Montag nachmittag sah es so aus, als ob Benny Skacke zum erstenmal in seiner Eigenschaft als Kriminalassistent bei der Mordkommission einen Mord völlig selbständig aufklären würde. Oder zumindest einen Totschlag.
Er saß in seinem Arbeitsraum im Polizeigebäude Süd und war mit der Aufgabe beschäftigt, die Kollberg ihm zugeteilt hatte, ehe er in die Kungsholmsgatan gefahren war. Das heißt, er bewachte das Telefon und sortierte Kopien von Polizeiberichten in verschiedene Ordner. Das Sortieren dauerte lange, weil er jede Meldung sorgfältig durchlas, ehe er sie abheftete. Benny Skacke war ehrgeizig. Obwohl ihm klar war, daß er alles, was man über die Aufklärung von Mordfällen lernen konnte, bereits auf der Polizeischule eingepaukt bekommen hatte, war ihm peinlich bewußt, daß er bisher keinerlei Gelegenheit gehabt hatte, sein Wissen in der Praxis anzuwenden. Während er auf die Chance wartete, seine unentdeckte Begabung zu zeigen, versuchte er auf jede nur mögliche Weise, sich die Erfahrungen seiner älteren Kollegen zunutze zu machen. Eine seiner Methoden war es, sooft wie möglich deren Gespräche mit anzuhören, was Kollberg bereits wahnsinnig machte. Zum anderen studierte er alte Berichte, und damit war er beschäftigt, als das Telefon klingelte.
Es meldete sich der Diensthabende aus der Empfangshalle.
»Ich hab hier einen Mann, der ein Verbrechen zur Anzeige bringen will«, sagte er etwas verwirrt. »Soll ich ihn raufschicken? Oder…«
»Ja, machen Sie das«, antwortete Kriminalassistent Skacke sofort.
Er legte den Hörer auf und ging auf den Flur hinaus, um den Besucher einzulassen. Dabei überlegte er, was der Mann wohl sagen wollte, als er ihn unterbrach. Oder? Vielleicht: Oder soll ich ihn bitten, zur Polizeiwache zu gehen? Skacke war ein empfindlicher junger Mann.
Der Besucher kam langsam und schleppend die Treppe herauf. Benny Skacke öffnete ihm die Glastür und wich unwillkürlich vor dem Gestank von Schweiß, Urin und billigem Schnaps zurück. Er ging voraus in sein Zimmer und zeigte auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Der Mann blieb jedoch noch einen Moment stehen und wartete, bis Skacke sich hingesetzt hatte.
Benny Skacke beobachtete den Mann auf dem Besucherstuhl. Er mochte zwischen fünfzig und fünfundfünfzig sein; Größe etwa einsfünfundsechzig. Er war sehr mager, wog sicher nicht mehr als fünfzig Kilo, hatte dünnes aschblondes Haar und trübe blaue Augen. Wangen und Nase waren von dünnen blauen Adern überzogen. Seine Hände zitterten, und ein Muskel am linken Augenlid zuckte unregelmäßig. Sein brauner Anzug war voller Flecke und an verschiedenen Stellen durchgescheuert, einige Löcher in der maschinengestrickten Weste unter der Jacke waren mit verschiedenfarbigen Fäden gestopft worden. Er roch nach Schnaps, schien aber nicht betrunken zu sein.
»Sie wollten eine Anzeige erstatten. Worum handelt es sich denn?«
Der Mann sah auf seine Hände hinunter. Nervös rollte er eine Zigarettenkippe zwischen den Fingern.
»Sie können hier gerne rauchen, wenn Sie wollen«, sagte Skacke und schob ihm über den Tisch eine Streichholzschachtel zu.
Der Mann nahm die Schachtel, steckte die Kippe an, hustete trocken und heiser und blickte hoch. »Ich hab meine Frau erschlagen.«
Benny Skacke streckte die Hand nach seinem Notizblock aus und sagte mit einer Stimme, die er selbst für ruhig und beherrscht hielt: »Aha. Und wo haben Sie das getan?«
Er wünschte sich sehnlichst, daß Martin Beck oder Kollberg dabeigewesen wären.
»Auf den Kopf.«
»Nein. So hab ich's nicht gemeint. Wo ist Ihre Frau denn jetzt?«
»Ach so. Zu Hause. Dansbanevägen.«
»Wie heißen Sie?« fragte Skacke.
