Am Dienstag, dem 19. März, um die Mittagszeit, war Gunvald Larsson kurz davor, die ganze Sache aufzugeben. Er wußte, daß ein Teil dessen, was er in den letzten Tagen unternommen hatte, alles andere als vorschriftsmäßig gewesen war, und bis jetzt hatte er nichts erreicht, was seine Handlungsweise rechtfertigen konnte. Tatsächlich war ihm weder gelungen, die geringste Verbindung zwischen Göran Mahn und den übrigen Personen, die sich zur Zeit des Brandes im Haus befunden hatten, nachzuweisen, noch war er einen Schritt auf der Suche nach dem Funken, der das Gas gezündet hatte, weitergekommen.
Der Besuch im Süd-Krankenhaus am Vormittag hatte nichts anderes als die einfache Bestätigung dessen gebracht, was man früher schon als wahrscheinlich angenommen hatte. Kristina Modig hatte auf dem Dachboden gewohnt, weil die Wohnung der Mutter zu klein gewesen war und Kristina nicht von den kleineren Geschwistern gestört sein wollte. Das Mädchen hatte, vermutlich nicht den besten Ruf gehabt, aber das konnte die Polizei nicht interessieren. Als Minderjährige wäre sie höchstens ein Fall für das Jugendamt gewesen, außerdem gingen die Behörden immer mehr dazu über, jüngere Mädchen, die auf die schiefe Bahn kamen, ihrem Schicksal zu überlassen. Die Zahl der Gestrauchelten war zu hoch und die der Sozialhelfer zu gering, die Hilfsmöglichkeiten reichten entweder nicht aus oder waren veraltet. In vielen Fällen taten die Kinder was sie wollten, was wiederum dem Land international einen schlechten Ruf einbrachte und die Lehrer und Eltern zur Verzweiflung brachte. Aber jedenfalls ging das die Polizei, wie gesagt, nichts an.
Daß Anna-Kajsa Modig dringend psychotherapeutische Hilfe brauchte, konnte sogar ein so relativ gefühlloser Mann wie Gunvald Larsson erkennen. Sie konnte sich nicht konzentrieren, und er hatte es schwer, ein Gespräch mit ihr zu führen. Sie wurde von Kälteschauern geschüttelt, und zwischendurch fing sie immer wieder an zu weinen. Er erfuhr, daß sich auf dem Dachboden ein Petroleumofen befunden hatte, aber das wußte er bereits. Das Gespräch war sinnlos, aber er blieb trotzdem da, bis der Arzt die Geduld verlor und ihn fortschickte.
Aus der Wohnung in der Timmermansgatan, in der Max Karlsson wohnen sollte, hörte er kein Lebenszeichen, obwohl er energisch mit dem Fuß gegen die Tür trat. Wahrscheinlich war es ganz einfach so, daß niemand zu Hause war.
Gunvald Larsson fuhr nach Hause nach Bollmora, band sich eine karierte Schürze um und ging in die Küche, wo er eine Mahlzeit aus Eiern, Schinken und Bratkartoffeln zubereitete. Dann goß er sich eine Kanne Tee auf. Als er gegessen und abgewaschen hatte, war es bereits drei Uhr.
Er stand eine Weile am Fenster und starrte auf die Hochhäuser in dem sauberen, aber unendlich langweiligen Vorort. Dann ging er hinunter zum Auto und fuhr wieder in die Timmermansgatan.
Max Karlsson wohnte im ersten Stock eines alten, aber gepflegten Hauses. Gunvald Larsson parkte seinen Wagen drei Straßen weiter, weniger aus Vorsicht, sondern weil er keinen besseren Parkplatz fand. Er ging mit langen, schnellen Schritten zurück und war nur noch zehn Meter von der Haustür entfernt, als er eine Person bemerkte, die von der entgegengesetzten Seite kam. Ein Mädchen, dreizehn oder vierzehn Jahre alt, wie tausend andere, mit langen, offenen Haaren, engen Niethosen und Steppjacke. Sie trug eine verschlissene Ledertasche in der Hand und kam wahrscheinlich direkt aus der Schule, so ausgesprochen durchschnittlich vom Typ und der Kleidung her, daß er sie sicher nicht bemerkt hätte, wenn sie sich nicht immer wieder mit einer Mischung von Unruhe und schuldbewußter Spannung umgesehen hätte. Als sie ihn bemerkte, zögerte sie einen Moment und wurde unsicher, deshalb ging er geradeaus weiter, an ihr und der Haustür vorbei. Das Schulmädchen warf den Kopf in den Nacken und verschwand im Hauseingang. Gunvald Larsson blieb stehen, drehte sich um und folgte ihr. Trotz seines Körpergewichts bewegte er sich schnell und leise, und als das Mädchen bei Karlsson anklopfte, hatte er bereits die halbe Treppe hinter sich. Sie klopfte viermal hintereinander, offenbar eine Art Erkennungszeichen, und er bemühte sich, den Rhythmus zu erinnern, was ihm dadurch erleichtert wurde, daß sie gleich noch einmal klopfte, nach einer Pause von fünf oder sechs Sekunden. Unmittelbar nach dem zweiten Klopfen wurde die Tür geöffnet.
