Bis sie wieder in London sind, ist es Abend
geworden. Elina sitzt hinten, die Hände zwischen den Knien. Jonah
schläft im Kindersitz. Ted hat während der gesamten Fahrt durch die
Windschutzscheibe gestarrt. Auf dem Westway sagt er: »Bring mich
zum Myddleton Square.«
Simmy sieht Ted von der Seite an, dann sucht er im
Rückspiegel Elinas Blick. »Ted«, beginnt er. »Meinst du nicht, es
wäre besser, wenn du …«
»Bring mich zum Myddleton Square, Sim. Das ist mein
voller Ernst.«
Elina beugt sich vor. »Was willst du da,
Ted?«
»Was ich da will?«, knurrt er. »Mit meinen Eltern
reden, natürlich.«
»Es ist schon ziemlich spät«, sagt Elina.
»Vielleicht schlafen sie schon. Sollen wir nicht lieber bis morgen
…«
»Entweder ihr bringt mich hin«, sagt Ted, der
klingt, als ob er den Tränen nah wäre, »oder ihr lasst mich
aussteigen und ich nehme die U-Bahn.«
»Okay«, antwortet Simmy beruhigend. »Okay. Wenn du
unbedingt willst. Aber ich kann ja Elina und Jonah vorher noch
schnell zu Hause absetzen.«
»Ich bleibe bei Ted«, wirft Elina ein. »Kein
Problem. Jonah schläft. Ich gehe mit dir«, sagt sie und legt Ted
die Hand auf die Schulter.
Als Simmy auf dem Myddleton Square anhält, ist Ted
schon aus dem Auto gesprungen und zur Haustür seiner Eltern
gestürmt, während Elina und Simmy noch mit ihren Sicherheitsgurten
kämpfen. Elina schnallt Jonahs Sitz los.
»Kommst du mit?«, fragt sie.
Simmy dreht sich um, und sie sehen sich an. »Was
meinst du?«, fragt er leise.
»Es wäre vielleicht besser«, antwortet sie
schnell.
Er nimmt ihr den Kindersitz ab. Als sie zur Tür
kommen, geht sie gerade auf, und ein Streifen Lichts fällt heraus
auf den Bürgersteig. Teds Vater, der ein Whiskyglas in der Hand
hält, sagt: »Du liebe Zeit. Hallo, alter Knabe. Wusste gar nicht,
dass ihr kommt.«
»Ich muss mit dir reden«, sagt Ted und schiebt sich
an ihm vorbei.
Elina setzt sich mit Simmy und Teds Vater an den
Küchentisch. Ted läuft zwischen Hintertür und Fenster, Tisch und
Herd hin und her.
»Was ist denn eigentlich los?«, fragt Teds Vater
und sieht sie der Reihe nach an.
Elina räuspert sich; sie weiß nicht recht, was sie
sagen soll. »Tja, also«, beginnt sie. »Wir waren in Lyme …«
»Ich will eine Antwort von dir«, brüllt Ted quer
durch die Küche, so laut und unvermittelt, dass Elina erschrocken
herumfährt. Er hat seine Brieftasche in der Hand und kramt etwas
daraus hervor - Geld? Eine Kreditkarte? Mit zwei wütenden Schritten
ist er am Tisch und knallt seinem Vater etwas Weißes unter die
Nase, ein Stück Papier oder Pappe. »Wer ist das?«
Ein langes Schweigen setzt ein. Teds Vater wirft
einen Blick auf das Papier und sieht schnell wieder weg. Er nimmt
seine Zigaretten aus der Hemdtasche, schüttelt eine aus dem
Päckchen, steckt sie in den Mund und lehnt sich zur Seite, um das
Feuerzeug aus seiner Gesäßtasche zu fummeln. Seine Hände zittern.
Er hat das Feuerzeug erwischt und legt es platt auf den Tisch.
Statt danach zu greifen und sich die Zigarette anzuzünden, greift
er nach dem Papier, der Pappe, der Postkarte und hält sie sich vors
Gesicht. Elina beugt sich neugierig vor. Es ist eine
Schwarzweißaufnahme von einem Mann und einer Frau, die an einer
Hauswand lehnen. Erst glaubt sie, dass sie das Foto noch nie
gesehen hat, dann wird sie unsicher, und plötzlich wird ihr klar,
dass es eine Aufnahme aus der John-Deakin-Ausstellung ist,
zerknickt und verbogen, weil sie zusammengefaltet in Teds
Brieftasche gesteckt hat. Elina macht schon den Mund auf, um etwas
zu sagen, doch sie überlegt es sich anders.
