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Der Mann, der auf dem ordentlich gemachten Bett lag, hatte sich erst die Jacke ausgezogen, den Schlips abgebunden und beides über den Stuhl neben der Tür gehängt Dann hatte er die Schuhe abgestreift, sie unter den Stuhl gestellt und sich seine schwarzen Lederpantoffeln angezogen. Er hatte drei Filterzigaretten geraucht und die Kippen in dem Aschenbecher, der auf dem Nachttisch stand, ausgedrückt. Und danach hatte er sich auf dem Bett ausgestreckt, die Pistole in den Mund geschoben und abgedrückt.

Jetzt sah es in dem Zimmer nicht mehr so sauber und ordentlich aus Sein Wohnungsnachbar war ein vorzeitig pensionierter Hauptmann, der bei der Elchjagd im Vorjahr einen Schuß in die Hüfte erhalten hatte. Nach dieser Verletzung litt er an Schlafstörungen und saß oft nächtelang wach und legte Patiencen. Gerade als er befriedigt feststellte, daß dieses Spiel aufgehen würde, hörte er von nebenan den Schuß. Sofort benachrichtigte er die Polizei. Als die Besatzung des Streifenwagens die Tür aufbrach und in die Wohnung eindrang, war es 3.40 Uhr, am 7. März. Für die Beamten lag der Fall klar: Es handelte sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um Selbstmord. Bevor sie zum Streifenwagen zurückgingen, um über Funk den Todesfall zu melden, sahen sie sich in der Wohnung um, was sie eigentlich nicht tun durften Außer dem Schlafzimmer bestand sie aus einem weiteren Zimmer, Küche, Diele, Bad und einer Kleiderkammer. Eine Nachricht oder einen Abschiedsbrief konnten sie nicht finden. Die einzige Notiz, die sie entdeckten, waren zwei Worte auf dem Block, der im Wohnzimmer neben dem Telefon lag Die beiden Worte bildeten einen Namen. Einen Namen, der den Polizisten gut bekannt war.

Martin Beck.

Der Name des Tages war Ottilia.

Am Vormittag, kurz nach halb elf, verließ Martin Beck das Polizeigebäude und stellte sich zu der Schlange des staatseigenen Spirituosengeschäftes am Karusellplan. Er erstand eine große Flasche Nutty Solera. Auf dem Weg zur U-Bahn kaufte er noch ein Dutzend rote Tulpen und eine Dose mit englischem Käsegebäck. Einer der sechs Taufnamen, die seine Mutter erhalten hatte, war Ottilia, und er wollte hinausfahren, um ihr zum Namenstag zu gratulieren.

Das Altersheim war ein großes, altes Gebäude Viel zu alt und unmodern, meinten zumindest diejenigen, die gezwungen waren, dort zu arbeiten. Martin Becks Mutter war vor einem Jahr dort hinausgezogen. Nicht weil sie auf die Hilfe anderer angewiesen war, denn sie war für ihre achtundsiebzig Jahre immer noch bewundernswert rüstig, sondern weil sie ihrem einzigen Sohn nicht zur Last fallen wollte. Deshalb hatte sie sich rechtzeitig einen Platz in dem Heim gesichert, und als ein Raum frei wurde, das heißt, als der vorhergehende Bewohner starb, trennte sie sich von dem größten Teil ihres Hausrats und zog ein. Nach dem Tod des Vaters vor neunzehn Jahren war Martin ihre einzige Stütze gewesen, und er machte sich hin und wieder Vorwürfe, daß er sie nicht bei sich aufgenommen hatte. Aber im Grunde war er ihr dankbar, daß sie ihre Angelegenheiten selbst geordnet hatte, sogar ohne ihn vorher zu fragen.

Er ging an einem der kleinen ungemütlichen Tagesräume, in dem er noch nie jemand hatte sitzen sehen, vorbei den dunklen Gang entlang und klopfte an der Tür seiner Mutter. Die alte Frau blickte erstaunt auf, als er eintrat. Sie war ziemlich schwerhörig und hatte sein leises Klopfen nicht gehört. Dann lächelte sie, legte das Buch beiseite und machte Anstalten aufzustehen. Martin Beck ging schnell auf sie zu, küßte sie auf die Wange und drückte sie sanft in ihren Sessel zurück.