Er hörte, wie jemand eine Sicherheitskette zurückzog und die Tür sofort wieder verschlossen wurde. Es wurde kein Wort gesprochen, solange die Tür offen war. Er ging zurück zum Eingang, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und wartete.
Nach zwei oder drei Minuten wurde die Tür oben wieder geöffnet, dann hörte er leichte Schritte die Treppe herunterkommen. Offenbar war es ein schnelles Geschäft gewesen, denn als das Mädchen unten ankam, fingerte es immer noch an dem Verschluß am Außenfach der Schultasche. Gunvald Larsson streckte den Arm aus und ergriff ihr Handgelenk. Sie stand ruckartig still und starrte ihn an, sie versuchte weder um Hilfe zu rufen noch sich loszureißen oder wegzulaufen. Sie schien nicht einmal Angst zu haben. Wirkte eher ergeben, so als ob sie damit gerechnet hätte, daß etwas Ähnliches früher oder später passieren müßte. Immer noch ohne ein Wort zu sagen öffnete er das Fach und nahm eine Streichholzschachtel heraus. Darin befanden sich zehn weiße Tabletten. Er ließ die Kleine los und nickte ihr zu. Sie sah ihn verwundert an, dann lief sie wie gejagt davon.
Gunvald Larsson hatte es nicht eilig. Er besah sich eine Weile die Tabletten, steckte die Schachtel in die Tasche und ging langsam die Treppe hinauf. Wartete eine halbe Minute vor der Tür und horchte.
Kein Laut war aus der Wohnung zu vernehmen. Er hob die Hand und schlug mit den Fingerspitzen zwei schnelle Serien von je vier leichten Klopfzeichen mit einer Pause von ungefähr fünf Sekunden.
Max Karlsson öffnete. Er sah erheblich eleganter aus als bei ihrer letzten Begegnung, aber Gunvald Larsson erkannte ihn sofort, und er zweifelte keinen Moment, daß der andere sich auch an ihn erinnerte.
»Guten Tag«, sagte Gunvald Larsson und schob den Fuß in den Türspalt.
»Ach, Sie sind das.«
»Ich wollte nur mal sehen, wie es Ihnen geht.«
»Danke, gut.«
Der Mann befand sich in einer heiklen Situation. Er wußte, daß sein Besucher bei der Polizei war und daß er das Erkennungszeichen benutzt hatte.
Zwar war die Sicherheitskette vorgelegt, aber wenn er die Tür zuzuschlagen , versuchte, würde er damit erst recht verraten, daß er etwas zu verbergen hatte.
»Ich möchte Ihnen ein paar Kragen stellen«, sagte Gunvald Larsson. Seine Lage war auch etwas zweifelhaft. Er hatte keinerlei Befugnis, in die Wohnung einzudringen, und konnte rechtlich nicht einmal darauf bestehen, den Mann auszufragen, wenn dieser nicht damit einverstanden war.
»Ja…«, entgegnete Max Karlsson zögernd.
Er machte keine Anstalten, die Kette zu öffnen, wagte aber andererseits auch nicht, die Tür zuzuschlagen.
Gunvald Larsson löste das Problem, indem er die rechte Schulter gegen die Tür lehnte und sie plötzlich und mit dem ganzen Gewicht seines Körpers aufdrückte. Es knackte in den Halterungen der Kette, als die Schrauben aus dem trockenen Holz gerissen wurden. Der Mann auf der Innenseite trat schnell zurück, um nicht von der Tür getroffen zu werden. Gunvald Larsson trat ein, machte die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel um. Er sah die beschädigte Kette an und sagte: »Schlechtes Material.«
»Sie sind wohl nicht ganz bei Trost!«
»Sie sollten längere Schrauben nehmen.«
»Was fällt Ihnen verdammt noch mal ein? Wie kommen Sie dazu, hier einzubrechen?«
»Das war nicht meine Absicht. Ich kann im übrigen nichts dafür, daß die kaputtgegangen ist. Ich hab schon gesagt, Sie müßten längere Schrauben nehmen.«
»Was wollen Sie?«
»Nur ein bißchen mit Ihnen reden.«
Gunvald Larsson blickte sich um. Er mußte sich überzeugen, daß der Mann allein war. Die Wohnung war nicht groß, aber sie sah nett und gemütlich aus. Max Karlsson selbst war ordentlich angezogen. Er war mindestens einsfünfundachtzig groß und hatte breite Schultern. Mit dem war nicht gut Kirschen essen, dachte Gunvald Larsson.
