Das ist das Ende der Geschichte.
Zu dem, was Lexie heute ist, wurde sie Ende August,
vor der Küste von Dorset, beim Schwimmen. Theo und sie sind mit
Robert in Lyme Regis. Sie haben Fisch mit Pommes gegessen, haben
über das Hotel geredet, in dem sie bei ihrem letzten Rendezvous
gewohnt haben, und über einen von Lexies Artikeln diskutiert; Theo
hat ein Eimerchen Steine gesammelt und einen toten Krebs gefunden,
Lexie hat sich ausgezogen und ist geschwommen. Robert hat ihr
zugesehen, das Handtuch für sie gehalten, gewartet. Wie der Mann
einer Robbenfrau, denkt Lexie, während sie aus dem Wasser schaut.
Robert, der auf dem steilen Kieselstrand sitzt, neben sich den
Buggy mit dem schlafenden Theo, der eine Strickkatze in der Hand
hält.
Als Lexie aus dem Meer kommt, vorsichtig über die
spitzen Steine trippelnd, und Robert das Handtuch um sie legt, weiß
sie, dass sie in den nächsten Minuten mit ihm ins Bett muss. Es ist
ihr ein Bedürfnis, ein Grundbedürfnis des Lebens. Er rubbelt sie
unter dem Handtuch warm, seine Hände rauf und runter auf ihrem
Rücken, auf ihren Armen, ihren Hüften.
»Ins Hotel«, schnattert Lexie mit vor Kälte seltsam
gummiartigen Lippen. »Schnell.«
Und Robert sagt nur: »Ja.«
Und für dieses Ja liebt sie ihn, dafür, wie er sich
nach den Taschen bückt, wie er sich ordentlich ihre Kleidungsstücke
über den Arm legt, wie er die Schnürsenkel ihrer Schuhe aufbindet,
die sie sich, weil sie es nicht erwarten konnte, endlich ins Wasser
zu kommen, einfach von den Füßen geschleudert hat. Wie er ihr
hilft, sie anzuziehen, damit Lexie schon vorauslaufen kann, die
Hoteltreppe hinauf, an dem schockierten Portier vorbei und rauf in
den vierten Stock - alles nur in Bikini und Handtuch. Dafür, wie er
den Buggy mit dem schlafenden Theo über die Betontreppe nach oben
auf die Promenade trägt. Wie er den Wagen im Hotelzimmer zur Wand
dreht. Wie er zuerst die Tagesdecke vom Bett reißt und dann sich
das Hemd und ihr das Handtuch vom Leib. Diese Reihenfolge gefällt
ihr. Wie seine Haut auf ihrer kalten Haut glüht. Wie er, vor
Ungeduld fluchend, mit den nassen, widerspenstigen Trägern und dem
Verschluss ihres Bikinis kämpft, bis sie ihm zur Hand geht. Wie er
ihr das feuchte Bündel abnimmt und an die Wand wirft, wo es einen
dunklen Schatten in Form einer Qualle hinterlässt, der nicht wieder
weggeht, solange sie hier wohnen. Und auch später nicht, so dass
sich die Gäste, die nach ihnen kommen, f ragen, woher wohl dieser
seltsame Fleck stammt.
Für all das liebt sie ihn, und für seinen paradoxen
Körper - die Härte unter der weichen Haut -, und für die feine
Härchenlinie auf seinem Bauch, die sie ganz vergessen hatte. Für
die konzentrierte, ernste Art, mit der er ihr begegnet, für den
Ausdruck äußersten Ernstes auf seinem Gesicht, für das Gefühl, ihn
in sich zu spüren, endlich wieder, nach so langer Zeit.
Hinterher schläft er ein. Lexie nicht. Sie reckt
sich, sie gähnt, sie steht aus dem Bett auf. Zieht sich ihr Kleid
an. Geht hinüber zu dem Buggy mit Theo, dessen Augen unter
den Lidern hin und her huschen, der im Schlaf eine Schnute zieht.
Versonnen steht sie eine Zeitlang davor, blickt auf ihn hinunter
und streichelt ihm über das Haar. Ein Händchen liegt offen in
seinem Schoß, und sie versenkt sich in den Anblick der aberhundert
winzigen Linien, die sich im Zickzack über seine Handfläche
ziehen.
Sie geht zum offenen Fenster. Die Leute unten auf
der Promenade essen Eis, lehnen an den Geländern, gehen auf und ab.
