Mittwoch, den 13. März, durfte Gunvald Larsson nachmittags zum erstenmal aus seinem Bett im Süd-Krankenhaus aufstehen. Er zwängte sich mühsam in den Kittel, den das Krankenhaus seinen Patienten zur Verfügung stellte, und betrachtete sich mißmutig und mit hochgezogenen Augenbrauen im Spiegel. Der Kittel war einige Nummern zu klein und die Farbe durch häufiges Waschen undefinierbar geworden. Dann blickte er hinunter auf seine Füße. Die steckten in einem Paar Holzschuhen, die entweder für Goliath persönlich oder als Aushängeschild für eine Pantoffelfabrik hergestellt worden waren.
Sein Kleingeld lag in einem Fach des Nachttisches. Er suchte einige Zehn-Öre-Stücke heraus und ging zum nächsten Telefon für Patienten. Während er die Nummer des Polizeigebäudes wählte, zog er geistesabwesend an dem Ärmel des unbequemen Kleidungsstückes. Er ließ sich nicht einen Millimeter strecken. »Hallo«, meldete sich Rönn. »Ach so, du bist's. Wie geht's dir denn?«
»Gut. Wie bin ich überhaupt hierher gekommen?«
»Ich hab dich hingefahren, du warst halb am Umkippen.«
»Ich kann mich nur noch daran erinnern, daß ich mir ein Bild von Zachrisson angesehen habe.«
»Ja, das war vor fünf Tagen. Was machen deine Hände?«
Gunvald Larsson blickte auf seine rechte Hand und bewegte prüfend die Finger. Die Hand war sehr groß und dicht mit langen blonden Haaren bewachsen. »Scheint in Ordnung zu sein. Nur ein paar Pflaster.«
»Ja, dann ist's ja gut.«
»Mußt du jeden Satz mit ›ja‹ anfangen?« fragte Gunvald Larsson irritiert. Rönn antwortete nicht.
»Ja, Einar?«
»Ja, was ist denn?« Rönn kicherte.
»Warum lachst du?«
»Nichts. Was wolltest du?«
»In der mittleren Schublade hinten ganz links in meinem Schreibtisch liegt ein Portemonnaie aus schwarzem Leder. Darin liegen meine Reserveschlüssel. Fahr raus nach Bollmora und hol meinen weißen Bademantel und die weißen Pantoffeln. Der Mantel hängt im Schrank, und die Pantoffeln stehen in der Diele, gleich hinter der Tür.«
»Ja. Kann ich machen.«
»Auf der Kommode im Schlafzimmer liegt eine NK-Tüte mit einem Schlafanzug.
Bring den auch mit.«
»Willst du die Sachen sofort haben?«
»Ja. Die Idioten hier wollen mich nicht vor übermorgen entlassen; sie haben mir einen graubraungrünblauen Kittel gegeben, der elf Nummern zu klein ist, und ein Paar Botten, die reinsten Särge. Was ist denn bei euch so los?«
»Na ja, nichts Besonderes.«
»Was machen Beck und Kollberg?«
»Sind nicht hier. Haben sich nach Västberga zurückgezogen.«
»Schön. Und wie steht's mit der Untersuchung?«
»Welcher Untersuchung?«
»Über das Feuer natürlich.«
»Die ist abgeschlossen.«
»Was soll das heißen?« rief Gunvald Larsson. »Verdammt noch mal, was sagst du? Abgeschlossen?«
»Ja. War ein Unglücksfall!«
»Unglücksfall?«
»Ja. Mehr oder weniger… verstehst du, mit der Untersuchung am Brandplatz sind sie heute morgen fertig geworden und…«
»Was redest du für 'n Unsinn! Bist du besoffen?«
Gunvald Larsson sprach so laut, daß die Stationsschwester eilig über den Flur gelaufen kam.
»Nein. Versteh doch. Dieser Malm…«
»Herr Larsson«, unterbrach die Stationsschwester mahnend, »so geht das aber nicht.«
»Halt die Schnauze«, erwiderte Gunvald Larsson, ohne zu überlegen.
