Frankreich, Herbst 1307
Jener 12. Oktober
begann für die Templerniederlassung von Provins wie jeder
gewöhnliche Tag. Noch lag Dunkelheit über dem Land, als Komtur
Renalt einen seiner Ordensbrüder zu sich befahl.
„Hier sind die Wechsel
für unsere Bank in Paris. Übergebt sie dem Visitator persönlich,
Bruder Jocelin.“ Er schob eine Schatulle über den Tisch. „Reitet
nach der Messe los. Dann seit Ihr zur Non in Paris.“
„Ja, Sire Commandeur.“
Der Schein der Kerze glitt über ein noch junges Gesicht mit kurz
geschnittenem, dunklem Haar und hellen Augen.
„Ihr werdet ohne
Begleitung reisen. Eine Eskorte macht das Gesindel nur neugierig“,
fuhr der Komtur fort.
Jocelin nickte. Seit
der letzten Steuererhöhung des Allerchristlichsten Königs, wie
Philipp IV. sich nannte, hatten die Überfälle beträchtlich
zugenommen.
Der junge Ordensbruder
ergriff die Schatulle und schlug den Mantel um sie. Mit einer
Verneigung verließ er die Kammer. Der nachdenkliche Blick des
Komturs folgte ihm. Jocelin war jetzt seit fast fünf Jahren hier;
er war einer der besten Kämpfer, zudem noch weise und gerecht in
den Entscheidungen der Kapitelssitzungen, trotz seiner Jugend.
Renalt zweifelte nicht, dass dem jungen Mann eine große Zukunft
bevorstand. Wahrscheinlich würde er bald eine eigene Niederlassung
zur Verwaltung übertragen bekommen, oder gar nach Zypern berufen
werden, in den Konvent des Meisters… Eine nicht unerhebliche
Karriere für einen Waisenjungen aus Palästina….
Eine knappe Stunde
später ritt Jocelin durch das Tor der Komturei von Provins. In den
Straßen der Stadt war es noch ruhig. Die Sonne ging soeben auf und
kämpfte sich durch tief hängende regenschwangere Wolkenberge. In
der Nacht hatte ein Sturm fast sämtliche Blätter von den Bäumen
gerissen. Kahl streckte sich das Geäst in den Himmel. Der eisige
Wind ließ es ächzen und knirschen. Jocelin war froh, dass man ihm
ein zusätzliches Untergewand gestattet hatte. Hinter den
Stadtmauern schlug er den Weg über das Landgut des Ordens ein. Dort
waren die Bauern bereits an der Arbeit. Es galt die Sturmschäden
auszubessern, ehe es erneut zu regnen begann. Zäune waren
zusammengefallen, Vieh entlaufen, Dächer halb weggefegt. Als
Jocelin vorüber ritt, unterbrachen die Bauern kurz ihre
Beschäftigung für einen Gruß. Trotz aller Beschwernis hatten die
Untertanen des Ordens keinen Grund zur Klage. Ihre Abgaben waren
fest geregelt, die Handwerker erhielten stets ihren Lohn, und keine
Fehden bedrohten Land und Leute. Jocelin grüßte mit einem kurzen
Winken zurück. Bald erreichte er die weit ausschwingende Ebene vor
Paris. Die Stadt selbst lag noch hinter einem dichten Regenschleier
verborgen. Ein paar ärmliche Dörfer säumten die Straße, auf der
ungewöhnlich viele königliche Söldner unterwegs
waren.
Es regnete wieder,
zuerst nur ganz leicht, schließlich aber prasselten die Tropfen mit
Hagel vermischt nieder. Gemeinsam mit fünf Söldnern suchte Jocelin
unter den Bäumen am Wegesrand Schutz. „Verdammtes Wetter!“ fluchte
einer der Bewaffneten. Sein mit der königlichen Lilie verziertes
Wams war schlammbespritzt. Jocelin bemerkte, dass es die
Galauniform war und fragte nach dem Grund für die Aufmachung. Der
Söldner zuckte mit den Schultern.
„Wir haben den Befehl
von unserem Kommandeur erhalten, der bekam ihn von seinem Bailli,
und der wohl von unserem hochheiligen Herrn König
selber.“
Einer seiner Kameraden
hörte den feinen Hohn in diesem Worten und setzte hinzu: “Na, unser
Herr König soll über seiner Heiligkeit nur nicht vergessen, uns den
Sold zu zahlen!“
„Genau!“ pflichtete
ein anderer bei. „Aber man hört so Sachen, dass Seine Majestät bald
Truhen voller Gold haben soll.“
„Ach, woher denn? Da
muss schon ein Wunder passieren! - Aber was soll’s!“ Er zog einen
Lederbecher aus der Tasche und klapperte herausfordernd mit den
Würfeln.
„Machen wir ein
Spielchen?“
Jocelin lehnte das
Angebot, sich zu beteiligen, mit einem Kopfschütteln ab.
Würfelspiel war ein verdammungswürdiger Zeitvertreib und ihm
natürlich untersagt.
Stunden später ließ
der Regen etwas nach und Jocelin ritt weiter. Völlig durchnässt kam
er am Flussübergang an. Gewöhnlich floss die Seine an dieser Stelle
ruhig dahin. Die Regenfälle der vergangenen Stunden hatten sie
jedoch in eine tosende Flut verwandelt. Erst auf den zweiten Blick
sah Jocelin, dass die Brücke zerstört war. Nur die Uferpfeiler
standen noch. Unschlüssig ritt er die Böschung entlang, dann
drängte er sein Pferd ins Wasser. Das Tier scheute, bäumte sich
auf, und hätte ihn fast abgeworfen. Nur mühsam gelang es Jocelin,
das Pferd wieder zum Ufer zu lenken. Nein, da hindurch zureiten
wäre Wahnsinn! Das bedeutete, dass er nach der nächsten Brücke
suchen musste. Und… er würde Paris nicht mehr rechtzeitig
erreichen...
König Philipp lag
ruhig, aber er schlief nicht. Er hielt die schweren Damastvorhänge
seines Bettes zur Seite und starrte auf das gegenüberliegende
Fenster. In den bleigefassten Rundscheiben vervielfältigte sich das
Mondlicht in grotesken Spiralen. Aber der König nahm sie nicht
wahr. Seine Augen schienen nicht das Lichtspiel im Glas, sondern
die Zukunft zu umfassen, während seine Gedanken durch die
Vergangenheit streiften.
Er hörte wieder die
stolze, spöttische Stimme Papst Bonifatius VIII.: “Ein Falschmünzer
bist du, König von Frankreich!“
Er hörte das Geschrei
einer wütenden Volksmenge: “Räuber, Betrüger!“
Ungeschwächt lebte der
Aufstand der Pariser Bevölkerung in Philipps Erinnerung. Der Mob
hatte den Palast stürmen wollen, Steine und Unrat waren geflogen.
Im letzten Moment war Philipp damals die Flucht in die
Templerfestung geglückt.
Nur mit einem
Untergewand bekleidet hatte er vor dem Komtur gestanden und ihn um
die Bezahlung von Soldaten zur Niederschlagung des Aufstandes
angefleht. Was für ein demütigender Moment! Und bis jetzt hatte er
dem Orden nicht einen Sous zurückerstattet. Die Staatskasse war so
leer wie damals.
Und schon wieder
murrte dass Volk über die Steuererhöhungen. Aber bald würde er,
Philipp, mehr Gold besitzen als jeder andere Fürst der
Christenheit! Gold, mit dem er seine Beamten entlohnen konnte,
seine Gesetzeslehrer, all die Männer, die er in der
Provinzverwaltung eingesetzt hatte, und die dem Wirrwarr in Recht
und Gesetz ein Ende bereiten sollten. Den König durchströmte ein
Gefühl seligen Glücks. Keine selbstherrlichen Barone würden die
Ordnung des Landes mehr stören, keine kirchlichen Immunitäten mehr
der Verfassungsreform im Wege stehen. Frankreich würde ein
mächtiges, blühendes Reich sein, dessen Grenzen niemand zu
verletzen wagte- und er würde der Herrscher dieses Reiches sein.
Philipp IV., Seine allerchristlichste Majestät. Der König war zu
aufgeregt um noch liegen zu bleiben. Er erhob sich und schritt zu
einem kleinen Tisch, auf dem stets Schreibutensilien
bereitlagen.
Fast zärtlich strich
Philipp über ein dicht beschriebenes Pergament, das Original von
dutzenden Kopien, die ins ganze Land verschickt worden waren.
Obwohl er den Inhalt des Erlasses längst auswendig kannte, las er
ihn erneut. Ein wohliges Frösteln überkam ihn bei all den darin
geschilderten blasphemischen Ungeheuerlichkeiten. Jede einzelne
dieser Zeilen würde Folterungen und Tod auslösen.
Aber es berührte ihn
nicht. Er würde Gold haben, dass war das einzige, was
zählte.
„Und dir verdanke ich
das alles, mein lieber Nogaret“, flüsterte Philipp.
Gott allein - oder
wohl eher der Teufel - mochte wissen, warum gerade ER die Sache so
eifrig verfolgte! Der König entsann sich, wie sein Siegelbewahrer
Nogaret ihm jenen Esquieu de Floyran zum ersten Mal vorgeführt
hatte. Der Mann war ein zum Tode verurteilter Verbrecher gewesen.
Doch allein die Tatsache, dass er sich nicht mehr im Kerker,
sondern hier vor ihm im königlichen Palast befand, hatte Philipp
von der Brauchbarkeit Floyrans überzeugt. Keinerlei Furcht war in
seinen schwarzen Augen zu erkennen gewesen, als er vor dem Thron
niederkniete und sagte: “Ich will Euch ein großen Geheimnis
verraten, mein Herr König!“
Und was für ein
kostbares, funkelndes Geheimnis! Philipp lächelte
kalt.
In blendender
Nachmittagssonne ritt Jocelin in die Vorstadt St. Nicolas von
Paris. Die Siedlung war seit seinem letzten Besuch stark
angewachsen und hätte eigentlich einer Mauer bedurft. Dafür fehlte
jedoch das Geld. Dicht, als wollten sie sich gegenseitig schützen,
drängten sich die Häuser. Schmale Gassen wanden sich zwischen ihnen
hindurch. Einige Hühner stakten durch den Schlamm, es stank nach
Unrat und Exkrementen. Kaum ein Mensch war zu sehen. Nur ein paar
zerlumpte Kinder spielten im Dreck. Als sie Jocelin gewahrten,
stoben sie auseinander.
Plötzlich trat unter
einem Torbogen ein Mann hervor und griff ihm beherzt in seine
Zügel. Der Ordensbruder erkannte sofort, dass ihm keine wirkliche
Gefahr drohte. Der Mann war alt, und außerdem endete sein linkes
Bein unterhalb des Knies in einem Holzstock.
„Ich kann dir nichts
geben“, sagte Jocelin so ruhig wie möglich. „Komm in unseren
Konvent beim Mittagsläuten! Ich muss weiter!“
„Ihr werdet nicht weit
kommen!“ erwiderte der Mann und sah unruhig um die Ecke. „Überhaupt
ein Wunder, wie Ihr bis hierher gekommen seid…“
„Was redest du für
unsinniges Zeug?“ rief Jocelin mit etwas schärferer Stimme, weil
der Alte noch immer seine Zügel festhielt.
In einiger Entfernung
klang das Schlagen von Pferdehufen. „Folgt mir, Sire! Ich will Euch
nichts Übles, glaubt mir!“
Jocelin hörte die
Angst in der Stimme des Mannes und wandte sich zur Stadtmauer. Hoch
über die übrigen Häuser ragte die Klosterfestung der Templer auf.
Sicher war Komtur Robert...
Der junge Ordensbruder
brachte den Gedanken nie zu Ende.
Sein Blick blieb an
der Spitze des mächtigen Wehrturmes haften. Dort wehte keine
Standarte!
Der heruntergekommene
Alte, der ihn hier aufhielt, mochte verrückt sein, aber irgendetwas
stimmte nicht! Mehr seinem Gespür, als einer willentlichen
Entscheidung gehorchend ließ sich Jocelin in einen Hof führen. Der
Alte schlug hinter ihm das Tor zu und verriegelte es.
„Was ist hier los,
Mann?“
„König Philipp hat
heute Morgen die Templer gefangen nehmen
lassen.“
„Das ist unmöglich!
Der Orden untersteht dem Heiligen Stuhl! Kein weltlicher Fürst kann
uns verhaften!“
„Ich habe sie gesehen,
Sire! Den Meister und alle seine Würdenträger, die Ritter und
Servienten, wie sie in Ketten zum königlichen Palais geführt
wurden! Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen!“
„Du musst dich geirrt
haben!“
Von der Straße her
waren Pferde und raues Gelächter zu hören. Fast gleichzeitig
drehten sich Jocelin und der Alte zum Tor.
„Na, hab ich nicht
gesagt, dass wir ihn kriegen?“ grölte jemand. „Wolltest du uns
entwischen, feiner Herr?“
Jocelin sprang aus dem
Sattel, rannte zum Tor und spähte durch ein Astloch. Sein Blick
umfasste das Hinterteil eines gewichtigen Pferdes, dann eine blaue
Satteldecke mit Lilienwappen. Königliche Söldner. Als sich das Tier
ein wenig zur Seite bewegte, sah Jocelin die mit einem Seil am
Sattelbogen gefesselten Hände eines Mannes. Seine übrige Gestalt
wurde vom breiten Rücken eines Söldners verdeckt. Der Schlag dessen
gepanzerter Faust ließ den Gefangenen in den Schlamm stürzen. Er
trug die weiße, mit dem roten Kreuz bestickte Tunika der Templer.
Jocelins Hand fuhr an sein Schwert, doch dann besann er sich und
verhielt reglos. Langsam richtete sich der Gefangene wieder auf,
und Jocelin erkannte Robert, den Komtur von Paris.
„Jetzt ist dir dein
Hochmut vergangen, was?“ höhnte der Söldner. Komtur Robert blickte
ihm gerade ins Gesicht.
„Ich verlange den
Erzbischof von Sens zu sprechen!“
Die Söldner lachten
und ritten im Kreis um ihn herum. „Du wirst gleich den Inquisitor
sprechen können!“
In ohnmächtiger Wut
schaute Jocelin zu, wie der Söldnerzug sich wieder in Bewegung
setzte.
„Der Inquisitor?“
wiederholte er halb fragend.
„Ihr habt richtig
gehört, Sire! Ihr Templer steht unter der Anklage der Ketzerei!
Eine große Schrift war an der Pforte von Notre Dame angeschlagen,
‚ne mächtig prunkvolle Schrift mit Siegel! Die Priester haben sie
uns vorgelesen. Ihr seid Wölfe im Schafspelz, hieß es, und man
müsse euch ausrotten, ehe ihr das ganze Land mit eurer widerlichen
Sitte ansteckt. So gut wie jeder ist in Paris um die Neuigkeit zu
hören!“
Unter anderen
Umständen hätte Jocelin den Alten des Rausches bezichtigt. Was für
ein Unfug! Der Orden der Templer und Ketzerei! Hunderte Ritter
hatten im Kampf für die Kirche ihr Leben geopfert! Es war absurd!
So sehr, dass es einen beängstigenden Grad an Wahrscheinlichkeit
enthielt. Die fehlende Standarte... Der gefangene Komtur
Robert...
Nein, es konnte nicht
sein! Es musste ein Irrtum sein, ein unglücklicher Zufall! Bruder
Jocelin fasste nach den Zügeln seines Pferdes.
„Wenn Ihr jetzt geht,
Sire, werden sie Euch aufgreifen, sie werden Euch foltern, und Ihr
werdet von mir erzählen! Und ich hab‘ keine Lust, mit den glühenden
Zangen der Inquisition Bekanntschaft zu schließen!“
„Wenn das alles wahr
ist, was du sagst, warum hast du keine Furcht, dich mit mir
abzugeben? Warum lieferst du mich nicht aus?“
Der Alte lachte und
spuckte aus.
„Hab‘ ich gesagt, dass
ich‘s glaube, was die Priester schwätzen? Bei allen Heiligen, wenn
Euer Orden ketzerisch ist, dann pfeif‘ ich auf die wahre
Kirche!“
Er hatte Jocelin in
einen Bretterverschlag gedrängt und machte eine weit ausholende
Bewegung. „Mein Palast! Hier wird Euch niemand sehen. Na, ist es
nicht ein würdiges Plätzchen für einen Untertanen Seiner
Allerchristlichsten Majestät?! Ich bin arm! Ich war es schon immer,
und niemand kümmerte es, was aus mir wurde. Die Seele eines Armen
wiegt zu leicht in einer Zeit, in der die Priester den Bischofshof
wegen fetten Pfründen belagern! Ich konnte es mir nicht leisten,
ehrlich zu sein...“
Bruder Jocelins Sinne
schweiften ab.
Ketzerei... was für
eine Ketzerei? Der Orden der Templer angeklagt. Von wem eigentlich?
Sein Blick wanderte zu seinem Pferd. Am Sattelbogen hing die
Schatulle mit den Wechseln. Das war jetzt wertloses Papier... König
Philipp hatte die Templer gefangengenommen - alle? Oder nur die
Komturei von Paris? Was war mit den Brüdern in den anderen Ländern?
Was sollte er jetzt tun?
„... sie verurteilten
mich also zu einer Bußwallfahrt nach Santiago. Hat man vielleicht
je gehört, dass den Ministern des Königs so was auferlegt wurde?!
Dabei stehlen die, dass es jedem Dieb Ehre machen würde!“ Der Alte
schloss einen langen Fluch an.
„Oben in den Bergen
nach Spanien geriet ich in einen Schneesturm, verlor meine
Reisegefährten. Am nächsten Morgen überfiel mich eine Bande dieser
schwarzen baskischen Teufen... Die klauten mir die Stiefel.“ Er
klopfte gegen sein Holzbein. „Das ist die Erinnerung daran!
Erfroren! Aber ich schaffte es noch bis in die Ebene, bis zum
Hospiz Eures Ordens, Messire. Ah, ich sage Euch, ich hatte
höllische Schmerzen, aber trotzdem waren es die schönsten Tage
meines Lebens! Einmal hat man mich nicht behandelt wie einen
dreckigen Köter, sondern wie einen Gast! Was sage ich, wie einen
König! Ich hatte ein eigenes Bett, die edlen Herren wuschen mich,
und es gab Fleisch zu essen...“
Ganz gefangen in
seiner glücklichen Erinnerung lächelte der Alte. „Nein, Messire,
Ihr seid kein Ketzer, mögen die Leute sagen was sie wollen! Viel
eher ist es der schmierige Nogaret, der Siegelbewahrer des Königs!
Der hat schon seit vier Jahren keine Kirche mehr von innen
gesehen!“
„Ich muss wissen, was
geschehen ist. Ich muss weiter, “ unterbrach Jocelin den Redefluss
des Alten.
„Aber nicht in Eurem
Ordensgewand.“
Er bückte sich und
holte ein Bündel hervor. Als er den Stoff auseinander schlug, kam
ein abgewetzter Pilgermantel zum Vorschein.
„Nehmt das! Ich hab‘s
getragen damals, auf dem Weg nach Santiago.“
„Ich kann mein Habit
nicht ausziehen! Es wäre Verrat!“
„Haltet es, wofür Ihr
wollt, aber wenn Ihr‘s anbehaltet, ist es der sicherste Weg in den
Kerker!“
Jocelin nickte. Der
Alte hatte recht. Wollte er Klarheit gewinnen, durfte er nicht
seine Freiheit verlieren.
Langsam löste er die
Kordel seines weißen Mantels, nahm ihn von den Schultern und küsste
das aufgenähte Kreuz, ehe er ihn in den Sack zur Rüstung stopfte.
Dann warf er den Pilgerumhang über seine Tunika und ergriff den
Pilgerstab, den der Alte ihm entgegenhielt. „Aber mein
Pferd...“
„Ah, reiten könnt Ihr
nicht, Sire! Das ist ein viel zu gutes Tier für einen zerlumpten
Pilger! Nehmt die Satteldecke ab und alles, was es als Eigentum
Eures Ordens kennzeichnet und lasst‘s mir da! Ich werd‘ einen Platz
finden, wo‘s es gut hat...“
„Das ist also der
Preis für deine Hilfe!“ Jocelin ließ traurig die Hand über den Hals
des Tieres gleiten, das ihm seit zwei Jahren vertraut
war.
„Nicht Preis, Sire!
Ich helf‘ Euch, und das Pferd hilft mir, dass ich wieder ein paar
Tage leben kann!“
Der prächtige Zug des
Königs bewegte sich die breite Rue du Temple hinab. Eine Volksmenge
umringte die Herolde und die Leibgarde. Seine Majestät schien heute
großzügiger Laune zu sein. Die Münzen flogen reichhaltig in
ausgestreckte Hände. Einige Leute glaubten sogar, auf dem
statuenhaften Antlitz des Königs ein Lächeln zu sehen. Philipp
genoss den Ritt in der Tat. Die strahlende Sonne, die auf den
Rüstungen der Söldner glänzte, die Aufregung der abergläubischen
alten Weiber, die sich drängten, um seinen Mantel zu berühren. Er
war der Enkel eines Heiligen... An einer Straßenecke boten sich
schamlos ein paar Mädchen dar. Philipp hätte eine Schar von
Mätressen haben können. Doch seit dem Tod seiner Frau lebte er
keusch wie ein Eremit. Seine Geliebte hieß Frankreich, und für sie
war er bereit, alles zu opfern. Heute Morgen hatte er ihr den Orden
der Templer geopfert. Der König gestattete sich einen Seitenblick
auf seinen neben ihm reitenden Siegelbewahrer. Guillaume de Nogaret
trug mit seinem schmucklosen schwarzen Gewand eine Einfachheit zur
Schau, die an Geiz grenzte. Sein üblicherweise in mürrische Falten
gelegtes Gesicht strahlte an diesem Tag vor innerer Befriedigung.
Er war dabei gewesen, als am Morgen die königlichen Söldner die
Templer der Pariser Komturei gefangen nahmen. Er hatte ihre
Gesichter gesehen, ihre Verwirrung, ihre Angst. Philipp spürte, wie
viel Nogaret dieser Triumph bedeutete, vielleicht mehr als ihm
selbst. Was nur brachte ihn zu einem solchen Eifer, der den
Gehorsam eines loyalen Dieners bei weitem überstieg? Er, Philipp,
hatte genügend Gründe, gegen den Orden vorzugehen. Die Templer
bildeten einen mächtigen, reichen, und seiner Ansicht nach vor
allem überflüssigen Staat inmitten seines Reiches. Aber Guillaume
de Nogaret? Hell spiegelte sich die Sonne in dem großen goldenen
Kreuz, dass Nogaret auf der Brust trug. Er legte Wert darauf, sich
als treuer Sohn der Kirche darzustellen. Und das, obwohl er seit
beinahe vier Jahren mit dem Bann belegt war…
Damals hatte Philipp
IV. Papst Bonifatius VIII. in die Schranken weisen wollen.
Unterstützt von einer feindlichen Kardinalspartei und zahlreichen
gekauften Zeugen war der Verleumdungskampf geführt worden. Man
hatte Bonifatius der Häresie und Götzenverehrung angeklagt, des
Ämterkaufs und anderer übler Verbrechen. Dann, im Frühjahr, hatte
Guillaume de Nogaret mit einer Handvoll Söldner den Papst in seinem
Palast in Anagni überfallen und drei Tage gefangen gehalten.
Bonifatius, dieser zähe alte Knochen, lebte zu Nogarets Missfallen
nach seiner Befreiung noch lang genug, seinen Peiniger zu
exkommunizieren. Sein Nachfolger Benedikt IX. bekräftigte den Bann,
und auch Papst Clemens verweigerte die Absolution.
Die königliche
Prozession hatte die Klosterfestung der Templer erreicht. Die
gewaltige Zugbrücke senkte sich über den Graben. Zu beiden Seiten
nahmen die Herolde Aufstellung und schmetterten eine Ehrenfanfare.
Im selben Augenblick wurde auf der Spitze des Wehrturmes das
Lilienbanner gehisst. Stolz ritt Philipp im Temple ein. Heute kam
er nicht als Bittsteller, sondern als Sieger!
Aus dem Halbdunkel des
Treppenaufgangs tauchte die braun-weiße Dominikanerkutte des
Großinquisitors Imbert auf. Seine gedrungene Gestalt und der breite
Schädel mit der fleischigen gebogenen Nase täuschten. Hinter dem
plumpen Äußeren lebte ein wendiger, brillanter Geist. Er betrat das
Audienzzimmer des Königs, das noch am Morgen Privatgemach des
Templermeisters Jacques de Molay gewesen war. Nach einem Kniefall
vor seinem Beichtvater sagte Philipp: “Ich will, dass die
Gefangenen noch heute befragt werden.“
„Dein Eifer ist
löblich, mein Sohn“, erwiderte der Großinquisitor sanft. „Ich weiß
um deine große Liebe zu unserer heiligen Mutter Kirche. Doch es ist
besser, mit der Untersuchung noch einen Tag zu warten. Dann haben
die Gefangenen Zeit, sich über ihre Situation klar zu werden, den
Hunger zu spüren, die Schmerzen der Fesseln... dann werden sie
bereitwilliger aussagen.“
Die Worte klangen in
Philipp nach und beunruhigten ihn etwas. Inquisitor Imbert sprach
von Männern, die gewohnt waren, Entbehrungen und Leiden zu
ertragen. Würden sie überhaupt aussagen?
„Gott führe die
Templer zur Reue!“ fuhr Imbert fort. Seine Stimme schwang sich in
das Gewölbe empor wie Donnergrollen. „Oh, Satan wird ihre Herzen
verstockt machen, aber ich werde um sie kämpfen! Und Gott und alle
Engel werden mit beistehen! Denn im Himmel wird größere Freude über
einen bekehrten Sünder sein als über 99 Gerechte! - Sorge dich
nicht, Philipp!“
Der Inquisitor senkte
seine Hand auf den Kopf des Königs.