Die Flut ist inzwischen hereingekommen: Die gischtigen Wellen
klatschen an die Mauer der Promenade. Ein alter Mann sieht zu, wie
sein Hund an einer Statue des Beinchen hebt. Ein kleines Kind kommt
hüpfend aus einem Geschäft, den Arm voller Orangen. Lexie amüsiert
sich darüber, dass all diese Menschen ihren Beschäftigungen
nachgehen, während sie, eine Frau in einem Kleid an einem Fenster,
heimlich auf sie hinunterblicken kann.
Sie überlegt, wohin sie nachher zum Essen gehen
können, wann Theo wohl aufwachen wird, ob er vielleicht einen
Drachen steigen lassen möchte - sie hat einen in einem Geschäft
gesehen, einen roten mit gelbem Schwanz, den sie ihm kaufen könnte.
Sie sieht auf die große graue Hafenmauer hinaus, den Cobb, der im
Meer liegt wie eine schlafende Schlange.
Als sie eine Bewegung im Buggy hört, geht sie
hinüber. Theo wacht auf, er reckt den Kopf hin und her. Sie dreht
den Buggy um und geht vor ihm in die Hocke. »Hallo«, flüstert
sie.
Er gähnt, und dann sagt er ganz klar und deutlich,
ohne die Augen aufzumachen: »Ich hab gesagt, ich will das
nicht.«
»Hast du?«
»Ja.« Er zieht die Stirn kraus, blinzelt und blickt
sich um. »Wir sind nicht zu Hause.«
»Nein. Wir sind in Lyme Regis, weißt du nicht mehr?
In einem Hotel. Du hast deinen Mittagsschlaf gehalten.«
»Regis«, wiederholt Theo. Seine Miene wird
nachdenklich. »Mein … mein Eimer mit den Steinen.«
»Ja, richtig. Er steht hier drüben. Siehst
du?«
Er reckt sich und klettert aus dem Buggy, die
Strickkatze unter den Arm geklemmt. »Alfie mag Regis nicht«, stellt
er fest, während er zu seinem Eimerchen geht, das Lexie neben die
Tür gestellt hat.
»Nein?«
Theo beugt sich über die Steine und mustert sie
prüfend. »Nein«, sagt er.
»Warum denn nicht?«
Er muss einen Augenblick überlegen. »Er sagt, es
ist zu feucht hier.«
Lexie, die sich auf die Bettkante gesetzt hat, muss
sich ein Lächeln verbeißen. »Er ist ja auch eine Katze. Katzen
mögen es nicht, wenn es nass ist.«
»Nein, nicht nass. Feucht.«
»Feucht ist auch nass, Schatz.«
»Nein, ist es nicht!«
»Okay.« Sie beißt sich auf die Lippe. »Möchtest du
etwas trinken?«
Theo nimmt einen Kiesel nach dem anderen aus dem
Eimer und legt sie in einer Reihe hin. Die grauen sortiert er
aus.
»Theo?« Sie probiert es noch einmal. »Etwas zu
trinken?«
Er legt einen glatten weißen Stein neben einen
rötlichen. »Ja«, antwortet er reserviert, aber bestimmt. »Doch, ich
möchte was trinken.«
Später gehen sie noch einmal nach draußen. Lexie
kauft
den roten Drachen mit dem gelben Schwanz, und sie lassen ihn am
Strand steigen, hinter der Stadt, hinter dem Cobb. Theo hält die
Schnur, Lexie hat ihre Hand um seine gelegt. Robert, der an einem
Felsen nach Fossilien sucht, sieht ihnen zu.
»So ist es richtig«, sagt sie leise zu Theo. »Jetzt
hast du es raus.«
Die Drachen schwebt direkt über ihnen, wie an einer
umgekehrten Lotleine, der Schwanz wirbelt und zuckt. Theo blickt
gebannt zu ihm hoch und staunt, dass das Luftwesen über ihm zu
tanzen anfängt, wenn er an der Schnur zieht.
»Es ist wie …« Er sucht nach dem richtigen Wort. »…
ein Hund.«
»Ein Hund?«
»Ja, ein fliegender Hund.«
»Ach, weil er an der Leine ist, meinst du?«
Froh richtet er seine blauen Augen auf sie,
glücklich, dass sie ihn verstanden hat. »Ja!«
Lachend drückt sie ihn an sich, und der Drachen
über ihnen wippt und schaukelt.