Teds Vater lässt die Karte sinken. Er lehnt sie
bedachtsam an einen Salzstreuer. Erst jetzt zündet er sich die
Zigarette an. Er nimmt einen Zug, stößt den Rauch aus, nimmt noch
einen Zug.
Und dann gibt er den unglaublichen Satz von sich:
»Das ist deine Mutter.«
»Meine Mutter?«
»Deine richtige Mutter. Lexie Sinclair.« Er reibt
sich mit dem Zeigefinger die Stirn. »So hieß sie.«
Mit beiden Händen, die zu Fäusten geballt sind,
stützt Ted sich auf die Tischkante. Er hat den Kopf gesenkt wie ein
Bittsteller, wie jemand, der im Begriff ist, die heilige Kommunion
zu empfangen. »Und würdest du mir vielleicht auch verraten«, sagt
er mit belegter Stimme, »wer dann die Frau ist, die oben im Bett
liegt?«
Felix zieht heftig an seiner Zigarette. »Die Frau,
die dich großgezogen hat. Seit du drei Jahre alt warst.«
»Und du?«, fragt Ted. »Bist du mein Vater?«
»Ja. Das steht außer Zweifel.«
»Und ihr ist etwas zugestoßen. Meiner Mutter. In
Lyme Regis.«
Felix nickt. »Sie ist ertrunken.« Er zieht mit der
Zigarette einen Kreis um seinen Kopf. »Ein Badeunfall. Du warst
dabei. Das war ungefähr eine Woche nach deinem dritten
Geburtstag.«
»War es …? Warst du auch dabei?«
»Nein. Ein … Freund von ihr war mit euch in Lyme
Regis. Ich habe dich an dem Abend abgeholt. Ich habe dich
hierhergebracht, und … und Margot hat sich um dich
gekümmert.«
Ted nimmt die Ansichtskarte in die Hand. Er sieht
in das tränennasse Gesicht seines Vaters. Er sieht Elina an.
Genauer gesagt, sein Blick schweift über sie hinweg, als er sich
abwendet, zum Fenster.
»Jetzt hör mal, alter Knabe«, sagt Felix und steht
auf. »Es tut mir leid, natürlich tut es mir leid. Vielleicht war es
falsch von uns - es dir zu verheimlichen, meine ich. Aber wir
…«
»Es tut dir leid?«, wiederholt Ted und dreht sich
zu seinem Vater um. »Es tut dir leid? Dass du mich mein
ganzes Leben lang belogen hast? Dass du mir jemand anderen als
meine Mutter untergeschoben hast? Dass du so getan hast, als wäre
das alles nie passiert? Das ist … Das ist unmenschlich«, stößt er
mit einem heiseren Flüstern hervor. »Ist dir das nicht klar? Und
wie habt ihr das überhaupt angestellt? Ich war schließlich schon
drei. Wie habt ihr das gedeichselt?«
»Wir …« Felix lässt die Schultern sinken. »Um ganz
ehrlich zu sein, du hast es irgendwie vergessen.«
»Vergessen?«, faucht Ted. »Was soll das heißen,
vergessen? So etwas vergisst man doch nicht, dass man mit angesehen
hat, wie die eigene Mutter ertrinkt. Was redest du denn da?«
»Ich weiß, das hört sich unglaubwürdig an. Aber
nachdem ich dich …«
»Was ist denn hier los?«, trällert eine Stimme von
der Tür. Alles dreht sich um. Da steht Margot, die Haare auf der
einen Kopfseite platt gedrückt, den Morgenmantel um die Taille
geschnürt. Ein verwirrtes Lächeln liegt auf ihrem Gesicht. »Ted,
was für eine Überraschung. Und Simmy und Jonah, der süße Fratz! Was
führt euch denn …?« Sie bricht ab, sieht von einem zum anderen. Das
Erstaunen auf ihrem Gesicht verwandelt sich in Unsicherheit, in
Misstrauen. »Was ist passiert? Warum seid ihr alle …?« Sie macht
einen Schritt in die Küche. »Felix?«
Felix nimmt Ted die Karte aus der Hand. Er gibt sie
Margot. »Er weiß Bescheid«, sagt er und stellt sich zu ihr, oder
vielmehr neben sie, und er pafft an seiner Zigarette, als ob er mit
ihr in einer Warteschlange steht, an einer Bushaltestelle
vielleicht, als ob sie nicht mehr für ihn ist als eine Fremde, die
zufällig in die gleiche Richtung will.

