Frankreich, Herbst 1307

 
Jener 12. Oktober begann für die Templerniederlassung von Provins wie jeder gewöhnliche Tag. Noch lag Dunkelheit über dem Land, als Komtur Renalt einen seiner Ordensbrüder zu sich befahl.
„Hier sind die Wechsel für unsere Bank in Paris. Übergebt sie dem Visitator persönlich, Bruder Jocelin.“ Er schob eine Schatulle über den Tisch. „Reitet nach der Messe los. Dann seit Ihr zur Non in Paris.“
„Ja, Sire Commandeur.“ Der Schein der Kerze glitt über ein noch junges Gesicht mit kurz geschnittenem, dunklem Haar und hellen Augen.
„Ihr werdet ohne Begleitung reisen. Eine Eskorte macht das Gesindel nur neugierig“, fuhr der Komtur fort.
Jocelin nickte. Seit der letzten Steuererhöhung des Allerchristlichsten Königs, wie Philipp IV. sich nannte, hatten die Überfälle beträchtlich zugenommen.
Der junge Ordensbruder ergriff die Schatulle und schlug den Mantel um sie. Mit einer Verneigung verließ er die Kammer. Der nachdenkliche Blick des Komturs folgte ihm. Jocelin war jetzt seit fast fünf Jahren hier; er war einer der besten Kämpfer, zudem noch weise und gerecht in den Entscheidungen der Kapitelssitzungen, trotz seiner Jugend. Renalt zweifelte nicht, dass dem jungen Mann eine große Zukunft bevorstand. Wahrscheinlich würde er bald eine eigene Niederlassung zur Verwaltung übertragen bekommen, oder gar nach Zypern berufen werden, in den Konvent des Meisters… Eine nicht unerhebliche Karriere für einen Waisenjungen aus Palästina….
Eine knappe Stunde später ritt Jocelin durch das Tor der Komturei von Provins. In den Straßen der Stadt war es noch ruhig. Die Sonne ging soeben auf und kämpfte sich durch tief hängende regenschwangere Wolkenberge. In der Nacht hatte ein Sturm fast sämtliche Blätter von den Bäumen gerissen. Kahl streckte sich das Geäst in den Himmel. Der eisige Wind ließ es ächzen und knirschen. Jocelin war froh, dass man ihm ein zusätzliches Untergewand gestattet hatte. Hinter den Stadtmauern schlug er den Weg über das Landgut des Ordens ein. Dort waren die Bauern bereits an der Arbeit. Es galt die Sturmschäden auszubessern, ehe es erneut zu regnen begann. Zäune waren zusammengefallen, Vieh entlaufen, Dächer halb weggefegt. Als Jocelin vorüber ritt, unterbrachen die Bauern kurz ihre Beschäftigung für einen Gruß. Trotz aller Beschwernis hatten die Untertanen des Ordens keinen Grund zur Klage. Ihre Abgaben waren fest geregelt, die Handwerker erhielten stets ihren Lohn, und keine Fehden bedrohten Land und Leute. Jocelin grüßte mit einem kurzen Winken zurück. Bald erreichte er die weit ausschwingende Ebene vor Paris. Die Stadt selbst lag noch hinter einem dichten Regenschleier verborgen. Ein paar ärmliche Dörfer säumten die Straße, auf der ungewöhnlich viele königliche Söldner unterwegs waren.
 Es regnete wieder, zuerst nur ganz leicht, schließlich aber prasselten die Tropfen mit Hagel vermischt nieder. Gemeinsam mit fünf Söldnern suchte Jocelin unter den Bäumen am Wegesrand Schutz. „Verdammtes Wetter!“ fluchte einer der Bewaffneten. Sein mit der königlichen Lilie verziertes Wams war schlammbespritzt. Jocelin bemerkte, dass es die Galauniform war und fragte nach dem Grund für die Aufmachung. Der Söldner zuckte mit den Schultern.
„Wir haben den Befehl von unserem Kommandeur erhalten, der bekam ihn von seinem Bailli, und der wohl von unserem hochheiligen Herrn König selber.“
Einer seiner Kameraden hörte den feinen Hohn in diesem Worten und setzte hinzu: “Na, unser Herr König soll über seiner Heiligkeit nur nicht vergessen, uns den Sold zu zahlen!“
„Genau!“ pflichtete ein anderer bei. „Aber man hört so Sachen, dass Seine Majestät bald Truhen voller Gold haben soll.“
„Ach, woher denn? Da muss schon ein Wunder passieren! - Aber was soll’s!“ Er zog einen Lederbecher aus der Tasche und klapperte herausfordernd mit den Würfeln.