„Christus sei gelobt,
der durch dich diese entsetzliche himmelschreiende Sünde ans Licht
gebracht hat!“
Philipp schloss mit
einem frommen Amen. Imberts glühender Eifer würde ihm ohne Zweifel
bald die Geständnisse einbringen, die nötig waren, um Papst Clemens
zu überzeugen…
Papst Clemens, den er
ganz einfach übergangen hatte...
„Vielleicht habe ich
doch etwas zu rasch gehandelt“, sagte der König in jenem Ton
gespielter Zerknirschung, der bei seinem Beichtvater nie die
Wirkung verfehlte.
„Dein heiliger Zorn
ist verzeihlich, Philipp! Das Wohl Frankreichs erforderte dein
schnelles Eingreifen. Wer eine Häresie entlarvt und sie nicht
verfolgt, macht sich schuldig am Leib Christi, der
Kirche!“
Jacques de Molay
stützte sich hoch und machte einige Schritte, soweit es die Ketten
zuließen. Er hatte keine Ahnung von der Größe der Zelle im Louvre,
in die man ihn gebracht hatte. Bis auf einen schwachen Schein durch
das Gitter über der Tür hüllte Dunkelheit ihn ein.
Er richtete die Augen
auf dieses fahle Licht, versuchte zu begreifen, was geschehen war.
Er befand sich im Kerker, in Ketten, Verbrechen angeklagt, bei
deren Nennung allein ihn Abscheu erfasste. Er, souveräner Meister
des Ordens der Ritter Christi vom Tempel Jerusalems! Noch gestern
war er in Begleitung eines Gefolges von zwei Rittern, einem Kaplan,
einem Schreiber und einem Schildträger durch Paris geritten. Noch
gestern hatte er über das beste Heer der Christenheit geboten. Noch
am Morgen hatte keiner in der Pariser Komturei Verdacht geschöpft,
als Guillaume de Nogaret mit einer Schar königlicher Söldner
Einlass gefordert hatte. Aus heiterem Himmel war der Blitz des
Verderbens in das Haus des Tempels eingeschlagen.
„Eine Untersuchung
wegen des Zehnten“, hatte Nogaret vorgebracht, und die Tore waren
ihm geöffnet worden. Mit der ihm eigenen Frechheit marschierte der
Siegelbewahrer bis in den Kapitelsaal, verlas einen Erlass Seiner
Allerchristlichsten Majestät Philipps IV. und erklärte die Brüder
des Templerordens für verhaftet….
Jacques
de Molay horchte auf. Irgendwo
knarrte eine Tür. Dann Schritte, das Schleifen von Eisenketten. Ein
neuer Gefangener. Doch man brachte ihn nicht zu ihm, sondern in
eines der anderen Verliese.
„Wohin mit ihm?“
fragte der Waffenknecht ungeduldig. Der kahlköpfige Wärter maß den
sich heftig wehrenden Gefangenen mit einem durchdringenden
Blick.
„Ach, zum Teufel! Ich
hab‘ die Nase voll heute! 180 Gefangene an einem verdammten Morgen!
Steck ihn zu den anderen!“
„Ich sage dir, der
macht uns noch Ärger! Die Sorte kenn‘ ich schon!“ knurrte der
Waffenknecht, während er eine Tür aufsperrte. Für einen kurzen
Augenblick beleuchtete die Kerze des Wärters einige
zusammengekauerte Gestalten. Der Waffenknecht stieß den Gefangenen
in den Kerker und schloss die Ketten an der Wand an. Alles ging
sehr schnell. Die Tür wurde geschlossen. einer nach dem anderen
rasteten die Riegel in ihr Bett. Das Geräusch hallte noch lang
durch das unheimlich stille Gewölbe.
Langsam gewöhnten sich
die Augen des Gefangenen an das spärliche Licht. Er machte eine
Gestalt aus, die auf ihn zutappte. Sämtliche Muskeln angespannt
schob er sich an der Mauer hoch. Mit welcher Verbrecherbande mochte
man ihn zusammengelegt haben? Es gab Gefangene, die in den Jahren
ihrer Haft blutrünstig wie wilde Tiere wurden. Die Stimme des
Schemens vor ihm klang allerdings recht menschlich, mit feinem
italienischen Akzent: „Bruder Robert?“
Der Komtur von Paris
war ebenso erleichtert wie entsetzt. „Ihr seid auch hier,
Pietro?“
„Ja, Sire, das ganze
Ordenshaus! Ich hatte allerdings gehofft, dass Ihr entkommen wäret,
weil Ihr nach Sens aufgebrochen wart!“
„Kurz nach St. Nicolas
griffen mich königliche Söldner auf... Bei Gott, die ganze
Komturei! Dann ist es wahr, was man mir sagte!“
„Die Anklage? Ja. Aber
wenn uns die Ankläger erst gegenübergestellt werden, wird es ein
leichtes sein, diese böswilligen Gerüchte zu
zerstreuen.“
Bruder Pietro, Kaplan,
sprach mit der Sicherheit des Rechtsgelehrten. Er hatte mehrere
Jahre in Bologna studiert und versah das Amt eines
Ordensprokurators am Heiligen Stuhl. Komtur Robert spürte die
Schmerzen in seinen Handgelenken zu sehr, um diesen Optimismus zu
teilen.
„Ich wurde behandelt,
als sei ich schon verurteilt“, sagte er.
Aus der Menge der
übrigen Gefangenen schallte eine schrille Stimme, in der ähnliche
Ängste mitschwangen: „Was wird mit uns geschehen, Komtur Robert?
Warum dürfen wir den Meister nicht sprechen?“
Der Angesprochene
wandte den Kopf, als sähe er in die Runde des Ordenskapitels. Aber
hier umgab ihn nur Dunkelheit, und es fiel ihm schwer, gegen dieses
schwarze Nichts anzusprechen. Doch seine Brüder erwarteten etwas
von ihm. Wenn er schon keine Aufklärung geben konnte, so musste er
ihnen wenigstens Mut und Trost vermitteln. „Ich weiß nicht mehr als
ihr alle“, begann er, nach den rechten Worten suchend. Es kostete
ihn Mühe, der eigenen Verwirrung Herr zu werden. In der Bedrängnis
einer Schlacht hätte er gewusst, was es zu sagen galt. Aber sie
waren nicht in der Gewalt der Ungläubigen, sonders des
allerchristlichsten Königs Philipp von Frankreich.
”Ob wir leben oder
sterben, wir sind des Herrn! Denkt an diese Worte, Brüder, die der
Heilige Bernhard von Clairvaux an unseren Orden gerichtet hat. Gott
prüft uns, und diese Prüfung werden wir tapfer
ertragen…“
„Ach Gott!“ kam ein
zorniger Ruf. „Gott hat uns verlassen, merkt Ihr das denn nicht?
Wir haben Akkon verloren, alle Festungen im Heiligen Land, eine
nach der anderen! Und jetzt sitzen wir hier wie die Ratten in
diesem stinkenden Loch!”
„Es gibt keinen Grund,
Gott zu fluchen, Bruder! Christus, der am Kreuz für uns gestorben
ist, wird uns nie verlassen!“
„Aber sein Vikar auf
Erden hat uns in Ketten legen lassen!“
„Ich weiß nicht, wie
der Heilige Vater einen solchen Unfug überhaupt glauben konnte!”
sagte Bruder Pietro. ”Aber ich werde in einer Petition um die
Erlaubnis bitten, den Orden vor Gericht verteidigen zu dürfen! Dann
wird Clemens die Wahrheit über diese Verleumdung erfahren! - Und
jetzt, Lasst uns beten, Brüder!“
Die einen laut
miteinander diskutierend, die anderen noch ergriffen von stummem
Entsetzen zerstreuten sich die Menschen. Sie schoben und drängten,
und mancher reiche Bürger stieß dem zerlumpten Pilger rücksichtslos
in die Seite.
Weder dies noch das
Stimmengewirr drangen in Jocelins Bewusstsein. Er stand reglos, auf
seinen Pilgerstab gestützt, und starrte die leere Holztribüne vor
dem Universitätsgebäude an. Mühsam krochen seine Gedanken den
weiten Weg der vergangenen Stunden zurück. Stunden, die ihn in
einen tosenden Strudel des Wahnwitzes hineingerissen
hatten.
Gestern war er in die
Stadt gegangen, um mehr über das Schicksal seiner Ordensbrüder zu
erfahren. Doch die Leute hatten höchstens mit einer unbestimmten
Geste auf seine Fragen geantwortet. In einer Situation wie dieser
lauerten Denunzianten der Inquisition überall, und ein Wort zuviel
konnte einen unbescholtenen Bürger rasch als Ketzer ins Gefängnis
wandern lassen. Irgendwo hatte er gehört, dass es am nächsten
Morgen eine öffentliche Verlesung der Anklagepunkte gegen seinen
Orden vor der Universität geben sollte.
So fand er sich früh
nach einem alptraumgequälten Schlaf im Kirchenportal auf dem
Fakultätsplatz ein.
Der Platz hatte sich
rasch gefüllt. Jung und Alt, Arm und Reich war zusammen geströmt.
An diesem Morgen schien niemand seiner Arbeit nachzugehen. Als die
Menge schon dicht gedrängt stand, hatten Bewaffnete einem
beleibten, in reichen Pelz gekleideten Herrn den Weg gebahnt.
Enguerrand de Marigny, Finanzminister des Königs. Jocelin hatte mit
einer raschen Bewegung seine Kapuze übergezogen, fürchtend, dass
Marigny ihn wiedererkennen könnte, hatte er ihm doch auf mehreren
Reisen Geleitschutz gegeben. Aber diese Befürchtungen waren
grundlos gewesen. De Marignys helle Augen nahmen Menschen wie einen
zerlumpten, schmutzigen Pilger gar nicht wahr. Plötzlich war das
vielstimmige Gemurmel erwartungsvoller Stille gewichen und der
erste Magister hatte die Tribüne betreten.
„Auf Befehl Seiner
allerchristlichsten Majestät Philipps IV,. von Gottes Gnaden König
von Frankreich, verlesen wir die Anklage, die die Heilige
Inquisition gegen den Orden der Ritter des Tempels erhebt“, begann
er, während die übrigen Doktoren heraustraten. „Glaubwürdige und
ehrenhafte Zeugen offenbarten Seiner Majestät die üblen Verbrechen
und in seiner Pflicht als Verteidiger der Kirche…“
„Zeugen? Was für
Zeugen?“ hatte sich Jocelin gefragt.
„Die Templer werden
beschuldigt, dass sie bei der Ableistung der Profess Christus
unsern Erlöser...“ der Magister stockte ob der Ungeheuerlichkeit
der Anklage. “...verleugnen. Man zeigt den Novizen ein Kreuz, und
sie werden aufgefordert, unserem Herrn dreimal ins Angesicht zu
spucken...“
Der Magister hatte die
Lesung fortgesetzt. Aber seine Worte wahren kaum zu verstehen
gewesen, weil neben der Tribüne einige Leute brüllten: „Verbrennt
sie! Verbrennt sie!“
Mit ausgebreiteten
Händen hatten die Theologen die Menge zu beschwichtigen gesucht.
Jocelin hallten die Worte noch immer in den Ohren, mit dem sie dann
die Aufzählung der Schandtaten fortsetzten:
„Sodann entledigen
sich die Novizen aller Kleider, die sie im weltlichen Leben trugen
und stellen sich nackt vor den, der sie aufnimmt. Und jener küsst
sie, wie der widerwärtige Brauch dieses Ordens es bestimmt, zuerst
auf das Ende des Rückgrates, dann auf den Nabel und schließlich auf
den Mund, zur Schande aller menschlichen Würde. Und nachdem sie mit
solch verabscheuungswürdigen Taten gegen das göttliche Gebot
gesündigt haben, verpflichten sie sich mit dem Gelübde ihrer
Profess, ohne auch den Bruch mit dem Gesetz der Natur zu fürchten,
sich einer dem anderen hinzugeben im Laster des entsetzlichsten
Konkubinats… So entlud sich der Zorn Gottes über dieses verruchte
Geschlecht, und er brachte sie durch die Hand unseres Königs zu
Fall. Gott stürzte die Söhne des Unglaubens, denn sie haben die
Quelle des lebendigen Wassers verlassen und Götzen angebetet...
Erfüllt eure Pflicht gegenüber der Kirche und dem Königreich,
Bürger! Wenn ihr etwas wisst zu dieser Angelegenheit oder flüchtige
Templer kennt, macht unverzüglich eure Aussagen! Gott wird jeden
reich belohnen, der die Arbeit der Heiligen Inquisition
unterstützt! Wer aber böswillig Dinge verbirgt oder die verruchte
Ketzerei dieses Ordens fördert, soll der Exkommunikation
verfallen!
Gegeben zu Paris am
14. Oktober im Jahre des Herrn 1307.“
Jocelin sah sich um.
Die Menschen tauschten erschrockene Blicke. Viele bekreuzigten
sich. „Sie glauben es! Bei dem allmächtigen Gott, sie glauben es
wirklich!“ dachte er. Er zweifelte nicht, dass sich die Leute auf
ihn stürzen und ihn umbringen würden, wenn man ihn erkannte. Seine
Augen erfassten Enguerrand de Marigny. Das feiste Gesicht von
keiner Regung verzogen, verließ der Minister den Platz. Jocelin
umklammerte seinen Pilgerstab, kämpfte gegen den Drang, Marigny zu
packen und zu schütteln. Er musste doch wissen, dass es Lügen
waren! Er hatte doch genug Zeit mit den Ordensbrüdern
verbracht!
Während der kommenden
Stunden, die Jocelin ziellos durch Paris lief, begann er zu
begreifen, in welche Lage ihn die ungeheuerliche Anklage der
Inquisition gebracht hatte.
Er galt als Ketzer,
als Abtrünniger, schlimmer noch als die Ungläubigen, denn er hatte
Christus gekannt und ihn verlassen. Er hatte ihn zum zweiten Mal
verraten wie Judas. Er galt als Sodomit, ein Anhänger der
widerwärtigsten Sünde, vor der selbst die Tiere zurückschreckten,
und die ihn aus der gesamten Schöpfung ausstieß. Er war zu einem
lebensunwürdigen Wesen jenseits allen Erbarmens gestempelt. Jeder
durfte ihn straflos töten… Ihm, der die Sarazenen als Feinde der
Christenheit bekämpft hatte, waren die eigenen Glaubensbrüder zu
Feinden geworden.
Haltsuchend lehnte
sich Jocelin an eine Mauer.
Seine Hand ertastete
fein skulpturiertes steinernes Rankenwerk. Als er aufsah, erkannte
er, dass er im Portal einer Kirche stand. Er trat ein, hastig, als
ein Flüchtling vor einer feindlich tobenden Welt in den bergenden
Schoß Gottes. Aber nur einen Augenblick lang umfing ihn das Gefühl
der Sicherheit. Aus dem Halbdunkel des niedrigen Kirchenraumes
grinste ihn eine dämonische Fratze von einem der Kapitelle an. Sie
zog Jocelins Blick an und fesselte ihn.
Hatte das Böse von der
Heiligen Kirche Besitz ergriffen? War es stärker als die erlösende
Kraft Christi? Die Fratze blähte sich, verdeckte das klein und
hilflos wirkende Kruzifix auf dem Altar. Jocelin versuchte zu
beten, aber die Krallen der Teufelsfratze umschlossen seinen Hals.
Er berührte das Templerkreuz auf seinem Gewand und rang nach
Atem.
‚Gesegnet, die
bezeichnet mit dem Zeichen des Lammes...‘
Für ihn und all seine
Brüder war das Kreuz ein Fluch geworden, ein Mal des
Todes.
„Wir sind unschuldig,
du weißt es, Herr Gott!“ flüsterte Jocelin, versuchend, sich von
der Teufelsfratze zu befreien.
„Hilf mir! Hilf
mir!“
Er schlug die Hände
vors Gesicht und fiel auf die Knie. Was sollte er tun? Wohin sollte
er gehen? Solange er zurückdenken konnte, war eines der
Ordenshäuser seine Heimat, und die Brüder seine Familie gewesen, er
kannte nichts anderes. Und jetzt?! Wer war Freund und wer war Feind
in einer Zeit, in der die Freunde und Beschützer von einst sich zu
Feinden und Verfolgern gewandelt hatten?
Erst im Schutz der
einbrechenden Dunkelheit wagte sich Jocelin aus der Kirche. Zur
drängendsten Sorge waren ihm Hunger und Durst geworden. Er
beschloss, in das Universitätsviertel umzukehren.
Dort erklangen aus
unzähligen winzigen Schankstuben die Lieder der Spielleute. Er
entdeckte einen Schweinetrog, in dem bereits ein Straßenjunge
herumwühlte.
Der Halbwüchsige maß
den Mann im Pilgergewand mit einem feindseligen Blick. Aus dem Trog
stieg ekelerregender Gestank auf, und als der Straßenjunge sich ein
angeschimmeltes Brot in den Mund schob, krümmte sich Jocelin
würgend zusammen. Er wankte zurück und setzte sich auf eine Stufe,
bis die Übelkeit vergangen war.
Dann wandte er sich in
Richtung des Klosters Saint Germain de Près. Vielleicht gab man
dort einem Pilger ein Almosen...
Plötzlich verstummten
die Flötenklänge aus dem nahe gelegenen Gasthaus, und der Gesang
wurde von wütendem Geschrei abgelöst. Eine Rauferei bahnte sich an.
Schon wurde die Tür aufgerissen und einige Männer stürmten heraus.
Sie zerrten einen sich heftig wehrenden Jüngling im Studententalar
mit sich. Schwertklingen und Dolche blitzten auf. Dies war mehr als
ein harmloser Streit! Der Student wurde zu Boden gestoßen, ein
Stiefel drückte ihn nieder.
Er schrie um Hilfe,
aber niemanden schien die Ungleichheit des Kampfes zu stören. Ein
paar Huren brachten sich kreischend in Sicherheit, Straßenjungen
verfolgten neugierig das Geschehen. In diesem Augenblick vergaß
Jocelin die Gefahr, in der er selbst sich befand.
Er packte den
Pilgerstab mit beiden Händen und hieb ihn dem zunächst stehenden
Raufbold in den Rücken. Der wandte sich ebenso verwundert wie
erbost dem Fremdling zu, der sich einzumischen wagte. Nach dem
zweiten Schlag zerbrach der Pilgerstab. Jocelin warf das Holz fort
und zog sein Schwert. Die anderen vier Männer griffen ihn von der
Seite an.
Jocelin täuschte sie
mit einem geschickten Ausfall, entwaffnete seinen ersten Gegner und
wechselte die Klinge in die linke Hand. Angesichts der unerwarteten
Kunstfertigkeit des Fremdlings verzogen sich die Raufbolde ohne es
auf einen Kampf ankommen zu lassen.
„Für einen Pilger seid
Ihr verdammt gut bewaffnet“, sagte der Student leise, und Jocelin
wurde bewusst, wie unüberlegt er gehandelt hatte. Er schlug den
Pilgermantel zurück und schob sein Schwert in die
Scheide.
„Ihr werdet mich nicht
verraten.“ Es klang wie eine Beschwörung.
„Ihr habt mir das
Leben gerettet... Sire. Nun, ich habe nichts, um Euch meinen Dank
zu zeigen. Aber wenn Ihr wollt, könnt Ihr diese Nacht bei mir
bleiben... ich denke, es gibt nicht viele Plätze, wo Ihr Aufnahme
finden werdet! - Ich habe ein Zimmer unten an der
Seine.“
„Könnt...“ Jocelin
stockte und sah zu Boden. Wie entwürdigend war es für einen Ritter,
so betteln zu müssen! “...Ihr mir etwas zu Essen
geben?“
„Morgen. Meine Wirtin
legt mir jeden Tag frisches Brot vor die Tür.“
Die Kammer des
Studenten lag unter dem Dach eines schmalen Fachwerkhauses, dessen
Füllwerk an einigen Stellen schon heraus gebrochen war. Das
Obergeschoß, erreichbar nur über eine wacklige Treppe, hing
gefährlich weit über den Fluss. Der Lärm der Lastschiffer klang
herauf. Trotzdem schlief Jocelin schon bald nachdem er sich auf dem
dünnen Strohsack ausgestreckt hatte.
Der Student hingegen
fand keine Ruhe. Mit steigender Nervosität lauschte er auf die
Kommandos der Schiffer.
„Ich gewähre einem
Ketzer Zuflucht“, dachte er. „Einem bösartigen Feind der
christlichen Gesellschaft.”
Er blickte zu Jocelin,
während seine Gedanken um die Anklagen kreisten, die er am Morgen
gehört hatte. Nein, eigentlich wirkte der Ordensbruder nicht wie
ein solcher Verbrecher!
Aber wie hatte es im
Aufruf Seiner Majestät gestanden?
‚Wölfe im Schafspelz.‘
Und war es nicht das Kennzeichen jedes Häretikers, sich zu
verstellen, um die Rechtgläubigen vom Weg abzubringen? Gerade dies
war ein Fallstrick des Teufels, wie die Doktoren sagten... Der da
hatte ihm geholfen... und? Einem Ketzer gegenüber gab es keine
Verpflichtungen, galten keine Versprechen!
Der Student setzte
sich und fuhr in seine Stiefel. Er wollte Gott nicht beleidigen,
und er wollte auch nicht zulassen, dass er durch Ketzerei beleidigt
wurde. Leise öffnete er die Tür der Kammer, trat hinaus und schob
die Riegel von außen vor. Dann verließ er eilig das Haus. Aber als
er an der Pforte des Franziskanerkonvents ankam, scheute er sich zu
klopfen. Er ging noch lange auf und ab, ehe er den Mut fand, den
eisernen Türklopfer zu heben und gegen das Holz zu
schlagen.
„Gelobt sei Jesus
Christus“, murmelte eine schläfrige Stimme durch das vergitterte
Pfortenfensterchen. „Was kann ich für dich tun, mein
Sohn?“
Der Student trat näher
und befreite sich hastig flüsternd von seinem Wissen: „Am Quai du
Chastelet, im zweiten Haus vor der Rue de Lavande hält sich ein
Templer versteckt, in der Dachkammer.“
„Ich danke dir, mein
Sohn.“ Die Stimme klang merklich munterer. „Gott möge dich segnen,
dass du uns hilfst, Seine Feinde zu bekämpfen!“
Der Franziskaner
machte das Kreuzzeichen, aber der Denunziant war bereits
fort.
Ein polterndes
Geräusch. Jocelin schreckte hoch.
Im nächsten Augenblick
bemerkte er, dass er allein war. Von unten war eine gedämpfte
Unterhaltung zu vernehmen. Dann Stille. Und dann ein Ton, den
Jocelin nur allzu gut kannte: das Schleifen, wenn Schwerter aus der
Scheide gezogen wurden. Hastig sah er sich um. Nur eine Tür. Hinter
ihr lauerten die Häscher der Inquisition. Der Dachstuhl? Unmöglich.
Das Fenster! Der junge Ordensbruder stürzte zu der kleinen Öffnung,
riss die Pergamentbespannung heraus, warf einen Blick hinab.
Schwärzlich glitzerndes Wasser. Er konnte nicht schwimmen. Aber es
gab keine andere Wahl. Die morsche Treppe knarrte unter den
Stiefeln. Jocelin entledigte sich des hinderlichen Pilgermantels
und hing sich den Schwertgurt über die Schulter. Vorsichtig stieg
er aus dem Fenster. Sein linker Fuß fand ein aus der Mauer ragendes
Balkenende, die rechte Hand krallte er in eine Fuge. Jetzt flog die
Tür auf. Jocelin ließ den Fensterrahmen los und duckte sich an die
Seite.
„Er ist abgehauen!“
brüllte einer der Bewaffneten. „Da, durchs Fenster! Ich seh‘ ihn!
Armbrustschütze!”
Verzweifelt suchte der
Ordensbruder einen Halt, der es ihm ermöglichen würde, näher zur
Hausecke zu kommen. Sein rechter Fuß glitt von der schmalen
Fachwerkstrebe, er rutschte ab und konnte gerade noch den letzten
Balkenstumpf packen. Doch der Fall brachte ihn wenigstens aus der
Reichweite des Armbrustschützen. Er hörte die Söldner fluchen. Sie
würden nicht so bald aufgeben. Er hangelte sich noch ein Stück
näher an die Hauswand. Wenn er geschickt genug sprang, konnte er
den Uferweg erreichen... Er schloss die Augen und ließ los. Nur um
eine Handbreit verfehlte er die Kaimauer. Er atmete tief durch und
richtete sich langsam auf. Zwischen den Häusern standen ein gutes
Dutzend Söldner der Stadtwache mit gezogenen Schwertern; zwei von
ihnen setzten sich soeben zum Ufer in Bewegung. Jeden Augenblick
würden sie ihn entdecken. Ihm blieb keine Zeit zum
Überlegen.
Einer der Söldner
erhaschte einen Blick auf die weiße Tunika und schrie: „Dort!
Hinterher!“
Jocelin kannte sich
diesem Teil der Stadt nicht aus. Kurz entschlossen bog er in eine
Gasse ein. Wie drohende schwarze Dämonen ragten die Fassaden der
Häuser hier in den Nachthimmel. Eine Treppe führte in eine nächste,
mit Arkaden überspannte Straße. Beinahe wäre er den Bewaffneten in
die Arme gelaufen.
