Samstag
»Bist du das ganze Wochenende im Dienst, oder besteht die Chance, dass ich dich auch mal zu Gesicht bekomme?«, fragte Sophie beim gemeinsamen Frühstück am Samstagmorgen.
Hackenholts Zugeständnis an sein eigentlich dienstfreies Wochenende sah an diesem Morgen folgendermaßen aus: Er ging nicht schon um sieben Uhr ins Büro, sondern erst um neun.
»Ich weiß es noch nicht«, meinte er ausweichend. »Kommt drauf an, was wir im Laufe des Tages herausbekommen. Wenn es einen Hinweis gibt, wo wir Jonas finden können, dann müssen wir dem sofort nachgehen.«
»Du glaubst also allen Ernstes, dass der Junge noch lebt?« Sophie klang pessimistisch. »Wenn es bei dem Ganzen wirklich um Drogen geht, dann liegt der doch schon längst irgendwo auf dem Grund eines Sees – mit ein paar Steinen zum Beschweren, damit er ja nicht wieder auftaucht.«
»Auch in diesem Fall sollten wir ihn finden«, sagte Hackenholt leise. »Zwar scheint den Eltern erst jetzt so langsam bewusst zu werden, was sie an ihrem Sohn hatten beziehungsweise dass sie ihn vernachlässigt haben, aber diese nagende Ungewissheit hat niemand verdient. Außerdem kann er genauso gut davongelaufen sein und sich bei ein paar Kumpels versteckt halten. Jugendliche sind im Untertauchen oft überraschend gut.« Einen Moment horchte er in sich hinein. Woran glaubte er eigentlich? War Jonas wirklich in Panik davongelaufen, nachdem der tote Obdachlose gefunden worden war, und versteckte sich nun an einem unbekannten Ort?
»Schade, ich hatte gehofft, dass wir bei dem schönen Wetter ein bisschen rausfahren könnten, vielleicht an einen Badesee. Außerdem findet heute eine Fülle von Veranstaltungen statt. Das Heroldsberger Straßenfest und in Erlangen das Altstadtfest. In Schwabach gibt es ein Bürgerfest und in Coburg ein Late-Night-Shopping.«
Hackenholt unterdrückte einen Seufzer. Auch er wäre lieber an einen Baggersee gefahren und hätte den Tag danach gemütlich auf einem der Stadtfeste ausklingen lassen.
»Ich ruf dich an, sobald ich absehen kann, wie lange es heute dauert«, versprach er. Dann stand er auf, küsste Sophie auf die Augenbraue und machte sich auf den Weg ins Präsidium.
Den größten Teil des Vormittags verbrachten Stellfeldt und Wünnenberg damit, sich bei den Eltern von Jonas’ Nachhilfeschülern zu erkundigen, wie viel Geld sie für den Förderunterricht gezahlt hatten. Ein ums andere Mal gingen sie die Liste der getätigten Einzahlungen durch und versuchten herausfinden, ob das Geld auf legalem Weg durch Nachhilfestunden, Geburtstage, Weihnachten und Konfirmation erwirtschaftet worden war oder doch aus dem Verkauf von Drogen stammte.
Hackenholt sprach währenddessen noch einmal mit Jonas’ Klassenlehrer Hubertus Schmidt, der den Jungen in Mathematik und Chemie unterrichtete. Der Mann fiel aus allen Wolken und beteuerte, mit Jonas nie über Drogen und deren Herstellung gesprochen zu haben. Immer wieder betonte er, die Schule sei besonders stolz darauf, keinerlei Probleme mit Gewalt, Drogen et cetera zu haben.
Nach einem anschließenden langen und äußerst anstrengenden Gespräch mit den Petzolds, das Hackenholt und Saskia Baumann diesmal im Präsidium und nicht in der elterlichen Wohnung geführt hatten, fühlte sich der Hauptkommissar erledigt. Nicht nur hatte er der fassungslosen Mutter und dem Vater erklären müssen, dass ihr Sohn sehr wahrscheinlich in die illegale Herstellung von Drogen verwickelt war, sondern sie auch auf die daraus resultierende Folge vorbereiten müssen: eine polizeiliche Hausdurchsuchung.