»Reden?« fragte der Mann und ballte die Fäuste.
»Darüber, was Sie in der Wohnung gemacht haben, bevor es zu brennen anfing.«
Der Mann schien sich zu entspannen. »Ach so.«
»Ja, nur das.«
»Wir haben ein kleines Fest gefeiert. Haben etwas gegessen, Bier getrunken und Platten gehört.«
»Wohl ein Familientreffen?«
»So in etwa. Das Mädchen Madeleine war meine Verlobte und…« Er brach ab und versuchte eine bekümmerte Miene aufzusetzen.
»Und…?« fragte Gunvald Larsson freundlich.
»Und Kenneth war mit der Carla befreundet.«
»War das nicht umgekehrt?«
»Umgekehrt? Wie meinen Sie das?«
»Das Schulmädchen, das vor fünf Minuten hier oben war, mit wem ist sie denn befreundet?«
»Welches Schulmädchen? Hier war kein…«
Und Gunvald Larsson schlug zu, schnell und kräftig und überraschend.
Max Karlsson wankte zwei Schritte zurück, ging aber nicht zu Boden. »Bist du verrückt geworden, verdammtes Schwein?« brüllte er wütend.
Gunvald Larsson schlug noch einmal auf ihn ein. Der Mann versuchte sich am Tisch festzuhalten, verlor aber das Gleichgewicht und riß im Fallen die Tischdecke mit sich. Eine Vase aus dickem geschliffenem Glas fiel auf den Boden. Er kam hoch, das schwere Stück Glas in der Rechten. Ein dünner Blutfaden lief aus einem seiner Mundwinkel.
»Du Hund!« fauchte er.
Er strich sich mit dem Rücken der linken Hand übers Gesicht, sah das Blut und hob die Vase.
Gunvald Larsson schlug zum drittenmal zu. Karlsson fiel hintenüber gegen einen Stuhl und landete auf dem Fußboden. Ehe er sich aufgerappelt hatte, trat Gunvald Larsson ihm kräftig auf das rechte Handgelenk. Die Glasvase rutschte über den Boden und schlug mit einem dumpfen Laut gegen die Wand.
Max Karlsson richtete sich langsam auf. Die Hand hielt er vor das eine Auge. Sein Blick war ängstlich und flackernd. Gunvald Larsson sah ihn an und fragte ruhig: »Wo sind die Vorräte?«
»Welche Vorräte?«
Gunvald Larsson ballte die Faust.
»Nein, nein«, rief der Mann hastig. »Nicht schlagen, ich will…«
»Wo?«
»In der Küche.«
»Wo in der Küche?«
»Unter der Platte im Herd.«
»Das ist schon besser.«
Er sah seine geballte rechte Hand an. Sie war sehr groß und hatte rosa Flecken an den Stellen, wo die hellblonden Haarbüschel abgesengt waren.
»Und wie war das nun mit Roth und den beiden Nutten?«
»Wir haben gevö…«
»Ich bin an euren sexuellen Schweinereien nicht interessiert. Ich will wissen, wer das Haus angesteckt hat.«
»Angesteckt… verdammt, davon weiß ich nichts. Und Kenneth ist ja selbst mit draufgegangen…«
»Was hat Roth gemacht? Rauschgift?«
»Wie soll ich das wissen…«
»Sagen Sie die Wahrheit!« drohte Gunvald Larsson.
»Nein. Nein. Hör auf. Kannst mich lieber gleich mit zur Wache nehmen.«
»Das könnte Ihnen so passen, nicht?« sagte Gunvald und ging einen Schritt auf ihn zu. »War Roth auch Rauschgifthändler?«
»Nein… verdammt…«
»Schnaps?«
»Ja.«
»Gestohlen?«
»Ja.«
»Schmuggel?«
»Ja.«
»Wo hatte er sein Lager?«
»Ich…«
»Los. Raus damit.«
»Auf dem Dachboden im Haus, wo er wohnte.«
»Aber Sie haben nichts mit dem Schnaps zu tun?« Karlsson schüttelte den Kopf.
»Nur Nutten und Stoff?«
»Ja.«
»Und Mahn. Was hat der gemacht?«
»Ich hab Mahn nicht gekannt.«
»Sooo?«
»Jedenfalls nicht näher.«
»Aber Sie haben doch Geschäfte gemacht, Sie und Roth und Malm?« Karlsson befeuchtete die Lippen mit der Zunge. Die Hand behielt er vor dem rechten Auge, das linke funkelte Gunvald Larsson mit einer eigenartigen Mischung aus Haß und Angst an.