»Meinetwegen brauchst du doch keine Umstände zu machen!« Er legte die Blumen auf ihren Schoß und stellte die Flasche und die Keksdose auf den Tisch. »Herzlichen Glückwunsch, Mama.«

Sie wickelte die Blumen aus. »Oh, was für schöne Blumen! Und Kekse. Und Wein, oder was ist das? Sherry! Wie lieb von dir.«

Sie stand auf und ging trotz Martin Becks Protest zum Schrank, nahm eine silberne Vase heraus und füllte sie am Waschbecken mit Wasser.

»So alt und gebrechlich, daß ich nicht mehr auf den Beinen stehen kann, bin ich nun wirklich nicht«, scherzte sie. »Und nun setz du dich hin. Was möchtest du trinken - Sherry oder Kaffee?«

Er legte den Hut weg, zog den Mantel aus und setzte sich.

»Was dir am liebsten ist.«

»Dann koch ich schnell Kaffee. Den Sherry werd ich aufheben und den Damen anbieten. Dabei kann ich dann gleich mit meinem aufmerksamen Sohn angeben. Man muß die Feste feiern, wie sie fallen.«

Martin Beck sah schweigend zu, wie sie am elektrischen Kocher hantierte und Wasser und Kaffee zurechtstellte. Sie wirkte zierlich und zerbrechlich und schien jedesmal, wenn er sie besuchte, kleiner geworden zu sein.

»Hast du's gut hier, Mama?«

»Mir geht's immer gut!«

Die Antwort kam ohne Zögern und zu glatt, als daß er ihr hätte glauben können. Sie stellte die Kaffeekanne auf den Untersatz und die Blumenvase auf den Tisch und setzte sich hin.

»Du brauchst dir meinetwegen keine Sorgen zu machen«, beteuerte sie. »Ich hab hier genug zu tun. Ich lese und unterhalte mich mit den anderen Frauen und stricke. Manchmal fahre ich in die Stadt und seh mich um, aber da sieht ja alles jetzt so häßlich aus. Überall werden Häuser abgerissen. Hast du gesehen, daß das Haus, in dem Vater seine Firma hatte, auch abgerissen worden ist?«

Martin Beck nickte. Sein Vater hatte ein kleines Fuhrgeschäft im Stadtteil Klara gehabt, und an dieser Stelle erhob sich jetzt ein Bürohaus aus Beton und Glas. Er sah sich die Fotografie des Vaters an, die auf der Kommode am Bett stand. Das Bild stammte aus den zwanziger Jahren, als er selbst noch ein Stöpsel und der Vater noch ein junger Mann mit klarem Blick, glänzendem, zur Seite gekämmtem Haar und trotzigem Gesichtsausdruck gewesen war. Verwandte behaupteten, daß Martin Beck seinem Vater ähnlich sähe. Er selbst hatte nie größere Ähnlichkeiten entdecken können, und wenn es welche gab, dann waren sie höchstens äußerlich. Er erinnerte sich, daß sein Vater ein sorgloser, aufrichtiger Mensch gewesen war, der überall beliebt und immer zu Scherzen aufgelegt war. Sich selbst würde er eher als einen schüchternen und ziemlich langweiligen Menschen bezeichnen. Zu der Zeit, als das Foto aufgenommen wurde, war sein Vater Bauarbeiter gewesen, einige Jahre später war die Wirtschaftskrise gekommen, und er war zwei Jahr lang arbeitslos gewesen. Martin Beck dachte daran, daß seine Mutter diese Jahre der Armut und Existenzangst eigentlich nie richtig überwunden hatte. Obwohl es ihnen später ausgesprochen gut gegangen war, hatte sie nie aufgehört, sich Sorgen um das Finanzielle zu machen. Sie konnte es immer noch nicht über sich bringen, ein neues Stück zu kaufen, wenn das alte noch nicht völlig unbrauchbar geworden war. Sowohl ihre Kleidung wie auch die wenigen Möbel, die sie aus der letzten Wohnung mitgebracht hatte, waren verschlissen und abgenutzt.