Erst nachdem Baumann mit einer Handvoll Kollegen und den zeternden Petzolds, die immer noch nicht glauben wollten, was ihnen über ihren Sohn mitgeteilt worden war, das Kommissariat verlassen hatte, konnte sich Hackenholt eine kurze Erholung gönnen. Für eine verspätete Mittagspause setzte er sich auf eine der Parkbänke, die von drei Bäumen und ein paar buschigen Sträuchern umgeben gleich neben dem Eingang zum Präsidium am Jakobsplatz standen. Am liebsten hätte er sich ein paar Minuten lang in die Sonne gelegt, doch er fürchtete, sofort einzuschlafen. So begnügte er sich damit, sein Wurstbrötchen mit den Spatzen zu teilen, die ihn neugierig umringten und jeden Krümel, den er ihnen zuwarf, hungrig aufpickten.
Er war kaum wieder in seinem Büro, da schaute der sachverständige Kollege vorbei, der sich um Jonas’ Laptop kümmerte. Er brachte Hackenholt einen mickrigen Stapel Papier: Listen der Internetseiten, die der Schüler besucht hatte, und ausgedruckte E-Mails. Der Hauptkommissar machte sich sofort daran, die wenigen Nachrichten zu lesen, die im E-Mail-Client auf dem Computer gespeichert waren. In ihnen ging es entweder um Hausaufgaben, die ein Nachhilfeschüler nicht verstand, oder um Übersetzungen, bei denen Jonas’ Klassenkameraden Hilfe benötigten. Auch ein paar Mitteilungen von Lehrern waren darunter. Das war aber auch schon alles und somit wenig hilfreich.
Allerdings hatte Jonas auch den Windows Live Messenger installiert, der nicht nur bei Jugendlichen beliebt war. Leider handelte es sich nicht um die Plus-Version, bei der die Gespräche auf dem Computer gespeichert wurden. So wusste Hackenholt jetzt zwar, dass die Kontaktliste fünfundzwanzig Personen umfasste, allerdings nicht, wer sich hinter den einzelnen Pseudonymen verbarg oder was sie miteinander gesprochen hatten.
Im Gegensatz dazu war die Liste der im Internet besuchten Seiten sehr umfangreich. Offenbar hatte Jonas es nicht für nötig gehalten, seine Spuren auf seinem Computer zu verwischen, indem er den Cache regelmäßig leerte. Hackenholt rief jede einzelne Seite auf. Er wollte sich ein Bild davon machen, was sich hinter dem jeweiligen Domainnamen verbarg. Hatte er zunächst befürchtet, seine eingerosteten Englischkenntnisse hervorkramen zu müssen, da der Junge das World Wide Web vielleicht auch wirklich weltweit genutzt haben könnte, merkte er schnell, dass seine Befürchtungen umsonst gewesen waren. Die meisten Seiten, die der Kollege vom Fachkommissariat ermittelt hatte, stammten aus dem deutschsprachigen Raum.
Natürlich nutzte Hackenholt selbst häufig das Internet und hegte keinerlei Berührungsängste, so alt war er mit Anfang vierzig dann doch noch nicht, aber wenn er damit zu tun hatte, dann zumeist beruflich und nie allzu intensiv. Seine private Welt bestand eher aus Büchern und gedruckten Enzyklopädien. Jetzt staunte er nicht schlecht, als er sah, was Jonas auf diese Weise alles zusammengetragen hatte. Der Junge hatte sich auf speziellen Infoseiten für Drogen genauso umgesehen wie auf chemischen Fachseiten. Zudem hatte er in diversen Internetforen gepostet. Manchmal besuchte Hackenholt nicht nur die Seiten, die Jonas sich angesehen hatte, sondern klickte aus Neugier auch auf querverweisende Links. So kam er vom Hundertsten ins Tausendste, und der Nachmittag verging wie im Flug.
Als Saskia Baumanns und Wünnenbergs Lachen durch den ansonsten mucksmäuschenstillen Gang des wochenendlichen Kommissariats schallte, schaute Hackenholt verwundert auf die Uhr. Waren sie von der Durchsuchung etwa schon wieder zurück? Verdammt! Es war schon fast sieben. Wie hatte er nur derart die Zeit vergessen können?