„Machen wir ein Spielchen?“
Jocelin lehnte das Angebot, sich zu beteiligen, mit einem Kopfschütteln ab. Würfelspiel war ein verdammungswürdiger Zeitvertreib und ihm natürlich untersagt.
Stunden später ließ der Regen etwas nach und Jocelin ritt weiter. Völlig durchnässt kam er am Flussübergang an. Gewöhnlich floss die Seine an dieser Stelle ruhig dahin. Die Regenfälle der vergangenen Stunden hatten sie jedoch in eine tosende Flut verwandelt. Erst auf den zweiten Blick sah Jocelin, dass die Brücke zerstört war. Nur die Uferpfeiler standen noch. Unschlüssig ritt er die Böschung entlang, dann drängte er sein Pferd ins Wasser. Das Tier scheute, bäumte sich auf, und hätte ihn fast abgeworfen. Nur mühsam gelang es Jocelin, das Pferd wieder zum Ufer zu lenken. Nein, da hindurch zureiten wäre Wahnsinn! Das bedeutete, dass er nach der nächsten Brücke suchen musste. Und… er würde Paris nicht mehr rechtzeitig erreichen...
König Philipp lag ruhig, aber er schlief nicht. Er hielt die schweren Damastvorhänge seines Bettes zur Seite und starrte auf das gegenüberliegende Fenster. In den bleigefassten Rundscheiben vervielfältigte sich das Mondlicht in grotesken Spiralen. Aber der König nahm sie nicht wahr. Seine Augen schienen nicht das Lichtspiel im Glas, sondern die Zukunft zu umfassen, während seine Gedanken durch die Vergangenheit streiften.
Er hörte wieder die stolze, spöttische Stimme Papst Bonifatius VIII.: “Ein Falschmünzer bist du, König von Frankreich!“
Er hörte das Geschrei einer wütenden Volksmenge: “Räuber, Betrüger!“
Ungeschwächt lebte der Aufstand der Pariser Bevölkerung in Philipps Erinnerung. Der Mob hatte den Palast stürmen wollen, Steine und Unrat waren geflogen. Im letzten Moment war Philipp damals die Flucht in die Templerfestung geglückt.
Nur mit einem Untergewand bekleidet hatte er vor dem Komtur gestanden und ihn um die Bezahlung von Soldaten zur Niederschlagung des Aufstandes angefleht. Was für ein demütigender Moment! Und bis jetzt hatte er dem Orden nicht einen Sous zurückerstattet. Die Staatskasse war so leer wie damals.
Und schon wieder murrte dass Volk über die Steuererhöhungen. Aber bald würde er, Philipp, mehr Gold besitzen als jeder andere Fürst der Christenheit! Gold, mit dem er seine Beamten entlohnen konnte, seine Gesetzeslehrer, all die Männer, die er in der Provinzverwaltung eingesetzt hatte, und die dem Wirrwarr in Recht und Gesetz ein Ende bereiten sollten. Den König durchströmte ein Gefühl seligen Glücks. Keine selbstherrlichen Barone würden die Ordnung des Landes mehr stören, keine kirchlichen Immunitäten mehr der Verfassungsreform im Wege stehen. Frankreich würde ein mächtiges, blühendes Reich sein, dessen Grenzen niemand zu verletzen wagte- und er würde der Herrscher dieses Reiches sein. Philipp IV., Seine allerchristlichste Majestät. Der König war zu aufgeregt um noch liegen zu bleiben. Er erhob sich und schritt zu einem kleinen Tisch, auf dem stets Schreibutensilien bereitlagen.
Fast zärtlich strich Philipp über ein dicht beschriebenes Pergament, das Original von dutzenden Kopien, die ins ganze Land verschickt worden waren. Obwohl er den Inhalt des Erlasses längst auswendig kannte, las er ihn erneut. Ein wohliges Frösteln überkam ihn bei all den darin geschilderten blasphemischen Ungeheuerlichkeiten. Jede einzelne dieser Zeilen würde Folterungen und Tod auslösen.
Aber es berührte ihn nicht. Er würde Gold haben, dass war das einzige, was zählte.
„Und dir verdanke ich das alles, mein lieber Nogaret“, flüsterte Philipp.
