Am Sonnabend, dem 1. Juni, flog Mänsson zusammen mit seiner Frau nach Rumänien. Er hatte seinen dreiwöchigen Urlaub so geschickt ausgewählt, daß er nicht vor dem Mittsommertag zurückkommen mußte, genauer gesagt kam er erst am Montag, dem 24., nach Hause.
Seine Ergebnisse, was Wasserleichen und ähnliche Dinge betraf, wie auch seine Theorien über Olofssons Leben und unschönes Ende hatte er offenbar mit sich genommen. Denn Martin Beck hörte während der Zeit wenig oder gar nichts aus Malmö, was für ihn von Interesse war.
Mänsson war jedoch längst nicht der einzige, der im Juni Urlaub machte. Obwohl verschiedentlich deutlich darauf hingewiesen worden war, daß man mit dem Urlaub, wenn möglich, bis nach der Wahl warten solle, lichteten sich die Scharen der Polizei mit verblüffender Schnelligkeit, was besonders die höheren Dienstgrade betraf. Im September war Reichstagswahl. Juli und August konnten anstrengende Monate werden, da versuchten die meisten ihren gesetzlichen Urlaubsanspruch so schnell wie möglich in die Praxis umzusetzen. Melander zog sich in sein Sommerhaus auf Värmdö zurück, und Gunvald Larsson und Rönn verschwanden diskret nach Arjeplog, wo sie sich von der Mitternachtssonne bescheinen ließen und die fahlen Sommernächte Angeln verbrachten.
Sie sprachen hauptsächlich vom Fischen und fachsimpelten über verschiedene Angelgeräte. Ab und zu kam es vor, daß Rönn plötzlich ein ernstes Gesicht machte und eine Frage nicht beantwortete. Dann dachte er an das verschwundene Feuerwehrauto, behielt seine Gedanken aber für sich.
Hammar dachte nur an seine bevorstehende Pensionierung und hoffte, daß bis dahin nichts Außergewöhnliches geschehen würde.
Martin Beck war es gleichgültig, ob er Urlaub bekam oder nicht. Er saß draußen in Västberga und verbrachte seine Stunden mit Routinearbeiten. In seiner Freizeit überlegte er vor allem, wie es ihm gelingen könnte, der gemeinsamen Mittsommerfeier mit seiner Frau und seinem Schwager zu entgehen. Kollberg war stellvertretender Kriminalkommissar und vorübergehend zur Fahndungsgruppe in Stockholm versetzt worden. Das eine war ihm genauso unangenehm wie das andere. Er verabscheute sein stickiges Arbeitszimmer in der Kungsholmsgatan, schwitzte und fluchte. Zwischendurch dachte er an seine Familie, und das war das einzige, woran er momentan Freude hatte. Melander stand auf seinem Grundstück vor dem Haus, hackte Holz und dachte liebevoll an seine häßliche Frau, die nackt auf einer Decke hinter dem Haus lag und sich von der Sonne bescheinen ließ.
In Eforie am Schwarzen Meer starrte Mänsson faul Potemkins taubenblau schimmernden Horizont an und wunderte sich, wie man in einem Land den Sozialismus errichten und den Fünfjahrplan in drei Jahren erfüllen konnte, in dem es vierzig Grad heiß war und kein Grapetonic zu kaufen gab.
Dreitausend Kilometer weiter nördlich zog sich Gunvald Larsson Gummistiefel und seine Sportjacke an und schielte ärgerlich auf Rönns wollenen Pullover, der rot und blau und grün und geschmacklos war und auf der Vorderseite Elche hatte.
Rönn merkte davon nichts, da er gerade wieder an das Feuerwehrauto dachte. Benny Skacke saß in seinem Zimmer und las einen Bericht durch, den soeben geschrieben hatte. Er überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis er Polizeichef sein und wohin er versetzt werden würde.
Jeder hatte seine Sorgen.
Keiner dachte an Malm oder Olofsson oder an das vierzehnjährige Mädchen, das in der Dachkammer des Hauses in Sköldgatan buchstäblich lebendig gebraten worden war.
Jedenfalls sah es nicht so aus.
Am Tag vor Mittsommer, Freitag, dem 21. Juni, tat Martin Beck etwas, was ihm beinahe kriminell vorkam und was er seit seinem fünfzehnten Lebensjahr nicht mehr getan hatte. Damals hatte er die Unterschrift seiner Mutter auf einem Entschuldigungszettel gefälscht, um die Schule zu schwänzen und sich eins von Hitlers Westentaschenschlachtschiffen ansehen zu können, das zu einem Flottenbesuch in Stockholm lag.
