Die Kultivierte

Sie ist fünfzig und fühlt sich topp, jedenfalls nachdem sie mit viel Mühe ihren Geburtstag überstanden, den Kater auskuriert und die 60-Watt-Lampe am Schminkspiegel durch eine 40-Watt-Birne ausgetauscht hat. Diese Frau ist rundum kultiviert, bis in die Fußspitzen. Selbst wenn sie allein ist, trägt sie Negligé, sie würde nie ohne Fußpflege außer Haus gehen. In ihrem Bücherschrank stehen Thomas Mann und John Updike, Hermann Hesse und Jean-Paul Sartre. Sie liebt italienische Opern und deutsche Symphonien, sie isst am liebsten Japanisch und Italienisch und sammelt moderne Skulpturen. Sie hat kein Gramm Fett zu viel und ihr Haar zeigt nie die Spur eines Färbeansatzes.

In letzter Zeit fährt sie immer öfter zu ihren Eltern aufs Land, ab und zu nimmt sie auch mal ihre Freunde mit. Und plötzlich lernen wir diese rundum kultivierte Frau von einer ganz anderen Seite kennen. Sie stürzt sich begeistert auf Muttis Hackbraten und die eingemachten Grünen Bohnen, trinkt gleichmütig Kröver Nacktarsch und sieht ihrer Mutter dabei so ähnlich, dass es fast wehtut. Nach dem dritten Glas Kröver Nacktarsch schmettert sie zusammen mit den Nachbarn „Es fährt ein Zug nach nirgendwo“, zwölfstimmig, und fegt die Asche ihrer Zigarette von der Wachstuchtischdecke.

Während sie zu Hause in italienischem Design mit leichtem Antiquitäteneinschlag wohnt, stört sie bei ihren Eltern die Teakholzschrankwand irgendwie überhaupt nicht. Wenn man sie, ganz dezent natürlich, fragt, wie sie das denn aushalte, wird sie sauer und philosophiert über das einfache Leben an sich und die Geborgenheit der Gemeinschaft, die in unseren Städten so überhaupt nicht mehr zu finden sei. Weißt du, sagt sie, hier ist alles irgendwie echt.

Nun stellen wir uns mal vor, diese rundum kultivierte Frau lernt einen rundum kultivierten Mann kennen und nimmt ihn mit zu ihren Eltern. Wir haben zwei Möglichkeiten: Entweder, der rundum kultivierte Mann versohlt ihr den Hintern, fordert lauthals mehr Hackbraten und Grüne Bohnen oder er lässt sich nie wieder blicken.

Wenn er ersteres tut, dann wahrscheinlich aus folgendem Grund: Auch er hat Eltern mit Teakholzschrankwand und Wachstuchtischdecke, mag gern mal alte deutsche Schlager singen und hat eine Vorliebe für Hackbraten und eingemachte Grüne Bohnen. Das entspricht so in etwa seiner Vorstellung von Geborgenheit.

Oder aber er stammt aus einem Milieu, das dem bürgerlich-kultivierten Erscheinungsbild seiner neuen Freundin in etwa entspricht. Dann kann er das Ganze nur als Zoobesucher betrachten und verständnislos die Nase rümpfen. Ob er je mit ihr eine wirklich gute Beziehung haben wird, steht in den Sternen. Denn unsere Freundin hat selbst mit fünfzig immer noch nicht den Mut, ihre eigenen kleinen Abgründe, ihren Hang zur Spießigkeit zu sehen. Anstatt zu Hause mal Hering in Tomatensauce zu essen, sich in ein Flanellnachthemd zu werfen und dabei genüsslich zu grunzen, fährt sie ständig was ganz Kultiviertes auf. Sie ist die Hüterin des Heiligen Grals „Was man tut und was man nicht tut“, sie ist die Erfinderin des Stils. Aber ganz tief innen drin ist sie ein süßes, spießiges Mädel vom Land, das gern auf einer Bauernhochzeit tanzt und im Gemeindeheim zusammen mit Mutti Selbstgehäkeltes für hungernde Kinder verkauft. Um wie viel glücklicher könnte sie leben, wenn sie sich auch in ihrer großen Stadt mal ein paar kleine Spießigkeiten erlauben würde. Und um wie viel sympathischer würde es sie machen, wenn man zwischen Hesse und Sartre vielleicht Johannes Mario Simmel oder Johanna Spyri finden würde. Oder neben Beethoven und Verdi Michael Holm. Und um wie viel mehr würde sie ein kultivierter Mann für ihre kleinen Echtheiten lieben. Aber dafür müsste sie erst mal aufhören zu lügen.

Mein letzter Tampon
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