Du verlierst nur deine Brille und nicht den Verstand
Es gibt Tage, da bist du sicher, dass du jetzt wirklich reif für die Klapse bist. Schon beim Verlassen des Hauses denkst du, ich muss unbedingt Kaffeesahne kaufen. Im Auto fällt dir auf, dass du deine Lesebrille hast liegen gelassen. Da du natürlich zu faul bist, die paar Schritte nach oben zu gehen, muss es eben ohne Brille gehen. Du hast ja auch nicht viel auf deinem Einkaufszettel, Kaffeesahne, Salat, Selters, Steaks und Spülmittel. Wo war jetzt nur die Brille zum Autofahren? Nachdem dir dein Augenarzt zartfühlend mitgeteilt hat, dass du jetzt altersschwachsichtig bist, suchst du ständig nach irgendeiner Brille. Der zum Lesen und der zum Fernsehen und der zum Autofahren und der Gleitsichtbrille, wenn es hart auf hart kommt. Die Gleitsicht liegt natürlich irgendwo im Büro in der Schublade, glaubst du wenigstens. Wird also gehen im Büro, wenn auch mit Kopfschmerzen. Im Büro stellst du natürlich fest, dass die Gleitsicht sich nicht da befindet, wo du sie vermutet hast, sprich, du sitzt den ganzen Tag mit zusammengekniffenen Augen über einer Excel-Tabelle oder einer Rechnung in neun Punkt. Deine Vermutung, dass das nur jemand unter dreißig geschrieben haben kann, könnte hinkommen.
Auf die Frage deiner jüngeren Kollegin, ob du den Brief an Herrn Meier geschrieben hast, fragst du, welchen Brief an Herrn Meier. Sie sieht dich ein bisschen komisch an und du argwöhnst, dass dir etwas ganz Wichtiges durchgerutscht sei. Wenn du jetzt antwortest: „Ach so, ja, Herrn Meier, natürlich“, dann begibst du dich in eine Zwickmühle. Denn in der nächsten halben Stunde wirst du grübeln, wer zum Teufel Herr Meier ist, an den du einen Brief schicken wolltest, nur um dann eine dezente Frage zu stellen, die dich imagemäßig in die Nähe der Nervenheilanstalt bringen wird. Wenn deine Unterlagen also nicht absolut topfit sind, könntest du ziemliche Schwierigkeiten bekommen. Jetzt heißt es improvisieren.
Du schaust deine junge Kollegin streng an und sagst: „Sie meinen sicher Herrn Müller?“ Mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit wird sie sagen: „Nee, ich meine Herrn Meier von den städtischen Verkehrsbetrieben.“ Bums, alles wieder da. Du schiebst ein „Ach so, ich dachte, Sie sprechen von Herrn Müller von der Deutschen Bundesbahn“ nach und die Situation ist gerettet.
Nachdem du dich also weiter durch den Tag gezwinkert hast, stürmst du den Supermarkt und kaufst Steaks, Selters, Salat und Spülmittel. Kaum hast du zu Hause die Tür aufgeschlossen, fällt dir ein, dass du Kaffeesahne kaufen wolltest. Du schmeißt Steaks, Selters, Salat und Spülmittel in die Ecke, dich selbst in den nächsten Sessel und heulst wie ein einsamer Wolf. Nein, meine Liebe, du hast nicht den Verstand verloren. Dein Kurzzeitgedächtnis lässt dich jetzt ab und an im Stich.
Stell dir dein Gehirn mal als Umspannwerk vor. Bisher warst du auf Wechselstrom mit monatlichen Hormonschüben. Der Wechselstrom wird in deinem Gehirn jetzt auf Gleichstrom umgepolt, ein ziemlich anstrengender Prozess, der mehr Energie braucht, als du gelegentlich hast. Also keine Angst, du verlierst nicht den Verstand, nur deine Brille, die du mit ziemlicher Sicherheit neben der Waschmaschine wieder finden wirst, weil du gestern in der Gebrauchsanweisung nachgeguckt hast, wie man das Flusensieb reinigt.
Also mache dir jeden Tag einen Plan und klebe dir wenn nötig kleine Zettelchen irgendwohin. Brille dabei? Geldbörse eingesteckt? Kaffeesahne!