Er machte kehrt und
flüchtete durch ein großes Steintor. Ein Moment blieb ihm, gerade
genug, um die Schmerzen in seinen Gliedern zu spüren. Dann waren
die Söldner wieder hinter ihm. Er rannte weiter durch ein endloses
verwirrendes Labyrinth von Gassen, Arkaden, Stufen und Häusern,
doch sie blieben ihm auf den Fersen. Sie kannten jeden Winkel, jede
Abkürzung, kamen näher und näher. Jocelin hatte den Eindruck, im
Kreis zu laufen. Erschöpft stürzte er auf die Knie. Er horchte in
die Finsternis, aber diesmal dröhnte nur der eigene Herzschlag in
den Ohren. Aber bald hallten die Befehle der Söldner wieder durch
die Gassen. Mühsam kämpfte er sich halb laufend, halb stolpernd
vorwärts.
Unvermittelt stand er
vor einer mächtigen Mauer. Er folgte ihr eine Zeitlang ohne
erkennen zu können, wie weit sie reichte. Jenseits der Mauer erhob
sich die Silhouette eines Vierungsturmes und zweier schlanker
Westtürme.
Saint Germain de Près!
Jocelin schluchzte vor Erleichterung. Dorthinein würden sie ihn
nicht verfolgen können! Aber noch war er nicht innerhalb des
schützenden Klosters.
Die Mauer war
übermannshoch und ohne Hilfe nicht zu erklimmen. Von der Krone
rankten sich Weinreben. Jocelin versuchte sie zu fassen, erwischte
jedoch nur die äußersten Spitzen. Das Trampeln der Söldnerstiefel
kam näher. Einem Einfall der Verzweiflung gehorchend stieß der
Flüchtling sein Schwert in eine Fuge zwischen den Steinen und
stemmte sich daran hoch. Die Klinge federte gefährlich, hielt aber
stand. Er griff in die Weinranken, riss das Schwert wieder heraus
und zog sich mit letzter Kraft über die Mauer.
Die Glocken der Abtei
Saint Germain de Près läuteten schwungvoll den neuen Tag in die
noch dichte nächtliche Dunkelheit ein.
Der Küchenmeister
Bruder Cölestinus machte sich auf den Weg zu den Hühnerhäusern, um
die Eier einzusammeln. Zufällig blickte er zur Seite und gewahrte
zwischen den Schemen der Bäume einen hellen Schimmer. Waren die
Ziegen etwa schon wieder im Gemüsegarten? Der alte Mönch trat
entschlossen durch das Gebüsch und hob die Lampe.
Das Licht fiel auf
einen Mann im Kettenhemd und dem Ordensgewand der Templer. Er hielt
ein blankes Schwert in den Händen, dessen Spitze er nun auf den
Mönch richtete. In seinen Augen lag der Ausdruck eines gehetzten
Tieres, das alles zu wagen bereit war. Bruder Cölestinus neigte den
Kopf, als sähe er nicht recht.
Jocelins Arme begannen
zu zittern.
Der Mönch schien
überhaupt keine Furcht zu haben! Mit freundlicher Stimme sagte er:
„Legt das Schwert fort, Bruder! Ich bin nicht der rechte Gegner für
Euch. „
Ein brummendes
Geräusch ging von Jocelins Magen aus. Er schluckte in dem
vergeblichen Versuch, es zu unterdrücken.
„Ihr habt Hunger?
Kommt mit mir in die Küche, ich gebe Euch etwas zu
Essen!“
Der Mönch tat, als sei
es das Selbstverständlichste der Welt, dass ihn früh um Fünf im
Gemüsegarten ein Tempelritter mit dem Schwert bedrohte. Jocelin
fragte sich, ob er überhaupt von der Verhaftung gehört hatte.
„Ich... ich bin ein Templer“, sagte er.
„Ich kenne die Tracht
Eures Ordens.“ Bruder Cölestinus lächelte. „Christus hat uns
geboten, die Hungrigen zu speisen, auch wenn sie zufällig eine
weiße Tunika mit rotem Kreuz tragen!“
„Die Inquisition hat
geboten, uns alle anzuzeigen!“ erwiderte Jocelin. „Und das willst
du tun, nicht?“
„Ich will Gott dienen,
nichts sonst.“
Die Hand des Mönchs
senkte sich auf das Schwert und drückte die Klinge langsam nach
unten. Die einfache Güte des Mönches überwand Jocelins Misstrauen.
Er ließ sich in das geräumige Küchengebäude führen.
Guillaume de Nogaret
warf einen missbilligenden Blick auf seine beiden Söhne, als er das
Haus verließ. Sie bereiteten sich auf die Jagd vor. Sie hatten
überhaupt an nichts anderem Interesse als an der Jagd und Mädchen!
Er hingegen saß von früher Stunde bis spät in die Nacht über
Protokollen und Gesetzessammlungen, der Essenz der Weisheit seiner
Meinung nach.
Manchmal fragte er
sich, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, Seiner Majestät
nach Paris zu folgen. Die Stadt war ein verderblicher Sumpf... Der
Siegelbewahrer stieg in den Sattel seines Pferdes, das der Knecht
ihm bereithielt und ritt langsam in Richtung des königlichen
Palais.
„Seid gegrüßt, mon
Sire!“
Ein Reiter auf einem
schwarzen Araberhengst gesellte sich zu ihm. Sein langer
Samtmantel war von derselben Farbe wie sein Pferd. Darunter trug er
ein kostbar schimmerndes Brokatwams mit Zobelverbrämung. Nogaret
erwiderte den Gruß mit einem Nicken.
„Euch hat diese
Anklage ja schon einen ansehnlichen Ertrag verschafft, wie ich
sehe, Esquieu!”
„Nicht so ansehnlich,
wie er sein sollte nach allem, was König Philipp mir zu verdanken
hat!“
Anmaßend wie seine
Worte war das schmale, braunhäutige Gesicht mit der
Raubvogelnase.
„Ihr solltet froh
sein, dass man Euch das Leben geschenkt hat, Mann! Seid vorsichtig
mit Euren weiteren Forderungen! Sonst wird man am Ende sagen, Ihr
hättet die Templer aus Habgier und nicht aus Eifer für den Glauben
angezeigt!“
„...wie Ihr, nicht
wahr? Ihr seid ja ein so frommer Mann, Sire
Guillaume!“
Der Hohn in der Stimme
Floyrans entging dem Siegelbewahrer nicht. Er fragte sich, wie viel
er wusste. Möglicherweise zu viel. „Versucht nicht, ein doppeltes
Spiel zu treiben!“ drohte er.
„Nur keine Sorge,
Sire! Habt Ihr mir nicht damals im Kerker gesagt, Ihr wolltet den
Orden der Templer vernichten um jeden Preis? Ich helfe Euch dabei,
aber ich habe meinen eigenen Preis!“
Nogaret neigte sich
vor. Seine Züge waren kalt und unerbittlich. „Ich habe Euch schon
einmal gesagt, fordert nicht zu viel! Ich werde Euren Kopf nicht
noch einmal retten!”
Nein, im Gegenteil…
ich muss sehen, dass ich ihn von Euren Schultern
hole….
„Die Templer werden
durch das Recht fallen! Durch das Recht ihrer eigenen Heiligen
Kirche! Nur durch das Recht, merkt Euch das, Sire Esquieu!“
flüsterte er eindringlich.
Floyran lachte nur und
trieb sein Pferd zum Galopp an.
Komtur Robert bewegte
vorsichtig seine Hände in den Eisenfesseln. Wie lange war er jetzt
schon hier? In ihrer Unbestimmtheit war die Zeit die schlimmste
Qual. Seit ihrer Verhaftung hatte sich niemand mehr um die
Gefangenen gekümmert. Die Welt außerhalb der meterdicken Mauern
schien sie vergessen zu haben. Anfangs hatten die Männer noch Lärm
geschlagen, wenn Schritte vor der Tür zu hören gewesen waren.
Unterdessen war die Empörung einer dumpf brütenden Angst gewichen.
Der Komtur von Paris hatte seine Ordensbrüder an Mut und Disziplin
gemahnt, doch jede weitere Stunde höhlte diesen Befehl aus und
zermürbte die Gefangenen. Nur Pietro di Bologna ging unermüdlich
den Aufbau seiner Verteidigung durch, stellte im Geiste Listen der
Entlastungszeugen auf und entwarf Petitionen an den Papst. Er
gestattete sich nicht den mindesten Zweifel am Erfolg seiner
Arbeit.
Komtur Robert lehnte
sich erleichtert zurück. Endlich war es ihm gelungen, ein Stück
seiner Tunika zwischen die Eisenfesseln und seine wundgescheuerten
Handgelenke zu stopfen. In diesem Moment wurde die Tür des Kerkers
aufgesperrt. Ein unerwartet heller Lichtstrahl ließ Robert
blinzeln.
„Den da“, sagte eine
Stimme. Ein Waffenknecht trat zu Komtur Robert, schloss dessen
Fesseln ab und trieb ihn hinaus. Sofort packten ihn zwei
Waffenknechte.
„Wohin bringt ihr
mich? Lasst mich los!“
Einer der
Waffenknechte antwortete Robert mit einem Schlag ins
Gesicht.
„Ihr glaubt wohl, Ihr
seid noch in Eurer Komturei?! Hier habt Ihr nichts mehr zu
befehlen, edler Bruder!“ höhnte er.
Der Gefangene wurde in
einen überwölbten Raum geführt. Gegenüber der Tür stand ein langer
Tisch, an dem ein Dominikaner mit dem unerbittlichen Blick des
Richters saß. Ein feingliedriger junger Mönch stand bei ihm und
harrte mit offensichtlicher Abneigung des anberaumten
Anschauungsunterrichts. Dann war da noch ein Schreiber. Am Ende des
Tisches thronte Guillaume de Nogaret, die Anklageschrift des Königs
vor sich. Er schien leidenschaftslos abzuwarten, aber in seinem
Innern loderte ein begehrliches Feuer. Er dürstete nach
Rache. Seit Jahren schon. Und endlich, endlich würde er einen
dieser Templer leiden sehen, sich winden vor
Schmerz...
„Ich fordere, dass man
mir die Ketten abnimmt!“ rief Komtur Robert den Anwesenden
entgegen. „Mit welchem Recht behandelt man mich wie einen
Verbrecher?“
Nogaret erhob
sich.
„Ich glaube, Euch ist
nicht völlig klar, wie es um Euch steht, mein lieber Komtur von
Paris?“ sagte er salbungsvoll. „Ihr seid nicht in der Lage, etwas
zu fordern. Ihr steht im Verdacht der schweren
Häresie.“
„Das ist eine
Verleumdung!“
Robert zuckte
zusammen, weil der Dominikaner ihm Weihwasser ins Gesicht
spritzte.
„Im Namen des Vaters,
des Sohnes und des Heiligen Geistes. Steh uns bei, o Gott, gegen
die Macht des Bösen!“
Roberts verwunderter
Blick streifte Nogaret, den exkommunizierten Siegelbewahrer. Was
für ein Tribunal war das? Er öffnete den Mund, aber ehe er etwas
sagen konnte, begann Guillaume de Nogaret mit der lauten Verlesung
der Anklageschrift. Die Worte klangen schärfer als alles, was
Robert bereits von seinen Ordensbrüdern gehört hatte. Ein
bedrückendes Gefühl ergriff ihn, dass selbst Pietro di Bolognas
brillanteste Verteidigung machtlos sein könnte.
„Wünscht Ihr, dass man
Euch die Anklage auf Französisch wiederholt, Sire
Commandeur?“
Robert schüttelte den
Kopf.
„Ihr habt also
verstanden, dass die Heilige Inquisition genau über die Verbrechen
informiert ist, die der Orden der Templer begangen hat“, ergriff
der Dominikaner das Wort. „Ich fordere Euch auf, in einer Sache,
die den heiligen Glauben betrifft, die volle Wahrheit zu
sagen!“
„Das tue ich!“
entgegnete Robert, und einen winzigen Moment lang hegte er die
Hoffnung, dass sich doch alles zum Guten wenden würde.
„Bruder Tancred, lass
den Zeugen schwören!”
Der junge Mönch hielt
Robert ein Evangeliar entgegen, und der Komtur leistete den
feierlichen Eid.
„Jetzt seid Ihr Gott
verpflichtet, denkt daran und bekennt freimütig Eure Irrtümer ohne
Ausnahme! Ihr braucht keine Furcht zu haben, Gott ist barmherzig,
und die Kirche ist stets bereit, einen reuigen Sünder wieder
aufzunehmen.“
„Ich habe nichts zu
bekennen!“
„Ihr leugnet also, bei
Eurer Profess Christus verleugnet und auf das Kreuz gespuckt zu
haben?“ fragte der Dominikaner mit Nachdruck. Er rüstete sich für
den Kampf gegen einen unsichtbaren Feind: den Teufel.
„Ja! Bei Gott und
allen Heiligen, ich würde nie so etwas tun!“ Robert bekreuzigte
sich und bekam erneut Weihwasser ins Gesicht.
„Ich habe viele
Novizen aufgenommen, und niemals derartiges verlangt! Und ich habe
auch noch nie davon gehört!“
„Und Ihr leugnet
ebenso, die Novizen auf die eben beschriebene Art geküsst zu
haben?“
„Ich habe sie auf den
Mund geküsst zum Zeichen des Friedens und der Gemeinschaft, nichts
sonst!“
„Habt Ihr ihnen
erlaubt, ihre fleischliche Lust aneinander zu
befriedigen?”
„Gott möge jene
verdammen, die diese Lügen verbreitet haben!”
Der Protokollschreiber
zuckte zurück. Guillaume de Nogaret gab den Waffenknechten ein
Zeichen, die Robert daraufhin wieder ergriffen. Nogaret entriss dem
Dominikaner die Fragevorlagen, die er ihm vor Beginn des Verhörs
übergeben hatte.
„Ihr habt die Sodomie
begangen, Ihr habt sie sogar zum Gesetz erhoben! Hier steht es!
Selbst die Annalen der Ungläubigen berichten von den
Ausschweifungen in den Konventen Eures Ordens! Und ein halbes
Dutzend Zeugen hat es beschworen!“
„Wir sind unschuldig!
Das ist die Wahrheit! Ich habe es auf die Evangelien geschworen,
und ich wiederhole den Eid, sooft Ihr wollt!“
Der Dominikaner erhob
sich mit zu Stein erstarrten Zügen.
„Der Teufel hat Euer
Gedächtnis etwas getrübt, wie mir scheint, Sire. Aber wir werden
Euch helfen, die Erinnerung wiederzufinden.“
Er befahl den
Waffenknechten, Robert hinter ihm her zu führen und ging durch eine
kleine Tür voraus. Sie öffnete sich in einen Raum, der schwarz war
vom Ruß einer Feuerstelle im Zentrum. Das Wechselspiel der Flammen
ließ die Folterinstrumente an den Wänden lebendig wirken, ein
höllisches Szenario. Nur der Teufel fehlte. Oder war es der
halbnackte Mann mit der roten Henkerkapuze, der neben dem Feuer
stand?
„Ihr könnt die
Werkzeuge sehen, Sire, die man bei der peinlichen Befragung
anwenden wird, wenn Ihr nicht bereit seid zu gestehen!“ sagte der
Dominikaner und machte eine ausholende Bewegung.
„Zuerst wird man Euch
auf die Wippe spannen. Oder man wird Euch aufhängen, und mit jedem
Mal werden die Gewichte verstärkt, bis die Sehnen der Glieder
reißen.“ Er verstummte, um die Wirkung seiner Worte zu überprüfen
und blickte Robert an.
„Ihr könnt mich nicht
foltern! Wir unterstehen einem kirchlichen Gericht!“
„Ihr seid ein Ketzer
und damit ipse facto exkommuniziert. Durch Eure Verbrechen habt Ihr
Euch selbst vom Leib der Kirche getrennt!“
„Wir sind
unschuldig.“
„Ihr seid sehr
verstockt, Sire“, entgegnete der Dominikaner und richtete sich an
den Folterknecht. „Tue deine Pflicht!“
Dann wandte er sich um
und schritt hinaus, ohne weiter auf die Proteste des Komturs zu
achten.
Roberts Fesseln
wurden aufgeschlossen, kräftige Arme warfen ihn auf die Folterbank.
Während ihn einer der Waffenknechte gegen das Holz drückte,
schnallte sein Gehilfe Roberts Beine und Arme fest. Als sie
zurücktraten, näherte sich ein gesichtsloses Augenpaar hinter einer
roten Kapuze. Unwillkürlich suchte Robert auszuweichen. Doch die
Ledergurte hefteten seinen Körper unbeweglich auf die Bank.
Machtlos. Hilflos. Ausgeliefert. Robert drehte den Kopf zur
Seite.
„Helft mir, ihr
heiligen Märtyrer! Heilige Jungfrau-“
Der Folterknecht riss
die Spannvorrichtung um eine volle Umdrehung herum. Komtur Robert
schrie auf. Der Schmerz war heftiger gewesen, als er erwartet
hatte.
„Genügt das schon? Eh,
ich habe alte Weiber gesehen, die länger durchhielten!“ rief ein
Waffenknecht und rempelte seinen Kameraden an.
„Will der edle Herr
nun aussagen?“
Robert biss die Zähne
zusammen und schwieg. Er würde diesem Pack nicht noch einen solchen
Triumph gönnen!
Zur gleichen Stunde
begannen die Verhöre der gefangenen Templer im ganzen Königreich.
Bereits nach drei Tagen konnte Imbert seinem Beichtkind König
Philipp einen ansehnlichen Stapel Geständnisse
überreichen.
Der Kammerdiener
betrat auf Zehenspitzen die Sainte-Chapelle. König Philipp kniete
auf einem samtgepolsterten Bänkchen, andächtig den Handlungen des
Priesters folgend, der unter dem kostbaren ausgestellten
Reliquienschatz die Messe zelebrierte. Der Kammerdiener schlug
hastig das Kreuz und huschte zu ihm. „Euer Majestät, ein Gesandter
des Apostolischen Stuhls!“
„Er soll warten“,
flüsterte Philipp ohne sich umzuwenden.
Mit einer Leidensmiene
zog sich der Kammerdiener zurück. Der päpstliche Gesandte war schon
bei seiner Ankunft gereizt gewesen. Sofortige Audienz hatte er
verlangt. Doch es half nichts. Seine Majestät pflegte nie an die
Staatsgeschäfte zu gehen, ohne seine zwei Messen gehört zu
haben.
Als Philipp den
Gesandten endlich bereit war zu empfangen, gab sich der kleine
italienische Kardinaldiakon keine Mühe, seine Abneigung gegen alles
Französische zu verbergen. Er deutete eine steife Verbeugung an und
hielt König Philipp eine Pergamentrolle entgegen. Seine Majestät
erbrach das Siegel und überflog den Text:
„Clemens, Vikar Petri
und Vikar Christi an Philipp, König von Frankreich... ich bin sehr
beunruhigt über Dein Vorgehen in der Angelegenheit des
Templerordens. Ohne die Autorisation der Heiligen Kirche Gottes
hast Du die Brüder des Tempels gefangen genommen, ihre Güter
beschlagnahmt... obwohl der Orden allein dem Heiligen Stuhl
untersteht! Wir ermahnen Dich daher in aller Liebe, als treuen Sohn
der Kirche, die Brüder des Templerordens einer Kommission zu
unterstellen, die Wir bestimmen!“
Philipp ließ das
Pergament sinken, seine Empörung wie stets hinter einer eisigen
Fassade im Zaum haltend. Er war niemandem Rechenschaft schuldig! Er
brauchte niemanden um Erlaubnis bitten! Er war von Gottes Gnaden
König von Frankreich, und keine Macht stand über ihm! Der König
blickte den Gesandten an. „Ihr wisst, was hier geschrieben
steht?“
Der Kardinaldiakon
nickte.
„Dann richtet Seiner
Heiligkeit Clemens aus, dass seine Besorgnis grundlos ist! Ich habe
nur meine christliche Pflicht getan, als die Inquisition meine
Hilfe anrief.“
Guillaume Imbert, der
einige Schritt hinter dem Thron stand, runzelte die Stirn. Der
König hatte IHN gebeten, die Untersuchung gegen die Templer zu
einzuleiten! Aber war bedeutete schon so eine juristische
Formalität, wenn das Wohl der Kirche auf dem Spiel
stand!
„Natürlich werde ich
Seiner Heiligkeit gern die Ergebnisse der Befragung zur Verfügung
stellen“, fuhr Philipp fort. „Ich ersuche den hochgeschätzten Vikar
Petri im Namen der bedrohten Christenheit, auch die übrigen Fürsten
zur Verhaftung der Templer aufzufordern! Ich bitte ihn, er möge ein
guter Hirt seiner Herde sein und nicht zulassen, dass der böse
Feind sie in die Irre führt!“
Die feine Drohung in
der wohlgesetzten Rede entging dem Kardinaldiakon nicht. Zudem war
er verärgert über den herablassenden Empfang. Aber Papst Clemens
hatte ihn ausdrücklich gemahnt, Zurückhaltung zu üben. So ging der
Gesandte ohne eine Erwiderung, als Philipp ihn
entließ.
Der alte Mönch stieg
die Treppe zum Keller hinab, langsam, um nichts aus der Schüssel zu
verschütten.
„Bruder Jocelin?“ rief
er leise.
Die Gestalt des
Templers löste sich aus der Dunkelheit. Der Mönch setzte die
Schüssel ab und legte ein Bündel daneben. „Ich habe Euch eine
Gemüsebrühe mitgebracht, Brot und Eier.“
„Ich danke dir!
Konntest du etwas Neues erfahren?“
„Es heißt, dass
gestern mit der Befragung der Templer durch die Leute des Königs
begonnen wurde.“
„Wer hat uns
angeklagt? Wo wird die Verhandlung sein? Und Papst Clemens,
was-“
Cölestinus hob
beschwichtigend die Hände. „Es tut mir so leid, junger Bruder! Aber
ich weiß nur, was ich von unserem Bruder an der Pforte gehört
habe...“
Jocelins
Gesichtsausdruck wurde verzweifelt. Er stützte sich an einen der
Pfeiler und murmelte: „Etwas Furchtbares geschieht mit meinen
Ordensbrüdern, und ich kann ihnen nicht helfen! Ich weiß nicht, was
ich tun, was ich denken, was ich glauben soll! Alle wenden sich
gegen uns! Warum? Ich-“
Plötzlich klapperten
Sandalen auf den Stufen, und eine kindliche Stimme krähte: „Bruder
Cölestinus!“
Jocelin wollte sich
verbergen, aber der Schein der Öllampe in der Hand des Novizen
hatte ihn schon erfasst. Die Augen des Jungen blieben an dem
Templer haften und weiteten sich in sprachlosem Erschrecken. Im
nächsten Moment raste er die Treppe wieder hinauf. Jocelin stürzte
auf Cölestinus zu. „Halt ihn auf!“
„Ich bin alt. Er ist
viel zu flink für mich, junger Bruder!“
„Aber er wird mich
verraten! Und dann wird man mich der Inquisition
ausliefern!“
„Nein. Nein, das wird
nicht geschehen.“ Cölestinus legte beruhigend seine Arme um
Jocelin. „Ich spreche mit dem Vater Abt. Er weiß sicher Rat! Er ist
ein weiser Mann. Wartet hier, Bruder Jocelin, und habt keine
Angst!“
Gauthier, Abt von
Saint Germain de Près, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und
lauschte den schlurfenden Schritten von Bruder Cölestinus. Der gute
Alte! Seit Jahrzehnten versah er still und freundlich seinen Dienst
in der Küche ...Vater Gauthier seufzte. Der Abt war ein Mann, der
die Eintracht unter seinen Brüdern über alles
schätzte.
Er hatte erfahren
müssen, wie zerbrechlich die Gemeinschaft des Klosters war, wie
angefochten von Neid, Stolz und Lauheit. Obwohl ihm die Pflichten
seines Amtes manchmal zur Last wurden, kämpfte Gauthier
unermüdlich. Kämpfte gegen die Welt, die beständig durch die Mauern
zu brechen und den Konvent in ihre Händel, ihre Sünde und ihren
Schmutz hineinzuziehen drohte. Und nun war genau das geschehen! Und
ausgerechnet durch den herzensguten Cölestinus! Im Keller der Abtei
hockte ein flüchtiger Ketzer...
Doch halt, seine
Häresie war noch nicht bewiesen. Vielleicht war er unschuldig. Die
Inquisition war zuweilen wohl etwas übereifrig, das wusste Vater
Gauthier. Aber die Befehle des Königs waren eindeutig gewesen.
Sollte Inquisitor Imbert erfahren, dass sich in Saint Germain de
Près ein Templer verbarg, würden auch die ältesten verbrieften
Privilegien die Abtei nicht schützen können.
In Saint Germain de
Près ein Ketzer!
Etwas in Gauthier
wehrte sich gegen die Bezeichnung. Ganz gleich, wozu die
Inquisition den jungen Ritter erklärt hatte, er war ein Mensch, ein
gejagter, verängstigter Mensch, der eine Zuflucht
suchte.
Die Überlegungen des
Abtes schwankten zwischen der Sorge um seine Klostergemeinschaft
und Mitleid mit dem unbekannten Verfolgten. Bisher hatte er der
Anklage, die gegen die Templer vorgebracht worden war, kaum
Beachtung geschenkt. Es war nicht seine Sache, ihre Rechtmäßigkeit
zu beurteilen. Und noch weniger Grund hatte er, sich zum
Verteidiger des Ordens aufzuschwingen.
Aus dem Kreuzgang
klang aufgeregtes Flüstern. Ob der Templer die Ursache der Unruhe
war? Wie vielen mochte der Novize seine Entdeckung schon erzählt
haben? Ein paar von den Mönchen würden darauf drängen, den
Flüchtling der Inquisition zur übergeben. Sie waren treue
Untertanen Seiner Allerchristlichsten Majestät! Andere, wie
Cölestinus, mochten milder gestimmt sein. Streit und Unfriede würde
in St. Germain einziehen.