Die Stationsschwester war etwa fünfzig Jahre alt, eine rundliche Dame mit energischem Gesichtsausdruck. Sie sah den Patienten eiskalt an und sagte scharf: »Legen Sie sofort den Hörer auf. Sie haben offensichtlich viel zu früh die Erlaubnis zum Aufstehen erhalten. Ich werde gleich mit dem Doktor reden.«
»Ja, ich komme dann, so schnell ich kann«, hörte er Rönn ins Telefon sagen.
»Die Papiere bring ich mit, du kannst dann selbst sehen.«
»Marsch ins Bett, Herr Larsson«, befahl die Stationsschwester.
Gunvald Larsson öffnete den Mund, um ihr zu antworten, besann sich aber eines Besseren.
»Wiedersehen«, sagte Rönn.
»Wiedersehen«, entgegnete Gunvald Larsson leise.
»Marsch ins Bett. Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe?«
Sie beobachtete ihn, bis die Tür in seinem Zimmer von innen zugeschlagen wurde.
Gunvald Larsson trottete wütend zum Fenster. Das lag an der Nordfront, und er konnte beinah den ganzen Stadtteil Södermalm überblicken. Als er genau hinsah, entdeckte er sogar die Spitze des rußigen Schornsteins, der auf der Brandstelle stehengeblieben war.
»Was meinen die bloß mit Dampfboot?« murmelte er leise vor sich hin, und kurz danach: »Die sind wohl alle verrückt geworden, Rönn und der ganze Haufen.«
Schritte näherten sich auf dem Korridor.
Gunvald Larsson legte sich gehorsam ins Bett und versuchte, freundlich und harmlos auszusehen.
Das strengte ihn gewaltig an.
Zweieinhalb Kilometer davon entfernt legte Rönn den Hörer auf und fuhr schmunzelnd mit dem Zeigefinger über seine rote Nase, so als ob er einen Lachanfall verhindern wollte. Melander, der ihm gegenübersaß und auf seiner altersschwachen Schreibmaschine tippte, blickte auf, nahm die Pfeife aus dem Mund und fragte: »Worüber freust du dich denn so?«
»Gunvald«, antwortete Rönn und versuchte glucksend sein Gelächter zu unterdrücken. »Er scheint sich auf dem Wege der Besserung zu befinden. Du hättest ihn hören sollen, wie er über die Kleidungsstücke sprach, die sie ihm da gegeben haben. Und dann kam eine Schwester und hat ihn ausgeschimpft.«
»Was hat er denn zu der Sache mit Malm gesagt?«
»Er war wütend. Brüllte und tobte.«
»Willst du zu ihm hinfahren?«
»Ja, klar.«
Melander schob einen gehefteten Bericht über den Tisch. »Nimm ihm das mit. Vielleicht ist er dann zufrieden.«
Rönn saß eine Weile schweigend da, dann fragte er: »Legst du einen Zehner für Blumen dazu?«
Melander tat, als ob er nicht gehört hätte.
»Na, dann einen Fünfer«, sagte Rönn nach einer Minute. Melander beschäftigte sich mit seiner Pfeife.
»Einen Fünfer«, wiederholte Rönn hartnäckig.
Ohne eine Miene zu verziehen, nahm Melander seine Brieftasche und besah sich den Inhalt, hielt sie aber so, daß Rönn nicht sehen konnte, wieviel darin war. Schließlich sagte er: »Kannst du auf einen Zehn-Kronen-Schein rausgeben?«
»Klar, kann ich.«
Melander sah Rönn ausdruckslos an. Dann zog er einen Fünf-Kronen-Schein heraus und legte ihn oben auf den Untersuchungsbericht. Rönn steckte das Geld und die Papiere ein und ging zur Tür.
»Du, Einar«, sagte Melander.
»Ja?«
»Wo willst du die Blumen kaufen?«
»Weiß ich nicht.«
»Geh nicht zum Kiosk vor dem Krankenhaus. Die hauen dich übers Ohr.« Rönn ging. Melander sah auf die Uhr und schrieb:
Vorgang abgeschlossen. Weitere Maßnahmen werden nicht ergriffen. Stockholm, Mittwoch, den 13. März. Uhrzeit 14.30.