Was er tat, war eigentlich nebensächlich, und viele hätten kein Wort darüber verloren. Tatsächlich war es nicht mal strafbar, denn Lügen ist nicht ungesetzlich, wenn man nicht vorher die Hand auf die Bibel legt und verspricht, die Wahrheit zu sagen.
Er sagte ganz einfach zu seiner Frau, daß er nicht mit ihr und Rolf aufs Land fahren könne, da er dienstlich verhindert sei.
Das war eine rosarote Lüge, er sprach sie mit lauter und klarer Stimme aus und blickte dabei seiner Frau tief in die Augen. Am Tag der Sommersonnenwende, dem längsten und schönsten des Jahres. Außerdem war diese Lüge das Resultat einer Verschwörung oder eines Komplotts, in das eine weitere Person eingeweiht war, die versprochen hatte, den Mund zu halten und sich nichts anmerken zu lassen, wenn peinliche Fragen gestellt würden.
Dieser Mensch war auch noch stellvertretender Kriminalkommissar.
Er hieß Sten Lennart Kollberg, und seine Rolle als Anstifter war so offenbar, daß man sie nicht mal als zweideutig bezeichnen konnte.
Für die Verschwörung hatte es zwei verschiedene Gründe gegeben. Einerseits hatte Martin Beck überhaupt keine Lust, zwei, schlimmstenfalls drei Tage mit seiner Frau und seinem versoffenen Schwager zu verbringen. Tage, die sich noch mehr in die Länge zogen, weil seine Tochter Ingrid, die seine Laune hätte aufbessern können, einen Sprachkurs in Leningrad mitmachte. Auf der anderen Seite konnte Kollberg frei über das Sommerhaus seiner Schwiegereltern in Södermanland verfügen und hatte bereits erhebliche Mengen Lebensmittel und Getränke dorthin transportiert.
Obwohl er also gute, zumindest verständliche Gründe für sein Verhalten hatte, kam ihn das ungewohnte Lügen hart an. Viel später sollte er auch einsehen, daß dieser Augenblick der Auftakt zu einer Entwicklung war, die sein ganzes weiteres Leben veränderte.
Das alles hatte nichts damit zu tun, daß er bei der Polizei war, denn es gibt keinen Grund für die Annahme, daß Polizisten weniger lügen als andere Menschen und schwedische Polizisten weniger als ausländische. Tatsächlich deutet manches darauf hin, daß es sich eigentlich eher umgekehrt verhält.
Für Martin Beck war es einfach eine Frage der persönlichen Moral. Er traf eine Entscheidung und rechtfertigte sie vor sich selbst, und damit hatte er eine bestimmte grundsätzliche Einstellung erschüttert. Ob das für sein privates Gleichgewicht ein Gewinn oder Verlust war, mußte die Zukunft zeigen. Jedenfalls erlebte er zum erstenmal seit sehr langer Zeit ein schönes und sorgenfreies Wochenende. Der einzige trübe Punkt war die Lüge, aber dieses Unbehagen konnte er vorläufig ohne große Schwierigkeiten verdrängen. Kollberg war ein As, als Organisator wie auch als Verschwörer, und bei der Zusammenstellung der Gesellschaft hatte er eine glückliche Hand. Das Wort Polizei wurde so gut wie gar nicht erwähnt, und der Gedanke an die tägliche Arbeit, den ebenso verhaßten wie alles überschattenden Dienst, war im großen und ganzen verbannt.
Nur einmal kam das Gespräch darauf, als Martin Beck in der Abenddämmerung mit Äsa Toreil und Kollberg und einigen anderen im Gras saß und den Maibaum betrachtete, den sie aufgerichtet und um den sie sogar getanzt hatten. Sie waren alle etwas müde, und die Mücken machten ihnen zu schaffen, da konnte er die Frage nicht unterdrücken: »Glaubst du, daß wir noch mal dahinterkommen, wer der Kerl in Sundbyberg eigentlich ist?«
Kollberg schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nee!«
Und Äsa Toreil fragte: »Welcher Kerl in Sundbyberg?« Sie war eine tüchtige junge Frau und sehr wißbegierig.