Nach einer Weile gehen sie zu Robert und setzen
sich auf einen Felsen. Robert findet einen Ammoniten, ein
wulstiges, in sich zusammengerolltes, versteinertes Lebewesen. Er
legt ihn Lexie in die Hand, und sie fühlt, wie er in ihrer Hand
langsam warm wird. Theo reiht wieder Steine auf, diesmal in
absteigender Größe.
Lexie steht auf. »Ich glaube, ich springe noch mal
kurz ins Wasser. Und dann holen wir uns was zu essen.«
Robert blickt zum Himmel, aufs Meer, wo weiße
Schaumkronen zu sehen sind. »Meinst du wirklich?«, sagt er. »Es
wird langsam kalt.«
»Das macht nichts.« Sie steckt den Ammoniten in
ihre Kleidertasche.
»Wir haben kein Handtuch dabei.«
»Dann lass ich mich eben trocknen«, sagt sie
lachend. »Ich bin wasserfest. Ich renne so lange rum, bis ich
trocken bin.« Als sie nur noch die Unterwäsche anhat, drückt sie
Theo einen Kuss auf den Kopf. »Ich bin gleich wieder da, Schatz.«
Sie geht los, über die Kiesel, über den Sandstrand, ins Wasser.
Robert sieht zu, wie sie Stück um Stück im Meer verschwindet - es
geht sehr schnell. Ihre Knöchel, ihre Knie, ihre Oberschenkel, ihre
Taille. Ein leiser Aufschrei noch und sie ist drin. Sie krault ein
paar Züge, zieht eine schaumige Spur; sie taucht unter und weiter
draußen wieder auf; sie schwimmt mit gleichmäßigen Brustzügen
weiter.
Robert sieht Theo an. Der schiebt die Steine der
Reihe nach in den Sand und sagt: »Weg mit dir.« Zu jedem Einzelnen:
»Weg mit dir, weg mit dir.«
Später wird Robert nicht genau sagen können, wie
viel Zeit vergangen ist. Er weiß, dass er nebenher wieder nach
Fossilien gesucht hat. Dass er zwei Steine am Felsen aufgeschlagen
hat, wie Eier, weil er sehen wollte, ob sie etwas enthielten. Dass
er mindestens einmal aufs Meer hinausgeschaut und ihren Kopf
gesehen hat, nicht weit von der Biegung des Cobb. Dass Theo »Weg
mit dir« gesagt hat oder auch »Sie rennt rum, bis sie trocken
ist«.
Nachdem er den dritten Stein aufgeknackt hat, sagt
Theo etwas anderes. Robert blickt hoch. Theo kauert nicht mehr über
seinen Steinen. Er steht. Die sandigen Hände von sich gestreckt,
die Finger gespreizt, starrt er aufs Meer.
»Was hast du gesagt, Theo?«
»Wo ist die Mama?«, fragt das Kind mit klarer,
heller Stimme.
Robert wiegt einen vierten Stein in der Hand,
nachdenklich, prüfend. Ob er vielleicht auch einen Ammoniten
preisgeben wird, wie den, den er Lexie geschenkt hat? »Sie
schwimmt«, sagt er. »Sie kommt bald wieder.«
»Wo ist die Mama?«, fragt Theo noch einmal.
Robert sieht aufs Meer hinaus. Er sieht nach links,
in Richtung Cobb, er sieht nach rechts. Er richtet sich auf. Er
sucht den anthrazitgrauen Horizont ab. Nichts. Er hält sich zum
Schutz gegen den matten Glanz der untergehenden Sonne die Hand vor
die Augen. »Sie …« beginnt er. Dann geht er ans Wasser. Wellen
rauschen auf und brechen sich im Sand. Er sucht das Meer ab, das
ausgebreitet vor ihm liegt.
Er läuft über den Strand zurück zu dem Jungen, der
mit seinen sandigen Händen noch immer wie angewachsen dasteht.
Robert nimmt ihn auf den Arm und läuft los, über die Kiesel. »Wir
gehen auf den Cobb und halten nach ihr Ausschau, was meinst du?«,
sagt er, aber die Wörter kommen ihm nicht aufmunternd und ruhig
über die Lippen, sondern panisch und abgehackt. »Vielleicht ist sie
einmal ganz um ihn herumgeschwommen und kommt auf der anderen Seite
wieder zurück.«
Robert erklimmt die Stufen zu der hohen Hafenmauer.
Theo fest an sich pressend, rennt er über die schiefen Steine. Nach
der Hälfte der Mauer bleibt er stehen.