Er zog den Bogen aus der Maschine, angelte nach seinem Füllfederhalter und ergänzte die Akte mit einer total unleserlichen Unterschrift. Sie war so klein und krakelig, daß Kollberg zu sagen pflegte, sie sähe aus wie drei tote Mücken vom letzten Sommer. Dann legte er den Schnellhefter in den Kasten für die Hauspost, um den Bericht kopieren zu lassen. Bog eine Heftklammer auf, nahm eine neue Pfeife und begann darin zu kratzen.
Melander war bei seinen Berichten sehr genau. Er arbeitete sie ganz aus dem Gedächtnis und bestand darauf, daß alles auf dem Papier festgehalten wurde. Das gehörte zu seinem System. Einzelheiten kann man besser behalten, wenn man sie einmal klar und eindeutig formuliert hat, behauptete er. Er vergaß nie etwas, was er niedergeschrieben hatte. Andere Dinge vergaß er übrigens auch selten.
Das Feuer in der Sköldgatan hatte ihn genau fünf Tage Arbeit gekostet, von Freitag nachmittag bis zum Mittwoch. Da er eigentlich nicht vorgehabt hatte, am Wochenende zu arbeiten, freute er sich jetzt auf vier hintereinanderliegende freie Tage.
Hammar hatte schon sein Einverständnis gegeben, natürlich mit der Einschränkung: sofern nichts Besonderes passierte. War es noch zu früh, ins Sommerhaus nach Värmdö hinauszufahren? Kaum! Er konnte die Innenwände streichen, während seine Frau das Schrankpapier in den Küchenregalen erneuerte. Das Sommerhaus war sein ganzer Stolz. Er hatte es von seinem Vater geerbt, der auch bei der Polizei, genauer gesagt, Oberkonstabler in Nacka gewesen war, und sein einziger Kummer war, daß er selbst keine Kinder hatte, denen er das Haus zu gegebener Zeit vermachen konnte. Das Leben ohne Kinder war andererseits selbst gewählt. Eine Übereinkunft, zu der er und seine Frau zum Teil aus Bequemlichkeit, zum Teil nach eingehenden wirtschaftlichen Überlegungen gekommen waren. Damals hatte man noch nicht absehen können, daß die Löhne der höheren Polizeibeamten so schnell steigen würden, und außerdem war er sich immer über die Risiken, die sein Beruf mit sich brachte, im klaren gewesen und hatte sich danach gerichtet.
Er war mit der Reinigung der Pfeife fertig, stopfte sie und steckte sie an. Dann stand er auf und ging auf die Toilette. Er hoffte, daß das Telefon nicht klingeln würde, solange er es noch hören konnte.
Im Untersuchen eines Tatortes hatte Fredrik Melander zu dieser Zeit wohl mehr Erfahrung als jeder andere aktive Kriminalbeamte des Landes. Er war achtundvierzig Jahre alt und hatte seine erste Ausbildung bei Spezialisten wie Harry Söderman und Otto Wendel erhalten. Während der Jahre bei der Reichsmordkommission, die damals zur Staatlichen Polizei gehörte, und später bei der Fahndungsbehörde der Stockholmer Polizei, wohin er sich nach der Verstaatlichung der gesamten Polizei am 1. Januar 1965 hatte versetzen lassen, hatte ihn seine Arbeit an viele hundert Tatorte jeder nur möglichen Art geführt. Der überwiegende Teil davon hatte wenig erfreulich ausgesehen. Aber Melander war nicht der Mann, der sich davon aus dem seelischen Gleichgewicht bringen ließ. Er hatte die Gabe, zu seiner Arbeit den nötigen Abstand zu wahren. Viele Kollegen beneideten ihn darum, ihm selbst kam das jedoch nie zum Bewußtsein.
Aus diesem Grund hatte auch das, was er in der Sköldgatan gesehen hatte, sein Gefühlsleben nicht nennenswert gestört.