»Was machst du denn noch hier?«, fragte Wünnenberg erstaunt. »Ich dachte, du wolltest ein bisschen früher heim und bist deswegen nicht zur Durchsuchung mitgekommen?«
»Ja, das hatte ich auch vor, aber dann habe ich mich festgelesen und die Zeit vergessen«, brummte er, während er nach dem Telefonhörer griff und Sophies Nummer wählte. Niemand hob ab. Auch unter ihrer Handynummer war sie nicht zu erreichen. Hackenholt konnte sich vorstellen, wie sie auf seinen Anruf gewartet hatte. Als der nicht kam, war sie wahrscheinlich gefrustet mit einer Freundin weggegangen.
»Is doch ned ersu schlimm. Gäih hald morng Åmd mid der Soffi zern Glassig Obän Är. Des is eh vill besser wäi alles, wos heid åmds nu ganger wär.«
Hackenholt sah Baumann prüfend an. Meinte sie das ernst? Er hätte der jungen Kollegin die Liebe zu sämtlichen Musikrichtungen zugetraut, aber ganz sicher nicht zur Klassik. »Warst du da schon mal?«, fragte er vorsichtig.
»Ner freili. Wenn der Zendrel Barch scho aamål middn in Nämberch lichd, nocherdla mou mer doch hiigäih!«
»Und wer oder was ist der Zendrel Barch?«
»Des is doch der grouße Barch, wous in Nu Jorch ham.«
Auch nach dieser Erklärung dauerte es noch eine halbe Sekunde, bis Hackenholts Gehirn die Übersetzung gelang und er kapierte, dass seine Kollegin den New Yorker Central Park meinte.
»Aber warum soll der plötzlich in Nürnberg liegen?« Hackenholt verstand ihre Anspielung beim besten Willen nicht.
Baumann verdrehte die Augen. »Des hod dei Zeidung aamål gschriem, walls hald in Luidboldhain an den Åmd genau ersu zouganger is, wäi bei di Nu Jorcher. Is ja edz aa woschd. Des is hald unser Maadlasåmd. Mir genger dou scho seid zehn Johr immer midernander hii. Obber nerblous zon erschdn Konzedd, wall däi Fillharmonigger vill schenner sin wäi däi Sinfonigger. Un außerdem is an den Åmd aa nu des Feierwerch.«
Um sein Erstaunen zu überspielen, dass seine Kollegin Kulturveranstaltungen solcher Art schätzte, wechselte Hackenholt schnell das Thema. »Habt ihr bei der Durchsuchung etwas gefunden?«
»Wie man es nimmt«, entgegnete Wünnenberg. »In einem Kellerschrank stand ein alter Chemiebaukasten, in dem fast alles fehlte. Aber ob die Sachen mal kaputtgegangen sind oder sie erst seit Kurzem fehlen, das weiß niemand. Allerdings dürften sie zur Drogenherstellung sowieso nicht ausgereicht haben, von irgendwoher hat sich Jonas noch andere Gerätschaften besorgt. Ansonsten aber Fehlanzeige. Keine Drogen im Haus.«
»Der Moh is dodål ausgflibbd, wäi mir uns nåch den Chemiebaukasdn derkundichd ham«, warf Baumann ein.
»Also«, meinte Wünnenberg mit einem Blick auf die Uhr, »wir müssen jetzt noch schnell das Protokoll tippen, aber dann möchte ich auch so allmählich mal nach Hause gehen. Was steht für morgen an? Wann treffen wir uns?«
»Manfred hat für heute und morgen die Befragungen der Schrebergartenbesitzer übernommen. Zumindest die, die wir bisher nicht erreicht haben. Und natürlich die, die in unmittelbarer Nachbarschaft vom Petzold’schen Garten liegen. Die Ergebnisse der DNA-Analyse werden wir nicht vor Montag bekommen. Nachdem es also sonst nichts Neues gibt, denke ich, dass wir uns morgen einen freien Sonntag gönnen können.«
Die beiden Kollegen quittierten die Aussage mit einem breiten Grinsen und beifälligem Nicken.