Felix, Margot und Gloria sitzen in der Küche am
Myddleton Square. Auf der Tischseite gegenüber der Junge. Er sitzt
vollkommen reglos, die Hand mit den Flächen nach oben auf den
Knien, den Kopf leicht gesenkt. Unter dem einen Arm hat er eine
zerlumpte Strickkatze. Er scheint noch nicht einmal mit den Augen
zu blinzeln. Er starrt auf den Teller mit den Würstchen, der vor
ihm steht. Oder vielleicht starrt er auch daran vorbei, auf etwas,
was er in der Tischdecke sieht. Er ist wie das Wachsmodell eines
Jungen, eine Plastik, eine Skulptur. Knabe, an Tisch
sitzend.
»Hast du keinen Hunger?«, fragt Margot mit ihrer
munteren Stimme.
Er antwortet nicht.
»Du musst aufessen«, fällt Gloria ein. »Damit du
groß und stark wirst.«
Die kalt gewordenen Würstchen liegen in einer
glibberigen Fettlache. Die Salzkartoffeln sehen mehlig und trocken
aus. Margot bauscht mit den Fingern nervös ihre Haare auf. Ihre
Mutter hat ihr immer gesagt, dass platte Haare ihr Gesicht dünn
machen.
»Hör mal, alter Knabe«, sagt Felix. »Ich gehe
gleich in den Garten, und weißt du, was ich da mache?« Er wartet
auf eine Antwort. Es kommt keine. Er redet weiter. »Ich mache ein
Feuerchen. Dabei willst du mir doch sicher helfen, nicht wahr? Wir
machen ein großes Lagerfeuer. Was meinst du?«
An diesem Morgen hat Margot kein Wort mit Felix
gewechselt. Sie konnte ihm nicht verzeihen, dass er den Jungen im
Kinderzimmer schlafen ließ. In ihrem ehemaligen Kinderzimmer, das
sie vor zwei Jahren mit einem Fries aus Schaukelpferden und
Schachtelteufeln dekoriert hat und mit einer farblich dazu
passenden Tagesdecke in Schlüsselblumengelb.
»Wo hätte ich ihn denn sonst unterbringen sollen?«,
hatte Felix gefragt, als sie dagegen protestierte.
»Was weiß ich!«, rief sie. »Im Gästezimmer!«
»Im Gästezimmer?« Er sah sie an, als ob er sie
nicht wiedererkannte. Noch in seinem Trenchcoat und den
Autofahrerhandschuhen lehnte er im ersten Stock erschöpft an der
Dielenwand, das Gesicht aschfahl und verschattet im Dämmerlicht.
Irgendetwas sagte ihr, dass es besser wäre, dieses Gespräch auf
sich beruhen zu lassen, dass sie ihn ins Wohnzimmer
bringen, ihm einen Whisky geben und ihm den Mantel abnehmen
sollte. Aber sie konnte es nicht. Er hatte den Jungen in ihr Bett
gelegt, unter ihre Schlüsselblumendecke.
»Das ist mein Kinderzimmer«, hatte sie zu erklären
versucht, doch ihre Stimme klang ihr selbst wie ein weinerliches
Quengeln in den Ohren. In seinen Augen flammte Wut auf. Er hatte
sich von der Wand abgestemmt und war bis auf wenige Zentimeter an
sie herangetreten, so dicht, dass sie einen Augenblick lang dachte,
er wollte sie schlagen. »Dieses Kind«, begann er so leise, dass es
ihr Angst machte, »hat gerade seine Mutter verloren. Verstehst du
das? Es war dabei, als seine Mutter ertrunken ist. Und du? Du
kannst nur an dich denken. Du …« Er zögerte und wählte seine Worte
mit Bedacht, so wie er es manchmal im Fernsehen tat, wenn er von
einem besonders erschütternden Ereignis berichtete, von einer
Flutkatastrophe, einer Hungersnot riesigen Ausmaßes oder dem
Einsturz eines unersetzlichen Gebäudes. »… du widerst mich an.«
Damit drehte er sich um und ging nach unten. Und sie hatte gewusst,
dass sie es dabei hätte bewenden lassen müssen, dass sie nichts
mehr hätte sagen dürfen, aber sie konnte sich nicht beherrschen,
sie rief hinter ihm her: »Du regst dich doch nur deswegen auf, weil
es um sie geht. Du kannst es nicht ertragen, dass sie tot ist. Du
liebst sie. Du liebst sie, und mich - mich verachtest du. Du
glaubst, das weiß ich nicht. Aber ich weiß es. Ich weiß es sehr
wohl!«
Am Fuß der Treppe drehte er sich zu ihr um. Und
plötzlich sah sie im Schein der Dielenlampe, dass er geweint hatte.