Die Arbeit auf der Brandstelle erforderte Ausdauer und systematisches Vorgehen. Zuerst mußte festgestellt werden, wie viele Personen im Feuer umgekommen waren. Nach und nach fand man drei Körper, die als die Leichen von Kristina Modig, Kenneth Roth und Göran Malm identifiziert wurden. Das hatte man erwartet. Alle drei waren stark verbrannt. Malm zum Teil verkohlt. Sein Körper wurde zuletzt gefunden, als man sich endlich zu der untersten Schicht der Ruine durchgearbeitet hatte. Die kleine Modig lag im westlichen Teil des Hauses, der vergleichsweise die wenigsten Schäden aufwies. Die beiden Männer befanden sich im vollständig zerstörten östlichen Teil, wo der Brand offenbar entstanden war. Kristina Modig war gerade vierzehn Jahre alt gewesen und noch zur Schule gegangen. Kenneth Roth und Göran Mahn waren zum Zeitpunkt ihres Todes siebenundzwanzig beziehungsweise zweiundvierzig Jahre alt. Beide waren vorbestraft und schienen keinen festen Arbeitsplatz gehabt zu haben. Alles das war im großen und ganzen schon vorher bekannt gewesen.
Der zweite Teil der Untersuchungen sollte die Fragen nach der Todesursache und der Entstehung des Feuers klären.
Die Beantwortung der ersten Frage war Sache des Obduzenten beim Staatlichen Gerichtsmedizinischen Institut. Über die zweite Frage mußte sich Melander den Kopf zerbrechen. Er hatte zwar mehrere Experten von der Feuerwehr und vom Kriminaltechnischen Labor zur Verfügung, von denen aber wenig zu holen war. Ihr hauptsächlicher Beitrag zur Untersuchung waren fragende Gesichter und tiefe Falten auf der Stirn.
Melander ließ mehrere hundert Fotografien anfertigen. Sobald einer der Körper gefunden und freigelegt wurde, Kristina Modig am Tag nach dem Brand, Kenneth Roth am Sonntag und Göran Malm erst am Montagnachmittag, ließ er sie von allen Seiten fotografieren und schickte erst danach die Überreste zur Obduktion.
Es waren keine besonders schönen Leichen, aber da der Verbrennungsprozeß vergleichsweise kurz gewesen war und der Körper des Menschen zu neunzig Prozent aus Flüssigkeit besteht, waren sie noch gut erhalten, und die Gerichtsmediziner hatten ausreichend Material für ihre Arbeit.
Die ersten Gutachten brachten denn auch keine Überraschungen. Kristina Modig war an Kohlenoxidvergiftung gestorben. Sie hatte ein Nachthemd angehabt und in ihrem Bett gelegen. Alles wies darauf hin, daß sie im Schlaf erstickt war. In ihren Atmungsorganen und in den Luftwegen wurden Rußpartikel gefunden.
Bei Kenneth Roth verhielt es sich ebenso, abgesehen davon, daß er unbekleidet und bei Bewußtsein gewesen war. Bei dem Versuch, sich zu retten, hatte er sich schwere Brandwunden zugezogen. Auch er hatte den erstickenden Rauch eingeatmet und hatte Ruß in der Kehle, im Hals und in der Lunge. Nur bei Göran Malm lag der Fall anders.
Außerdem gab es weitere, mehr augenfällige Unterschiede. Malm war zwar liegend auf seinem Bett gestorben, aber soviel man erkennen konnte, war er vollständig angekleidet gewesen. Vieles deutete darauf hin, daß er nicht nur Unterwäsche, Hosen und Jackett, sondern auch Strümpfe, Schuhe und Mantel angehabt hatte. Der Körper war stark verkohlt und lag in der sogenannten Fechterstellung, eine Erscheinung, die durch die hitzebedingte Kontraktion der Muskeln ausgelöst wird. Alles deutete darauf hin, daß der Brand in seiner Wohnung entstanden war, aber nichts, daß er etwas davon bemerkt oder sich zu retten versucht hatte.