»Gottfridsson.«
Benny Skacke schrieb den Namen auf den Block und lehnte sich nach vorn, die Unterarme hatte er auf die Tischplatte gestützt. »Herr Gottfridsson, wollen Sie bitte der Reihe nach erzählen, was passiert ist. Wie fing es an?«
Der Mann kaute auf seiner Unterlippe. »Ja, also, ich bin nach Hause gekommen, und da hat sie zu schimpfen angefangen. Ich war müde und hatte keine Kraft, mich mit ihr zu zanken. Ich hab sie gebeten, doch ruhig zu sein. Aber sie schrie und schimpfte weiter. Zum Schluß hab ich rot gesehen und sie am Hals gepackt, da fing sie an, um sich zu hauen, und ich hab ihr ein paar Mal kräftig auf den Kopf geschlagen. Da ist sie hingefallen und liegengeblieben. Nach 'ner Weile hab ich Angst gekriegt und hab sie geschüttelt, aber sie blieb einfach so da liegen.«
»Haben Sie einen Arzt angerufen?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Ich dachte, wenn sie nun tot ist, hat es ja doch keinen Zweck mehr mit dem Doktor.« Er schwieg einen Augenblick. Dann fuhr er fort: »Ich wollte ihr nicht weh tun. Ich bin bloß so wütend geworden; sie hätte mich nicht reizen sollen.«
Benny Skacke stand auf und holte seinen Mantel vom Haken an der Tür. Er war nicht sicher, was er mit dem Mann anfangen sollte. Während er den Mantel anzog, fragte er: »Warum sind Sie hierhergekommen und nicht zur Polizeiwache gegangen? Ganz in Ihrer Nähe liegt doch eine?«
Gottfridsson stand auf und zuckte die Achseln. »Ich dachte… ich hab geglaubt, solche Sachen… Mord und so was…«
Benny Skacke öffnete die Tür zum Flur. »Es ist das beste, wenn Sie jetzt mit mir kommen.«
Die Fahrt zu dem Haus, in dem Gottfridssohn wohnte, dauerte nur wenige Minuten. Der Mann saß schweigend da, und seine Hände zitterten ununterbrochen. Er ging die Treppe hinauf, und Skacke ließ sich die Schlüssel geben und öffnete die Wohnungstür.
Sie traten in eine kleine dunkle Diele mit drei Türen, die alle geschlossen waren. Skacke sah Gottfridsson fragend an.
»Da drin«, sagte der Mann und zeigte auf die linke Tür. Skacke schritt auf die Tür zu und öffnete sie.
Das Zimmer war leer. Die Möbel waren ungepflegt und staubig, schienen aber auf ihren angestammten Plätzen zu stehen, und er konnte keine Anzeichen eines Kampfes entdecken. Skacke drehte sich um und sah Gottfridsson an, der immer noch an der Wohnungstür stand.
»Hier ist niemand drin.«
Gottfridsson starrte ihn an. Langsam kam er auf die offene Tür zu, hob die Hand und zeigte in das Zimmer. »Aber… sie hat doch hier gelegen.« Verwirrt sah er sich im Zimmer um. Dann ging er quer durch die Diele und öffnete die Küchentür. Auch die Küche war leer.
Die dritte Tür gehörte zum Badezimmer. Aber auch hier gab es nichts Außergewöhnliches zu sehen.
Gottfridsson fuhr sich über das dünne Haar. »Aber ich hab sie doch da liegen sehen.«
»Das ist ja möglich. Aber sie war offenbar nicht tot. Wie sind Sie eigentlich zu dem Schluß gekommen?«
»Das sah man. Sie hat sich nicht bewegt und nicht geatmet. Und kalt war sie. Wie eine Leiche.« Er kratzte sich die Bartstoppeln. »Sie war vielleicht scheintot«, fügte er hinzu.
Skacke überlegte, ob der Mann ihn vielleicht zum Narren halten wollte und die ganze Geschichte erfunden hatte. Vielleicht hatte er überhaupt keine Frau. Außerdem schienen der Tod, die Wiederauferstehung und schließlich das Verschwinden seiner Frau den Mann nicht sonderlich aufzuregen. Er sah sich die Stelle auf dem Fußboden, wo die Tote gelegen haben sollte, genauer an. Blutspuren waren nicht vorhanden.
»Jedenfalls ist sie nicht hier«, sagte Skacke. »Wir sollten vielleicht mal bei den Nachbarn fragen.«
»Nein. Lieber nicht. Mit denen verstehen wir uns nicht so gut. Außerdem sind die um diese Tageszeit nicht zu Hause.«
Er ging in die Küche und setzte sich auf einen Stuhl. »Wo kann das verdammte Weibsbild nur sein?« brummte er vor sich hin.
In diesem Augenblick ging die Wohnungstür auf. Eine kleine rundliche Frau trat ein. Sie hatte einen Haushaltskittel und eine Strickjacke an und trug ein kariertes Kopftuch. In einer Hand hielt sie ein Einkaufsnetz.
Skacke wußte nicht, was er sagen sollte. Auch die Frau schwieg. Sie ging mit schnellen Schritten an ihm vorbei in die Küche.
»Aha. Du Schuft. Daß du dich nach Hause getraut hast«, legte sie los. Gottfridsson starrte sie an und öffnete den Mund, als ob er etwas sagen wollte. Seine Frau knallte das Netz auf den Küchentisch und rief: »Und was will der hier? In diesem Hause wird nicht gesoffen, damit du gleich Bescheid weißt. Dein Saufkumpan soll sofort verschwinden.«
»Entschuldigung«, begann Skacke unsicher. »Ihr Mann glaubte, daß ein Unglück…«
»Unglück!« schnaubte sie. »Bist selber 'n Unglück.« Sie drehte sich um und blickte Skacke feindselig an. »Ich wollte ihn nur ein bißchen erschrecken. So einfach nach Hause kommen, wenn man mehrere Tage auf Sauftour war, und gleich 'ne Schlägerei anfangen. Das hat mir gereicht.«
Die Frau nahm das Tuch ab. Er bemerkte einen kleinen blauen Fleck auf der Stirn, sonst schien sie keine Verletzungen zu haben.