Gott allein - oder wohl eher der Teufel - mochte wissen, warum gerade ER die Sache so eifrig verfolgte! Der König entsann sich, wie sein Siegelbewahrer Nogaret ihm jenen Esquieu de Floyran zum ersten Mal vorgeführt hatte. Der Mann war ein zum Tode verurteilter Verbrecher gewesen. Doch allein die Tatsache, dass er sich nicht mehr im Kerker, sondern hier vor ihm im königlichen Palast befand, hatte Philipp von der Brauchbarkeit Floyrans überzeugt. Keinerlei Furcht war in seinen schwarzen Augen zu erkennen gewesen, als er vor dem Thron niederkniete und sagte: “Ich will Euch ein großen Geheimnis verraten, mein Herr König!“
Und was für ein kostbares, funkelndes Geheimnis! Philipp lächelte kalt.
In blendender Nachmittagssonne ritt Jocelin in die Vorstadt St. Nicolas von Paris. Die Siedlung war seit seinem letzten Besuch stark angewachsen und hätte eigentlich einer Mauer bedurft. Dafür fehlte jedoch das Geld. Dicht, als wollten sie sich gegenseitig schützen, drängten sich die Häuser. Schmale Gassen wanden sich zwischen ihnen hindurch. Einige Hühner stakten durch den Schlamm, es stank nach Unrat und Exkrementen. Kaum ein Mensch war zu sehen. Nur ein paar zerlumpte Kinder spielten im Dreck. Als sie Jocelin gewahrten, stoben sie auseinander.
Plötzlich trat unter einem Torbogen ein Mann hervor und griff ihm beherzt in seine Zügel. Der Ordensbruder erkannte sofort, dass ihm keine wirkliche Gefahr drohte. Der Mann war alt, und außerdem endete sein linkes Bein unterhalb des Knies in einem Holzstock.
„Ich kann dir nichts geben“, sagte Jocelin so ruhig wie möglich. „Komm in unseren Konvent beim Mittagsläuten! Ich muss weiter!“
„Ihr werdet nicht weit kommen!“ erwiderte der Mann und sah unruhig um die Ecke. „Überhaupt ein Wunder, wie Ihr bis hierher gekommen seid…“
„Was redest du für unsinniges Zeug?“ rief Jocelin mit etwas schärferer Stimme, weil der Alte noch immer seine Zügel festhielt.
In einiger Entfernung klang das Schlagen von Pferdehufen. „Folgt mir, Sire! Ich will Euch nichts Übles, glaubt mir!“
Jocelin hörte die Angst in der Stimme des Mannes und wandte sich zur Stadtmauer. Hoch über die übrigen Häuser ragte die Klosterfestung der Templer auf. Sicher war Komtur Robert...
Der junge Ordensbruder brachte den Gedanken nie zu Ende.
Sein Blick blieb an der Spitze des mächtigen Wehrturmes haften. Dort wehte keine Standarte!
Der heruntergekommene Alte, der ihn hier aufhielt, mochte verrückt sein, aber irgendetwas stimmte nicht! Mehr seinem Gespür, als einer willentlichen Entscheidung gehorchend ließ sich Jocelin in einen Hof führen. Der Alte schlug hinter ihm das Tor zu und verriegelte es.
„Was ist hier los, Mann?“
„König Philipp hat heute Morgen die Templer gefangen  nehmen lassen.“
„Das ist unmöglich! Der Orden untersteht dem Heiligen Stuhl! Kein weltlicher Fürst kann uns verhaften!“
„Ich habe sie gesehen, Sire! Den Meister und alle seine Würdenträger, die Ritter und Servienten, wie sie in Ketten zum königlichen Palais geführt wurden! Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen!“
„Du musst dich geirrt haben!“
Von der Straße her waren Pferde und raues Gelächter zu hören. Fast gleichzeitig drehten sich Jocelin und der Alte zum Tor.
„Na, hab ich nicht gesagt, dass wir ihn kriegen?“ grölte jemand. „Wolltest du uns entwischen, feiner Herr?“
Jocelin sprang aus dem Sattel, rannte zum Tor und spähte durch ein Astloch. Sein Blick umfasste das Hinterteil eines gewichtigen Pferdes, dann eine blaue Satteldecke mit Lilienwappen. Königliche Söldner. Als sich das Tier ein wenig zur Seite bewegte, sah Jocelin die mit einem Seil am Sattelbogen gefesselten Hände eines Mannes. Seine übrige Gestalt wurde vom breiten Rücken eines Söldners verdeckt. Der Schlag dessen gepanzerter Faust ließ den Gefangenen in den Schlamm stürzen. Er trug die weiße, mit dem roten Kreuz bestickte Tunika der Templer. Jocelins Hand fuhr an sein Schwert, doch dann besann er sich und verhielt reglos. Langsam richtete sich der Gefangene wieder auf, und Jocelin erkannte Robert, den Komtur von Paris.
„Jetzt ist dir dein Hochmut vergangen, was?“ höhnte der Söldner. Komtur Robert blickte ihm gerade ins Gesicht.