Was die Brandursache betraf, hatte Melander schon während des Gesprächs am Freitagnachmittag mit Kollberg und Martin Beck seine eigene Theorie gehabt. Es wäre ihm jedoch nicht im Traum eingefallen, damit herauszurücken. Das Feuer hatte mit einer Art Explosion begonnen und sich dann sehr schnell ausgebreitet. Melander war fest überzeugt, daß die Explosion durch einen Glutbrand verursacht worden war, ein schwelendes Feuer ohne Flammen, das vielleicht schon stundenlang gebrannt hatte, bevor die Temperatur so anstieg, daß die Fenster zersprangen. Zu der Zeit konnte Göran Mahn sehr gut schon ein paar Stunden tot, konnten die meisten Einrichtungsgegenstände geschmolzen oder verkohlt gewesen sein, ebenso wie die ersten Schichten des Fußbodens, der Decke und der Wände. Die unerhörte Heftigkeit des Feuers und die »Explosion«, die Gunvald Larsson wahrgenommen zu haben angab, konnten damit zu erklären sein, daß die frische Luft, die durch das erste gesprengte Fenster hereinströmte, das Feuer erst richtig angefacht hatte. Natürlich konnten auch Gasflaschen, Sprengstoff oder leichtentzündbare Flüssigkeiten, wie Benzin oder Alkohol, in einer Sekundärexplosion mit hochgegangen sein. Ein sanfter Schwelbrand konnte viele Ursachen haben, zum Beispiel eine weggeworfene Kippe, ein Funke aus dem Ofen, ein vergessenes Bügeleisen, ein Toaströster, ein Kurzschluß in der elektrischen Leitung; es gab Hunderte von möglichen Erklärungen, und die meisten schienen durchaus plausibel. Diese Schlußfolgerungen hatten jedoch alle einen Haken, und deshalb behielt Melander sie für sich. Wenn das Feuer so lange geschwelt haben sollte, daß sowohl die Wohnungseinrichtung und Malm selbst verkohlt waren, hätte die Hitze normalerweise so stark sein müssen, daß sie in der Wohnung darüber, in der sich immerhin viele Menschen aufhielten, bemerkt worden wäre. Andererseits sprach nichts dagegen, daß diese vier geschlafen oder unter dem Einfluß von Alkohol oder Narkotika gestanden hatten und deshalb nichts gemerkt hatten. Und die vier zu verhören war nicht seine Sache. Wie man den Fall auch immer drehen und wenden mochte, es gab da einige dunkle Punkte.
Am Dienstag nahm Melander vor einer Wurstbude auf dem Ringvägen ein kurzes Mittagessen zu sich. Als er um zwei Uhr zur Brandstelle zurückkehrte, wurde er von einem motorisierten Melder erwartet, der ihm ein braunes Kuvert überreichte. Der Umschlag enthielt eine kurze Mitteilung von Kollberg: Vorläufiger telefonischer Obduktionsbericht: Malm ist vor Ausbruch des Feuers an einer Kohlenoxidvergiftung gestorben. Keine Spuren von Ruß in den Atemwegen und der Lunge.
Melander las den Text dreimal durch. Dann begann er mit hochgezogenen Augenbrauen seine Pfeife zu stopfen. Er wußte, wonach er Ausschau zu halten hatte. Und wo er mit seiner Suche beginnen sollte.
Es dauerte nicht lange, bis er fand, was er suchte.
Man legte mit unendlicher Sorgfalt frei, was fünf Tage vorher Göran Malms Küche gewesen war. Darin fand sich ein altertümlicher, eiserner zweiflammiger Gasbrenner, der auf einem mit Linoleum belegten Spültisch gestanden hatte. Als die Platte durchgebrannt war, war der Herd heruntergefallen. Auch die Dielen und die Zwischenbretter waren zerstört, und die Reste des halbgeschmolzenen Herdes lagen in einer Vertiefung ungefähr 60 Zentimeter unter der ursprünglichen Fußbodenhöhe. Der Herd war stark deformiert, aber die beiden Messinghähne waren noch gut erhalten. Beide Hähne waren geschlossen. Der Herd war durch einen Gummischlauch mit der Gasleitung verbunden gewesen. Von dem war nicht viel übriggeblieben, nur noch so viel, daß man erkennen konnte, daß er rot gewesen war und einen Durchmesser von zwanzig Millimetern gehabt hatte. Er war an einem Mundstück befestigt gewesen, das seinerseits auf das eigentliche Rohr aufgeschraubt worden war. Aus Sicherheitsgründen war das Mundstück mit einem zwei Millimeter hohen Falz versehen, über den der Schlauch gezogen werden sollte, und hinter dem Falz sollte sich eine Klammer aus galvanisiertem Blech befinden, die mit einer Schraube und einer Mutter festzuziehen war. Sinn dieser Anordnung war, daß der Schlauch nicht versehentlich vom Mundstück losgerissen werden konnte. Als zusätzliche Sicherung befand sich auf dem Mundstück ein Haupthahn, zwischen dem Gewinde und dem Falz. Dieser Hahn stand offen, und die Klammer, die den Schlauch vor dem Falz festpressen sollte, war verschwunden. Für ihr Fehlen gab es keine natürliche Erklärung, auch wenn der Gummischlauch verbrannt war, hätte sich die Klammer oder mindestens Teilchen davon am Mundstück befinden müssen, da sie technisch gesehen nicht über den Falz geschoben werden konnte. Sofern nicht die Schraube entfernt worden war.