»Wie geht es Ihnen?« fragte Skacke. »Sind Sie verletzt?«
»Ach was. Aber als er mich zu Boden geschlagen hat, bin ich liegengeblieben und hab so getan, als ob ich bewußtlos wäre.«
Sie wandte sich an ihren Mann. »Hast wohl Angst gekriegt, was?« Gottfridsson schielte verlegen zu Skacke und brummte vor sich hin.
»Wer sind Sie eigentlich?« fragte die Frau.
Skacke sah Gottfridsson an und antwortete kurz: »Polizei.«
»Polizei!« schrie Frau Gottfridsson.
Sie stemmte die Hände in die Hüften und beugte sich über ihren Mann, der mit jämmerlicher Miene auf seinem Stuhl kauerte.
»Bist du verrückt geworden?« schrie sie. »Die Polente herzuholen! Was hast du dir denn dabei gedacht?«
Sie richtete sich auf und wandte sich an Skacke: »Und Sie? Zu welcher Polizei gehören Sie denn? Hier einfach einzudringen. Zeigen Sie erst mal Ihre Polizeimarke, ehe Sie bei ehrlichen Leuten in die Wohnung kommen.«
Skacke holte eilig seinen Dienstausweis hervor.
»Kriminalaspirant, was?«
»Kriminalassistent«, verbesserte Skacke.
»Was für kriminelle Sachen haben Sie denn hier erwartet, häh? Ich hab nichts verbrochen und mein Mann auch nicht.«
Sie stellte sich neben Gottfridsson und legte schützend den Arm um seine Schulter. »Hat er einen Durchsuchungsbefehl, daß er hier so einfach in unser Heim reinplatzen kann? Hat er dir irgendein Papier gezeigt, Ludwig?« Gottfridsson schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Skacke machte einen Schritt vorwärts und öffnete den Mund, doch Frau Gottfridsson kam ihm zuvor:
»Sehen Sie zu, daß Sie hier rauskommen, sonst zeige ich Sie wegen Hausfriedensbruch an. Hauen Sie ab, ehe ich wütend werde.«
Skacke sah den Mann an, drehte den Eheleuten den Rücken zu und machte sich leicht erschüttert auf den Weg zum Polizeigebäude.
Martin Beck und Kollberg waren noch nicht aus der Kungsholmsgatan zurück.
Sie saßen immer noch in Melanders Zimmer und hatten das Band mit dem Verhör vor dem Untersuchungsrichter noch einmal abspielen lassen, diesmal in Gegenwart von Hammar, der am Nachmittag hereingeschaut und gefragt hatte, ob sie mit der Sache weitergekommen wären.
Der Rauch von Martin Becks Zigaretten und Hammars Zigarren hing wie ein Nebelschleier im Raum, und Kollberg trug weiter zur Luftverunreinigung bei, indem er abgebrannte Streichhölzer und leere Zigarettenpackungen im Aschbecher verbrannte. Rönn trieb die Sache auf die Spitze, indem er ein Fenster öffnete und die am schlimmsten verschmutzte Großstadtluft von ganz Nordeuropa einließ. Hustend sagte Martin Beck: »Wenn wir die Theorie aufrechterhalten wollen, daß es sich um Brandstiftung mit Todesfolge handelt, wird die Fahndung durch die Tatsache erschwert, daß alle Zeugen im Krankenhaus liegen und nicht vernehmungsfähig sind.«
»Ich glaube zwar immer noch nicht an Brandstiftung«, meinte Hammar, »aber wir dürfen keine vorschnellen Schlüsse ziehen, ehe Melander nicht an der Brandstelle fertig ist und das Ergebnis des Kriminaltechnischen Laboratoriums nicht vorliegt.«
Das Telefon klingelte. Kollberg streckte die Hand nach dem Hörer aus und legte gleichzeitig ein leeres Streichholzheft auf den glühenden Haufen im Aschenbecher. Er hörte etwa eine halbe Minute zu.
»Was?« rief er laut und so merkbar verblüfft, daß die anderen sofort aufhorchten.
»Danke«, sagte Kollberg und legte den Hörer auf.
Er starrte Martin Beck geistesabwesend an und erklärte: »Ich habe eine freudige Überraschung für euch. Göran Mahn ist nicht bei dem Brand umgekommen.«
»Wie meinst du das?« fragte Hammar. »War er denn nicht im Haus?«
»Doch. Er ist sogar buchstäblich an der Matratze festgebrannt. Der Anruf kam vom Obduzenten selbst. Nur sagt er, daß Mahn schon mausetot war, als das Haus zu brennen anfing.«