„Ich verlange den Erzbischof von Sens zu sprechen!“
Die Söldner lachten und ritten im Kreis um ihn herum. „Du wirst gleich den Inquisitor sprechen können!“
In ohnmächtiger Wut schaute Jocelin zu, wie der Söldnerzug sich wieder in Bewegung setzte.
„Der Inquisitor?“ wiederholte er halb fragend.
„Ihr habt richtig gehört, Sire! Ihr Templer steht unter der Anklage der Ketzerei! Eine große Schrift war an der Pforte von Notre Dame angeschlagen, ‚ne mächtig prunkvolle Schrift mit Siegel! Die Priester haben sie uns vorgelesen. Ihr seid Wölfe im Schafspelz, hieß es, und man müsse euch ausrotten, ehe ihr das ganze Land mit eurer widerlichen Sitte ansteckt. So gut wie jeder ist in Paris um die Neuigkeit zu hören!“
Unter anderen Umständen hätte Jocelin den Alten des Rausches bezichtigt. Was für ein Unfug! Der Orden der Templer und Ketzerei! Hunderte Ritter hatten im Kampf für die Kirche ihr Leben geopfert! Es war absurd! So sehr, dass es einen beängstigenden Grad an Wahrscheinlichkeit enthielt. Die fehlende Standarte... Der gefangene Komtur Robert...
Nein, es konnte nicht sein! Es musste ein Irrtum sein, ein unglücklicher Zufall! Bruder Jocelin fasste nach den Zügeln seines Pferdes.
„Wenn Ihr jetzt geht, Sire, werden sie Euch aufgreifen, sie werden Euch foltern, und Ihr werdet von mir erzählen! Und ich hab‘ keine Lust, mit den glühenden Zangen der Inquisition Bekanntschaft zu schließen!“
„Wenn das alles wahr ist, was du sagst, warum hast du keine Furcht, dich mit mir abzugeben? Warum lieferst du mich nicht aus?“
Der Alte lachte und spuckte aus.
„Hab‘ ich gesagt, dass ich‘s glaube, was die Priester schwätzen? Bei allen Heiligen, wenn Euer Orden ketzerisch ist, dann pfeif‘ ich auf die wahre Kirche!“
Er hatte Jocelin in einen Bretterverschlag gedrängt und machte eine weit ausholende Bewegung. „Mein Palast! Hier wird Euch niemand sehen. Na, ist es nicht ein würdiges Plätzchen für einen Untertanen Seiner Allerchristlichsten Majestät?! Ich bin arm! Ich war es schon immer, und niemand kümmerte es, was aus mir wurde. Die Seele eines Armen wiegt zu leicht in einer Zeit, in der die Priester den Bischofshof wegen fetten Pfründen belagern! Ich konnte es mir nicht leisten, ehrlich zu sein...“
Bruder Jocelins Sinne schweiften ab.
Ketzerei... was für eine Ketzerei? Der Orden der Templer angeklagt. Von wem eigentlich? Sein Blick wanderte zu seinem Pferd. Am Sattelbogen hing die Schatulle mit den Wechseln. Das war jetzt wertloses Papier... König Philipp hatte die Templer gefangengenommen - alle? Oder nur die Komturei von Paris? Was war mit den Brüdern in den anderen Ländern? Was sollte er jetzt tun?
„... sie verurteilten mich also zu einer Bußwallfahrt nach Santiago. Hat man vielleicht je gehört, dass den Ministern des Königs so was auferlegt wurde?! Dabei stehlen die, dass es jedem Dieb Ehre machen würde!“ Der Alte schloss einen langen Fluch an.
„Oben in den Bergen nach Spanien geriet ich in einen Schneesturm, verlor meine Reisegefährten. Am nächsten Morgen überfiel mich eine Bande dieser schwarzen baskischen Teufen... Die klauten mir die Stiefel.“ Er klopfte gegen sein Holzbein. „Das ist die Erinnerung daran! Erfroren! Aber ich schaffte es noch bis in die Ebene, bis zum Hospiz Eures Ordens, Messire. Ah, ich sage Euch, ich hatte höllische Schmerzen, aber trotzdem waren es die schönsten Tage meines Lebens! Einmal hat man mich nicht behandelt wie einen dreckigen Köter, sondern wie einen Gast! Was sage ich, wie einen König! Ich hatte ein eigenes Bett, die edlen Herren wuschen mich, und es gab Fleisch zu essen...“
Ganz gefangen in seiner glücklichen Erinnerung lächelte der Alte. „Nein, Messire, Ihr seid kein Ketzer, mögen die Leute sagen was sie wollen! Viel eher ist es der schmierige Nogaret, der Siegelbewahrer des Königs! Der hat schon seit vier Jahren keine Kirche mehr von innen gesehen!“
„Ich muss wissen, was geschehen ist. Ich muss weiter, “ unterbrach Jocelin den Redefluss des Alten.
