Knick in der Pupille
Eines Abends, ich lag glücklich Schokolade lutschend im Bett, hatte ich Lust auf ein Glas Orangensaft. Also, raus aus den Federn und ab in die Küche. Und plötzlich stand da eine fremde Frau im Flur. Ich schrie auf. Als sich mein Schreck legte, stellte ich fest, dass ich das war, die fremde Frau. Nackt stand ich vor einem überdimensionalen Spiegel. Und was ich sah, war eine hübsche, schlanke Frau. Das war ich. Kleidergröße Sechsunddreißig.
Wenn ich also nicht dick und hässlich war, obwohl mein Mann mich immer Dicke genannt hatte, dann konnte ich auch nicht unglücklich und unterbezahlt sein. Denn erstens hatte ich den Mann verlassen, der mich unglücklich machte, und zweitens hatte der mir immer gesagt, ich sei unterbezahlt. Und so lernte ich an jenem Abend vor dem Spiegel, dass ich schlank, hübsch, glücklich und verdammt erfolgreich war.
Diese Verschiebung des Blickwinkels ist doch immer wieder erstaunlich. Hast du mal zufällig irgendwo ein altes Foto von dir gefunden? Du weißt noch ganz genau, wie du dich an diesem Tag gefühlt hast: Das Kleid hast du noch nie gemocht, du hattest einen Pickel auf der Nase und der Pony war mal wieder total fettig. Kurzum, du hattest deine Tage und fühltest dich abstoßend hässlich. Aber auf dem Foto siehst du toll aus. Das haben wahrscheinlich alle anderen damals schon so gesehen – nur du nicht.