„Dazu lass ich es
nicht kommen!“ beschloss Vater Gauthier und stand auf. Im Kreuzgang
hatte sich inzwischen eine ganze Gruppe Mönche eingefunden, die
leise diskutierten.
Währenddessen saß
Jocelin in der bedrängend stillen, lichtlosen Nacht des
Klosterkellers und versuchte, seine ebenso finsteren Gedanken zu
ordnen. Bruder Cölestinus war nicht zurückgekommen. Wahrscheinlich
hatte der Abt ihn sofort in Gewahrsam nehmen lassen.
Dann würde es nicht
mehr lang dauern, bis die Söldner der Inquisition ihn
aufgriffen.
Sein Zufluchtsort
hatte sich als Gefängnis entpuppt.
Abt Gauthier hatte
sich vorgenommen, den unbequemen Flüchtling an Inquisitor Imbert zu
übergeben. So schnell wie möglich. Doch bald begann die Vesper,
also danach...
Auf dem Weg zur Kirche
überlegte der Abt, dass es anschließend wohl schon zu spät wäre,
Imbert zu benachrichtigen. Gewiss hatte die Angelegenheit bis
morgen Zeit.
Der Abt gestand sich
ein, dass ihm die Auslieferung Unbehagen bereitete. Die Predigt,
die er am Morgen über den barmherzigen Samariter gehalten hatte,
wollte ihm nicht aus dem Sinn gehen.
„Helfen wir einander!“
waren seine Worte gewesen. „Stehen wir unseren Brüdern bei, die in
Bedrängnis, in Anfechtung sind, die die Last ihres Dienstes
beschwert, die krank oder alt sind! Helfen wir ohne zu säumen, mit
der Kraft unseres Gebetes und unserer Hände. Ja, vielleicht müssen
wir dabei etwas abweichen von dem Weg, den wir gerade im Begriff
waren zu gehen. Aber tat das nicht auch der Samariter? Er verließ
die Straße um dem Überfallenen zu helfen. Ohne Zweifel hatte er ein
Ziel, das er erreichen wollte, einen Auftrag, ein Pflicht, die ihn
mahnte, auf dem schnellsten Weg vorwärts zu kommen. Doch er wich ab
von dieser Pflicht, die ihm Menschen auferlegt hatten, um der
Pflicht zu gehorchen, die Gott ihm ins Herz gelegt hatte: Liebe
deinen Nächsten wie dich selbst. Christus hat uns gesagt, liebet
einander, daran soll die Welt euch erkennen!“
Gauthier ballte die
Hände zusammen. Er liebte die Brüder seines Klosters! Sollte er sie
etwa in Gefahr bringen wegen eines Fremden?! Aber hatte nicht auch
der Samariter einem Unbekannten geholfen? Es war gerade, als wollte
Gott ihn prüfen, wie weit er zu seinen eigenen Worten stand! Der
Abt vermochte sich nicht auf seine Gebete zu
konzentrieren.
Er sah zu Bruder
Cölestinus. Auch er war nicht recht bei der Sache. In all den
Jahren hatte Gauthier noch nicht erlebt, dass etwas den Gleichmut
des alten Bruders gestört hätte.
Die Sorge um
Cölestinus war es schließlich, die Abt Gauthier veranlasste, seine
Entscheidung zu fällen. Nach dem Abendgebet ließ er den
Küchenmeister zu sich kommen.
„Du hast unbedacht
gehandelt, mein Sohn. Du hast deine Brüder und die Abtei in große
Gefahr gebracht!“
Seine strenge Stimme
erfüllte den Raum mit einschüchternder Macht.
Der alte Mönch kniete
mit etwas Mühe nieder. „Ich bitte um Vergebung,
Vater!“
„Der allmächtige Gott
erbarme sich deiner und vergebe dir deine Schuld!“ Der Abt machte
das Kreuzzeichen und hob Bruder Cölestinus auf.
„Gehe jetzt und sage
unserem... Gast, dass die Abtei Saint Germain de Près ihm Schutz
gewährt, solang es in meiner Befugnis steht.“
Bruder Cölestinus‘
Augen leuchteten auf. Mit einer Geste tiefster Ehrerbietung küsste
er den Ring des Abtes. Vater Gauthier konnte nicht umhin,
Cölestinus um dieser kindlichen Freude willen zu beneiden. Er
selbst würde die Nacht mit der Überlegung zubringen müssen, auf
welche Weise er bei der morgendlichen Kapitelsitzung die Brüder von
seinem Entschluss überzeugte. Er musste sie ausnahmslos für sich
gewinnen, dass keiner mehr zum Denunzianten werden wollte. Und er
musste etwas über den Prozess gegen die Templer in Erfahrung
bringen, um zu bestimmen, wie weiter mit dem Flüchtling zu
verfahren sei...
Jocelin hatte Bruder
Cölestinus‘ Nachricht angehört ohne Freude oder Erleichterung zu
empfinden. Man gewährte ihm Zuflucht, solang es dem Abt
beliebte...
Und wenn er sich eines
anderen besann? Nach den vergangenen Tagen in einsamer, untätiger
Finsternis, die nur Cölestinus Besuche durchbrachen, begann Jocelin
sich zu fragen, was schlimmer war: die ständige Bedrohung durch die
Auslieferung oder dem Inquisitor gegenüberzustehen. Auf die eine
oder die andere Art war er ein Gefangener.
In Begleitung des
Kommandanten der Pariser Stadtwache und einer stattlichen Truppe
königlicher Söldner stand Guillaume de Nogaret vor Saint Germain de
Près.
Eilig hatte man den
Abt geholt, und nun blickte Vater Gauthier bis in die Tiefen seiner
Seele entsetzt in Nogarets unbarmherziges Gesicht. Wusste er etwa
schon von dem Flüchtling?!
Um sorglos klingende
Stimme bemüht grüßte der Abt. Die Sitte des Bruderkusses überging
er geflissentlich und erinnerte den Siegelbewahrer so daran, dass
jener noch immer exkommuniziert war. Nogarets Züge wurden noch
mürrischer. Er hasste es, offen an seinen Kirchenbann gemahnt zu
werden.
„Ich bin gekommen im
Auftrag Seiner Majestät des Königs. Es soll untersucht werden, ob
diese Abtei ihren Dienst für Gott zum Wohle des Reiches getreulich
erfüllt, oder ob, - was der Herr verhüten möge - sich der Geist des
Übels eingenistet hat!“
Abt Gauthier wollte
einwenden, dass allein der Papst das Recht hätte, einen Visitator
nach Saint Germain de Près zu senden. Doch es war wohl klüger,
Nogaret nicht noch mehr zu reizen. Er war imstande, etwas zu
erfinden, um sich an dem Kloster rächen zu können! In diesem Moment
war Vater Gauthier überzeugt, dass es keine obskure Ketzerei war,
die König Philipp zur Verhaftung der Templer gebracht hatte. Es war
etwas anderes… Und dieses andere hätte seine Augen ebenso gut auf
Saint Germain de Près lenken können... Wie es nun vielleicht auch
geschehen war...
„Ich werde Euch nach
Kräften unterstützen, Sire. Ich stelle Euch einige meiner Mitbrüder
zur Seite, die Euren Leuten bei der Untersuchung behilflich sein
werden.“
„Aufpasser, wie?“
dachte Nogaret und entgegnete dem Abt: „Ich danke für Eure Mühe,
Vater. Aber das wird nicht nötig sein.“
Gauthier nahm die
Entscheidung mit einem höflichen Nicken zur Kenntnis, während er
fieberhaft überlegte. Nach der eindringlichen Predigt, in der er
seinen Mönchen ihre Lage erklärt und sie gemahnt hatte, nicht als
Denunzianten zum Richter ihrer Mitbrüder zu werden, glaubte er
diese Gefahr gebannt. Aber Guillaume de Nogaret konnte bereits aus
einem Wort, einem Blick, einer Geste Verdacht schöpfen! Auf keinen
Fall durften seine Männer den Templer finden! Er musste
fort!
„So darf ich Euch
wenigstens zum Mittagsmahl einladen? Die Gastfreundschaft ist eines
der Werke, die der Heilige Benedikt all seinen Söhnen aufgetragen
hat. Ihr sollt nicht meinen, dass wir darin der Regel untreu
geworden seien.“
Nogaret sah die Freude
in den Gesichtern der Söldner und gab widerwillig seine
Zustimmung.
Vater Gauthier wandte
sich um und rief den einige Schritt entfernt wartenden Prior zu
sich. Die Betonung, die er auf jedes Wort legte, genau abwägend,
sagte er: „Gehe zu Bruder Cölestinus und richte ihm aus, er möge
vorbereiten, was er für richtig hält! Wir empfangen unsere
ehrenwerten Gäste im Abtsrefektorium!“
Der Prior verstand.
Die blitzenden Waffen der Söldner führten ihm die Bedrohung der
Abtei nur allzu deutlich vor Augen. Mit einer Eile, die gerade noch
ziemlich war, setzte er sich in Richtung der Küche in Bewegung.
Doch der Teufel schien Nogaret beizustehen.
„Ich halte es für
besser, wenn währenddessen ein paar Männer an den Toren Wache
halten“, meinte er und erteilte die entsprechenden
Befehle.
Abt Gauthier merkte,
wie er zu zittern begann. Der Schrecken ließ ihn nicht einmal
beachten, welch Unverschämtheit diese Maßnahme war. Nun war alles
verloren! Er, Gauthier, der 15 Jahre lang seine Abtei beschützt und
umsorgt hatte, hatte sie nun zugrundegerichtet...
Bruder Cölestinus
unterwies gerade den jungen Novizen, wie ein Fisch auszunehmen sei,
als der Prior in die Küche stürmte. „Nogaret ist mit einer
Abteilung königlicher Söldner da, um die Abtei zu visitieren! Der
Templer muss fort!“
Der alte Mönch blickte
auf, verwirrt über die so hereinbrechenden Ereignisse. „Ja...können
wir ihn denn nicht hier irgendwo verstecken?“
Der Prior verneinte
mit einer konsequenten Geste. „Auf keinen Fall! Das ist viel zu
gefährlich! Nogarets Leute werden überall herumschnüffeln! Nein, er
muss hier heraus! Aber wie, bei der Allmacht Gottes? Selbst wenn
wir ihn ungesehen bis zur Pforte bringen, wird die Inquisition ihn
haben, sowie er außerhalb der Mauern ist! Das Geschrei der Leute,
wenn sie den Templerhabit sehen, wird nicht zu überhören
sein!“
Cölestinus senkte mit
unglücklicher Miene den Kopf. Der Prior kaute nervös auf seiner
Unterlippe.
„Ich, ich weiß!“ rief
plötzlich der Novize aufgeregt. Wir machen einen Mönch aus
ihm!“
Ein strafender Blick
des Priors traf ihn. Was für eine hirnrissige Idee! Schließlich WAR
der Mann schon ein Mönch! Allerdings… Nun, mochte sein, dass der
Junge doch eine ganz helle Idee gehabt hatte… Und viel Zeit blieb
ihnen nicht. ..
„Gut. Hole eine Kutte.
Und bring das Barbierbesteck mit. Und beeile dich!“
Der Mahnung hätte es
nicht bedurft. Für den Novizen waren der Flüchtling und die
königlichen Söldner ein willkommenes Abenteuer. Eine knappe halbe
Stunde später, während die unwillkommenen Gäste sich am ersten Gang
der Mahlzeit erfreuten, trat ein junger Mönch aus der Küche.
Kahlgeschoren, in schwarzer Wollkutte, und einfache Sandalen an den
Füßen. Das einzige, was ihn von den ihn begleitenden zwei Brüdern
unterschied, war das Bündel über der Schulter. Jocelin hatte sich
geweigert, die eigenen Gewänder zurückzulassen. Sein Schwert trug
er unter der Kutte, sorgfältig umgebunden, damit es beim Gehen
nicht auffiel.
„Wir bringen Euch bis
zur Pforte“, flüsterte der Prior ihm zu. „Dann seht, dass Ihr rasch
aus der Stadt kommt! Wenn an Euch fragt, so kommt Ihr aus einem
Konvent jenseits des Rheines, aus den Reichsgebieten. Ihr wart in
Paris zum Studium!“
Jocelin
nickte.
„Was auch geschieht,
erwähnt niemals die Abtei Saint Germain de Près!“
Jocelin versprach es
beim Kreuz Christi.
Das Gesicht des Priors
blieb unbewegt. Wie weit war einem angeblichen Ketzer zu trauen?
Wenn man ihn nur schon los wäre, und die Leute des Königs dazu! Der
Prior bog um eine Ecke und blieb abrupt stehen. Mit einer
Handbewegung hielt er auch die übrigen zurück.
„Es sind Söldner an
der Pforte. Nogaret versteht sein Handwerk, dass muss ich sagen!
Sicher hat er ihnen befohlen, niemanden
herauszulassen!“
Eine Zeitlang standen
die Mönche und Jocelin unschlüssig hinter der Mauer. Der besorgte
Blick des Priors wanderte zwischen den Söldnern und dem Refektorium
hin und her.
Der Templer fühlte
sich unbehaglich bei dem Gedanken an die Gefahr, in die er die
Mönche brachte. Früher konnte er sich auf sein Schwert und seine
Gewandtheit im Kampf verlassen. Da war ER es gewesen, der
Bedürftigen Schutz und Hilfe gab! Jetzt war er auf das Wohlwollen
Fremder angewiesen! “Ich könnte versuchen, über die Mauer zu
klettern, so wie ich hereingekommen bin“, schlug er
vor.
„Nun, ein Mönch, der
sich über die Klostermauer hangelt, wäre wohl nicht gerade ein
unverdächtiger Anblick!“ gab der Prior sarkastisch
zurück.
Nach einer geraumen
Weile sagte Bruder Cölestinus so ruhig, als handele es sich um die
unwichtigste Sache der Welt: “Nogaret lässt unsere Haupttore
bewachen, aber doch sicher nicht die “Schandpforte“!”
Im nächsten Augenblick
waren die vier auf dem Weg dorthin: Der Küchenmeister sollte Recht
haben. Die kleine Tür, durch die aus der Gemeinschaft verstoßene
Mönche hinausgelassen wurden, war unbewacht. Die Hände des Priors
zitterten vor Freude, als er die Pforte öffnete und Jocelin auf die
menschenleere Straße hinauswies. Er dankte Gott inbrünstig für die
Befreiung aus der Gefahr. Und das würden alle tun, außer vielleicht
dem jungen Novizen, der dem Abenteuer enttäuscht
nachschaute.
Es war schon Abend,
als die Waffenknechte Jaques de Molay aus dem Verlies
holten.
Seit man den Meister
vor acht Tagen in die Burg von Corbeil gebracht hatte, sah er das
erste Mal wieder menschliche Gesichter. Zuvor waren nur Stimmen zu
ihm geklungen: die rauen Befehle der Wächter und die Schreie derer,
die man mit ihm hierher gebracht hatte.
Die Schreie der
Gefolterten...
Molays Seele befand
sich in einem Taumel von Angst und verzweifeltem Aufbegehren. Als
er jetzt vor Guillaume de Nogaret stand, war er entschlossen, zu
kämpfen.
Er erwartete ein
Verhör, doch der Königliche Siegelbewahrer hatte ihn im Audienzsaal
vorführen lassen. Mit einer leutseligen Geste begrüßte er den
Meister: „Euer Eminenz, Sire de Molay, es tut mir aufrichtig leid,
dass wir uns unter solchen Umständen wieder sehen...“
„Ihr habt mich und
meine Brüder verhaften lassen!“ Für einen Augenblick war er wieder
der stolze Souverän, der über ein glänzendes Heer gebot. „Ich weiß
nicht, was Ihr mit dieser Frechheit bezweckt, Nogaret, aber wenn
Ihr noch nicht exkommuniziert wäret, würde Euch das den Bann
einbringen!“
„Geht nicht so
leichtfertig mit kirchlichen Strafen um, Sire, das rate ich Euch! -
Im Übrigen tut Ihr mir unrecht. Ich habe nur die Befehle unseres
Herrn Königs ausgeführt. Und Seine Majestät war sehr entsetzt
darüber, welcher Unflat der Ketzerei sich des Ordens der Templer
bemächtigt hat!“ Nogarets Stimme hob sich. „Eine Ketzerei, wie man
sie seit den Katharern nicht mehr gehört hat!“
„Das ist absoluter
Unsinn! Altweibergeschwätz!“
„Altweibergeschwätz?!
Vierhundert Brüder bisher haben unter Tränen der Reue
bekannt!“
Nogaret lehnte sich
zurück und weidete sich daran, wie Molays stolzes Wesen zu einem
erschrockenen, verwirrten Häuflein zusammenschmolz.
„Ja, Meister des
Tempels, deine edlen Brüder haben fast alle gestanden!“ warf er
seinem Gegenüber in Gedanken an den Kopf. „Wenn auch nicht immer
ganz freiwillig... Und du wirst ebenso gestehen, wenn dich
Inquisitor Imbert dann befragt, dafür werde ich schon
sorgen!“
In einem schwachen
Versuch, wieder Boden unter den Füssen zu gewinnen, sagte Jaques de
Molay: „Sie haben gelogen. Dafür sollen sie aus dem Orden
ausgestoßen werden!“
„Sie haben um das Heil
ihrer Seele willen gestanden! Nun, da sie sich in der sicheren
Obhut seiner Majestät befanden, wagten sie zu offenbaren, wozu man
sie bei ihrer Profess verpflichtet hatte! Das Kreuz anzuspucken und
Christus zu verleugnen, die Sodomie zu treiben und Götzen
anzubeten!“
„Nichts davon ist
wahr!“
Guillaume de Nogaret
lächelte mitleidig.
„Ich zweifle nicht an
Eurer Aufrichtigkeit, Sire de Molay. Aber... konntet Ihr alles
wissen, was in den einzelnen Häusern Eures Ordens vor sich
ging?“
„Ich verbürge mich für
meine Brüder!“
„Die heilige
Inquisition hat sie für schuldig schwerer Verbrechen
befunden!“
„Darüber kann nur der
Papst entscheiden!“
Guillaume de Nogaret
stimmte zu, in die Rolle des helfenden Beraters schlüpfend: „Aber
Seine Heiligkeit Clemens wird den Orden der Templer hiernach...“ Er
klopfte auf den Stapel der vor ihm liegenden Geständnisse,
„zweifellos aufheben, und dies umso sicherer, wenn der Meister
hartnäckig an seinen Irrtümern festhält.“
„Was für Irrtümer?“
fuhr Jacques de Molay dazwischen, aber Nogaret überging die Frage
und sprach in leisem, beschwörendem Ton: „Ich sage Euch, Sire, die
einzige Möglichkeit, den Orden zu retten - und das wollt Ihr doch,
oder? - ist, dass Ihr bekennt! Geht, legt ein vollständiges
Geständnis ab und lasst Euch rekonziliarisieren! Dann wird der
Papst an Euren Willen zu Besserung und Reform glauben und den Orden
nicht aufheben!“
„Wie kann ich das? Wie
kann ich eine solch abscheuliche Verleumdung mit meinem Eid
bestätigen?“
Guillaume de Nogaret
legte dem Meister vertraulich die Hand auf die
Schulter.
„Wollt Ihr den Orden
retten oder nicht? Dann befolgt meinen Rat! Zögert nicht! Ich meine
es gut mit Euch! Es ist nur eine Formalität, nichts
weiter…“
Inquisitor Imbert sah
dem Verhör des Meisters in gesammelter Ruhe entgegen. Er hatte es
sich persönlich vorbehalten und lang um die Gnade gefleht, Gott
möge Jacques de Molay ohne Folter zum Bekenntnis bewegen. Aber
sollte es nicht so sein… Das Herz des Inquisitors war von
aufrichtiger Liebe für die Menschen erfüllt. Und gerade diese Liebe
war es, um deretwillen er die Folter befahl.
Denn was bedeuteten
die Qualen des Körpers im Vergleich zu den Leiden einer Seele in
den Fängen des Teufels?
Jahrelange Erfahrung
ließ Imbert sofort die Unsicherheit und Angst erkennen, die Jaques
de Molay zu verbergen suchte. Der Inquisitor atmete auf.
Normalerweise versprach dieses Verhalten ein rasches und
unkompliziertes Geständnis. Er begann mit der Verlesung der
Anklagepunkte, dann ließ er den Meister auf die Evangelien
schwören. Nach einer Erinnerung an das Jüngste Gericht stellte er
die erste Frage: „Wann seid Ihr in den Orden aufgenommen
worden?“
„Es ist 42 Jahre her,
dass man mir in der Komturei von Beaune den weißen Mantel verliehen
hat.“
„Wer hat Euch
aufgenommen?“
„Bruder Humbert de
Pairaud. Und viele andere Brüder waren anwesend, die unterdessen
gestorben sind. Auch der edle Ritter Amaury de la Roche, ein Freund
unseres verehrten König Louis, war da...“
Guillaume Imbert
übersah den etwas seltsamen Fakt der Anwesenheit des Freundes eines
heiliggesprochenen Königs bei einer so schändlichen Zeremonie, wie
die Aufnahme in den Templerorden es sein sollte.
„Wie seid Ihr
aufgenommen worden?“
„Man hat mir die
Statuten und die Regeln für das Leben im Konvent vorgelesen. Ich
legte die Profess ab, und dann gab man mir den
Mantel.“
„Danach hat man Euch
ein Kreuz gezeigt und Euch aufgefordert, unseren Erlöser Jesus
Christus zu verleugnen und dreimal auf das Kreuz zu
spucken?“
Jacques de Molay
zögerte.
Dann sagte er mit
leiser, fast unhörbarer Stimme: „Ja…“ Um seine Worte abzumildern
fügte er hinzu: „Aber ich habe nur einmal gespuckt...“ Vielleicht
war es weniger schlimm, wenn er die heilige Zahl
vermied?
„Einmal?“ wiederholte
der Inquisitor.
„Ja. Und ich habe
Christus nur mit dem Mund verleugnet, nicht mit dem
Herzen!“
Im Lauf des Verhörs
bekannte Jacques de Molay alle weiteren Vorwürfe, voller Reue, wie
Guillaume Imbert meinte.
Aber es war eher die
Abscheu vor dem, was er gestand, die Molay den Kopf senken
ließ.
Der Inquisitor freute
sich schon seines Triumphes über die Kräfte des Bösen, als er die
letzte Frage stellte: „Als Ihr die Keuschheit verspracht, hat man
Euch da empfohlen, Euch mit Euren Brüdern fleischlich zu vereinen
nach dem Brauch des Ordens, und eine entsprechende Aufforderung nie
abzulehnen?“
Jetzt hob Jacques de
Molay den Kopf. Das war ganz einfach zuviel, das KONNTE er
unmöglich gestehen! „Nein, man hat mir weder eine so abscheuliche
Sünde befohlen, noch habe ich sie jemals begangen!“
„Sire, überlegt gut,
was Ihr sagt!“
„Es gibt nichts zu
überlegen! Das ist die Wahrheit!“
Ein Augenblick ging in
drückender Stille vorüber.
„Weshalb leugnet Ihr?
Wisst Ihr nicht, dass dies völlig sinnlos ist? Wir haben die
Aussagen Eures Knappen, von Euch in einer einzigen Nacht zweimal
missbraucht worden zu sein! Wir haben das Geständnis eines Ritters,
der behauptet, mit Euch aufgenommen worden zu sein! Wir haben
Berichte, dass Ihr diese Sünde in allen Häusern des Ordens für gut
und notwendig erklärt habt! Warum also wollt Ihr Euch jetzt Schaden
zufügen, indem Ihr leugnet?“
Als Jacques de Molay
schwieg, sprach der Inquisitor weiter: „Ihr wisst, dass man
hartnäckige Ketzer der peinlichen Befragung
unterzieht?“
„Ich bin kein Ketzer!“
wollte Meister Jacques protestieren, aber seine eigenen Worte
sprachen gegen ihn.
Er hatte gestanden,
und jede anderslautende Aussage stempelte ihn zum Relapsus, für den
es nur eine Strafe gab: den Feuertod.
Die Peitsche sauste
nieder und hinterließ einen weiteren blutigen Striemen auf dem
Rücken des Gefangenen.
Die ungerührte Stimme
des Inquisitors folgte: „Gesteht Ihr?“
„Ich glaube... an
Gott, den Vater... den Allmächtigen...“
Es war die gleiche
Frage und die gleiche Antwort wie stets zuvor. Achtmal hatte man
Komtur Robert in den vergangenen Tagen verhört, fünfmal unter der
Folter, und alles, was er stets von sich gab, war das
Glaubensbekenntnis. Imbert hatte ihn in eine Einzelzelle verlegen
lassen. Solche Unbeugsamkeit war ein zu gefährliches Beispiel für
die übrigen Gefangenen. Der Folterknecht holte erneut aus. Robert
sah das Gesicht des Dominikaners zu gräulichem Nebel zerfließen. Er
würde das Bewusstsein verlieren... Man würde ihm einen Kübel Wasser
über den Kopf schütten, dann würde es von vorn beginnen... Robert
hatte das Gefühl, dass sich keine heile Stelle mehr an seinem
Körper befand. Alles schien eine einzige brennende, schmerzende
Wunde zu sein. Nach der ersten Befragung hatte Robert seine Tunika
zerrissen um sorgsam die Verletzungen zu verbinden. Das hatte er
längst aufgegeben. Sein Gewand war so schmutzig wie seine Zelle,
und wenn ihn die Folterknechte nach Beendigung des Verhörs
hineinstießen, blieb er einfach liegen.
Die Peitsche hatte die
stickige Luft zerteilt ohne die Haut des Gefangenen zu
berühren.