»Wo ist die Mama?«, fragt Theo wieder.
»Sie ist …« Robert schaut. Er schaut und schaut.
Bis ihm die Augen wehtun. Bis an sein Lebensende wird er sich nicht
erinnern können, etwas anderes als die See gesehen zu haben, die
endlose, durch nichts unterbrochene Wasserfläche des Meeres. Alle
paar Sekunden macht sein Herz einen Satz, weil er etwas erspäht hat
- eine Boje, eine besonders spitze Welle. Aber da ist nichts. Sie
ist nirgends.
Er klettert wieder von der Mauer, hinunter auf den
unteren Teil des Cobb, und läuft bis ans Ende. Hier ist das Wasser
tief und unheimlich grün, schwappend fasst es nach den Steinen.
Theo fängt an zu weinen. »Ich will das nicht«, sagt er. »Dass das
Meer da so nah ist. Das Meer da.« Und er zeigt mit dem Finger
darauf, für den Fall, dass Robert ihn nicht verstanden hat.
Robert dreht sich um, läuft so vorsichtig wie
möglich über den nassen Cobb zurück, bis zu einer Stelle, wo
mehrere Fischerboote vor Anker liegen. In einem steht ein Mann, die
Arme voll von verhedderten Netzen.
»Bitte«, ruft Robert zu ihm hinunter. »Bitte. Wir
brauchen Hilfe.«
Es folgen lange Minuten, Stunden, in denen Robert
mit Theo im Arm an der Hafenmauer auf einer Bank sitzt. Hin und
wieder schweifen die Lichtkegel der Kutter, der Rettungsboote, der
Küstenwache über sie hinweg. Er hat das Kind in seine Jacke
gehüllt. Nur die Haare schauen heraus. Theo zittert, ein sanftes,
rhythmisches Zittern wie das eines untertourigen Motors. Robert
wiegt ihn vor und zurück und singt ihm mit heiserer, brüchiger
Stimme ein Lied vor, das er vor langer Zeit seinen eigenen Kindern
gesungen hat. Irgendjemand - er sieht nicht, wer es ist, einer der
Polizisten vielleicht - bringt ihm eine große Tasche und stellt sie
neben ihn. Im ersten Moment erkennt er sie nicht. Auf der Tasche
liegt ein locker gefaltetes Stück Stoff. Und plötzlich sieht er,
dass es Lexies Kleid ist, Lexies Tasche, dass jemand sie vom Strand
geholt hat, wo sie gesessen haben. Ohne Theo loszulassen nimmt er
das Kleid in die Hand. Es entfaltet sich, wie ein fühlendes,
lebendes Wesen. Wie kann ein dünnes Baumwollfähnchen so schwer
sein? Es schwingt in der steifen Brise wie ein Pendel hin und her.
Dann fällt ihm der Ammonit ein. Sie hat ihn eingesteckt, bevor sie
…
Schnell lässt er das Kleid sinken, stopft es wieder
in die Tasche. Dabei sieht er das Spielzeug, das Theo so liebt, die
Strickkatze, in einem Durcheinander aus Trinkbechern, Shorts zum
Wechseln, Eimer und Schaufel, einer grünen Harke. Er nimmt sie
heraus und hält ihr verdutztes Gesicht in den Jackenspalt, aus dem
Theos goldblondes Haar hervorschaut. Erst tut sich gar nichts. Doch
dann tauchen Finger auf, packen die Katze und ziehen sie in die
Jackenhöhle.
Jetzt laufen zwei Polizisten über den Cobb in
Richtung Hafenbecken. Schon setzen sich auch die anderen Polizisten
in Bewegung. Robert steht auf, nimmt Theo wieder auf den Arm.
Jemand murmelt: »Sie haben sie.«
Und er geht los. Ein Boot kommt um die Spitze des
Cobb, ein kleiner Kutter, mit leuchtenden Scheinwerfern - ein Mann
am Steuerrad, ein zweiter, mit einem Tau in der Hand, am Heck.
Robert strengt seine Augen an. Er kann es nicht glauben, aber da
liegt eine Gestalt in dem Boot, halb unter einer Plane verborgen,
und er will schreien, will sie rufen, doch dann steht ein Polizist
zwischen ihm und dem anlegenden Boot, und er sagt: »Bleiben Sie
zurück, Sir, bitte, treten Sie zurück, bringen Sie das Kind weg,
bringen Sie es weg.«

Das ist das Ende. Diese Worte gehen ihr durch den
Kopf. Das ist also das Ende. Sie wusste Bescheid. Eine
Zeitlang, mehrere Minuten lang, hatte sie da draußen hinter dem
Cobb gegen den kalten, starken Griff der Strömung angekämpft. Und
sie sah es. Sie sah es kommen. Sie wusste, dass der Kampf begonnen
hatte, und sie wusste, dass sie ihn nicht gewinnen würde.