»Du hast recht«, sagte er leise. »In allen Punkten.« Er ging ins
Arbeitszimmer und zog die Tür hinter sich zu.
In der Küche steht Felix auf und geht zur Spüle. Er
trinkt ein Glas Wasser; er lässt das Glas neben der Spüle stehen;
er geht zu seinem Sohn. Er legt ihm die Hand auf den Kopf. »Wollen
wir anfangen, alter Knabe?«
Das Kind rührt sich immer noch nicht. Margot ist
sich nicht einmal sicher, ob es weiß, dass Felix vor ihm steht.
Neben ihr stößt ihre Mutter einen Seufzer aus.
»Mit unserem Lagerfeuer?«, fährt Felix fort. »Was
sagst du dazu?«
Er sagt gar nichts. Felix ist ratlos.
Margot räuspert sich. »Soll Daddy schon mal
vorgehen?«, fragt sie das Kind mit der spröden Stimme, die sie
schon den ganzen langen Vormittag nicht loswird. »Und wenn du
fertig bist, gehst du zu ihm raus. Wie findest du das?«
Ted blinzelt, ein Mal, und Margot und Felix beugen
sich vor, um sich seine Antwort ja nicht entgehen zu lassen. Doch
es kommt keine.
»Gute Idee«, sagt Felix, und er schlägt dabei
Margots munteren Ton an - er scheint ansteckend zu sein. »So machen
wir das. Ich gehe schon mal vor. Und du kannst mir durchs Fenster
zuschauen.« Er zieht sich an der Terrassentür die Stiefel an und
geht in den Garten. Gloria murmelt, sie müsse sich ein wenig
hinlegen, und zieht sich in ihre Wohnung zurück.
Und Margot ist mit dem Jungen allein. Das in der
Sonne glänzende Haar. Die schmalen Schultern unter dem am Kragen
geflickten Hemd. Er hat den gleichen entschlossenen Zug um den Mund
wie seine Mutter, die gleiche Nasenform, den gleichen leichten
Überbiss. Margot wendet den Blick ab. Sie schlägt die Beine
übereinander, zupft sich eine Fluse vom Pullover, bauscht ihre
Haare noch einmal auf. Als sie wieder zu dem Jungen hinsieht,
starrt er sie an, und die dunklen, offenen Augen sind so
beunruhigend, so verstörend, dass sie beinahe zusammenzuckt.
»Huch.« Sie gibt ein kurzes Lachen von sich und
steht auf. Sie hält diesem Blick nicht aus, der dem seiner
verdammten Mutter so ähnlich ist. Um sich nichts anmerken zu
lassen, räumt sie den Teller mit den Würstchen ab. »Ich nehm das
weg, ja?« Sie wirft das Essen in den Abfalleimer und stellt der
Putzfrau den Teller in die Spüle. Dann fällt ihr etwas ein.
Sie geht zum Tisch zurück und bückt sich zu dem
Jungen. »Theodore«, sagt sie und schluckt krampfhaft. Sie versucht,
nicht daran zu denken, dass er mit zweitem Namen Innes heißt - wie
konnte diese Frau es wagen? Das verfluchte Weib soll in der Hölle
schmoren. Doch sogleich schämt sie sich dieses Gedankens. »Hättest
du Lust auf ein Eis? Hm? Wir haben Vanille da oder …«
»Ich bin nicht Theodore«, sagt er, klar und
deutlich. Seine Stimme ist rauer, als sie erwartet hat,
tiefer.
»Nein?«
»Nein.« Er schüttelt den Kopf.
»Wer bist du dann?«
»Ich bin eine sehr scharfe Schere.«
Margot blinzelt. Sie lässt sich diese Feststellung
durch den Kopf gehen. Sie denkt ernsthaft darüber nach, aber sie
fühlt sich außerstande, eine Antwort zu formulieren, die dazu
passt. Eine Schere, hat er gesagt? »Na so was«, sagt sie
schließlich. »Das ist ja ein Ding.« Sie kichert. »Und was sagst du
jetzt zu dem Eis?«
»Ich mag kein Eis.«
»Du magst kein Eis? Natürlich magst du Eis! Alle
Kinder mögen Eis!«
»Ich nicht.«
»Doch, bestimmt.«
»Nein, ich nicht.«
Margot richtet sich auf. Es hat keinen Sinn. Sie
kann mit Kindern nicht umgehen. Sie krallt ihre Hände über der
Schürze zusammen. Und sie wird auch nicht anfangen zu weinen, nein.