„... an Jesus
Christus, seinen eingeborenen Sohn...“
Komtur Robert öffnete
die Augen. Inquisitor Guillaume Imbert war eingetreten. Er hatte
dem Folterknecht mit einer Handbewegung Einhalt geboten. Nun
wechselte er einige eilige Worte mit seinem Ordensbruder. Dann
wandte er sich Robert zu. Der Komtur suchte sich aufzurichten und
vergaß dabei seine verbrannten Füße. Mit einem Stöhnen sank er
wieder zusammen, aufrecht gehalten nur von den am Gewölbe
angeschlossenen Fesseln.
Imbert blickte ihn an.
Sein breites Gesicht bekam einen fast kindlichen
Ausdruck.
„Ihr leidet sehr, wie
ich sehe“, sagte er. „Aber Ihr selbst seid es, der Euch diese
Qualen zufügt! Legt Euer Bekenntnis ab - nein, Ihr seid schwach, es
genügt, wenn Ihr die Artikel unterzeichnet - und man wird Euch
baden, Eure Wunden versorgen, Speise und Trank und ein gutes
Quartier geben!“
Komtur Robert
erwiderte den Blick des Inquisitors mit der ganzen Verachtung,
deren er noch fähig war. „Ich will den Orden
verteidigen!“
„Warum seid Ihr so
verstockt? Euer Leugnen hilft Euch nicht. Mir liegen die Aussagen
eines Mannes vor, der von Euch in den Orden aufgenommen wurde; Eure
Verbrechen sind bekannt. Ihr habt die Novizen Christus verleugnen
lassen, nicht wahr? Wir wissen alles, was Ihr getan habt! Euer
Leugnen ist zwecklos! Auch Euer Meister hat alle Verbrechen
gestanden...”
Robert stieß ein
Lachen aus, das die Anwesenden erschauern ließ. „Ein großer Erfolg,
nicht wahr?! Was habt ihr mit ihm gemacht? Ihn über dem Feuer
aufgehangen? Auf die Wippe gespannt? Ausgepeitscht?“
„O nein, dessen
bedurfte es nicht. Er hat absolut freiwillig gestanden, ohne jeden
Zwang. Ihr habt keine Hilfe von Eurem Meister zu erwarten, noch von
sonst jemandem Eurer Kommandeure! Sie alle haben die Verbrechen des
Ordens eingestanden!“
Einen Moment lang
schien Komtur Roberts Widerstand gebrochen. Guillaume Imbert
glaubte sein Gefecht gewonnen.
Da sagte Robert mit
lauter Stimme: “Unsere Hilfe... ist im Namen des
Herrn!“
Nach einer ermüdenden
Wanderung entlang der abgeernteten Felder und armseliger Dörfer
erreichte Jocelin eines späten Nachmittags den Weiher von
Rambouillet. Er beschloss, sich in einer Scheune ein Nachtquartier
zu suchen. Die Menschenmenge, die sich am Brunnen versammelt hatte,
lenkte jedoch zunächst sein Interesse auf sich. In ihrer Mitte saß
ein Mann mit einer Laute, bekleidet mit ehemals wohl prächtigen
bunten, jetzt aber zerschlissenen Gewändern, eine Narrenkappe auf
dem Kopf. Er sang:
„Wisst ihr es nicht,
Leute, wisst ihr es nicht? Gekommen ist die Stunde des Gerichts!
Gekommen sind die Tage des Übels und der Klage!“
Wortreich schilderte
er die Schrecken der Apokalypse, die Qualen der Verdammten und das
Zittern der Seelen auf der Waage des Erzengels Michael. Schon
lösten sich die ersten Gestalten aus den Reihen der Zuschauer.
„Gekommen ist die Stunde der Versuchung! Gebt acht, Leute, gebt
acht!“
Der Gaukler entlockte
seinem Instrument einen schaurigen Ton. „Denn der Weg zur
Verdammnis ist breit, wie unser Heiland lehrt. Und viele sind‘s die
auf ihm gehn! Denn es verführet sie der Antichrist, der das Szepter
hält! Schön wie ein Engel ist er wohl, doch falsch und bös‘ sein
Herz!“
An dieser Stelle
unterbrach er seinen Gesang, zog eine Münze aus dem Beutel und
zeigte sie: „Seht ihr, wie sie glänzt? Aber ihr täuscht euch, wenn
ihr meint, es sei gutes, reines Silber! Schön ist nur die Schale,
darinnen ist billiges Kupfer! Genauso ist es mit dem Antichrist!
Darum seid wachsam... Denn er wird wenden was gut war und heilig
und rein, in Falschheit und Lüge und Schein...“
Immer geringer wurde
die Zahl der Zuhörer, bis der Sänger mit einem resignierten
Kopfschütteln verstummte.
„Ja, die Leute wollen
keine traurigen Lieder“, sagte er zu Jocelin gewandt. „Wie sie auch
keine Predigten über das Ende der Welt hören wollen, nicht wahr,
Mönch? Die Leute wollen was Lustiges in diesem Tal der
Tränen...“
„Du glaubst wirklich,
dass die Zeit des Gerichts gekommen ist?“
„Kennst du die Schrift
nicht besser als ich, Mönch? Ich singe, was ich sehe... Und ich
sehe das Heilige Land in den Händen der Ungläubigen, die Fürsten
Krieg gegeneinander führen, anstatt gegen die Feinde Gottes. Ich
sehe einen König, der das Oberhaupt der Christenheit wie einen
Strauchdieb gefangen setzte und den neuen Papst tanzen lässt wie
eine hölzerne Puppe.” Er machte die entsprechenden
Bewegungen.
„Du kommst viel
herum?“ wagte Jocelin vorsichtig zu fragen. „Das kann man
sagen!“
Jocelin vergewisserte
sich, dass niemand sonst seine Worte hören würde, dann fuhr er
fort: „Weißt du etwas über die Sache mit den
Templerbrüdern?“
„Ah...“ Der Gaukler
zog eine Grimasse, als wolle er sein Gegenüber daran erinnern, dass
er nicht ernst zu nehmen sei. „Was soll ich wissen, mein guter
Bruder, he? Der König und die Inquisition halten ihre Hände
darüber, und Kerkermauern sind stumme Zeugen!“ Dann neigte er sich
vor und sagte: „Du stellst gefährliche Fragen, Mönch! Bist du am
Ende ein Spitzel des Königs? Dann wisse, ich bin ein Narr und
Narrenworte sind Rauch im Wind!“ Er lachte.
„Aber sind wir nicht
alle Narren in dieser Zeit? Der eine spielt seine Rolle freiwillig,
und der andere, weil ein Schwert auf seine Kehle gerichtet ist! Ich
war im päpstlichen Palais, als der Heilige Vater einen Brief
unseres heiligen“- er faltete fromm die Hände, “Herrn Königs
erhielt. Seine Majestät forderte einen regelrechten Kreuzzug gegen
den Tempel und drohte Clemens selbst mit einer Anklage wegen
Häresie. Die italienischen Kardinäle waren außer sich vor Empörung.
Die französische Partei pochte auf die Rechte Philipps als
Verteidiger des Glaubens. Fast hätten sie sich eine Schlacht
geliefert! Clemens verlangte totenbleich nach seinem Leibarzt. Oh,
nicht einmal meine besten Späße konnten ihn wieder aufmuntern! Er
sah mich an und sagte: Ich beneide dich um deine Narrenschellen,
sie sind die einzige Antwort auf diese Welt des
Wahnsinns...“
„Bist du noch immer am
Hof des Papstes?“
„Wenn ich es wäre,
säße ich dann in diesem gottverlassenen Dorf?! Meine Zunge war
einigen Kardinälen wohl zu frech, das verursachte ein ungesundes
Klima... Und so bin ich gegangen! - Und du, Mönch?“ Er musterte
Jocelins Statur, die mehr Übung im Waffenhandwerk verriet als im
Bücherschreiben, seine unrasierten Wangen und das Bündel über der
Schulter. „Aus welchem Kloster hast du dich
davongemacht?“
„Ich war in Paris zum
Studium.“
„Ach, erzähl‘ mir
nichts! Aber ich verstehe dich! Ich war zwei Jahre in Cluny, und
mehr als Fressen und Saufen hab ich dort nicht gelernt! Ein
Sündenpfuhl, der allein Gott wohl zum Gericht reizte! Und bei den
Templern wird es nicht viel anders gewesen sein! In allen Schenken
erzählt man sich ihre Schandtaten!“
Der Gaukler zupfte an
den Saiten seines Instruments und rief laut genug, dass die Leute
in den Häusern ihn hören konnten: „He, he, ich singe euch ein Lied
über die Geheimnisse des Tempels! Kommt Leute, kommt und
hört!“
Ein paar Türen
öffneten sich.
Die jungen Burschen
waren die ersten, die sich wieder um den Gaukler
scharten.
„Kommt, ja kommt! Und
vergesst den Silberling für den armen Sänger nicht! Ich will euch
singen eine gräuliche Geschicht’ ! -Weiße Mäntel trugen sie, doch
drunter war‘ n sie schwarz von Sünde, Keuschheit und Armut schworen
sie, doch hört, was ich euch künde!“
Jocelin zog sich
zurück. Die gleiche Verzweiflung, Angst und Wut wie bei der
Anklageverlesung erfasste ihn. Und es waren auch die gleichen
Menschen, gierig nach Abscheulichkeiten, entsetzt, aber jedes Wort
genüsslich aufsaugend. Sie glaubten die monströsen Gerüchte, wie
sie den Wundertaten der Heiligen glaubten.
Guillaume de Nogaret
legte die Akten zur Seite. Im untersten Fach seines Schrankes
betätigte er einen kleinen Hebel und zog eine Geheimschublade
heraus. Ein Medaillon lag darin, alt, beschlagen, unscheinbar, mit
einem fremdartigen Symbol, dessen Bedeutung der Siegelbewahrer
längst vergessen hatte. Seine, Bedeutung, ja, nicht aber den Mann,
der es getragen hatte. Zärtlich strich er über das Metall. Morgen
würde er seiner Rache wieder ein Stück näher kommen... Morgen würde
Jacques de Molay sein kostbares Geständnis vor der Universität
wiederholen...
Der große Saal der
Pariser Universität war bis auf den letzten Platz gefüllt. Die
Studenten aller Klassen waren mit ihren Doktoren erschienen, die
Kleriker von Notre-Dame, der Bischof von Paris mit seinem Gefolge.
Die Gesandten der Dominikaner und Franziskaner drängten sich auf
den vordersten Bänken. Der Erzbischof von Sens hatte das Erscheinen
mit der Begründung abgelehnt, seine priesterlichen Pflichten ließen
ihm keine Zeit.
„Der König wird nicht
sehr erfreut sein, wenn er vom Fernbleiben seiner Eminenz erfährt“,
meinte Enguerrand de Marigny zu seinem Bruder, einem farblosen Mann
im Bischofsornat.
„Gewiss! Ich habe
gehört, dass Seine Majestät in letzter Zeit ohnehin etwas verstimmt
über ihn war. Da ist es doch gut möglich, dass er sich bald nach
einem neuen Erzbischof umsieht.“
Der Finanzminister
lächelte verstohlen. Der Ehrgeiz seines kleinen Bruders kannte
keine Grenzen. Seit dem Tag, an dem ihn der Vater zum geistlichen
Stand bestimmt hatte, tat er nichts anderes als nach lukrativen
Pfründen Ausschau zu halten! Unliebsamer Konkurrenten pflegte er
sich mit Verleumdungen, Bestechungen und nicht zuletzt Mord zu
entledigen. Bis jetzt hatte er es damit bis zum Bischof von Cambrai
gebracht. Enguerrand, der sich seinen Aufstieg bei Hofe mit
ähnlichen Mitteln erkämpft hatte, empfand eine Art Stolz für seinen
gelehrigen Bruder. Wenn er auch zugeben musste, dass Philipp wenig
geeignet für das Priesteramt war. Der Prozess gegen den
Templerorden war zweifellos eine gute - und wahrscheinlich auch die
einzige - Gelegenheit, ihn auf einen Erzbischofsthron zu
heben...
Eskortiert von einer
Abteilung königlicher Söldner wurden in diesem Moment die
Gefangenen in den Saal geführt: Jacques de Molay, der Komtur der
Normandie Godefrois de Charny und fünf weitere Ritter. Man war
darauf bedacht gewesen, sie in einem ordentlichen Zustand zu
präsentieren. Dem aufmerksamen Beobachter entgingen dennoch weder
die von Erschöpfung gezeichneten Gesichter noch die Verbände, die
bei jeder Bewegung sichtbar wurden. Manche der Anwesenden kannten
die Gefangenen persönlich und zeigten Betroffenheit. Unter ihnen
der Gesandte des aragonesischen Hofes. Er schätzte Jacques de
Molay, und er wusste um die unentbehrlichen Dienste der Templer in
Aragon. Ohne ihre Hilfe wäre das Königreich mehr als einmal von den
Sarazenen überrannt worden. Er schenkte der Anklage keinen Glauben,
sondern hielt alles für einen perfiden Schachzug des französischen
Königs, Gold in die Finger zu bekommen. Der schöne Philipp hatte
die Juden erpresst und die Lombarden ausgenommen, und nun war der
Tempel an der Reihe!
Guillaume de Nogaret trat an das Pult. Die Magister der Rechtsfakultät riefen ihre Studenten
zur Aufmerksamkeit. Es war eine brillante Darstellung, die Nogaret
entrollte.
Von der Göttlichkeit
des Rechts griff er aus auf die Pflichten der Kirche und die
Pflichten der weltlichen Herrscher, schilderte die Gefahr der
Häresie für die göttliche Weltordnung um schließlich den Orden der
Templer mit Worten zu zermalmen.
Einige Studenten
klatschten Beifall. Der aragonesische Gesandte drehte sich
angewidert zur Seite.
„Wie kann ein König
sich nur mit solchen Emporkömmlingen wie diesem Nogaret umgeben?“
dachte er. „Er tritt alles mit Füßen, was althergebrachtes Recht
ist!”
Sein Blick blieb an
Esquieu de Floyran hängen, der ihm gegenüber an der Wand lehnte.
Der Gesandte erinnerte sich, dass es derselbe dunkelhäutige Mann
gewesen war, der vor knapp einem Jahr am Hofe von Aragon üble
Gerüchte über die Templer feilgeboten hatte. Bei König Jayme war er
auf taube Ohren gestoßen. Bei Seiner Majestät Philipp hatte er
offenbar mehr Glück gehabt...
Eine Zeit des
Schweigens folgte auf Nogarets Diskurs, der den Zuhörern wohl
Gelegenheit geben sollte, sich die verabscheuungswürdigen Gestalten
der Gefangenen einzuprägen. Einer der Templer brach ohnmächtig
zusammen. Er wurde aus dem Saal geschleift, während Imberts
Donnerstimme den Höhepunkt einleitete: die öffentliche Bestätigung
der geleisteten Geständnisse. Er begann mit Jacques de Molay. Den
Kopf tief gebeugt ließ der Meister die Lesung seiner Aussage über
sich ergehen. Er hatte gestanden in der vollen Überzeugung, dass
das Verfahren ohnehin unrechtmäßig und damit seine Aussage
gegenstandslos sein würde, wenn der Papst die Angelegenheit erst
übernahm, wie es seine Pflicht war. Nogaret hatte ihm versprochen,
dass nach seinem Geständnis niemand mehr gefoltert werden würde,
eine Audienz vor dem Papst und die Stellung von Prokuratoren.
Nichts von alledem war geschehen. Alles was man von ihm wollte, war
eine Wiederholung des schmachvollen Geständnisses!
„Ich kann es nicht...
Ich kann unmöglich diese Lügen bestätigen...”
Er fühlte eine Hand
auf der Schulter. Als er den Kopf wendete, sah er in Nogarets
Augen.
„Ihr wisst, was mit
Euch geschieht, wenn Ihr widerruft. Mit Euch und Euren Brüdern“,
flüsterte der Siegelbewahrer. „Denkt daran. Bestätigt Eure Aussage,
so wie ich Euch geraten habe!”
Der Klang der Stimme
bohrte sich wie eine glühende Klinge in den Kopf des Meisters.
Nogaret schob ihn nach vorn, die Hand noch immer auf seiner
Schulter und fragte:
„Sire de Molay, habt
Ihr in einem Punkt Eurer Aussage gelogen oder die Wahrheit
verschleiert, aus Furcht vor dem Kerker oder der
Folter?“
Schweigen herrschte im
Saal.
„Nein...” sagte
Jacques de Molay dann kaum hörbar. „Ich habe die ganze Wahrheit
gesagt...“
Jenen unter den
Zuhörern, die bisher an der Schuld der Templer gezweifelt hatten,
war das Entsetzen anzusehen. Die bereits Überzeugten nickten
einander vielsagend zu. Der aragonesische Gesandte jedoch verließ
den Saal. Er war nicht gewillt, einer solchen Würdelosigkeit noch
länger beizuwohnen.
„Eure Verbrechen und
die Eures unseligen Ordens sind groß, aber Gottes Gnade hat Euch
zur Reue geführt!“ sagte Imbert. „Danken wir dem Herrn für seine
Barmherzigkeit! Doch zu unserem Bedauern gibt es noch immer einige
Brüder, die sich der Liebe unserer Mutter Kirche für ihre verirrten
Schafe verschließen, die an ihrem abscheulichen Aberglauben
festhalten! Wir bitten Euch daher, Sire de Molay, bei Eurer
Autorität als Meister, ruft diese Brüder auf, ihr Geständnis
abzulegen!“
Er hielt Jacques de
Molay Pergament und Schreibfeder entgegen. Der Meister verharrte
regungslos. Die Verantwortung für seine eigene Aussage war er
bereit zu tragen, aber für die Geständnisse all seiner Brüder?
Durfte er ihnen eine solche Sünde befehlen? Aber, andererseits,
durfte er zulassen, dass sie litten und starben ohne den Trost der
Sakramente?
Mit zitternder Hand
schrieb der Meister den Befehl an alle gefangenen Templer,
unverzüglich zu gestehen und drückte sein Siegel
darunter.
Godefrois de Charny,
Provinzmeister der Normandie, sah es voller Verzweiflung. Er selbst
hatte alle Anklagepunkte unter der Folter gestanden und war
entschlossen gewesen, öffentlich zu widerrufen. Doch nun? In seiner
Profess hatte er sich verpflichtet, dem Meister zu gehorchen, was
auch immer dieser verlangen mochte… Als die Reihe an ihn kam, seine
Aussage zu bestätigen, setzte Godefrois de Charny laut hinzu: „Und
ich flehe Gott, der alles weiß, und seinen Vikar auf Erden, Seine
Heiligkeit Clemens V. an, mir und allen, die uns folgen werden zu
vergeben!“
Niemand ahnte, dass es
Godefrois um eine ganz andere Schuld als die der Anklagepunkte
ging.
Schon seit einigen
Tagen begnügten sich die Kerkermeister des Louvre damit, ihre
geschwächten Gefangenen in Ketten zu legen, ohne sie an der Mauer
anzuschließen.
Mühsam tastete sich
ein Servient zu Pietro di Bologna.
„Vater Pietro, ich
will beichten! Ich bin ein Sünder, ein elender
Sünder!“
„Gott ist den
zerknirschten Herzen nahe, und er errettet die Demütigen!“ suchte
Pietro di Bologna zu trösten.
„Er wird mich
verdammen, Vater! Ich habe gelogen! Ich habe meine Brüder
verleumdet! Ich habe alles gestanden, was sie von mir wollten!“
stieß der Servient hervor. „Ich wollte es Komtur Robert heimzahlen,
weil er mir damals für drei Tage das Ordensgewand genommen
hatte! Ich fühlte mich ungerecht behandelt, aber er hatte Recht!
Ich hätte den Sattel nicht einfach nehmen dürfen, ohne zu fragen!
Ich wusste es und habe es trotzdem getan! Und jetzt habe ich ihn
verleumdet! Ich habe gesagt, dass er mich aufs Kreuz spucken
ließ!“
„Wir sind schwach nach
unserem Fleisch, Bruder. Gott hat es so gewollt, um uns seine
Barmherzigkeit umso reicher zu schenken. Wir haben alle gesündigt,
denn wir haben alle die Verleumdungen der Inquisition gestanden,
auch ich, Bruder.“ antwortete Pietro dem Verzweifelten. „Aber der
Heilige Vater wird uns freisprechen!“
„Wie viele werden dann
von uns noch am Leben sein?“ ließ sich eine Stimme vernehmen.
„Denkt an Bruder Guido, der sich erhängt hat, und die zwei Brüder,
die schon unter der Folter gestorben sind!“
Der Servient ergriff
Pietro di Bolognas Arme und rief: „Ich werde vielleicht nicht lang
genug leben für die Gnade des Papstes! Sprecht mich frei, ich flehe
Euch an! Ich kann den Teufel schon sehen, er lauert auf
mich!“
„Habt keine Angst!
Christus hat den Teufel besiegt! In seinem Namen löse ich Euch von
Euren Sünden!“
Der Pfad war vom Regen
ausgespült und steinig. Jocelin wanderte seit dem frühen Morgen
durch den Wald. Bisher war er keinem Menschen begegnet. Ein Schwarm
Krähen begleitete ihn und im Dickicht raschelten die Läufe flinker
Tiere. Ein hoher pfeifender Ton ließ ihn aufhorchen. Vielleicht ein
Tier, dass sich in einer Falle verfangen hat? Er hatte schon
tagelang nichts Rechtes mehr gegessen. Wieder erklang das
ängstliche Pfeifen.
Es kam linker Hand aus
dem Unterholz. Jocelin bahnte sich einen Weg durch das
halbvertrocknete Gestrüpp. Tatsächlich! Unter den aufragenden
Wurzeln eines gestürzten Baumes duckte sich ein Hase, den linken
Hinterlauf von einer primitiven Schlinge festgehalten. Der
Ordensbruder streckte die Hand nach dem Tier aus.
„Ich lasse mich nicht
bestehlen, und schon gar nicht von einem entlaufenen Mönch!“ Eine
Klinge blitzte auf und die Stimme des noch unsichtbaren Gegners
drang durch das Dickicht.
„Such das Weite,
kleiner Mönch, das rat ich dir!“
Doch Jocelin war zu
hungrig, den Hasen zu lassen. Blitzschnell drehte er sich um,
bereit, seinen Gegner niederzuwerfen - vor ihm stand ein blonder
junger Mann im Ordensgewand der Templer. Im ersten Augenblick wich
der andere unsicher zurück, dann stürzte er auf Jocelin
zu.
„Tut mir leid, jetzt
kann ich dich nicht mehr laufen lassen!“ rief er.
Nur knapp entging
Jocelin der Klinge des Anderen. „Haltet ein! Ich-” Jocelin blieb
mit dem Fuß in einer Astgabel hängen.
Er fiel. Sein
Ordensbruder holte zum letzten Schlag aus.
„Ich bin Templer wie
ihr!“
Die Klinge verhielt
über Jocelins Hals. „Was?“
„Aus
Provins!“
„In einer Mönchskutte?
! Du bist einer dieser Verfluchten, die sich zu Handlangern der
Inquisition erniedrigen!“
„Nein! Ich fand
Zuflucht in der Abtei von Saint Germain de Près. Dort gab man mir
die Kutte. - Glaubt mir, beim Kreuz Christi!”
„Wie seid Ihr
entkommen?”
„Komtur Renalt hatte
mich nach Paris gesandt, aber das Unwetter hatte die Brücke
zerstört. Ich kam zu spät...”
Der Fremde senkte
seine Klinge.
„Zu spät? Die
himmlischen Heerscharen müssen Euch beschirmt haben! Ich bin
geflohen, als man mich zum Verhör holte,” sagte er leise. Dann
streckte er Jocelin die Hände entgegen und half ihm
auf.
„Bruder Louis von
Etampes“, stellte er sich vor.
Jocelin umarmte seinen
Ordensbruder mit Tränen in den Augen. Endlich war er nicht mehr
allein!
Später, am Feuer, über
dem der Hase briet, berichtete sein neuer Kamerad, was geschehen
war.
„Die Leute des Grafen
verhafteten uns im Morgengrauen und steckten uns in die Verliese
unserer eigenen Komturei. Zuerst glaubten wir, dass alles ein
Irrtum sei, der nur unser Haus in Etampes betraf. Dann begannen die
Folterungen. Unserem Komtur haben sie die Beine gebrochen... Wir
haben ihn schreien gehört, einen Tag lang. Dann war es plötzlich
still...”
Louis atmete tief ein,
unfähig weiter zu sprechen.
„Ich will versuchen,
mich bis nach Orleans durchzuschlagen.” fuhr er nach einer Weile
fort. Meine Familie hat große Besitzungen dort. Vielleicht kann ich
mich irgendwo verstecken...“
„Uns verkriechen. Ist
das alles, was wir tun können?“
Jocelin stand auf.
Sein Gesicht spiegelte den in ihm tobenden Kampf wieder. Ein Kampf
gegen seine eigene Angst und Verzweiflung, gegen eine bedrohliche,
weglose Finsternis.
„Wir haben doch
gelobt, niemals vor unseres Feinden zu fliehen, sondern uns ihnen
zu stellen! Wir haben gelobt, unser Leben für unsere Brüder
einzusetzen, wie Christus sich für uns dahingegeben hat! Wir werden
uns nicht verkriechen wie Verbrecher, die das Licht
fürchten!“
„Was wollt Ihr denn
tun?“
„Wir... wir müssen
unsere Brüder befreien! Wir müssen zum Papst, zu den Bischöfen! Sie
haben uns die Privilegien gegeben, die jetzt mit Füßen getreten
werden!”