Melander und seine Leute brauchten beinahe drei Stunden, um die Klammer zu finden. Sie war wie erwartet aus galvanisiertem Blech und lag genau 2,46 Meter vom Mundstück der Gasleitung entfernt. Sie war nicht nennenswert deformiert, und sowohl die Schraube als auch die Mutter waren noch vorhanden. Die Mutter hing allerdings am äußersten Ende des Gewindes, was darauf hindeutete, daß jemand die Schraube aufgeschraubt und die Klammer so weit geöffnet hatte, daß sie über den Falz gezogen werden konnte. Neben der Klammer fand man einen Gegenstand, der bei flüchtigem Hinsehen wie ein verbogener Nagel aussah, der aber, wie sich bei näherer Untersuchung herausstellte, der Rest eines Schraubenziehers war, dessen Holzgriff verbrannt war.
Melander richtete seine Aufmerksamkeit nun auf einen anderen Punkt:
In der Wohnung hatte es zwei Wärmequellen gegeben, einen Kachelofen und einen kleinen eisernen Ofen. Bei beiden waren die Luftklappen geschlossen. Die Tür zum Treppenhaus war völlig zerstört, ebenso der Rahmen, aber das Schloß fanden sie. Der Schlüssel steckte auf der Innenseite, natürlich im Schloß festgeschmolzen, aber trotzdem ein deutlicher Beweis dafür, daß die Tür von innen verschlossen worden war; zudem war er zweimal im Schloß umgedreht worden.
Die einsetzende Dunkelheit machte weitere Suche unmöglich; Melander ging mit neuen Theorien im Kopf nach Hause in seine peinlich ordentliche Wohnung in der Polhemsgatan. Dort warteten das Abendessen, einige Stunden vor dem Fernseher und als Krönung des Ganzen zehn Stunden traumloser Schlaf. Als er in die Tür trat, hatte seine Frau schon den Tisch in der Küche gedeckt und das Abendessen bereitet. Braune Bohnen mit gebratener Fleischwurst. Die Pantoffeln standen auf ihrem Platz vor dem Fernseher, und das Bett schien nur auf seinen Herrn zu warten.
Nicht schlecht, dachte Melander.
Seine Frau war geizig, häßlich und grob gebaut, einsdreiundachtzig groß, mit Plattfüßen und Hängebrüsten. Sie war fünf Jahre jünger als er und hieß Saga. Er fand sie ausgesprochen hübsch, eine Meinung, die er seit zweiund-zwanzig Jahren nicht geändert hatte. Eigentlich hatte sie sich in dieser Zeit auch nicht wesentlich verändert, wie damals wog sie ohne Kleider zweiundachtzig Kilo, hatte Schuhgröße 44, und ihre Brustwarzen waren immer noch klein und rosa und spitz wie der Radiergummi an einem neuen Bleistift.
Als sie sich ins Bett gelegt und das Licht ausgemacht hatten, nahm er ihre Hand und fragte: »Liebling?«
»Ja, Fredrik?«
»Dieses Feuer war ein Unglücksfall.«
»Bist du sicher?«
»Ja, so gut wie.«
»Wie schön. Ich liebe dich!« Dann schliefen sie ein.
