Malmö ist Schwedens dritte große Stadt und unterscheidet sich in vielem von Stockholm. Die Einwohnerzahl ist nur etwa ein Drittel so hoch, dann liegt die Stadt im flachen Land, während sich Stockholm über viele Inseln mit zum Teil steilen Ufern verteilt. Malmö liegt auch sechshundert Kilometer südlicher als die Hauptstadt und ist für das ganze Land das Tor nach Mitteleuropa. Alles ist dort etwas gemütlicher, die Leute sind weniger aggressiv, und man behauptet sogar, daß die Polizeibeamten höflicher und freundlicher sind. Auch das Klima ist milder. Es regnet oft, aber es wird selten richtig kalt, und lange bevor im Frühjahr in Stockholm das Eis aufbricht, klatschen dort die Wellen des Öresunds leicht gegen die flachen Sandstrände und die niedrigen Kalkfelsen. Der Frühling kommt zeitig im Vergleich zu den übrigen Landesteilen und die Monate Februar, März und April überraschen häufig mit Sonne und strahlend blauem Himmel und hin und wieder auch mit windstillen Tagen.
Sonntag, der 7. April, war ein solcher Tag.
In den Schulen hatten die Osterferien begonnen, und viele Leute waren verreist, wenn nicht für länger, so wenigstens über das Wochenende zu Freunden oder Bekannten aufs Land oder um nach ihren Sommerhäuschen zu sehen. Noch zeigten die Bäume keine grünen Knospen, aber lange würde es nicht mehr dauern, und an den Wegrändern blühten die ersten gelben Frühlingsblumen.
Im Industriehafen, der im nordöstlichen Teil der Stadt liegt, war es an diesem Sonntagnachmittag ungewöhnlich ruhig. An und für sich nicht verwunderlich, denn das Gelände liegt ein gutes Stück von den Wohngebieten der Stadt entfernt und kann kaum einen Spaziergänger oder Autofahrer anlocken. Lange Kaimauern, viele Kräne und Güterwagen, Bretterstapel und große Haufen verrosteter Eisenträger, ab und zu bellt ein Wachhund in einem eingezäunten Fabrikgelände. Einige dänische Baggerschiffe, deren Besatzungen über die Feiertage nach Hause gefahren waren. Vor einem der verschlossenen Schuppen standen zweihundert Traktoren, die gerade mit einem Schiff aus England gekommen waren und bald an Käufer in den nahen ländlichen Bezirken verteilt werden sollten.
Abgesehen von dem Gekläff der Hunde war das schwache Zischen von der einige hundert Meter weiter weg liegenden Ölraffinerie das einzige Geräusch, das man hören konnte. Von daher kam auch ein Geruch nach Rohöl, stark genug, um Leute mit empfindlichen Nasen zu vertreiben.
Im ganzen Hafengebiet befanden sich nur zwei menschliche Wesen, zwei Jungen, die auf dem Bauch lagen und angelten. Sie lagen dicht nebeneinander, die Beine hatten sie gespreizt, und ihre Köpfe hingen über die Kaimauer.
Diese beiden Knirpse hatten vieles gemeinsam. Beide waren sechseinhalb Jahre alt, hatten dunkles Haar und braune Augen und schienen von der Sonne verbrannt, obwohl genaugenommen immer noch Winter war.
Sie waren zu Fuß von den armseligen elterlichen Wohnungen in den östlichen Stadtteilen gekommen, mit Fahrtenmessern im Gürtel und den aufgerollten Angelschnüren in den Hosentaschen. Ungefähr eine Stunde lang waren sie zwischen den Traktoren herumgelaufen und hatten sich mindestens auf fünfzig davon gesetzt. Dann hatten sie einige leere Flaschen gefunden, sie ins Wasser geschmissen und mit Steinen danach geworfen, ohne freilich zu treffen. Schließlich waren sie auf einen alten schrottreifen Gabelstapler gestoßen, von dessen Motor sie mit Mühe einige interessante und in ihren Augen wertvolle Kleinigkeiten abgeschraubt hatten.