Martin Beck hatte des öfteren versucht, ihr Geld zu geben oder wenigstens die Heimkosten zu übernehmen, aber sie war stolz und hartnäckig und wollte sich nicht helfen lassen.

Als der Kaffee fertig war, holte er die Kanne und ließ seine Mutter eingießen. Es hatte ihr immer Spaß gemacht, ihren Sohn zu bedienen; schon als Junge hatte er nie beim Abwaschen helfen und nicht einmal sein Bett machen müssen. Als er dann aus der elterlichen Wohnung ausgezogen war, hatte er bemerkt, wie ungeschickt er sich bei den einfachsten Haushaltsarbeiten anstellte, und ihm war klargeworden, wie falsch diese Art von Fürsorglichkeit gewesen war. Schweigend tranken sie die ersten Schlucke. Sie stellte die Tasse zurück, faltete die mageren braunfleckigen Hände und lehnte sich zurück.

»Na, erzähl mal, was machen meine Enkelkinder?«

Martin Beck hatte sich angewöhnt, nur Positives von seinen Kindern zu berichten, da sie der festen Ansicht war, daß ihre Enkel klüger, tüchtiger und hübscher seien als alle anderen Kinder. Sie beschwerte sich manchmal darüber, daß er ihre guten Seiten nicht sähe, und hatte ihn sogar beschuldigt, ein schlechter und böswilliger Vater zu sein. Er selbst bildete sich ein, die Kinder objektiv beurteilen zu können, und hielt sie nicht für besser oder schlechter als andere Kinder. Den besten Kontakt hatte er zu der sechzehnjährigen Ingrid, die aufgeweckt und intelligent war und sowohl in der Schule als auch beim Umgang mit ihren Freundinnen und Freunden keinerlei Schwierigkeiten hatte. Mit Rolf, der demnächst dreizehn wurde, hatte er es weniger leicht. Rolf war verschlossen und faul, völlig uninteressiert an allem, was die Schule betraf, und schien auch im übrigen keine besonderen Begabungen oder Neigungen zu haben. Diese Trägheit des Jungen war eine ständige Sorge für Martin Beck, und seine einzige Hoffnung war, daß er in ein bis zwei Jahren seine Gleichgültigkeit überwinden würde. Da er im Augenblick nichts Erfreuliches von seinem Sohn berichten konnte und die Mutter ihm die Wahrheit nicht abgenommen hätte, versuchte er dieses Thema zu umgehen. Als er von Ingrids letzten Fortschritten in der Schule berichtet hatte, fragte seine Mutter jedoch plötzlich: »Will Rolf auch Polizist werden, wenn er mit der Schule fertig ist?«

»Das glaub ich nicht. Außerdem ist er ja noch nicht mal dreizehn. Noch ist es zu früh, sich deswegen Sorgen zu machen.«

»Aber wenn er das vorhat, mußt du es ihm ausreden. Ich habe nie verstanden, warum du ausgerechnet zur Polizei wolltest. Und heutzutage muß der Beruf eher noch schwieriger geworden sein. Was hat dich eigentlich zu diesem Entschluß veranlaßt, Martin?«

Martin Beck sah sie erstaunt an. Er wußte, daß sie seinerzeit vor vierundzwanzig Jahren nicht mit seiner Wahl einverstanden gewesen war, aber es wunderte ihn, daß sie jetzt wieder davon anfing. Vor nicht ganz einem Jahr war er Kommissar bei der Reichsmordkommission geworden und arbeitete unter ganz anderen Umständen als damals als junger Streifenbeamter.

Er lehnte sich auf seinem Stuhl nach vorn und streichelte ihre Hand. »Ich hab es doch jetzt gut, Mama«, antwortete er. »Seit langer Zeit sitze ich fast nur noch am Schreibtisch. Aber du hast recht, ich hab mir oft die gleiche Frage gestellt.« - Das war richtig. Er hatte sich oft gefragt, warum er Polizeibeamter geworden war.

Er konnte natürlich zur Antwort geben, daß es damals im Krieg eine günstige Gelegenheit gewesen war, vom Militärdienst freigestellt zu werden. Zwei Jahre hatte man ihn wegen seiner Lunge zurückgestellt. Aber dann war er für voll tauglich erklärt worden, was seine Berufswahl wesentlich beeinflußt hatte.

