Natürlich nett
Gehen wir doch noch mal in unser kleines italienisches Restaurant: Soeben haben zwei Frauen in unserem Alter den Laden betreten. Sie lächeln schon von weitem dem hübschen Ober zu, der sofort auf sie zustürzt und sie mit Namen begrüßt. Er begleitet sie diensteifrig zu ihrem Lieblingstisch am Fenster. „Es ist aber nett von Ihnen, dass Sie uns unseren Lieblingsplatz reserviert haben“, sagt die eine der beiden Frauen. Sie haben bereits die Speisekarte vor sich liegen, der Ober fragt: „Wie immer?“ Und die Frauen strahlen. „Sie haben ein fantastisches Gedächtnis“, sagt die andere und der Ober schwirrt ab. Die beiden machen sich über die Speisekarte her, während innerhalb von zwei Minuten die Amuse Gueules auf dem Tisch stehen. Sie blicken kurz auf und sagen: „Danke, wir sind soweit.“ Ruckzuck geben sie ihre Bestellung auf, der Ober empfiehlt, nicht die Seezunge zu nehmen, die wäre heute ziemlich klein. Die beiden bedanken sich für seine Aufmerksamkeit und bestellen dafür den empfohlenen Zander im Spinatbett. Dann wenden sie sich einander zu und vertiefen sich in ihr Gespräch.
Während die männlichen Kunden des Restaurants die beiden Zwanzigjährigen anstarren, schauen die Frauen im Restaurant immer wieder verstohlen auf die beiden Frauen. Denn die strahlen Heiterkeit, Gelassenheit und eine souveräne Freundlichkeit aus, die nicht nur bei unserem netten Kellner ihre Wirkung nicht verfehlen. Madamchen am Tisch in der Mitte wurde trotz intensivstem Haargefummels nur eines kurzen Blickes gewürdigt und dann ad acta gelegt.
Was unterscheidet nun die beiden Frauen von Madame? Sie sind gleich alt, aber unsere Zwei haben in ihren Äußerungen dem Ober zu verstehen gegeben, dass sie sich in ihn hineindenken. Sie haben festgestellt, dass er viel zu tun hat, ihn nicht mit kapriziösen Extrawünschen belästigt. Sie haben seine Aufmerksamkeit zu würdigen gewusst. Sie haben gelächelt, ohne den Versuch zu flirten. Sie haben ihn mit Namen angeredet und damit den Herrn Ober wie einen Menschen und nicht wie einen Angestellten behandelt. Und du kannst sicher sein, sie haben heute, genauso wie immer, ein angemessenes Trinkgeld hinterlassen. Sie haben sich also ganz normal benommen. Eben wie Klasse-Frauen.
Und wie wird man nun eine Klasse-Frau?