Die Theaterkarten
Manchmal hilft es auch, die eigene Mutter zu beobachten. Noch im zarten Alter von fünfundsiebzig hat meine Mutter mich glatt vom Platz gefegt. Ich erinnere mich noch an diese wundervolle Parisreise. Wir feierten unsere Ankunft in einem lauschigen Lokal in St. Germaine mit einer Flasche Wein und einer herrlichen Meeresfrüchteplatte. Am Nachbartisch saß ein älterer Herr mit seiner Tochter, beide aus Holland. Mutti lächelte den Mann an, schaute auf seinen Teller und fragte, wie das Gericht denn heiße, das da so köstlich duftet. Es wurde ein toller Abend. Die beiden vom Nachbartisch setzten sich bald zu uns, begleiteten uns ins Hotel und der ältere Herr steckte Mutti seine Telefonnummer zu.
Am nächsten Mittag gingen wir wieder in ein kleines Restaurant. Wir saßen auf der Terrasse an einem rotkariert eingedeckten Tisch und blickten auf die Bouquinisten am Ufer der Seine. Da kam ein großer, gut aussehender Schwarzer, so um die Fünfzig, auf das Lokal zu geschlendert. Er schaute sich suchend um. Mutti strahlte ihn an. Er setzte sich sofort an den Nebentisch und zwei Minuten später kramte meine Mutter ihren gesamten englischen Wortschatz hervor, um ihm mitzuteilen, dass das Essen hier ganz köstlich sei, aber der Kellner recht lange auf sich warten lasse. Der gut aussehende Mann erwies sich als weltbekannter amerikanischer Sänger auf Wochenendausflug in Paris. Nachdem wir dann (gemeinsam) gegessen hatten, hat er uns für den Rest des Tages durch Paris begleitet. Als es Zeit für seinen Rückflug nach London wurde, nahm er meine Mutter in den Arm, gab ihr einen Kuss und lud sie ein, beim nächsten Weekendausflug doch mal in London in der Oper vorbeizuschauen.
Wie Mutti das macht? Eigentlich ganz einfach. Sie hat überhaupt keine Hemmungen und ist so natürlich nett und spontan, dass jeder sich sofort zu ihr hingezogen fühlt.
Ich erinnere mich noch an eine Szene aus meiner Teenagerzeit. Meine Mutter musste kurz vor dem Urlaub auf die Bank. Dort stand am Nebenschalter Martin Held, ein Schauspieler, den meine Mutter wirklich verehrte. Sie drehte sich um, lächelte Martin Held an, und dann fiel ihr etwas ein. Sie schritt entschlossen auf den Mann zu und sagte: „Mensch, Herr Held, das ist aber toll, dass ich Sie hier treffe. Sie erinnern mich daran, dass ich mein Theaterabonnement noch abbestellen muss.“
Was glaubst du, machte Martin Held? Genau, er lachte schallend. Als er endlich wieder Luft kriegte, fragte er, ob er denn so schlecht gewesen sei. Da verstand auch meine Mutter, warum der große Mime so lachte. Dann lachte auch meine Mutter und weil sie so ansteckend lachen konnte, lachte die ganze Bank Tränen.
Dass meine Mutter mit ihrer Spontaneität und ihrem Humor mit zweiundfünfzig nach zwanzig Jahren wieder zurück ins Berufsleben gegangen ist, habe ich wohl schon erwähnt. Wie sie das gemacht hat? Eigentlich ganz einfach. Sie hat sich die Tante vom Zeitarbeitsamt gegriffen und ihr in der ihr eigenen, charmant-offenen Art, ihr Leid geklagt. Über ihre Tochter, die immer so tolle Jobs als Hostess kriegt und dadurch gar nicht zum Studieren kommt.
Daraufhin kriegte ich weniger tolle Jobs, dafür aber meine Mutter. Zuerst als Gesellschafterin bei einer blinden Dame. Nach deren Ableben und einer kleinen Erbschaft für meine Mutter, wurde sie die ständige Aushilfschefsekretärin in einem großen Betrieb, der sie bis zu ihrem siebzigsten Lebensjahr regelmäßig anforderte und der ihr über zwölf Jahre hinweg eine Heimat war. Bis zur Pensionierung meines Vaters behielt Mutti diese kleinen „Nebentätigkeiten“ und die daraus resultierende finanzielle Unabhängigkeit Vati gegenüber geheim, erstaunte aber durch ein neu gewonnenes Selbstbewusstsein. Mit der Frau vom Arbeitsamt verband sie all die Jahre eine Freundschaft.