Die Sorgenrelativitätstheorie

Weißt du noch, wie es war, als du genau wusstest, dass heute der blaue Brief aus der Schule angekommen sein muss? Du wusstest auch schon vorher, dass das passieren wird und hast nächtelang nicht geschlafen und bist fast verrückt geworden vor Angst. Und dann kam der Tag der Wahrheit. Eigentlich hast du dich gar nicht nach Hause getraut, aber wo solltest du denn hin? Also hast du die Zähne zusammengekniffen und bist – mit hängendem Kopf und Schultern – in Erwartung eines galaktischen Donnerwetters in die Wohnung geschlichen. Das kam so sicher, wie jede Ampel auf gelb springt, wenn man es eilig hat, und eigentlich war die Angst vorher viel schlimmer als das galaktische Donnerwetter, denn danach war es vorbei. Du bist in dein Zimmer getrabt, hast dich aufs Bett gelegt und erlösende Tränen geheult.

Ich entsinne mich sehr gut an den Tag, als ich einen Anruf aus dem Krankenhaus bekam, dass ich sofort kommen sollte, weil mein Vater eine Notoperation hatte. Also habe ich mich ins nächste Taxi geschmissen und bin zum Krankenhaus gedüst. Ich hatte Herzrasen, der Speichel sammelte sich in meinem Mund, ich musste aufs Klo, kurz: Panik. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich kaum die Geldbörse aufbekommen habe. Und dann bin ich aus dem Taxi ausgestiegen und habe gedacht: Ach ja, also das ist Todesangst. Als ich im Foyer des Krankenhauses stand, hätte ich fast getobt. Denn in diesem Augenblick fiel es mir wie Schuppen aus den Haaren. Ich kannte dieses Gefühl, ich kannte es mein ganzes Leben lang. Das, was ich hatte, damals als Kind, war genau das gleiche Gefühl: Todesangst. Wegen eines blauen Briefes.

Kurzum: Das Kind, das sitzen geblieben ist, hat genauso viel Angst, wie eine Frau, die gerade ihren Job verloren hat. Es gibt keine Messskala für große Sorgen, große Sorgen sind relativ.

Und dann schau dich mal um: Deine beste Freundin hat gerade ihren Job bei der Bank verloren. Deine andere Freundin ist von ihrem Mann verlassen worden. Bei der nächsten Freundin hat man Brustkrebs festgestellt, die Notarin musste ihre Sekretärin entlassen, die Gynäkologin bietet dir an, Collagen unter deine Nasenfalten zu spritzen, die Nachbarin rennt jeden Tag zu ihrer Mutter, um sie zu füttern und zu wickeln, und der Sohn deiner Friseurin ist heroinabhängig. Alle Menschen haben Probleme, sie gehören zum Leben wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Nicht, dass die Arbeitslosigkeit deiner Freundin die Angst um deinen Arbeitsplatz in irgendeiner Weise mindert. Aber eine Zeit ohne Probleme gibt es nicht und zu wissen, dass wir nicht allein sind, kann schon ein bisschen helfen.

Mein letzter Tampon
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