springt Ted auch schon
vom Bett.
»Los.« Er packt Elina beim Ellenbogen und zieht sie
mit sich. »Komm.«
»Ich fände es besser, wenn wir noch abwarten
würden, ob …«
»Wir müssen los«, sagt Ted und drängt sich an Simmy
vorbei durch die Tür. »Wir müssen zurück nach London.«