Aber gegen die Erinnerung kann sie nicht an, gegen die Erinnerung
an das ominöse heiße Zerfließen, tief unten an dem
unaussprechlichen Ort, an das unglaubliche Edelsteinrot, an die
Mengen jedes Mal, solche Mengen, so unglaublich viel, mehr als sie
je für möglich gehalten hätte.
Sie geht ans Fenster. Am Ende des Gartens schichtet
Felix Blätter auf ein verdrießlich blakendes Feuer. Du hast recht,
hat er gesagt, in allen Punkten. Du hast recht. Die Tränen brennen
ihr auf den Wangen. Sie rinnen ihr am Hals hinunter und
verschwinden im Kragen ihres Pullovers.
Etwas streift an ihr vorbei, etwas Niedriges,
Goldgelbes. Sie zuckt zusammen. Es ist der Junge. Kaum zu glauben,
aber sie hatte ihn tatsächlich momentan vergessen. Er hat sich zu
ihr an die Terrassentür gestellt. Sie wischt sich schnell mit den
Händen über das Gesicht und lächelt zu ihm hinunter. Doch er ist
ganz in den Anblick des Gartens vertieft.
»Siehst du?«, versucht sie es noch einmal. »Da ist
dein Daddy. Und er hat das Feuer schon angesteckt. Genau, wie er
gesagt hat.« Die Worte klingen ihr hohl in den Ohren. Sie wird das
nie lernen. Vielleicht klappt es bei ihr deshalb nicht. Sie hat
einfach kein Händchen dafür. Hat nicht das, was man für den Umgang
mit Kindern braucht - diese Gabe, dieses Talent. Sie hört sich wie
eine Schauspielerin an, die so tut, als ob sie eine Mutter
ist.
»Ist das mein Daddy?«, fragt der Junge.
»Ja, mein Goldstück, natürlich ist das dein Daddy«,
antwortet Margot mit einem glockenhellen Lachen, wischt sich noch
eine Träne weg und bauscht ihre Haare auf.
Der Junge runzelt die Stirn. Er hebt die Hand und
presst sie gegen die Scheibe. »Ist das …« Er bricht ab.
Margot wartet.
»Ist das mein Garten?«, fragt er, und er dreht sich
zu ihr, berührt ihre Hand mit seiner. Ihr bleibt fast die Luft
weg.
»Ja, Theodore, das ist dein Garten. Da kannst du
immer spielen, wenn du Lust dazu hast und …«
»Ich bin nicht Theodore«, sagt er noch
einmal.
»Verstehe«, antwortet Margot. Sie geht vor ihm in
die Hocke und stützt sich Halt suchend an der Tür ab. »Das ist aber
auch ein ganz schöner Zungenbrecher, was? Ich kannte mal einen
Theodore, aber zu dem haben alle Leute Ted gesagt.«
»Ted«, wiederholt der Junge, der noch immer in den
Garten starrt. »Wo ist die Schaukel?«
»Möchtest du eine Schaukel? Wir können dir eine
kaufen.«
»Eine orangene.«
»Aber sicher. Eine orangene. Was immer du
möchtest.«
Und dann fragt er, ohne sie anzusehen: »Bist du
meine Mutter?«
Das Wort hat eine erstaunliche Wirkung auf Margot.
Es ist, als ob es geradewegs durch sie hindurchfällt, wie eine
Münze in einem Spielautomaten. Als ob es die Fäden von etwas löst,
das seit sehr langer Zeit wie ein festes Knäuel in ihr liegt. Sie
sieht dieses Kind an, das neben ihr steht, dann blickt sie
verstohlen über ihre Schulter. Sie richtet sich auf, befeuchtet
ihre plötzlich trocken gewordenen Lippen. Sie sind allein. Die
Rosen stehen mit verkniffenen Gesichtern stumm in ihrer Vase. Die
von hölzernen Putten mit lackierten Gliedern umgebene Uhr auf dem
Kaminsims tickt gleichgültig vor sich hin. Die
Porzellanschäferinnen in der
Nische neigen einander aufmerksam die mit Glasur verschlossenen
Ohren zu. Von der Spüle kommt ein Geräusch, als ob zwei Teller
verrutscht sind. Margot richtet den Blick wieder auf den Jungen. Er
wendet ihr das Gesicht zu, seine Miene ist unsicher, besorgt. Den
Kopf hat er auf die Seite gelegt, als ob er angestrengt auf etwas
lauscht. Der Vorhang neben ihm bebt - ein schneidender Luftzug aus
dem Garten.
Margot schluckt. Sie befeuchtet sich noch einmal
die Lippen. Sie nimmt seine Hand. »Ja«, sagt sie schnell. »Ich bin
deine Mutter.«