Am nächsten Morgen sah sich Melander die Fenster in Göran Malms Wohnung genauer an. Die Scheiben waren natürlich weg, ebenso die Rahmen, aber die Angeln fand er zwischen Asche, Glassplittern, Ziegelsteinstücken und anderem Gerumpel. Einige hingen immer noch an den verkohlten Pfosten. Alle waren ordentlich von innen eingehängt. Der größte Teil des ostwärtigen Giebels war bei der Explosion nach außen gedrückt und in Stücke gerissen worden, aber Teile dieser Wand waren nicht ganz so verkohlt wie die übrigen Reste des Gebäudes.
Hier fand er noch zwei wichtige Dinge.
Erstens ein Stück Holzrahmen von Malms Giebelfenster. An der gesamten Kante befand sich ein klebriger gelbgrauer Belag. Er hatte nicht die geringsten Zweifel, daß es sich hier um Reste eines Klebestreifens zum Abdichten von Fugen handelte.
Zweitens einen Luftabzug, der in die Giebelwand eingelassen gewesen war. Der Abzug war mit Putzwolle und den Resten eines Handtuches verstopft worden.
Damit war die Sache klar. Göran Malm hatte Selbstmord begangen. Er hatte die Tür abgeschlossen und alle Fenster fest zugemacht, die Luftklappen der Öfen geschlossen und den Abzug verstopft. Außerdem hatte er die Fensterritzen mit Klebestreifen abgedichtet. Um die Sache schnell und schmerzlos zu machen, hatte er mit einem Schraubenzieher die Klammer, die den Gasschlauch am Mundstück festhielt, abgeschraubt und den Schlauch abgezogen. Dann hatte er den Haupthahn geöffnet und sich aufs Bett gelegt. Das Gas war schnell aus der relativ großen Öffnung ausgeströmt, er war nach wenigen Minuten bewußtlos geworden, und es hatte keine Viertelstunde gedauert, bis er tot war. Das Kohlenoxid in seinem Blut stammte also von der Gasvergiftung, und mit großer Wahrscheinlichkeit war er bereits ein paar Stunden tot gewesen, als das Feuer ausbrach. Die ganze Zeit war das Gas aus der Hauptleitung geströmt. Die Wohnung war in eine echte Bombe Verwandelt worden, und der kleinste Funke hatte ausgereicht, um eine gewaltige Gasexplosion zu verursachen und das Haus in Brand zu setzen.
Melanders letzte Tätigkeit am Brandplatz war, den stark beschädigten Gaszähler zu untersuchen und die Zahlen des Rechenwerkes zu kontrollieren. Dadurch erhielt er einen weiteren Beweis für die Richtigkeit seiner Theorie. Dann fuhr er in die Kungsholmsgatan und legte sein Ergebnis vor.
Die Fakten waren eindeutig.
Hammar war begeistert und sparte nicht mit Lob.
Kollberg dachte, hab ich ja gleich gesagt, und sprach es dann auch aus. Danach machte er sich auf den Rückweg in die relativ ruhigen Diensträume in Västberga.
Martin Beck sah nachdenklich vor sich hin, erkannte aber die Tatsachen an und nickte zustimmend.
Rönn seufzte erleichtert.
Die Voruntersuchung wurde für beendet erklärt, und die Ermittlungen wurden eingestellt.
Melander selbst war zufrieden.
Technisch gesehen gab es nur eine offene Frage, dachte er. Aber darauf gab es Hunderte von möglichen Antworten, und die richtige herauszufinden war nicht nur unnötig, sondern so gut wie unmöglich.
Als er die Toilette verließ, hörte er irgendwo in seiner Nähe ein Telefon klingeln, wahrscheinlich das auf seinem eigenen Schreibtisch, aber er kümmerte sich nicht darum.
Er ging in die Garderobe, um seinen Mantel zu holen, und begann damit seinen wohlverdienten Vier-Tage-Urlaub.
Zehn Minuten früher war die rothaarige Madeleine Olsen gestorben. Vierundzwanzig Jahre alt und nach fünfeinhalb Tagen entsetzlichen Leidens.