In diesem Augenblick dachte sie nicht an sich
selbst, nicht an ihre Eltern, ihre Geschwister, an Innes, an das
Leben, das sie hinter sich gelassen hatte, als sie in die Wellen
schritt, an den Moment, wo die Entscheidung noch bei ihr lag, wo
sie am Strand hätte bleiben können, mit dem Rücken zum Meer. Nicht
einmal an Robert dachte sie, der dort mit ihren Sachen saß, der
bald ihren Namen in den rastlosen Wind hinausrufen würde.
Als die Wellen sie unter Wasser drückten, konnte
sie nur an Theo denken.
Sie wälzten sie nach oben, und sie wälzten sie nach
unten, und hin und wieder schaffte sie es, sich an die Oberfläche
zu kämpfen, so dass sich das Wasser teilte und sie nach Luft
schnappen konnte, aber sie wusste, sie wusste, dass es nicht lange
dauern würde, und sie wollte sagen, bitte. Sie wollte sagen, nein.
Wollte sagen, ich habe einen Sohn, ein Kind, das darf nicht
geschehen. Weil man weiß, dass sie nie wieder jemand so sehr lieben
wird, wie man selbst sie liebt. Man weiß, dass niemand so für sie
sorgen wird. Man weiß, dass es unmöglich ist, undenkbar, dass man
ihnen entrissen wird, dass man sie zurücklassen muss.
Doch sie wusste, dass sie ihn nicht wiedersehen
würde. Sie würde ihm heute Abend nicht das Essen kleinschneiden.
Sie würde nicht den Drachen zusammenlegen, nicht seine feuchten
Sachen zum Lüften raushängen, ihm vor dem Zubettgehen kein Bad
einlassen, nicht seinen Schlafanzug unter dem Kopfkissen
hervorholen. Sie würde nicht mitten in der Nacht seine Katze vom
Fußboden aufheben. Sie würde nach seinem ersten Schultag nicht am
Schultor auf ihn warten. Nicht seine Hand halten, wenn er lernte,
seinen Namen zu schreiben, den Namen, den sie ihm gegeben hatte.
Nicht sein Fahrrad am Sattel festhalten, wenn
er es zum ersten Mal ohne Stützräder probierte. Sie würde ihn
nicht pflegen, wenn er Windpocken und Masern hatte; es würde nicht
sie sein, die ihm seine Medizin gab oder das Fierberthermometer
herunterschüttelte. Sie würde nicht da sein, um ihm zu zeigen, dass
man erst nach rechts, dann nach links und dann wieder nach rechts
schauen muss, oder wie man sich die Schuhriemen bindet oder die
Zähne putzt oder den Reißverschluss an der Regenjacke hochzieht
oder die Socken nach dem Waschen zu Paaren zusammenlegt oder
telefoniert oder sich Butter aufs Brot streicht. Oder was man tun
muss, wenn man in einem Kaufhaus verloren geht, oder wie man Milch
in eine Tasse gießt oder mit dem Bus nach Hause fährt. Sie würde
nicht erleben, dass er so groß wie sie wurde und größer. Sie würde
nicht da sein, wenn er zum ersten Mal Liebeskummer hatte, zum
ersten Mal allein mit dem Auto fuhr oder sich allein in die Welt
hinauswagte oder wenn ihm klar wurde, was er beruflich machen und
wie er leben wollte und mit wem und wo. Sie würde nicht da sein, um
ihm den Sand aus den Schuhen zu klopfen, wenn er vom Strand kam.
Sie würde ihn nie wiedersehen.
Sie kämpfte wie eine Wahnsinnige. Sie kämpfte um
ihr Leben, kämpfte darum zurückzukehren. Das würde sie ihm gern auf
irgendeine Weise mitteilen. Dass sie es versucht hat. Sie würde es
ihm gern sagen, Theo, ich habe es versucht. Ich habe gekämpft, weil
ich es nicht über mich bringen konnte, dich zu verlassen. Aber ich
habe verloren.
Was hätte sie dafür gegeben zu gewinnen? Sie konnte
es nicht sagen.