Köstliche Düfte nach frisch Gebratenem stiegen Hackenholt in die Nase, als er die Wohnungstür aufschloss. Sein Hunger trieb ihn auf direktem Weg in die Küche. Auf dem großen Holztisch standen mehrere Teller. Jeder einzelne war mit einer blütenweißen, altmodisch anmutenden Fliegennetzhaube abgedeckt. Solche Dinger hatte Hackenholt seit den achtziger Jahren nirgendwo mehr gesehen. Auf einem Teller lagen Hühnerbeine, auf einem anderen Fleischküchle und auf dem dritten ein Schweinebraten – allerdings ohne Soße. Daneben stand ein Gugelhupf. Als Hackenholt neugierig in den Kühlschrank schaute, fand er dort hübsch aufgereiht ein Dutzend mittelgroßer Marmeladengläser. Die eine Hälfte war mit Vanille-, die andere mit Schokoladenpudding gefüllt. Am vordersten Glas klebte ein gelber Zettel: »Finger weg!!!«
Enttäuscht machte er die Kühlschranktür wieder zu. Auf dem Tisch hatte kein solcher Zettel gelegen, oder? Er sah noch einmal nach. Tatsächlich: nichts. Hieß das nun, er durfte sich an den Leckereien gütlich tun? Doch irgendwie traute er sich nicht, denn dass das nicht das morgige sonntägliche Mittagessen war, das war klar. Was da vor ihm lag, hätte für eine Hundertschaft gereicht. Na ja, zumindest für einen Einsatzzug. Andersherum: Polizisten standen ja nun mal im Ruf, kräftig zuzuschlagen, wenn es bei einer Feier etwas umsonst gab. Also reichte es vielleicht doch nur für ein paar hungrige Mäuler? Von diesem Gedanken inspiriert zählte Hackenholt die Fleischküchle. Sechzehn. Und Hühnerschenkel? Zwölf. Hm! Konnte er es wagen, ein Fleischküchle zu stibitzen? Als er sich eins unter der Abdeckung hervorholte, verkleinerte er die entstandene Lücke, indem er die zwei daneben ein bisschen näher zusammenschob. Es fiel überhaupt nicht auf. Doch auch nachdem er das Küchlein gegessen hatte, war er noch immer hungrig. Ob er vielleicht ein zweites …?
Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als er hörte, wie ein Schlüssel in die Wohnungstür gesteckt wurde. Schnell öffnete er den Kühlschrank, holte sich ein Joghurt heraus und setzte sich an den Küchentisch, damit er sich nicht ganz so ertappt fühlte. Sophie kam herein, warf ihm einen kurzen Blick zu und ging zum Kühlschrank.
»Du hast vergessen anzurufen«, sagte sie leise. »Bist du jetzt erst heimgekommen?«
»Hm-mh. Vor zehn Minuten.« Seine Stimme klang schuldbewusst, aber nicht wegen des Fleischküchles. »Es tut mir leid, Sophie. Die Zeit ist heute einfach mal wieder verflogen. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut, und plötzlich war der Nachmittag vorbei.« Er stand auf und ging zur Spüle hinüber, wo sie sich noch immer umständlich ein Glas Wasser einschenkte. »Warst du weg?«
Sie nickte, ohne sich zu ihm umzuwenden.
»Es tut mir wirklich leid, Schatz.« Sanft legte er seine Hände auf ihre Schultern, küsste sie auf den Nacken und drehte sie dann langsam zu sich um. »Morgen gehe ich den ganzen Tag nicht ins Präsidium und komme auch mit zum Klassik Open Air, wenn du willst. Versprochen!« Er schloss sie fest in die Arme und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Sie dufteten leicht nach ihrem Parfum. Er zog sie noch ein bisschen fester an sich. »Und in fünfeinhalb Wochen fängt auch endlich mein Urlaub an, dann fahren wir weg – wie ausgemacht. Nach Irland. Komme, was wolle.«
Er küsste sie auf dem ganzen Weg hinüber ins Schlafzimmer.