„Wir laufen nur der
Inquisition in die Arme!“
„Wir müssen etwas
unternehmen, Bruder Louis! Sonst ist unser Orden tot! Getötet nicht
durch die Inquisition, sondern durch uns selbst! Wir dürfen diese
Verbrechen nicht geschehen lassen! Wir müssen unser Recht
einfordern!”
Sein Mitbruder
antwortete nicht sofort. Er hob den Bratspieß vom Feuer, wartete
einen Moment, bis der Wind die größte Hitze genommen hatte. Dann
schnitt er einen dicken Streifen Fleisch herunter und reichte ihn
Jocelin.
„Nehmt! Wir werden
Kraft brauchen, wenn wir unsere Brüder aus dem Kerker holen
wollen!“
Inmitten einer
schwatzenden Menge Landvolkes gingen die beiden Templer durch das
Stadttor von Etampes. Bruder Louis zog nervös an seiner Kapuze.
Jocelin hatte ihm einen Bauernkittel besorgt. Trotz dieser
Verkleidung fürchtete Louis, erkannt zu werden.
Ein lauter Ruf
scheuchte die Leute auf. „Der Graf! Zur Seite!“
Jocelin packte Louis
am Arm und drückte sich gegen eine Hauswand, um den Pferdehufen zu
entgehen. Ein Bauer versuchte hektisch, seine Gänse von der Straße
zu treiben.
„Zur Seite!“ brüllte
der Reiter erneut und hieb mit der Peitsche nach ein paar Bettlern.
Dann ritt der Graf vorüber, eine stattliche Erscheinung in reichen
Gewändern. In einigem Abstand folgte eine Abteilung Ritter mit dem
gräflichen Wappen auf den Mänteln.
„Das sind fast alle
seine Leute.“ flüsterte Bruder Louis. Jocelin blickte den Reitern
nach. „Sie verlassen die Stadt!“
„Ja….Das heißt, dass
nur noch ein gutes Dutzend seiner Männer in der Stadt sein
werden... und die Truppe königlicher Söldner...- Lasst uns
weitergehen, Jocelin!“ Er machte eine leichte Kopfbewegung zur
anderen Straßenseite. Dort stand ein Mann in blaugefärbter Kutte
und beobachtete sie. Als er merkte, dass man ihn entdeckt hatte,
machte er sich eilig davon. Beunruhigt sah Bruder Louis sich
mehrmals um, während sie ihren Weg fortsetzten. Aber der blau
gewandete Mann tauchte nicht wieder auf.
Gleich einigen
anderen, die das Markttreiben genießen wollten, setzten sich die
beiden Flüchtlinge an den Brunnen. Vor ihnen erhob sich die
Templerkomturei von Etampes.
Jocelin schätzte die
Verteidigungskraft ab. Eine einfache Ringmauer. War der Graf
erfahren, hatte er auf jedem der Flankentürme wenigstens einen
Armbrustschützen postiert, ein paar Reservemänner auf dem Wehrgang.
Der Großteil der königlichen Söldner würde im Burghof lagern.
Hinter den Marktständen war das Vorwerk zu sehen. Auch dort waren
mehrere Bewaffnete auf Posten. Jocelin dachte an die Belagerungen
und Überfälle im Heiligen Land, von denen die älteren Brüder
erzählt hatten. Vermutlich könnten sie es schaffen, in die Burg
einzudringen, doch irgendeiner der Wächter würde zweifellos Alarm
schlagen und es käme zum Kampf. Bei einem gewöhnlichen Angriff
mochte dies gleichgültig sein. Doch Bruder Louis und er mussten mit
etwa zwanzig geschwächten Gefangenen wieder hinaus. Es wäre unklug,
die Burgbesatzung bereits zu Anfang auf sich aufmerksam zu
machen...
Da leuchtete
unerwartet der Zipfel eines tiefblauen Gewandes auf, nur wenige
Schritt entfernt.
„Da ist er wieder!“
flüsterte Jocelin. Er befahl seinem Kameraden, am Brunnen zu warten
und pirschte sich an den Fremden heran. Doch der bemerkte seinen
Verfolger und ergriff die Flucht.
Jocelin rannte ihm
nach. Über den Markt, dann in eine schmutzige Gasse. Hinter dem
großen Rad einer Wassermühle bog der Mann ab und war verschwunden.
Vorsichtig ging der Ordensbruder um das Schöpfrad herum und blieb
stehen. Alles war ruhig. Doch nein, dort am Torbogen, bewegte sich
da nicht etwas? Er wandte sich um, da traf ein Schlag seinen Kopf
und es wurde dunkel um ihn.
Bruder Louis wurde
unruhig. Es war bereits später Nachmittag und Jocelin noch immer
nicht zurück. Hatte er etwas gefunden, was ihn aufhielt? Oder war
ihm etwas zugestoßen? Die Leute begannen, neugierig zu starren. Wie
lange mochte es dauern, bis einer der Markthändler ihn als
verdächtig anzeigte? Seine Besorgnis wuchs. Schließlich brachte er
es nicht länger fertig, untätig seiner eigenen Verhaftung
entgegenzusehen, während sein Ordensbruder vielleicht seine Hilfe
brauchte. Er machte sich auf die Suche. Zunächst im
Handwerkerviertel, vorbei an den Werkstätten der Kupfer- und
Goldschmiede, der Zinngießer und Dengler, bis hinunter an den
Fluss, wo die Gerber und Färber arbeiteten. Dann ging er die
angrenzende Gasse der Tuchhändler weiter. Einer der reich
gewordenen Kaufleute ließ sich gerade ein neues Haus errichten.
Zimmerer sägten an den Gerüstbalken, und ein Steinmetz war mit dem
Türsturz beschäftigt. Louis hatte die Baustelle schon hinter sich
gelassen, als ihm etwas auffiel. Er machte kehrt, aus den
Augenwinkeln den Steinmetz beobachtend.
Jener hantierte mit
einem Winkeleisen, wie es bei den Byzantinern und Arabern üblich
war. Wie es die Handwerker des Tempels benutzten. Bruder Louis‘
Herz schlug schneller. Er trat an die Seite des Steinmetzes. „Du
hast viel zu tun, was?“
„Hm“, machte der
Handwerker, ohne aufzusehen.
„Aber du kannst dir
dein Brot verdienen, wie es scheint! Du hast gute Werkzeuge!“ wagte
Louis einen Vorstoß.
„Hm.“
„So ein Winkeleisen
habe ich noch nie gesehen. Hast du das von einer Reise
mitgebracht?“
Jetzt sah der
Steinmetz auf. „Du bist reichlich geschwätzig, Mann! Was
interessiert dich so an meinem Winkeleisen? Ich hab‘ es und damit
genug!“
Da Louis neben ihm
stehen blieb, sagte er mit spürbarem Unwillen: „Hör‘ zu, wenn du
Arbeit suchst, melde dich dort drüben! Aber steh‘ mir nicht länger
im Licht!“
Der Ordensbruder
schickte ein kurzes Gebet zu Gott und beschloss, dass Risiko
einzugehen. Er hob die rechte Hand in Brusthöhe und machte das
Zeichen, welches bei den schweigend eingenommenen Mahlzeiten im
Konvent “Gib mir, Bruder“ bedeutete.
Die Haltung des
Steinmetzes änderte sich nicht. Aber in seinem Gesicht spiegelte
sich Überraschung. Er reichte Bruder Louis das Winkeleisen, der die
Nadel so einstellte, dass sie in den Osten der Stadt wies, zur
Komturei. Dann legte er das Messgerät auf den
Türsturz.
Endlos scheinende
Augenblicke vergingen. Dann zeichnete der Steinmetz die Form eines
Kreuzes in den Staub. „Etampes?“ fragte er dabei
flüsternd.
Bruder Louis nickte
kaum merklich.
„Chalou“, flüsterte
der Steinmetz seinerseits und deutete in die westliche Richtung.
„Folge mir, aber langsam und unauffällig!“
Er sammelte seine
Werkzeuge auf und verschwand in der Tür des angrenzenden Hauses.
Kurz darauf nahm Bruder Louis denselben Weg. Er fand sich in dem
überladenen Arbeitsraum eines Holzschnitzers wieder. Hinter einer
halbfertigen Figur der Heiligen Jungfrau verbarg sich eine
verhangene Türöffnung. Louis vergewisserte sich, dass sein Dolch
griffbereit war, dann schob er den Vorhang zurück. Im nächsten
Moment legte sich eine Hand auf seinen Mund, er wurde an den Armen
gepackt, auf die Knie gestoßen. Kerzenlicht blendete
ihn.
„Lasst ihn los! Ich
kenne ihn. Es ist Louis, einer von den Ritterbrüdern!“
Die Kerze entfernte
sich, und dahinter formte sich ein rundes Gesicht mit buschigen
Brauen. Der Ingenieur der Komturei von Etampes.
„Entschuldigt den
rauen Empfang, Sire. Aber wir müssen vorsichtig sein. Überall
treiben sich Spitzel der Inquisition herum!“
Louis stand auf, ein
erleichtertes Lächeln auf den Lippen. „Ranulf! Gott sei gelobt! Wie
viele seid ihr?“
„Vier“, antwortete der
Ingenieur.
„Jedenfalls hier in
der Stadt, soviel ich weiß. Ich hatte Glück. Als die königlichen
Söldner die Komturei besetzten, war ich hier bei meinem Onkel, dem
Schnitzer. Ihn“, er zeigte auf den Steinmetz, “traf ich am nächsten
Morgen. Er kommt aus dem Haus von Chalou. Und dann noch zwei
Arbeiter von den Landgütern. - Aber Euch habe ich in Ketten
gesehen, Sire. Wie kommt es, dass Ihr hier seid?“
Misstrauen schwang in
seiner Stimme mit. War Louis um den Preis seiner Freiheit zum
Handlanger der Inquisition geworden?
„Ich konnte fliehen.
Aber die Leute des Grafen sind hinter mir her. Ich...“ Ein Geräusch
unterbrach Louis. Er fuhr herum und erstarrte. Selbst in dem
schwachen Licht leuchtete die blaue Kutte des Ankömmlings. Einen
Augenblick zu spät zuckte Louis Hand zu seinem Dolch. Der
Blaugewandete warf sich auf ihn.
„Guy, er ist einer von
uns!“
Verwundert hörte
Louis, dass Ranulf seinen Angreifer kannte.
„Ein Templer?“
zweifelte der Mann in der blauen Kutte und musterte Louis. „Ja.
Bruder Louis, aus unserer Komturei.“
„Aber ich habe ihn
zusammen gesehen mit dieser Inquisitorenratte, die ich heute
Nachmittag erwischt habe!“
Louis überkam eine
böse Ahnung. Inquisitorenratte?!
„Trug der Mann, von
dem du redest, eine schwarze Mönchskutte?“
„Da seht ihr es! Er
weiß genau, wovon ich rede! Haltet ihn fest!“
„Nein!“ wehrte Louis
ab. „Hört mir zu...“
Jocelin erwachte.
Noch undeutlich gewahrte er eine Bretterwand über sich. Langsam
stützte er sich hoch. Es war hell, also noch Tag. Oder schon
wieder? Wie viel Zeit war vergangen? Und wo war er? Die Decke des
Raumes war so niedrig, dass er sich nicht völlig aufrichten konnte.
Wie sie bestanden auch die Wände aus Holzbrettern. Nur der Teil, an
dem er lehnte, war aus Stein. In einer Ecke lagerte Reisig. Nun,
zumindest war das nicht der Kerker der Komturei, und wohl auch
nicht das Gefängnis der Stadt. Jocelin griff an seine Seite. Das
Schwert hatten sie ihm abgenommen, natürlich. Kurz zog er in
Erwägung, dass es vielleicht gar nicht Häscher der Inquisition
waren, die ihn überfallen hatten. Doch nein, gewöhnliche Räuber
hätten sich nicht die Mühe gemacht, ihn einzusperren! Von draußen
klang Wasserplätschern und das eigentümliche Knirschen nassen
Holzes. Ah, ja, er war an einer Wassermühle gewesen. Auf den Knien
rutschend untersuchte er Boden und Wände seines Gefängnisses. Die
Bretter waren dicht und fest aneinandergefügt. Über der Mauer
entdeckte er schließlich einen Ritz, der eine Luke
verriet.
Er atmete tief ein, um
die Schmerzen in seinem Kopf zu verdrängen und stemmte sich
dagegen. Die Klappe bewegte sich nicht. Nach dem vierten Versuch
gab er erschöpft auf. Es musste einen anderen Ausweg geben.
..
Plötzlich hörte er
Schritte und ein schleifendes Geräusch. Eilig zog er sich in die
Ecke hinter das Reisig zurück, bereit, sich auf den ersten, der
sich näherte, zu stürzen.
Die Luke wurde
aufgerissen. Ein Paar Beine streckten sich hinunter, dann erschien
ein wohlbekannter blonder Haarschopf.
„Mein Gott, Louis! Sie
haben auch Louis!“
Doch sein Ordensbruder
stieg nicht hinab, sondern streckte ihm die Hand
entgegen.
Kurz darauf machte er
die Bekanntschaft der vier Ordensbrüder. Guy, der Landarbeiter in
blauer Kutte, überreichte ihm sein Schwert.
„Ihr seid also der
Bruder aus Provins! Ich hielt Euch für einen Spitzel der
Inquisition, Sire!“ entschuldigte er sich mit einem schiefen
Lächeln.
„Ein sicherer Platz
ist hier nicht gerade für Euch“, meinte Ranulf und streifte Louis
mit einem Blick. „Und für ihn noch viel weniger! Weshalb wagt ihr
euch in diese Gefahr?“
„Wir sind hier, um
unsere Brüder aus dem Kerker zu befreien. Wenn ihr uns helfen
wollt...?“
Die Servienten sahen
einander an.
Nach einer Weile
schüttelte der Steinmetz heftig den Kopf.
„Ich mache nicht mit“,
erklärte er. „Ich bin am Leben. Ich bin frei. Ich habe eine Arbeit,
um nicht zu verhungern. Warum soll ich das alles aufs Spiel
setzen?“
Louis erinnerte ihn
beinahe zornig an die Leiden der gefangenen
Ordensbrüder.
„Es sind nicht meine
Brüder!“ Mit lauter Stimme und geballten Fäusten suchte der
Steinmetz, die Scham über seine Furcht zu verbergen. „Ich habe für
den Orden gearbeitet, und der Orden hat mich bezahlt! Ich schulde
ihm nichts!“ Er drehte sich um und verließ die Brüder.
Louis wollte ihm nach,
aber Jocelin hielt ihn zurück. „Lasst ihn gehen! Sein Gewissen wird
ihn genug verfolgen und quälen.“
Die beiden
Landarbeiter glaubten eine Gelegenheit gekommen, ihren Mut zu
beweisen und erklärten ihre Gefolgschaft. Dann willigte auch Ranulf
ein.
„Aber wie wollt ihr es
anstellen, Sires? Der Graf lässt die Komturei doch streng
bewachen!“
„Es ist weniger
gefährlich, als ihr meint. Er hat einen Großteil seiner Männer auf
die Landgüter mitgenommen.“
Bruder Pietro!“ Ein
Servient rüttelte den Kaplan an der Schulter.
„Kommt schnell, es ist
Bernard!“
Pietro di Bologna
folgte ihm zu dem Ort, an dem das jüngste Mitglied der Pariser
Komturei lag, der dreizehnjährige Bernard. Es war der hellste und
trockenste Fleck des Verlieses.
Der Junge zitterte
noch immer vor Kälte unter den Mänteln, mit denen die Gefangenen
ihn zugedeckt hatten. Auf Anordnung Imberts waren seine
Verletzungen verbunden worden. Doch die Wunden hatten sich bereits
infiziert, und sein geschwächter Körper konnte nicht länger
standhalten. Pietro di Bologna blickte in das blasse,
schweißglänzende Gesicht und legte prüfend die Hand auf Bernards
Stirn. Nein, es gab keine Hoffnung mehr. Der Junge spürte die
Berührung und öffnete die Augen.
„Wir...sind...bald...in Jerusalem...nicht wahr?“
flüsterte er.
„Ja, das sind wir“,
antwortete Pietro.
Trotz seiner Trauer
fühlte er eine gewisse Erleichterung. Bernard wusste nicht mehr,
dass er im Verlies lag. In einem sanften schönen Traum flog seine
Seele dem Paradies entgegen. Dank sei Gott für diese letzte
Gnade!
„Warum ist es so
dunkel?“
„Es ist Nacht, mein
kleiner Bruder. Aber bald wird die Sonne aufgehen. Dann kannst du
Jerusalem sehen, die Grabeskirche mit dem goldenen Kreuz auf der
Kuppel...“
Bernards Kopf war zur
Seite gesunken.
„Er stirbt! Und ohne
die Sakramente! Wie einen Hund werden sie ihn in ungeweihter Erde
verscharren!“ sagte der Servient hinter Pietro bitter.
„Nein!“ Mit einem Mal
wich die Trauer in Pietro di Bologna dem Zorn. Er stürzte auf die
Tür zu und hämmerte mit den Fäusten dagegen. „Wir haben einen
Sterbenden, lasst die
Sakramente
bringen!“
Der gerade die Runde
machende Wächter riss die Klappe vor dem Gitterfenster auf. „Einen
Dreck tu‘ ich!“
„Er ist
rekonziliarisiert! Er hat ein Recht, die Sakramente zu empfangen!
Ein Recht, hörst du!“
„Ihr habt auf gar
nichts ein Recht! Halts Maul, oder ich schneid‘ dir die Zunge
raus!“
Die Klappe schlug
wieder zu. Pietro di Bologna blieb stehen wie erstarrt, die
Gitterstäbe umklammernd. Sein so unerschütterlicher Glaube an die
Gerechtigkeit war zerbrochen. Er weinte.
Vor sich hinschimpfend
setzte der Wächter seinen Weg fort. Er bemerkte den jungen Mönch im
Schatten des Treppenaufgangs nicht. Doch der Gehilfe der
Inquisition hatte den kurzen Wortwechsel gehört, und dass einem
Sterbenden der Leib des Herrn verweigert werden sollte, bestürzte
ihn. Das durfte nicht geschehen!
Ohne lang zu
überlegen, lief der Mönch die Stufen hinauf, rannte durch die
Galerie in Richtung der königlichen Gemächer. Ein paar Höflinge
sahen ihm verwundert nach.
Atemlos erreichte er
sein Ziel: die Kapelle. Er drückte gegen die Pforte. Gott sei Dank,
sie war nicht verschlossen!
Ein Stoßgebet um die
Vergebung seiner Ehrfurchtslosigkeit auf den Lippen öffnete er das
goldene Tabernakel, nahm einige der geweihten Hostien heraus. Die
kostbare Beute an sein Herz gepresst eilte er zurück in den
Kerker.
„Brüder des Tempels?“
erklang ein leiser Ruf.
Pietro
di Bologna hob den Kopf. Erstaunt
blickte er in das junge Gesicht eines Dominikaners.
„Schnell, Bruder! Ich
bringe Euch die Heilige Speise!“ flüsterte der Mönch und hielt ein
weißes Bündelchen durch das Gitter.
Misstrauisch griff Pietro di Bologna danach.
War das ein grausamer Spott der
Inquisition?
Er schlug das Tuch
auseinander. Sieben Hostien lagen darin.
„Mein Gott!“ sagte er,
nach Worten suchend, die seine Dankbarkeit ausdrücken konnten. „Der
Herr Christus möge es dir vergelten! Wer bist du?“
„Bruder
Tancred.“
Entfernt waren die
Stimmen des Wächters und des Kerkermeisters zu hören. Der junge
Mönch drehte sich ängstlich um.
„Warte, Bruder
Tancred!- Einer von uns, der Komtur Robert, ist vor Tagen zur
Befragung geholt worden. Weißt du etwas von ihm? Ist er am
Leben?“
„Ja...“
Die Stimmen kamen
näher. Hastig floh der junge Mönch.
Pietro di Bologna
widmete sich wieder Bernard, durchströmt von neuer Kraft. Nein, es
war noch nicht alles verloren! Gerade wieder hatte Gott seine
Barmherzigkeit erwiesen! Laut begann er das Credo zu sprechen.
Nacheinander fielen anderen Gefangenen fielen ein.
„Amen!“ schloss ein
vielstimmiger Chor.
Kaplan Pietro hob eine
Hostie und zeichnete das Kreuz über Bernard. „Der Leib des Herrn
erhalte deine Seele für das ewige Leben...“ Er legte das Heilige
Brot in den Mund des Jungen. „Nimm auf, o Herr, deinen Diener am
Ort der Hoffnung...Befreie, o Herr, die Seele deines
Dieners...“
Plötzlich richtete
sich Bernard auf. Seine Augen strahlten.
„Jerusalem!“ hauchte
er. „Ich kann es sehen...“
König Philipp las den
Brief des Papstes zum zweiten Mal, gegen seinen Verstand hoffend,
dass er sich getäuscht hatte.
Aber da stand es, vom
Clemens selbst geschrieben:
„Du, Philipp, hast die
Hand auf die Personen und Güter der Templer gelegt, und, was der
Gipfel unseres Schmerzes ist, du hälst sie noch immer gefangen, ja
nach allem, was man hört, bist Du sogar noch weiter gegangen und
hast dem Betrübnis des Kerkers noch ein anderes
hinzugefügt...“
Selbst in diesen
zurückhaltenden Zeilen war die Empörung des Papstes über die
angewandte Folter zu spüren.
„...aus diesen
Gründen, und weil Wir glauben, dass es Unser von Gott verliehenes
Recht ist, fordern Wir die Überantwortung aller Brüder des
Templerordens unter Unsere Gewalt und Unser Recht. Kraft Unserer
apostolischen Autorität entheben Wir hiermit die Inquisitoren ihrer
Befugnisse und untersagen ihnen, ohne die Zustimmung des Heiligen
Stuhls in dieser Sache weiter tätig zu sein...“
Das Unfassbare war
geschehen. Der kranke, ängstliche Papst Clemens bot ihm die Stirn!
Philipp legte die Hände so fest um die Armlehnen seines Stuhls,
dass die Knöchel weiß durch die Haut schimmerten. Er sah das Land
der Templer vor sich, all die zahllosen Dörfer, Felder, Weiher,
ihre ertragreichen Landgüter, ihre Festungen, und vor allem, ihr
Gold. Das Unabdingbare, um seinen Reformen zum Erfolg zu
verhelfen!
Sollte er das alles
wieder verlieren? Das Volk war leicht zu beeindrucken und neigte
sich, wie der Wind gerade blies. Clemens mochte eine traurige Figur
abgeben, aber er war der Nachfolger des Heiligen Petrus, und das
Volk war so fromm wie dumm.
Und wenn Clemens den
Templern eine öffentliche Verteidigung gewährte, war es gut
möglich, dass die Stimmung zugunsten der Ordensmänner umschlug.
Philipp hatte schon einmal erfahren müssen, wozu ein aufgebrachter
Pöbel fähig war... Er stand auf und rollte den Brief zusammen.
Langsam gewann er seine gewohnte Ruhe zurück. Papst Clemens saß in
Poitiers. Beschützt - oder bewacht, wie man es sehen wollte - von
französischen Truppen...
Er wandte sich an den
im angrenzenden Gemach wartenden Kammerdiener: „Lasst Guillaume de
Nogaret holen!”
Nur eine halbe Stunde
darauf verbeugte sich der Siegelbewahrer vor König
Philipp.
Seine allerchristliche
Majestät bedeutete ihm huldvoll, sich neben dem Thron
niederzusetzen.
„Euch wird nicht
entgangen sein, Messire, dass eine gewisse... Verwirrung herrscht
über die Befugnisse eines Königs zur Verfolgung einer Häresie von
einer Abscheulichkeit, wie die Templer sie begangen haben“, begann
Philipp ohne umschweife. „Einer Häresie, die nicht nur unser
christliches Volk gefährdet, sondern auch die Heilige Mutter Kirche
untergräbt und heimtückisch nach ihrem Verderben
trachtet.
In seiner Bosheit ist
es dem Satan gelungen, das Herz vieler zu verdunkeln und gegen das
Recht aufzuwiegeln, dass der allmächtige Gott mir, seinem Schwert
auf Erden geschenkt hat.“
Philipp neigte den
Kopf. Das Licht glänzte in seinen Locken wie ein Heiligenschein.
„Ihr seid Jurist, Sire Guillaume. Ihr kennt die Winkelzüge des
kirchlichen und des weltlichen Rechts wie kein anderer. Ihr werdet
den Heiligen Vater überzeugen, dass der Orden der Templer kein
Orden ist, sondern eine üble Sekte, und dass er somit nicht unter
die Rechtshoheit der Kirche fällt... Dass ich in dieser Sacher
nicht als Ankläger irgendeiner Partei, sondern als Verteidiger des
Glaubens handle. Ich will... die Verteidigung der Gnade und Pflicht
des Königtums. Ihr werdet sprechen über das geistliche Schwert des
Papstes und das weltliche des Königs, über die Macht des Königs zur
Verfolgung der Ketzer ohne Autorisation des Heiligen Stuhls- und
gegen den Heiligen Stuhl, wenn jener selbst dem Irrglauben
verfallen scheint!“
Scheu betrat Bruder
Tancred die Zelle.
Mit erschreckender
Macht drängte sich ihm das Bild des gekreuzigten Christus auf, als
er den Gefangenen ansah. Die Arme ausgebreitet hing er in den
Ketten. Das zerfetzte Gewand bedeckte kaum mehr die zerschundenen
Glieder. Sein Kopf war vorn übergebeugt wie leblos.
„Bruder Robert?“
fragte Tancred und kam näher. Die Erinnerung an den stolzen Ritter,
der vor einer Woche der Inquisition vorgeführt worden war,
hinterließ ein Gefühl von Schande in ihm. Er war in den Orden der
Dominikaner eingetreten, um die Irrgläubigen mit feurigen Predigten
zu bekehren, nicht durch glühende Folterinstrumente!