Und nun lagen sie also auf dem Kai und angelten. Deswegen waren sie ja eigentlich hergekommen.
Die beiden Jungen waren keine Schweden, was gewissermaßen ihr Tun erklärte. Kein Kind, das in dieser Stadt geboren ist, würde je auf die Idee gekommen sein, ausgerechnet an dieser Stelle zu angeln, ganz einfach, weil die Chance, hier etwas an den Haken zu bekommen, ungefähr so groß war, wie einen lebenden Fisch in einer Dose Ölsardinen zu finden. Hier gab es nur alte Aale, die im Schlamm des Hafenbeckens rumorten. Und solche will kein echter Angler haben.
Die Jungen hießen Omer und Miodrag und waren Jugoslawen. Ihre Väter arbeiteten auf der Werft und die Mütter als Arbeiterinnen in einer Textilfabrik. Keiner von beiden hatte so lange im Land gewohnt, daß er die Sprache beherrschte. Miodrag konnte »eins, zwei, drei« sagen, aber das war auch alles. Die Aussicht, daß sie je viel mehr lernen würden, war mäßig, da sie sich alltags in einem Kinderheim aufhielten, in dem siebzig Prozent der Kinder Ausländer waren, und ihre Eltern wieder nach Hause ziehen wollten, sobald sie das Geld für eine eigene Existenz in ihrem Heimatland zusammengespart hatten.
Sie lagen ruhig da und starrten hinunter in das Wasser, und beide hofften, daß bald ein großer Fisch anbeißen würde, vielleicht ein so großer, daß sie ihn nicht halten konnten und er sie ins Wasser zog und sie im Hafenbecken ertrinken würden.
Und genau in diesem Moment geschah etwas, was sonst sehr selten passiert und spezielle klimatische und hydrologische Verhältnisse erfordert. Viertel nach drei an diesem stillen sonnigen Nachmittag bewegte sich ein Gürtel frischen, reinen Wassers, das mit der Strömung vom Sund in die Bucht getrieben worden war, langsam durch das schmutzige Hafenbecken. Plötzlich merkten Omer und Miodrag, daß sie ihre Angelschnur auch unter der Wasseroberfläche sehen konnten und gleich danach auch die Bleigewichte und die Fliegen. Das Wasser wurde langsam klarer und klarer, bis sie den Grund sehen konnten und einen alten Topf und eine verrostete Eisenstange entdeckten. Und plötzlich erblickten sie vielleicht zehn Meter von der Kaimauer entfernt etwas, was sie außerordentlich verblüffte und ihre Phantasie sofort ungeheuer anspornte.
Dieser Gegenstand war ein Auto. Das sahen sie klar und deutlich. Es schien blau zu sein und stand mit der Rückseite zum Kai, die Türen waren geschlossen und die Räder in den Schlamm gesunken, so als ob jemand es da geparkt hätte, auf dem Marktplatz einer geheimnisvollen Stadt auf dem Grunde des Meeres. Soweit sie das beurteilen konnten, war der Wagen gut erhalten und hatte keine Beulen oder Lackschäden.
Und dann wurde das Wasser wieder grau, das Fahrzeug auf dem Meeresboden schien sich aufzulösen und vor ihren Augen zu verschwinden, und wenige Minuten später sahen sie nichts mehr, weder das Auto noch den Kochtopf oder ihre Fliegen, nur die graugrüne Wasseroberfläche mit Benzinflecken, die wie Perlmutt glänzten, und grauen klebrigen Öllachen.
Sie sahen sich nach einem Menschen um, dem sie ihre Entdeckung zeigen konnten. Oder wenigstens erzählen, denn zu zeigen gab es ja nichts mehr.
Aber der Industriehafen war leer und öde an diesem schönen Sonntag im April, und sogar der einsame Wachhund hatte zu bellen aufgehört.