»Wenn man so will, ja«, antwortete er schließlich.
»Und Roth und Mahn kannten sich?«
»Ja.«
»Roth hat also mit Schnaps geschoben?«
»Ja.«
»Und Sie haben Stoff verkauft. Bis vor zehn Minuten. Jetzt haben Sie das Geschäft aufgelöst. Was hat Malm gemacht?«
»Er hat mit Autos gearbeitet, glaub ich.«
»Aha. Also drei kleine Händler, jeder in seiner Branche. Was hatten Sie gemeinsam?«
»Nichts.«
»Ich meine, wer war Ihr Chef?«
»Keiner. Ich verstehe nicht, wovon Sie sprechen.«
Die Faust schoß zum viertenmal geradeaus, kräftiger als vorher. Sie traf den Mann an der rechten Schulter, so daß dieser nach hinten gegen die Wand geschleudert wurde.
»Den Namen«, brüllte Gunvald Larsson. »Den Namen. Und ein bißchen plötzlich!«
Die Antwort kam heiser geflüstert. »Olofsson. Bertil Olofsson.«
Gunvald Larsson sah sich den Mann lange an, der Max Karlsson hieß und dem er vor zehn Tagen das Leben gerettet hatte. Schließlich sagte er nachdenklich:
»Ehrlich währt am längsten. Müssen Sie sich mal merken!« Der Mann starrte ihn mit seinem heilen Auge fassungslos an.
»So«, fuhr Gunvald Larsson fort, »und jetzt gehen wir in die Küche, und Sie zeigen mir, wo das Zeug liegt.«
Das Versteck war sehr sorgfältig ausgewählt und wäre bei einer oberflächlichen Haussuchung mit Sicherheit nicht entdeckt worden. Der ganze untere Teil des Herdes war ausgeräumt, und darunter lag eine ganze Menge, sowohl Haschisch als auch andere Rauschgifte, alles ordentlich in Portionen verpackt. Andererseits waren es keine sensationellen Mengen. Karlsson war ein typischer kleiner Fisch, der Rauschgift in den Pausen an die Schulkinder verteilte und dafür deren Taschengeld kassierte oder was sie ihren Eltern oder beim Aufbrechen von Automaten oder Kiosken gestohlen hatten. Durch wie viele Hände die Ware gegangen war, bis sie zu ihm gelangte, wußte der Mann selbst nicht, und zwischen ihm und der Wurzel des Übels lag ein enormer Komplex von politischer Fehlspekulation und Versagen der Gesellschaft. Gunvald Larsson ging hinaus in die Diele und rief die Polizei an.
»Schicken Sie ein paar Burschen vom Rauschgiftdezernat her«, sagte er barsch.
Die Männer, die Max Karlsson abholten, gehörten der Spezialabteilung der Polizei zur Bekämpfung des Rauschgifthandels an. Beide waren groß und rotwangig und hatten grobe Wollpullover und gestrickte Pudelmützen auf. Einer von ihnen verbeugte sich, als er eintrat, und Gunvald Larsson sagte mürrisch: »Dolle Verkleidung. Ihr müßtet noch jeder 'ne Angelrute mitschleppen. Und die Uniformhosen? Werden die nicht beschädigt, wenn ihr die so in die Strümpfe steckt? Übrigens verneigt man sich nicht, wenn man einen Islandpullover anhat.«
Die Ohren der beiden Kämpfer gegen den Rauschgifthandel wurden noch röter, und sie schielten von den umgeworfenen Möbeln zu den blauen Augen des Verdächtigen.
»Es hat ein bißchen Ärger gegeben«, erklärte Gunvald Larsson gleichgültig. Er blickte sich um und fügte hinzu: »Ihr könnt dem Leiter der Untersuchung einen schönen Gruß von mir bestellen und ihm ausrichten, daß der da Max Karlsson heißt und daß er nichts aussagen wird.«
Dann zuckte er die Achseln und ging.
Er behielt recht. Aus dem Mann war nichts herauszukriegen, nicht einmal, daß er Max Karlsson hieß. Das war eben nicht seine Art.
Gunvald Larsson wußte mittlerweile, daß sich drei kleine Verbrecher in dem Haus in der Sköldgatan befunden hatten, von denen zwei tot waren und der dritte sich auf dem Weg ins Gefängnis befand. Nicht erfahren hatte er, wo der vielzitierte Funke hergekommen war; die Aussicht, diese Frage beantworten zu können, schien geringer als zuvor.
Dagegen fiel ihm plötzlich ein, daß er krank geschrieben war. Er fuhr nach Hause, zog sich aus und duschte. Dann zog er den Stecker des Telefons her aus, legte sich aufs Bett und schlug den Roman von Sax Rohmer auf.