Da sagte Kollberg plötzlich: »Also, ich glaube, daß der ganze Fall direkt vor unserer Nase explodiert. Genauso wie es angefangen hat.« Er nahm einen großen Schluck aus seinem Weinglas und breitete die Arme aus. »So. Bumm. Genau wie es angefangen hat, und dann ist alles sonnenklar.«
Und Äsa Toreil meinte: »So, glaubst du. Jetzt weiß ich auch, worüber ihr sprecht. Und bitte, vor wessen Nase?«
»Meiner natürlich«, antwortete Kollberg. »Ich bin doch der einzige, der sich für diesen Fall überhaupt nicht interessiert. Und wenn du jetzt anfängst, über Polizisten zu reden, wirst du erschossen.«
Tatsächlich wollte sie zur Polizei gehen.
Bei einer anderen Gelegenheit unterhielt sie sich darüber mit Martin Beck.
Er fragte: »Auf diese Idee, Polizeibeamtin zu werden, bist du nur gekommen, weil Äke ermordet worden ist?«
Sie drehte lässig die Zigarette zwischen ihren Fingern. »Nein, eigentlich nicht. Ich wollte mir nur eine neue Aufgabe suchen. Eine Art neues Leben. Außerdem werden wohl welche gebraucht.«
»Polizistinnen?«
»Die mit Vernunft begabt sind. Denk doch bloß an all die Trottel, die dabei sind.« Dann zuckte sie die Achseln, lächelte kurz und ging fort, barfuß durch das Gras.
Sie war eine zarte Frau mit großen braunen Augen und kurzgeschnittenem Haar.
Mehr von Interesse geschah nicht, und am Sonntag fuhr Martin Beck nach Hause, immer noch mit einem kleinen Kater, aber zufrieden und ohne ein schlechtes Gewissen.
Das Flugzeug, das Per Mänsson von dem glühendheißen Flugfeld in Constanta zu dem luftigeren Bulltofta in Malmö beförderte, war eine silberglänzende Turbopropmaschine Iljuschin 18 der Tarom. Da der Wind kräftig aus Südosten blies, machte das Flugzeug eine große Kurve über dem Öresund, bevor es an Höhe verlor, um schließlich auf schwedischem Boden zu landen. Es war ein schöner Sommertag, und Mänsson konnte von seinem Fensterplatz aus deutlich die Insel Saltholm und Kopenhagen erkennen und nicht weniger als fünf Fährschiffe, die auf der stark befahrenen Bugwelle still zu stehen schienen. Ein wenig später sah er den Industriehafen, aus dem man vor beinah drei Monaten ein schrottreifes Auto und eine Wasserleiche geborgen hatte. Aber da er nicht im Dienst war, dachte er nicht weiter darüber nach.
Daß er so eifrig aus dem Fenster guckte, geschah hauptsächlich, um seine Frau nicht ansehen zu müssen. Zwar hatten sie sich nach den ersten turbulenten Tagen von neuem ineinander verliebt, aber jetzt, nach drei Wochen täglichen Zusammenseins, fielen sie sich gegenseitig wieder auf die Nerven, und er sehnte sich nach seiner Junggesellenwohnung in der Regementsgatan, nach ruhigen Abenden mit einem Zahnstocher im Mundwinkel und einem eiskalten Gripenberger in Reichweite. Sogar ein wenig nach der traurigen Aussicht aus seinem Arbeitszimmer auf den asphaltierten Hof des Polizeigebäudes.
Nun war Malmö allerdings alles andere als die idyllische und ruhige Stadt, die sie nach einem Blick aus der Luft zu sein schien. So wurde Mänsson gleich in seiner ersten Arbeitswoche in einen Wirbel von Verbrechen hineingezogen, alle möglichen Delikte von politischen Krawallen über Messerstechereien bis zu einem perfekten Bankeinbruch, der in Malmö geplant worden war und die Polizei im halben Land mehrere Tage lang in Atem hielt, bevor er endlich aufgeklärt werden konnte.
Er hatte alle Hände voll zu tun, so dauerte es bis zum dritten Montag im Juli, bis er wieder ernsthaft an Olofsson denken konnte. Am späten Abend dieses Tages zog er den Schluß aus einer Beobachtung, die er während der Landung gemacht hatte, und vollendete einen Gedanken, den er vage und unbeabsichtigt im Flugzeug angefangen hatte.
Es war halb zwölf, und er hatte gerade einen neuen Drink geholt. Ohne zu überlegen, leerte er das Glas in einem Zug und legte sich schlafen.
Er war sicher, daß er bald die Antwort auf die Frage finden würde, die ihn am Fall Olofsson am meisten interessierte.