Omer und Miodrag rollten ihre Angelruten auf und steckten sie in die Taschen, die schon voller alter Zündkerzen, Stücken von Kupferrohren, rostigen Schrauben und Muttern waren. Dann rannten sie los. Aber als sie stehenbleiben mußten, um sich zu verpusten, waren sie immer noch im östlichen Hafengebiet, denn das ist weitläufig, und die Jungen waren schließlich noch ziemlich klein.
Es dauerte weitere zehn Minuten, bis sie auf den Västkustvägen kamen, da sahen sie Menschen, aber sie wußten sich trotz alledem nicht zu helfen. Denn die Leute saßen in ihren Autos und brausten die Ausfallstraße entlang, kalt und unpersönlich und zielstrebig. Wer kümmert sich schon um zwei kleine Jungen, die an der Bordsteinkante stehen und mit den Armen winken, besonders, wenn sie dunkel im Gesicht sind und nur zum üblichen ausländischen Pack gehören?
Das fünfundzwanzigste Auto fuhr allerdings nicht vorbei. Es hielt an. Es war ein schwarz-weißer Volkswagen mit einer langen Antenne auf dem Dach, und an den Seiten stand in großen Blockbuchstaben das Wort POLIZEI.
Im Wagen saßen zwei uniformierte Beamte mit Namen Elofsson und Borglund. Sie waren gutgelaunt und harmlos, und keiner von ihnen begriff ein Wort von dem, was die Jungen so aufgeregt zu berichten hatten. Elofsson meinte mitbekommen zu haben, daß sie zum Hafenbecken gezeigt und einer das Wort »Auto« gesagt hatte. Dann schenkten sie jedem einen Bonbon, drehten die Seitenscheiben hoch, lächelten und fuhren winkend davon.
Da Elofsson und Borglund korrektes Arbeiten gewohnt waren und sowieso nichts Besonderes vorhatten, fuhren sie vorsichtshalber ins Hafengebiet und sahen sich um. Als sie am Ende angekommen waren, bogen sie nach links ab zur Mole, hielten an, und Borglund stieg aus. Aber er sah nur das eigenartige künstliche Marschgelände, das die Sandbagger aufgefüllt hatten. Außerdem hörte er einen Hund bellen und das Zischen von der Ölraffinerie. Vierundzwanzig Stunden später stand ein Polizist auf der Kaimauer im Industriehafen. Er war Kriminalinspektor und hieß Mänsson, und ein Auto sah er auch nicht. Nur dreckiges Wasser, eine leere Bierbüchse und ein weggeworfenes Kondom.
Das Gerücht, das ihn hierher führte, hatte einen langen Weg hinter sich und war dabei erheblich verändert worden. Zwei jugoslawische Jungen sollten einen Streifenwagen der Polizei gesehen haben, der hier am Eisenkai über die Mauer ins Wasser gefahren und verschwunden war. Die Bengels waren noch nicht schulpflichtig und sprachen kein Wort Schwedisch. Außerdem hatten sie ganz verschiedene Stellen am Kai gezeigt, und natürlich wurde kein Streifenwagen vermißt.
Mänsson kaute nachdenklich auf einem Zahnstocher und lauschte zerstreut einem Hund, der irgendwo in der Nähe bellte. Er war in den Fünfzigern, ein großer und breitschultriger Mann, bedächtig in seinen Bewegungen und gutmütig. Er arbeitete gründlich und war langsam an der Kaikante entlanggegangen, hin und zurück, ohne daß ihm etwas Außergewöhnliches oder Besonderes aufgefallen war.
Mänsson nahm den zerkauten Zahnstocher aus dem Mund und warf ihn ins Wasser. Dort schaukelte er ruhig zwischen dem Kondom und der Bierbüchse. Er zuckte die Achseln, nahm einen neuen Zahnstocher aus der Westentasche, drehte sich um und ging zu seinem Auto.
Morgen werde ich einen Froschmann bestellen, dachte er.