Die Lider des
Gefangenen hoben sich. Nur ein kurzes Aufleuchten seiner Augen
verriet, das noch Leben und Verstand in dem gequälten Körper
wohnten. Tancred setzte Robert einen Krug an die trockenen Lippen.
„Trinkt! Es ist warme Milch mit Honig!“
Nur wenige Schluck
gewährte ihm der Mönch, wie Guillaume Imbert es aufgetragen hatte.
Dann löste er die Fesseln. Stöhnend sank Komtur Robert auf den
Boden der Zelle. „Was...willst du?“ brachte er mühsam
hervor.
„Ich bin hier um Euch
zu pflegen, Bruder.“
„Wozu? Lasst mich...
doch... sterben!“
„Der Papst hat die
Inquisition suspendiert. Er wird eine eigene Kommission zur
Untersuchung einsetzen.“
„Endlich... es ist
spät... sehr spät...“
Jocelin und die Leute
der Komturei von Etampes waren wieder an der alten Wassermühle
zusammengekommen. Obwohl das Mahlwerk ratterte, wagte Louis nur
leise zu erläutern, was er mit seinem Ordensbruder geplant hatte:
„Es sind 22 Gefangene, 5 oben im Konventgebäude und die anderen im
Verlies.“
Er tippte auf den in
den Sand gezeichneten Grundriss der Komturei.
„Von der Kirche aus
führt ein Gang bis in die Kerker, für den Priester, wisst ihr. Den
werden wir benutzen. Die Söldner dürfen uns nicht verfolgen können.
Deshalb nehmen wir ihre Pferde. Hier sind die Ställe. Es gibt zwei
Eingänge, in Richtung des Haupttores; dort stehen zwei bis vier
Wachen; und hinten zum Turnierplatz, wahrscheinlich unbewacht. Über
das Konventsgebäude könnten wir ihn erreichen. Wir brauchen nun
einen Mann, der die Pferde losbindet und ruhig hält, bis Bruder
Jocelin und ich mit den Gefangenen kommen.“
„Ich kann recht gut
mit Pferden umgehen. Ich werde es tun“, meldete sich einer der
Arbeiter.
„Ich danke
dir!”
In diesem Moment kam
vor dem Tor ein Pferdewagen zum Stehen. Auf dem Kutschbock saß der
andere der beiden Landarbeiter von Etampes und winkte. Ranulf
sprang auf.
„Unser Weg in die
Komturei!“ rief er und zeigte auf die Last des Wagens: drei Fässer.
„Wir werden dem Herrn Grafen einen ganz besonderen Wein liefern!“
Er grinste spitzbübisch.
Kurz vor Einbruch der
Dunkelheit war es dann soweit.
Drei bewaffnete Männer
verschwanden in den Fässern: Jocelin, Ranulf und Louis, bekleidet
mit seinem Ordensgewand. Sollte er sterben, hatte er erklärt, so
als Templer, und nicht wie ein Abtrünniger im
Bauernkittel.
Die beiden
Landarbeiter nahmen auf dem Kutschbock Platz. Versehen mit genauen
Befehlen fuhren sie los.
Die Wachposten am
Burgtor starrten müde über die Spitzen ihrer Hellebarden. „Was
wollt ihr denn noch?“ knurrte einer von ihnen den Ankömmlingen
entgegen.
„Wir bringen den Wein
für den ehrenwerten Herrn Grafen.”
„Davon weiß ich
nichts!“
„Vom Landgut Saint
Martin des Eaux.“
„So?“ Der Wächter ging
um den Wagen herum, wohl mehr aus Gewohnheit denn aus
Misstrauen.
„Warum kommt ihr nicht
mit den Anderen?”
„Oh, Sire, dass weiß
ich nicht! Der Herr Graf hat uns vorausgeschickt, wir sollen den
Wein bringen!“
Der Wächter verdrehte
die Augen, im Stillen die Beschränktheit der Bauern verfluchend,
und winkte den Wagen durch das Tor.
Im Hof der Komturei
flatterte das Lilienbanner über den Zelten der königlichen Söldner.
Die Männer saßen am Feuer, scherzten und beachteten den Wagen kaum,
der vorbeifuhr. Guy ließ unauffällig den Blick schweifen, suchte
sich an der Beschreibung Bruder Louis‘ zu orientieren. Dort war die
Kirche... das Refektorium... der Küchenkamin... das
Konventsgebäude... Er war nur ein, zweimal hier gewesen seit seinem
Ordenseintritt.
„He, wo wollt ihr
hin?“
Die Landarbeiter
erschraken. Hinter ihnen stand ein Waffenknecht des
Grafen.
„Zum Weinkeller“,
antwortete Guy, am ganzen Körper zitternd.
„Dann müsst ihr da
hinunter!“
„Ah? Danke, Sire,
vielen Dank!“
Guy deutete eine
Verbeugung an und lenkte das Zugpferd in die andere Richtung. Kaum
war der Bewaffnete verschwunden, zog er die Zügel wieder an.
Unterdessen war die Sonne untergegangen, die Umrisse der Mauer
begannen in der Dämmerung zu verschwimmen.
Der zweite
Landarbeiter stieg vom Kutschbock, spähte um die Ecke und nickte
dann. Guy klopfte auf den Deckel des ihm zunächst stehenden Fasses.
Während sein Kamerad die Umgebung im Auge behielt, kletterten
Jocelin, Louis und Ranulf aus ihrem Versteck. Der Ingenieur brachte
sich geduckt unter die hölzerne Galerie in Sicherheit. Jocelin
schlich mit gezogenem Schwert die Mauer der Kirche entlang. Louis
wartete, bis die Landarbeiter die Fässer abgeladen hatten. Wenig
später fuhr ein fröhlich pfeifender Bauer mit einem leeren Wagen
aus der Komturei. Gerade noch vor Schließung der Tore kam er aus
der Stadt, um seinen Platz am Hang unter der Burg
einzunehmen.
Die Pforte zur Kirche
war unbewacht. Jocelin stieß die Tür auf und glitt ins Innere. Auch
hier war niemand. Düster und kahl erstreckte sich das
Kirchenschiff. Die Banner und Waffen, die einst die Wände
geschmückt hatten, waren verschwunden, ebenso die goldenen
Leuchter, die Altardecken, das Prozessionskreuz. Eine einzige
halbabgebrannte Kerze warf ihr erbärmliches Licht auf die steinerne
Nacktheit. Gleich hinter dem Gurtbogen zum Chorraum, gegenüber der
Sakristei, öffnete sich der von Bruder Louis beschriebene
Gang.
Jocelin ergriff die
Kerze und trat ein.
Der Gang führte über
mehrere Windungen und Treppen nach unten. Das andere Ende
versperrte eine mit Eisenbändern beschlagene Holztür. Der
Ordensbruder horchte. Dann zog er langsam die Riegel zurück,
öffnete die Tür einen winzigen Spalt. Weiter, ganz vorsichtig...
Noch ein Stück... Mit einem weiteren Schritt stand er im Verlies.
Aus dem Wachraum streckte sich ein Bein in den Gang. Daneben lehnte
ein Schwert an der Wand. Angespannt setzte Jocelin Fuß vor Fuß. Der
Wachposten mit dem gräflichen Wappen auf der Brust saß am Tisch,
einen Würfelbecher vor sich. Sein Kamerad war wohl eben nach
draußen gegangen… Arglos gähnte der Posten.
Jocelin schnellte nach
vorn und schlug ihn nieder. Hastig fädelte er die Schlüssel von
dessen Gürtel, als er den zweiten Wächter kommen hörte. Er duckte
sich im Schatten des Türbogens.
Die Schritte
verhielten - der Posten hatte seinen Kameraden entdeckt - wurden
wieder rascher. Jetzt erreichte er den Bogen. Jocelin sprang aus
der Deckung. Ein Hieb mit dem Schwertknauf ließ auch den zweiten
Wachposten niederfallen. Der Ordensbruder rannte zu der niedrigen
Pforte, die in den Kerker führte. Eine ihm ewig scheinende Zeit
brauchte er, um sie aufzusperren.
Aus dem Dunkel klang
ihm eine erschrockene Stimme entgegen und er antwortete gedämpft:
„Ruhig! Keine Angst! Ich bin hier, um euch zu
befreien!“
Er zog eine Fackel aus
der Halterung und leuchtete in den Kerker. Der Zustand der
Gefangenen erschreckte ihn.
„Wie viele seid
ihr?“
„Dreizehn.“
„In
Ketten?“
„Einige. - Wer ist
da?“
„Bruder Jocelin aus
Provins.“ Er bückte sich und schloss dem ersten Gefangenen die
Fesseln auf.
„Wartet, ich helfe
Euch!“ bot ein Bruder im grauen Gewand des Servienten an und griff
nach den Schlüsseln.
In diesem Moment klang
eine vertraute Stimme durch das Gewölbe. „Jocelin? Jocelin, bist du
es?”
Diese Stimme! Bei
allen Heiligen, es war die Stimme von - Wie erstarrt blickte
Jocelin auf die hohe Gestalt des Mannes, der an der Wand
aufgerichtet hatte. Der Mann war einäugig, und auch das verbliebene
Auge schien blind. Eine breite Narbe zog sich schräg über die Wange
bis zur Schläfe. Jocelin hatte nur einmal eine solche Verletzung
gesehen. Damals in den letzten Stunden des Kampfes um Akkon, als
die Sarazenen die Mauern überwanden und einer von ihnen seinen
Säbel in das Gesicht eines Ordensbruders schlug!
„Arnaud?” fragte er
fast tonlos und ging auf den Gefangenen zu. „Arnaud!”
Als wolle er prüfen,
ob er ein Traumbild vor sich habe, drückte er seinen alten
Pflegevater an sich.
„Arnaud, wie kommt Ihr
hierher? Ich glaubte, Ihr seid auf Zypern!”
„Ich bin erst dieses
Jahr mit Meister Jacques gekommen.” Der alte Templer streckte die
Hand aus und berührte das Gesicht des Jüngeren. Jocelin… Er hatte
nicht geglaubt, ihm je wieder zu begegnen… War das ein gutes
Zeichen in dieser Stunde der Not?
Da erst bemerkte
Jocelin die blutige Tunika seines Ordensbruders. „Ihr seid
verletzt!”
„Ah, es ist nicht so
schlimm. Der Heiligen Jungfrau sei Dank, die Folterknechte wussten
nicht, dass ich der Adjutant des Meisters bin.”
Der Servient griff
Jocelins Arm. „Messire, es sind alle frei.”
Er nickte und wandte
sich um. Sie mussten sich beeilen.
„Folgt mir, so leise
wie möglich! Stützt euch gegenseitig, damit niemand
stolpert!“
Sie erreichten
ungehindert den Kirchenraum, von da aus über die Treppe das
Dormitorium. Im Kapitelsaal trafen sie Louis. Erstauntes Raunen kam
auf, als die Brüder ihn erkannten.
Er hatte nur zwei
Männer bei sich. Sein linker Ärmel war zerfetzt, und an seinem
Schwert klebte Blut.
„Abtrünnige“, murmelte
er. „Alle drei! Sie wollten die Söldner alarmieren! Ich musste sie
töten!“ Das Entsetzen über die eigene Tat klang noch in seiner
Stimme nach. Jocelin biss die Zähne zusammen. „Gott sei uns gnädig!
Schnell jetzt!“
Unter Louis‘ Führung
durchquerten die Flüchtlinge den Kreuzgang, unbemerkt von den
Wachen auf dem Wehrgang. In den Stallungen war es still. Fast zu
still. Ob Guy etwas geschehen war? Doch dann würde im Lager der
Söldner größere Unruhe herrschen…
Er schlüpfte durch die
Tür, sah sich um. Unvermutet sagte eine Stimme neben ihm: „Sire?“
Lautlos hatte Guy sich an seine Seite geschlichen.
„Sind die Pferde
bereit?“ fragte Louis und presste die Hand auf sein vor Schreck wie
wild schlagendes Herz.
„Ja.“
„Dann
los!“
Mit einem letzten
Blick überzeugte sich Jocelin, dass jeder leidlich auf einem Pferd
saß. Dann gab er das Zeichen. Aufgescheucht preschten den
Flüchtlingen auch die restlichen Pferde des Stalles hinterher. Im
nächsten Augenblick pfiffen die ersten Pfeile vom Wehrgang und ein
Wächter blies das Signalhorn. Einige Bewaffnete ergriffen die
Flucht vor den Hufen der Pferde, hektische Befehle
schreiend.
Doch die ersten
Templer waren durch das Tor in der Nacht verschwunden. Jocelin
blieb an der Seite des Tores zurück, bereit, sich den heraneilenden
gräflichen Männern entgegenzustellen. Erneut spannten die Schützen
auf den Mauern ihre Armbrüste. Ein halbes Dutzend Pfeile fuhren
neben Jocelin in den Boden. Doch sie galten nicht ihm. Das Opfer
hätte Ranulf sein sollen, der gerade von der Treppe des Wehrgangs
gesprungen war. Der Ordensritter kam ihm zu Hilfe und griff ihn im
vollen Galopp auf.
„Das Tor!“ keuchte der
Ingenieur, sich an Jocelin festklammernd. „Das Tor! Beeilt Euch,
Sire!“
Erst jetzt erkannte
Jocelin, dass das Fallgatter bereits halb heruntergelassen war. Im
letzten Moment entkamen sie. Hinter ihnen bohrten sich die eisernen
Spitzen in die Erde.
Esquieu de Floyran lag
halbnackt auf den Samtkissen, den Kopf an der Schulter einer
üppigen Hure.
„Ihr seid so dunkel“,
sagte sie und rieb verwundert über seine Haut.
„Den Weibern, die ich
bisher hatte, gefiel es“, gab Floyran zurück. „Schwarz wie der
Teufel, he!“ Er lachte und die Frau zuckte zusammen.
„Hast du Angst vor
mir? Mein Vater sagte immer, meine Mutter sei eine Teufelin
gewesen, eine schwarze sarazenische Hexe...”
„Seid Ihr ein
Heide?”
„Ich? Ich glaube an
gar nichts! Außer an mich selbst! Und ich muss sagen, dieser Glaube
hat mich bisher weiter gebracht…“ Er packte sie, drückte ihren
weichen, weißen Körper in die Kissen. „….als alles Gelaber der
Priester…“
In diesem Moment
klopfte es an der Tür.
„Sire Esquieu, der
königliche Siegelbewahrer Sire Guillaume ist hier!“
„Ich komme!“ Floyran
fluchte, stand auf, zog eine Tunika über und ergriff den
Waffengurt.
Nogaret erwartete ihn
im holzgetäfelten Saal des Hauses.
„Ich freue mich, Euch
auf meinem eigenen Besitz begrüßen zu dürfen!“
„Nun, Ihr habt Euch
erheblich verbessert, wenn man dieses Haus mit den Kerkermauern
vergleicht, in denen Ihr mich zum ersten Mal
empfingt!“
“Wenn Ihr damit
andeuten wollt, ich sollte zufrieden sein - ich bin es nicht. Ihr
wisst, was ich will!“
„Eines von den
Templergütern.“
Floyran nickte
lächelnd und hob eine Weinkaraffe. „Unter anderem…“
Als Nogaret ablehnte,
füllte er den eigenen Becher.
„Ihr habt doch gehört,
dass der Papst die Güter des Templerordens beschlagnahmt hat, bis
ein endgültiges Urteil gefällt sein wird.“
„Und was unternimmt
Seine Allerchristlichste Majestät? Er ist auf der
Jagd!“
„Der König schickt
eine Gesandtschaft zu Clemens um zu verhandeln. Mehr darf ich Euch
darüber nicht sagen.”
„Ach! Verhandlungen!”
Esquieu de Floyran leerte seinen Becher auf einen Zug. „Was ist,
wenn der Papst den Orden nicht verurteilt? Was wollt Ihr dann
tun?“
„Belastet Euch nicht
mit diesen Sorgen!“
„Gut, gut!“ rief
Esquieu ungehalten. ”Aber vergesst nicht, ab und zu ein Wörtchen
für mich einzulegen. Ich bin kein sehr geduldiger Mann! Sonst werde
ich ausplaudern, was ICH über EUCH weiß!”
Guillaume de Nogaret
beugte sich vor. “Ihr solltet mir dankbar sein.” sagte er in
eindringlichem Ton. “Ich bin mitten in der Nacht aufgebrochen, um
Euch zu warnen!”
„Zu warnen?
Wovor?”
„In der vergangenen
Nacht sind die Gefangenen der Komturei von Etampes
entflohen...“
„Was?! Bei dieser
Bewachung? Dann muss ihnen einer von den Söldnern geholfen
haben!“
„Nein. Es waren
Templer. Niemand weiß, wie sie in die Burg gekommen
sind.“
„Aber das ist doch
ganz unmöglich!“
„Man hat sie ganz
deutlich gesehen, Sire Esquieu. Es waren Templer. Einer von ihnen
in voller Rüstung.”
Floyran fuhr sich
beunruhigt durch das Haar. Er mochte es ganz und gar nicht, von
einer Horde unsichtbarer Feinde umgeben zu sein. „Sie werden nicht
weit kommen, denke ich doch!“
„Bisher hat man sie
noch nicht! Wer auch immer ihr Anführer ist, er ist kein Dummkopf!
Sie haben Pferde, vielleicht auch Waffen, und nichts zu verlieren.
Versteht Ihr? So gut wie überall weiß man, dass Ihr den Orden
denunziert habt. Ich rate Euch, legt Euch eine kleine Leibgarde
zu!“
Der königliche
Siegelbewahrer wandte sich zur Tür.
„Ich muss gehen. Lebt
wohl, Sire Esquieu, und beherzigt meinen Rat!“ Er hoffte inständig,
dass der andere dies tat – weniger, weil ihm an dessen Leben etwas
gelegen war, im Gegenteil, sondern weil er nicht riskieren wollte,
dass die Templer ihren Denunzianten in die Finger bekamen und er
dann vielleicht ein Wörtchen zu viel erzählte… Wovon auch immer.
Floyran hatte sich schließlich als sehr erfinderisch im Lügen und
Verdrehen von Wahrheiten erwiesen...
König Philipp richtete
sich im Sattel auf und blickte dem über die Lichtung springenden
Hirsch nach. Die Hundemeute neben ihm zerrte an den Leinen. Aus dem
Gehölz klang das Signal der Jagdgehilfen, die das Wild in die
gewünschte Richtung trieben. Philipp gab dem Hundeführer ein
Zeichen. Laut bellend stürzte die Meute los. Der König ergriff den
Speer, den ihm sein Knappe entgegenhielt und schlug seinem Pferd
die Sporen in die Seite. Im Galopp verschwand er hinter den Hunden
im Dickicht. Philipp liebte die Jagd, die kalte Luft auf der Haut,
das Gebell der Hunde, den Herbstwald in seinen bunten
Farben.
Dies lenkte ihn von
dem beunruhigenden Fakt ab, dass Meister Jacques de Molay und fast
alle anderen Befragten ihre Geständnisse widerrufen hatten, sobald
die Entscheidung des Papstes zu ihnen gedrungen war. Dass die
Gefangenen aus Etampes befreit worden waren...
Finanzminister
Enguerrand de Marigny, der wie die meisten Mitglieder des Kronrates
den König begleitete, zeigte nur mäßiges Interesse am Geschehen.
Ihn beschäftigten eigene Probleme. Seit der Suspendierung der
Inquisition war die Stellung des Erzbischofs von Sens wieder
unangefochten. Es war sogar wahrscheinlich, dass der Papst ihn zum
Leiter seiner Untersuchungskommission machte. Zu allem Überfluss
hatte auch noch ein Bürger der Stadt Cambrai beim Heiligen Stuhl
Klage gegen ihren Bischof eingereicht. Alles in allem sah es recht
ungünstig für die Karriere von Marignys kleinem Bruder aus. Lustlos
ritt Sire Enguerrand der Jagdgesellschaft nach. Einmal mehr
beneidete er den Siegelbewahrer Nogaret, der wegen wichtiger
Geschäfte in Paris verblieben war.
In der Ferne
verkündete Hundegebell, dass das Wild gestellt war. In einem
letzten verzweifelten Versuch zu entkommen, wollte der Hirsch über
ein Bachbett setzen. Aber noch im Sprung durchbohrte der Speer des
Königs sein Herz.
„Ein Meisterwurf,
Majestät!“ lobte eine Stimme hinter ihm. Philipp drehte sich um und
erblickte eine Reiterin in dunkler Witwentracht. Unter der
schwarzen Haube schimmerte das Oval ihres Gesichtes fast
weiß.
„Gräfin Ghislaine de
Montfort!“
Philipp ritt ihr
entgegen und machte eine elegante Verbeugung. „Seid gegrüßt,
Madame!“
Ein flüchtiges
Lächeln, dann kehrte die ernste Miene zurück. Ghislaine de Montfort
hatte in ihrem Leben noch nicht viele Sonnentage gesehen. Mit knapp
vierzehn Jahren hatte man sie dem Grafen von Montfort vermählt.
Zwei der Kinder, die sie von ihm empfing, starben noch bevor sie
laufen lernten, und im Krieg um Flandern hatte sie ihren Gemahl
verloren. Geblieben war ihr ein frecher Sohn, der sich mit den
Leibeigenen prügelte.
„Ich bin ebenfalls auf
der Jagd“, antwortete Gräfin Ghislaine auf die Frage des Königs.
„Meine Begleiter trafen Eure Jagdknechte, und ich hoffte, wir
könnten uns Euch anschließen. Doch wie ich sehe ist es zu
spät.“
„Nun, wenn Ihr es
wünscht, Madame, können wir morgen noch eine kleine Hatz
veranstalten.“
„Ich halte Euch ungern
von den Staatsgeschäften ab, Majestät!
Philipp dachte an
Nogaret, der die Gesandtschaft an den Papst vorbereitete. Nein, es
gab keine dringenden Geschäfte. Vorerst jedenfalls nicht. Seine
einzige Waffe war die Zeit, und die galt es mit Geduld zu
handhaben...
„Ich werde meinen
Jägern befehlen, dass sie morgen bei Sonnenaufgang bereit sein
sollen“, entschied Philipp und hob das Horn, um zum Sammeln zu
blasen. Gräfin Ghislaine betrachtete ihn verstohlen. Noch immer
besaß er die gleiche ausgesuchte Höflichkeit und Eleganz wie in
seiner Jugendzeit, aber von einer Art, die eher Distanzen schuf,
als sie zu überbrücken. Noch immer hatte sie das Gefühl, dass dies
nur ein Teil seines Wesens war, der Teil, der sich in seine Rolle
als König makellos einfügte. Niemals in ihrer Zeit am Hof hatte
Ghislaine de Montfort Philipp lachend, weinend oder auch nur zornig
gesehen.
Jocelin trat unter den
aus Zweigen und Erde aufgerichteten Schirm zu seinem Pflegevater.
Erst bei Tagesanbruch hatte Jocelin die Verletzungen Arnauds und
der anderen gesehen. Er hatte sie mit Salz aus einer Tierlecke
ausgewaschen und notdürftig verbunden. Unglücklicherweise war kein
Heilkundiger unter den Geretteten.
Auf die Frage, wie es
ihm ginge, lächelte Arnaud und umschloss Jocelins
Hand.
„Ich bin glücklich,
dass du am Leben und unversehrt bist. Ich wusste dich in einer
französischen Komturei, und die ganze Zeit habe ich dich in den
Händen der Folterknechte gesehen. Das war meine größte Qual.
Aber nun...”
„Ich habe die
Verlesung der Anklage gehört, ” erinnerte sich Jocelin an jenen
furchtbaren Tag. “Wer kann uns solcher Verbrechen beschuldigt
haben, Arnaud?”
„Auch uns haben sie
die Anklage vorgelesen. Aber wer uns angeklagt hat, das weiß ich
nicht. Niemand hat einen Namen genannt. - Das ist kein rechtmäßiger
Prozess.”
„Aber warum hat Papst
Clemens noch keinen Einspruch erhoben?”
„Ich weiß es nicht“,
erwiderte Arnaud und seufzte leise. „Angeblich hat er die
Inquisition suspendiert.”
„Suspendiert?! Bei
Gott, wenn das wahr ist, können wir mit Meister Jacques Kontakt
aufnehmen!”
Arnaud schüttelte den
Kopf und lehnte sich erschöpft zurück. „Nein. Selbst wenn es wahr
ist - wir wissen zu wenig, um irgendetwas zu
unternehmen.”
„Das heißt, wir werden
nur warten?”
„Noch.
Ja.”
Einer der Verwundeten
stöhnte. Jocelin sah, wie Louis sich um ihn bemühte. Dann kam der
junge Ordensbruder zu ihm.
„Wir brauchen eine
feste Unterkunft, ein Versteck. Wenn der Schnee kommt, sind wir
verloren!”
Jocelin nickte. „Kennt
Ihr etwas Geeignetes?“
„Es gibt eine alte
Kirchenruine in der Nähe...“
„Die, an der wir auf
dem Weg nach Etampes vorbeigekommen sind? Das ist zu nah an der
Straße. Dort werden die Söldner als erstes suchen.“
„Es ist der einzige
Ort, den ich kenne.“
„Ist einer von den
anderen aus der Gegend?“
Louis überlegte.
„Keiner von den Rittern, nein. Aber vielleicht ein Servient?“ Er
wandte sich an die Runde um das Feuer.
Zwei Schmiedeknechte
und der Landarbeiter Guy waren aus der Nähe von Etampes gebürtig.
Doch auch sie wussten nur von der Kirchenruine.