1944 wurden Kriegsdienstverweigerer nicht anerkannt. Viele von denen, die sich auf die gleiche Weise vom Bereitschaftsdienst gedrückt hatten, wechselten später den Beruf, aber er war dabeigeblieben und mittlerweile zum Kommissar aufgestiegen. Das hätte eigentlich bedeuten müssen, daß er ein guter Polizeibeamter war, aber er selbst war sich da nicht so sicher. Es gab genügend Beweise dafür, daß hohe Stellen im Polizeiapparat nicht mit den besten Männern besetzt waren. Er war sich nicht mal sicher, ob er ein guter Beamter sein wollte, wenn das Pflichtbesessenheit und ein engstirniges Einhalten der Vorschriften beinhaltete. Eine Bemerkung schoß ihm durch den Kopf, die Lennart Kollberg vor gar nicht langer Zeit einmal gemacht hatte:

»Gute Bullen gibt's genug. Dämliche Kerle, beschränkte, kernige, aufgeblasene, selbstbewußte Typen, die alle gute Beamte sind. Es wäre besser, wenn es bei der Polizei mehr gute Männer gäbe.«

Seine Mutter begleitete ihn zum Ausgang, und sie gingen eine Weile im Park spazieren. Im Schneematsch kamen sie nur langsam voran, außerdem wehte ein eisiger Wind, der an den kahlen Ästen der hohen Bäume zerrte. Nach zehn Minuten brachte er sie zur Treppe zurück und küßte sie auf die Wange. Am Fuß des Hügels drehte er sich noch einmal um und sah sie winkend vor dem Eingang stehen. Klein und grau.

Mit der U-Bahn fuhr er zurück zum Polizeigebäude in der Västbergaalle. Auf dem Weg zu seinem Arbeitszimmer schaute er in Kollbergs Zimmer. Kollberg war Erster Kriminalassistent und außerdem Martin Becks nächster Untergebener und bester Freund. Das Zimmer war leer. Er blickte auf seine Armbanduhr. Halb zwölf. Es war nicht schwer, sich auszurechnen, wo Kollberg sich befand. Martin Beck überlegte sogar einen Augenblick, ob er nicht hinuntergehen und ihm bei der Erbsensuppe Gesellschaft leisten sollte, aber dann dachte er an seinen empfindlichen Magen. Der machte ihm nach den vielen Tassen Kaffee, die seine Mutter ihm aufgenötigt hatte, schon genug zu schaffen.

Auf seiner Schreibunterlage fand er einen kurzen Bericht über den Mann, der am Morgen des gleichen Tages Selbstmord begangen hatte.

Er hieß Ernst Sigurd Karlsson und war sechsundvierzig Jahre alt. Er war ledig, und die nächste Verwandte war eine alte Tante in Boräs. Seit Montag war er nicht an seinem Arbeitsplatz bei einer Versicherungsgesellschaft erschienen. Grippe. Seinen Arbeitskollegen zufolge war er ein Einzelgänger und hatte, soweit das bekannt war, keine Freunde. Die Nachbarn hatten ausgesagt, daß er einsilbig und ruhig war, regelmäßig zu bestimmten Zeiten kam und ging und nur selten Besuch empfing. An Hand von Schriftproben ließ sich beweisen, daß er selbst den Namen Martin Beck auf den Telefonblock geschrieben hatte. An der Tatsache des Selbstmords bestand kein Zweifel.

Zu diesem Fall gab es weiter nichts zu sagen. Ernst Sigurd Karlsson hatte sich das Leben genommen, und da Selbstmord in Schweden kein Verbrechen ist, konnte die Polizei nicht viel unternehmen. Alle Fragen waren beantwortet, bis auf eine. Derjenige, der den Untersuchungsbericht geschrieben hatte, formulierte sie so: Hat Kommissar Beck mit dem Mann irgendwelchen Kontakt gehabt und kann er möglicherweise dem Bericht etwas hinzufügen?

Das konnte Martin Beck nicht.

Der Name Ernst Sigurd Karlsson war ihm noch nie begegnet.