Plötzlich aber fiel
Guy etwas ein, und er hielt Bruder Louis zurück. „Es gibt eine
Höhle. Ich habe sie als Kind entdeckt. Ich glaub‘, ich kann sie
wieder finden.“
„Eine Höhle?“ fragte
Louis mit leichtem Unbehagen in der Stimme. Unterirdische Gefilde
hatten für ihn stets eine dämonische Ausstrahlung. Ihn fröstelte,
als er Jocelin sagen hörte: „Wir brechen sofort auf!“
Guy führte die Brüder
an einem Bach entlang noch tiefer in den Wald. Anfangs war er sich
nicht ganz sicher. Erst als zwischen den Bäumen große Felsblöcke
auftauchten, wusste er, dass er sich nicht verirrt hatte. Von
draußen unsichtbar bildeten die Felsen eine Schlucht, gerade breit
genug für einen Reiter. Nach einigen Metern weitete sie sich zu
einem Kessel. Über den Rand hingen Wurzeln und lange Efeuranken,
die im Wind schaukelten. Unter dem Gestrüpp gähnte eine Öffnung im
Felsen. Mit einem langen brennenden Ast und einem Reisigbündel ging
der Landarbeiter in die Dunkelheit voraus. Jocelin bekreuzigte sich
und zwang sein scheuendes Pferd hinterher. Die Höhle wirkte anfangs
niedrig, fast bedrückend, doch dann hob sich der Fels zum Gewölbe
einer gewaltigen natürlichen Kathedrale.
Die Nachkommenden
brachen in Rufe des Erstaunens aus. Guy entzündete das Reisig, und
bald brannte ein großes Feuer. Man entschied, die Pferde draußen im
Kessel zu lassen, bis im Vorderbereich der Höhle Pflöcke angebracht
waren.
Die meisten
Ordensbrüder waren eingeschlafen.
Jocelins Blick
wanderte über die Schlafenden. Unwillkürlich musste er an die Säle
voller Verwundeter in Akkon und später auf Zypern denken, damals,
nach den letzten Gefechten um das Heilige Land. An jenen Tagen
hatte er Schmerz und Trauer um die vielen seiner Kameraden
empfunden. Jetzt fühlte er eher das Verlangen, Gott für ihren Tod
zu preisen. Sie waren als Ritter Christi in der Schlacht gegen die
Ungläubigen gestorben, nicht als verfemte Ketzer unter den
Folterknechten eines christlichen Königs. Wieder drängte sich ihm
die quälende Frage nach dem Warum auf. Warum hatte man sie
angeklagt?
Was für abscheuliche
Vorwürfe! Christus zu verleugnen, auf das Kreuz zu spucken! Wer
konnte sich so etwas ausdenken? Doch nur jemand, der selber von
Dämonen besessen war! Er erinnerte sich an seine eigene
Ordensaufnahme, vor zehn Jahren auf Zypern, und wie er sich auf
diesen Tag vorbereitet hatte, wie er ihn herbeigesehnt
hatte!
Unauslöschlich hatte
sich dieser Moment in seine Erinnerung gebrannt. Er sah vor sich,
als sei alles erst gestern geschehen, wie die Morgensonne durch die
Fensterrose der Templerkirche von Nicosia strahlte, sich im Gold
des Altarkreuzes und den Rüstungen der Ordensbrüder brach, die sich
im Chor versammelt hatten. Auf ihren Mänteln leuchtete blutrot das
Kreuz, das an den Tod Christi gemahnte. Jocelin entsann sich seiner
Aufregung, als er in die Kapelle geführt wurde, und wie krächzend
seine Stimme klang, als er um Aufnahme in die Gemeinschaft
bat.
„Wisset, Sire Jocelin,
dass Ihr alle Tage Eures Lebens der Sklave des Ordens sein werdet,
dass Ihr niemals tun werdet, was Ihr wollt, sondern das, was man
Euch befiehlt. Seid Ihr bereit, diese Härten zu ertragen?” hatte
Meister Jacques ihn gefragt, und „Ja, mit Gottes Hilfe” war seine
Antwort gewesen.
Seine Hand hatte auf
einem aufgeschlagenen Evangeliar geruht, und noch heute erinnerte
er sich an die Miniatur auf der Seite, die die Kreuztragung Christi
zeigte.
„Seid Ihr frei und
ledig von allen weltlichen Verpflichtungen? … Seid Ihr gesund an
Leib und Seele? … Seid Ihr frei von allen kirchlichen Bußen und
Strafen?” Und endlich, die letzte Frage: „Seid Ihr der Sohn eines
Ritters aus ritterlichem Geschlecht, geboren aus rechtmäßiger
Ehe?”
„Ja, das bin ich“,
hatte er damals geantwortet, denn so wenigstens hatte Bruder Arnaud
es ihm gesagt. Wer seine tatsächlichen Eltern waren, hatte ihn
niemals interessiert. So weit er zurückdenken konnte, war ein
Ordenshaus seine Heimat gewesen…
Aber jetzt war er
ausgestoßen worden. Nicht durch irgendeine eigene Verfehlung, nein,
durch die Verleumdungen eines Unbekannten, durch ein perfides Netz
aus Lügen!
Plötzlich hatte
Jocelin das Bedürfnis nach frischer Luft. Er ging hinaus und setzte
sich vor der Höhle nieder. Weit, weit über ihm schimmerten die
Sterne durch die Baumwipfel. So friedlich und gleichmäßig,
als sei alles Übel der Welt nur ein böser Alptraum; als könne der
neue Tag anbrechen, und alles würde vergessen sein. Jocelin schloss
die Augen. Er war müde, aber der Schlaf floh ihn. Was sollte weiter
geschehen? Sie brauchten Essen, Decken, Medizin für die Kranken.
Wie erging es seinen Brüdern in Provins? Voller Verzweiflung
überlegte er, wie er auch sie befreien könnte, und musste doch
einsehen, dass es unmöglich war mit den wenigen kampffähigen
Brüdern und ohne Waffen. Es blieb ihm nur, für sie zu
beten….
König Philipp hatte
aus der Beute der zwei Jagden ein üppiges Festmahl im Temple
bereiten lassen. Noch bevor es Gräfin Ghislaine und den übrigen
Gästen jedoch gestattet wurde, sich daran zu erfreuen, lud Seine
Majestät sie zu einer Predigt Guillaume Imberts. Er tat dies
weniger aus Frömmigkeit denn aus Berechnung. Ein solches Fest war
ein guter Anlass, sein Handeln in der Templerangelegenheit nochmals
zu rechtfertigen, heimliche oder offene Verteidiger des Ordens zu
warnen.
Der Oberste Inquisitor
begann vom Sündenfall der ersten Menschen zu sprechen, und der
daraus folgenden Anfälligkeit für die Verführungen des Bösen, in
der Geschichte Israels.
„...Doch ein Teil der
Israeliten wurde seinem Gott untreu, dem Gott, der sie aus der
Gefangenschaft herausgeführt hatte! Während Mose auf dem Berg die
Tafeln mit dem heiligen Gesetz erhielt, machten sich verdorbene und
verfluchte Söhne seines Volkes daran, ein Götzenbild zu fertigen.
Sie verließen den lebendigen und lebenspenden Gott für das elende
Werk ihrer eigenen Hände, ein goldenes Kalb! Doch heißt es nicht
‚Jene, die die Götzen geschaffen haben, sollen ihnen ähnlich
werden, und alle, die auf sie vertrauen‘? Ihre Ohren werden taub
sein, und ihre Augen blind, und sie werden nicht gehen, es sei denn
den Weg der Verdammnis! Und Mose, der das Volk geführt hatte wie
ein gerechter König vor dem Herrn, bestrafte diese Söhne des
Unglaubens!“
Die Gebildeten unter
den Gästen verstanden die feine Andeutung. Moses, das weltliche
Oberhaupt der Israeliten, nicht etwa Aaron, das geistliche, hatte
die Strafe angeordnet und ausführen lassen. So wie auch König
Philipp mit Recht ohne den Papst tätig geworden war.
„So versammelte Mose
die Leviten und sagte ‚Der Herr befiehlt euch, nehmt euer Schwert
und geht durch das ganze Lager! Tötet alle, die schuldig geworden
sind, selbst eure Brüder und Freunde!“
Imbert fuhr mit der
Vernichtung der Städte Sodom und Gomorrha fort.
„Es steht nicht
geschrieben, dass alle Einwohner Sodoms diese Unzucht begingen, und
dennoch ließ Gott Pech und Schwefel auf die ganze Stadt regnen.
Warum? Weil jene, die nicht schuldig waren durch die Tat, dennoch
schuldig wurden durch die Duldung der Tat. Sie duldeten die Sünde
der anderen, anstatt sich von der Unflat zu reinigen! ‚Seid rein
und heilig wie es euer Vater im Himmel ist!‘ mahnt der
Apostel.“
Zu diesem Zeitpunkt
bemerkte Ghislaine de Montfort, dass ein Mann sie aufdringlich
musterte. Er war schlank und hatte ein dunkles Raubvogelgesicht.
Sie ließ ihren Witwenschleier über das Gesicht fallen.
Inquisitor Imbert
hatte mit einer flammenden Schilderung des Jüngsten Gerichts
begonnen. Jetzt holte er zu einer letzten Ermahnung aus: „Unsere
Kirche soll gereinigt werden von dem Geschwür der Ketzerei, damit
dieser heilige Leib des Herrn nicht von uns aufs Neue gequält wird
wie bei seiner Passion! Das mag schmerzen, doch es ist notwendig!
Unser Erlöser, der Herr Christus selbst, ruft uns zu ‚Es ist
besser, du verlierst ein Glied, als das dein ganzer Leib in die
Hölle geworfen wird!‘ Hüten wir uns also vor falscher Rücksicht und
Mitleid mit jenen, die Gottes Gebote gebrochen und der Kirche
Schmach angetan haben! Hüten wir uns, damit wir am Tage des
Gerichts sagen können ‚ In den Zelten der Frevler habe ich nicht
gewohnt, und an den Tischen der Sünder nicht gesessen!
- Im Namen des Vaters,
des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.“
Der Festsaal erinnerte
kaum mehr an das Refektorium der Ordensbrüder, das er einst gewesen
war. Die Wände waren mit prächtigen Tapisserien behangen. Schalen
mit Duftessenzen standen vor den Tischen, und hunderte Kerzen
warfen ihr Licht auf die Gäste. Gräfin Ghislaine war die hohe Ehre
zuteil geworden, an der königlichen Tafel Platz zu nehmen. Neben
ihr saß der Thronfolger, der achtzehnjährige Louis. Seine beiden
jüngeren Brüder, der ruhig und würdevoll wirkende Philipp und der
engelsgesichtige Charles saßen an der anderen Seite des Königs,
gemeinsam mit ihrer Schwester Isabelle.
Während die Speisen
aufgetragen wurden, wandte sich Ghislaine zu König Philipp. „Sire,
glaubt Ihr an die Schuld der Templer?“
„Die Geständnisse
erweisen ihre Schuld, Madame.“
Eine Antwort wie diese
hatte sie erwartet. Nichts sagend, ausweichend. „Ich hörte, dass
die Folter angewandt wird?“
„Der Teufel hält seine
Opfer fest in den Klauen. So ist eine gewisse Gewalt nötig, sie ihm
auch wieder zu entreißen. Aber Ihr solltet Euch wirklich nicht mit
solchen Fragen belasten.“
Ghislaine erwiderte
nichts. Ihr Großvater hatte von Templern auf dem Kreuzzug
berichtet, und dabei nichts von den abscheulichen Praktiken
gesehen, deren sie nun beschuldigt wurden. Allerdings… Es mochte
sein, dass das Böse sich erst in den letzten Jahrzehnten
eingeschlichen hatte… Wer war sie, das zu beurteilen? Nachdenklich
ließ sie die Augen durch den Saal wandern - und kreuzte erneut den
glühenden Blick jenes dunkelhäutigen Mannes. Er lächelte ihr
zu.
„Wer ist das dort, an
der Seite des Siegelbewahrers?“ fragte Ghislaine einen
Pagen.
„Sire Esquieu de
Floyran, Madame, kennt Ihr ihn denn nicht?“
„Was soll das
heißen?“
„Eh...jeder sonst weiß
Bescheid über ihn. Er ist es, der die Templer angezeigt
hat.“
Nun war es Ghislaine,
die Floyran ansah. Der Mann, der sich gerade an einer Pastete
gütlich tat, wirkte nicht wie ein frommer Eiferer für die Reinheit
der Kirche.
Plötzlich stieg Ekel
in ihr auf. Esquieu de Floyran, das üppige Mahl, die Spielleute,
alles war ihr zuwider. Sie erhob sich so rasch, dass König Philipp
sich ihr zuwandte. „Madame Ghislaine?“
„Ich bitte um
Vergebung, Majestät. Mir ist übel“, erklärte sie kurz und war
bereits aus der Tür. Eine schmale Treppe führte Ghislaine in den
Kreuzgang. Die hohen Mauern und die schmucklosen Spitzbogenarkaden
atmeten militärische Strenge. Die Klarheit der Formen wirkte
beruhigend und befreiend.
Ghislaine setzte sich
und schloss die Augen. Sollten die Männer, die hier gelebt und
gebetet hatten, wirklich Feinde Christi sein? Wie konnte König
Philipp einem Mann wie diesem Floyran Glauben schenken? Oder tat er
das gar nicht? Waren es seine Berater, Nogaret voran, die
entschieden hatten? Aber Seine Majestät war kein Mann, der sich von
anderen lenken ließ...
Der Tag hatte soeben erst begonnen. Noch bauschten sich
dicke Nebelschwaden im Tal. Sie waren zu zehnt. An ihrer Spitze
Jocelin und Ranulf, dann Briand und Raimond von den Geretteten aus
Etampes und sechs Servienten. Hinter einer Wegbiegung, eingebettet
in sanfte Hügel, tauchte das königliche Landgut von Beaudelu auf.
Hier wurden die Abgaben und Steuern des Umlandes gesammelt und
verzeichnet. Ein großer Reichtum für eine kleine Schar hungriger
Flüchtlinge. Der Plan der Ordensbrüder war waghalsig und hing im
Wesentlichen von der Neugier und dem Misstrauen der auf Beaudelu
stationierten königlichen Söldner und Beamten ab. Der Hauptteil der
kleinen Gruppe sollte mit einem Scheinangriff die Aufmerksamkeit
auf sich ziehen, während Jocelin, Briand, Raimond und Guy über die
Mauer kletterten. Sie sollten von innen das Tor öffnen und sich
Zugang zu den Speichern beschaffen. Ranulf hatte einen Katapult
gezimmert. Der Ingenieur trug das zierlich wirkende Gerät vor sich
auf dem Pferd.
Im Schutz einer
Brombeerhecke befahl Jocelin abzusitzen. Ranulf ließ den Katapult
nieder. Dann flammten die ersten Fackeln auf. In die Söldner auf
dem Wehrgang kam Bewegung. Die Templer sahen Lanzen blitzen,
geschrieene Befehle drangen zu ihnen. Ranulf legte den ersten
harzgetränkten Wergballen in die Kelle des Katapults, zündete ihn
an und löste das Spannseil. Das Wurfgeschoß schlug vor dem Haupttor
auf die Erde und versetzte die Wachposten in erneute Aufregung. Sie
vermochten den Gegner an den Brombeerbüschen auszumachen, aber er
war außer Reichweite der Bogenschützen. Jocelin gab Briand und den
anderen beiden ein Zeichen. Die Ordensbrüder rannten zur Mauer.
Begleitet von wildem Geschrei der Kameraden feuerte Ranulf den
Katapult wieder und wieder ab. Die Söldner auf dem Wehrgang hatten
bald begriffen, dass ihnen von der scheinbar wahnsinnigen Schar da
draußen keine wirkliche Gefahr drohte. Aber gerade diese
offenkundige Sinnlosigkeit beunruhigte sie. Waren diese Verrückten
vielleicht die Vorhut eines größeren Angriffs, die sie zu einem
Ausfall verleiten sollte? Oder waren es, - wovor Gott sie bewahren
mochte - teuflische Dämonen? Kampfbereit sammelten sich die Söldner
am Torturm.
Bruder Briand drückte
sich gegen die Mauer und prüfte zum letzten Mal, ob das Seil hielt.
Ja, der Eisenhaken am Ende hatte sich in eine Steinfuge gekrallt.
Langsam zog er sich nach oben. Kurz darauf waren seine Kameraden
neben ihm. Bruder Guy spähte vorsichtig hinab. Tatsächlich, das Tor
war unbewacht! Er nickte Jocelin zu, schlich ein paar Meter weiter
und sprang dann auf einen Haufen aufgeschichtetes Stroh. Als er
außer Sicht war, ließen sich die anderen drei die Mauer
hinab.
„Das muss der Speicher
sein“, flüsterte Jocelin und wies auf ein Gebäude mit gemauertem
Untergeschoß. Der Lärm ihrer Ordensbrüder vor dem Tor übertönte die
eiligen Schritte der Templer über den Hof und das Geräusch, als
Bruder Briand mit dem Dolch das Türschloss aufbrach. Es dauerte
einen Augenblick, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt
hatten. Dann erkannten sie aufgestapelte Säcke und Reihen von
Fässern.
„Na bitte,” murmelte
Raimond, den zunächst stehenden Sack öffnend.
”Gerste.”
Zweimal kurz
hintereinander erklang ein Käuzchenruf. Das verabredete Signal!
Also war es Guy gelungen, das Tor zu öffnen. Unbemerkt von den
königlichen Söldnern wanderten die ersten Säcke aus dem Speicher zu
den Pferden der Ordensbrüder. Plötzlich ein Zischen, Feuerschein
erhellte das morgendliche Zwielicht. Eines der Geschosse von
Ranulfs Katapult hatte ein Strohdach in Brand gesteckt. Hastig
stürzten die Söldner zum Brunnen. Jocelin und seine Kameraden
duckten sich in den Schatten der Hausmauer, als zwei der Männer in
ihre Richtung abschwenkten. Sie verschwanden in einem angrenzenden
Fachwerkgebäude, um kurz darauf mit Armbrüsten bewaffnet wieder zu
erscheinen.
„Die Waffenkammer!”
flüsterte Raimond aufgeregt. „Los, holen wir uns, was wir
brauchen!”
„Nein! Das ist viel zu
riskant!”
„Ich bin Ritter und
kein Strauchdieb!”
Schon war der junge
Ordensbruder aufgesprungen. Jocelin zögerte einen Augenblick, dann
gab er den Befehl, Raimond zu folgen.
Eine Treppe tiefer,
unter dem Kanzleiraum, lag die Waffenkammer. Raimond hatte sich
bereits ein Kettenhemd übergestreift und war gerade dabei, sich mit
einem Schwert zu versorgen.
„Bedient Euch,
Messires!” rief er seinen Brüdern lachend zu. „Alles da, was das
Herz begehrt!”
Briand griff nach
einer Armbrust. Da knarrte eine Tür. Stimmen waren zu hören, dann
hallten Schritte auf der Treppe – und Jocelin wusste, dass sie
einen Fehler begangen hatten! Einen Fehler, der ihnen jetzt die
Freiheit oder das Leben kosten konnte!
Raimond warf sich auf
den ersten Söldner, stach ihn nieder. Aber schon waren andere
hinter ihm, alarmiert durch den Schrei des Gefallenen. Auf der
schmalen Treppe entbrannte ein erbitterter Kampf. Es gelang
Jocelin, sich bis zur Tür durchzufechten. Er stürzte hinaus, auf
das Tor zu. Söldner auch hier! Es blieb ihm keine Zeit, an Guy zu
denken, der hier doch hatte warten sollen. Heftige Schläge
austeilend drängten die Männer des Königs auf ihn ein. Aus den
Augenwinkeln nahm er Bruder Raimond wahr. Mit Fußtritten versuchte
der junge Ritter, sich aus der Umklammerung zweier Söldner zu
befreien. Es gelang ihm, er bekam einen Dolch zu fassen und hieb um
sich in blinder Verzweiflung.
Allmächtiger, wenn sie
nur bis zur Mauer kämen!
Bruder Briand fiel,
aber seine Kameraden waren außerstande, ihm zu helfen. Aus mehreren
Wunden blutend sank er in die Knie. Ein Schwertstreich durchtrennte
die Sehnen seiner rechten Hand, und er ließ die Klinge fallen. Die
Aufmerksamkeit der Söldner galt für einen Moment allein ihrer
sicheren Beute.
„Lauft!” schrie er mit
letzter Kraft seinen Brüdern zu, den Arm zur Mauer streckend. Die
Gelegenheit war winzig. Raimond rammte einem Gegner den Dolch in
den Leib, stürmte den Wehrgang hinauf. Ein Söldner riss ihn nieder.
Er stieß ihn zurück und sah Jocelin hinter sich. Mit einem Satz war
der Ordensbruder neben ihm. „Über die Mauer!” keuchte er, Raimond
am Arm packend. Sie stolperten vorwärts. Wo die Dunkelheit
Buschwerk am Fuß der Mauer ahnen ließ, sprangen sie.
Der unsanfte Aufprall
lähmte Jocelins Körper unter einer Kaskade von Schmerzen. Noch ehe
er wieder recht zur Besinnung kam, griffen ihn zwei
Hände.
„Messire? Seid Ihr in
Ordnung?”
„Guy? - Ah... ja, ich
glaube...”
„Ich hörte den Kampf.
Aber Ihr hattet mir ja streng verboten, einzugreifen, wenn
irgendwas schief geht.”
„Schon gut.” Jocelin
beugte sich über Raimond. Der junge Mann war bewusstlos. Der
Landarbeiter hob ihn über die Schulter.
„Wo ist Bruder
Briand?”
„Tot, wenn Gott ihm
gnädig ist. Er hat sich geopfert, damit wir entkommen
konnten.”
Das Tor des Landgutes
wurde aufgestoßen. Die ersten Söldner schwärmten mit Fackeln
aus.
„Sehen wir, dass wir
wegkommen, Sire Jocelin. Könnt Ihr gehen?”
Er stützte sich mühsam
hoch.
„Es ist nicht weit“,
versicherte Guy. „Dort hinten habe ich die Pferde. Bruder Ranulf
wartet mit den anderen unten am Fluss.“
Bruder Louis’ Blick
wanderte über die gestohlenen Vorräte. Zwei Sack Gerste, Erbsen,
ein Fässchen Honig. Wenig für den Preis des Lebens einer ihrer
Brüder. Und wie viele von den Leuten des Königs hatten sie getötet,
sie, die doch gelobt hatten, ihre Waffen nur zur Verteidigung von
Christen zu erheben! Und alles nur, weil Raimond nicht gehorcht
hatte. Schon immer war der junge Ritter ein Heißsporn gewesen. Als
sie noch zusammen in Etampes gelebt hatten, war kein Monat
vergangen, in dem Raimond nicht wenigstens eine leichte Strafe zu
verbüßen hatte. Entschlossen trat Louis in die Mitte seiner
Brüder.
„Brüder“, begann er,
“unser Komtur ist tot. Wir müssen jemanden wählen, der uns führen
soll, dem wir den Treueid leisten und dem wir
gehorchen.”
Zustimmendes Nicken
antwortete ihm. Die Ordensbrüder waren es gewohnt, den Befehlen
eines Oberen zu gehorchen. Es schien ihnen nur natürlich, einen
neuen Kommandanten zu bestimmen.
„Ich schlage Bruder
Jocelin aus Provins vor“, fuhr Louis fort.
„Ja, Bruder Jocelin
soll uns führen“, pflichtete Ranulf bei. Andere schlossen sich ihm
an. Jocelin hatte sie aus der Gefangenschaft befreit, er hatte Mut
und Umsicht bewiesen. Sie sahen nichts, was gegen ihn
spräche.
„Wieso ER?“ murrte
Raimond. „Wir sind alle aus dem Haus von Etampes, wir sollten einen
der unsrigen zu unserem Führer bestimmen!“ Er wusste sich schuldig
an Bruder Briands Tod, und das Schuldbewusstsein machte ihn reizbar
gegen alles und jeden.
Doch er blieb mit
seiner Meinung allein. Alle außer ihm hoben die Hand, als Louis um
die Zustimmung zu Jocelins Wahl bat. „Bruder Raimond, akzeptiert
Ihr Bruder Jocelin von Provins als Komtur?”
„Meinetwegen“, brummte
er nur ohne aufzusehen.
Louis wandte sich zu
Jocelin um.
„Beau frère, Ihr habt
die Wahl Eurer Brüder vernommen. Seid Ihr bereit, uns zu führen,
getreu den Regeln und Gewohnheiten unseres Ordens?”
Jocelin bekreuzigte
sich, langsam, feierlich. Mit einem Kreuz, das ein Gebet um Hilfe
war.
„Ich bin bereit“,
sagte er dann. „Möge Gott und die Heilige Jungfrau mir und uns
allen helfen!”
Am nächsten Morgen
schneite es, und der Winter erfasste nicht nur Erde und Pflanzen in
seiner eisigen Umklammerung, sondern wie stets auch alle
Aktivitäten. Papst Clemens zog sich in ein provenzalisches Kloster
zurück, und Guillaume de Nogarets Gesandtschaft brach
unverrichteter Dinge wieder nach Paris auf. Mitte November tauschte
König Philipp die Gemächer des Temple gegen sein Jagdschloss an der
Loire. Kälte und Schnee bereiteten selbst den Gedanken der Leute
ein Ende, ließen alle Anklagen, Spekulationen und Verteidigungen
hinter der Sorge um das tägliche Leben verschwinden. Für ein paar
Monate vergaß Frankreich die gefangenen Ordensbrüder. Nur der Tod
blieb in den Kerkern ein treuer Besucher. Doch die Templer waren
voller Hoffnung auf den Heiligen Vater, der eine eigene Kommission
und ein gerechtes Verfahren versprochen hatte.