„Aber nicht in Eurem Ordensgewand.“
Er bückte sich und holte ein Bündel hervor. Als er den Stoff auseinander schlug, kam ein abgewetzter Pilgermantel zum Vorschein.
„Nehmt das! Ich hab‘s getragen damals, auf dem Weg nach Santiago.“
„Ich kann mein Habit nicht ausziehen! Es wäre Verrat!“
„Haltet es, wofür Ihr wollt, aber wenn Ihr‘s anbehaltet, ist es der sicherste Weg in den Kerker!“
Jocelin nickte. Der Alte hatte recht. Wollte er Klarheit gewinnen, durfte er nicht seine Freiheit verlieren.
Langsam löste er die Kordel seines weißen Mantels, nahm ihn von den Schultern und küsste das aufgenähte Kreuz, ehe er ihn in den Sack zur Rüstung stopfte. Dann warf er den Pilgerumhang über seine Tunika und ergriff den Pilgerstab, den der Alte ihm entgegenhielt. „Aber mein Pferd...“
„Ah, reiten könnt Ihr nicht, Sire! Das ist ein viel zu gutes Tier für einen zerlumpten Pilger! Nehmt die Satteldecke ab und alles, was es als Eigentum Eures Ordens kennzeichnet und lasst‘s mir da! Ich werd‘ einen Platz finden, wo‘s es gut hat...“
„Das ist also der Preis für deine Hilfe!“ Jocelin ließ traurig die Hand über den Hals des Tieres gleiten, das ihm seit zwei Jahren vertraut war.
„Nicht Preis, Sire! Ich helf‘ Euch, und das Pferd hilft mir, dass ich wieder ein paar Tage leben kann!“ 

Der prächtige Zug des Königs bewegte sich die breite Rue du Temple hinab. Eine Volksmenge umringte die Herolde und die Leibgarde. Seine Majestät schien heute großzügiger Laune zu sein. Die Münzen flogen reichhaltig in ausgestreckte Hände. Einige Leute glaubten sogar, auf dem statuenhaften Antlitz des Königs ein Lächeln zu sehen. Philipp genoss den Ritt in der Tat. Die strahlende Sonne, die auf den Rüstungen der Söldner glänzte, die Aufregung der abergläubischen alten Weiber, die sich drängten, um seinen Mantel zu berühren. Er war der Enkel eines Heiligen... An einer Straßenecke boten sich schamlos ein paar Mädchen dar. Philipp hätte eine Schar von Mätressen haben können. Doch seit dem Tod seiner Frau lebte er keusch wie ein Eremit. Seine Geliebte hieß Frankreich, und für sie war er bereit, alles zu opfern. Heute Morgen hatte er ihr den Orden der Templer geopfert. Der König gestattete sich einen Seitenblick auf seinen neben ihm reitenden Siegelbewahrer. Guillaume de Nogaret trug mit seinem schmucklosen schwarzen Gewand eine Einfachheit zur Schau, die an Geiz grenzte. Sein üblicherweise in mürrische Falten gelegtes Gesicht strahlte an diesem Tag vor innerer Befriedigung. Er war dabei gewesen, als am Morgen die königlichen Söldner die Templer der Pariser Komturei gefangen nahmen. Er hatte ihre Gesichter gesehen, ihre Verwirrung, ihre Angst. Philipp spürte, wie viel Nogaret dieser Triumph bedeutete, vielleicht mehr als ihm selbst. Was nur brachte ihn zu einem solchen Eifer, der den Gehorsam eines loyalen Dieners bei weitem überstieg? Er, Philipp, hatte genügend Gründe, gegen den Orden vorzugehen. Die Templer bildeten einen mächtigen, reichen, und seiner Ansicht nach vor allem überflüssigen Staat inmitten seines Reiches. Aber Guillaume de Nogaret? Hell spiegelte sich die Sonne in dem großen goldenen Kreuz, dass Nogaret auf der Brust trug. Er legte Wert darauf, sich als treuer Sohn der Kirche darzustellen. Und das, obwohl er seit beinahe vier Jahren mit dem Bann belegt war…
Damals hatte Philipp IV. Papst Bonifatius VIII. in die Schranken weisen wollen. Unterstützt von einer feindlichen Kardinalspartei und zahlreichen gekauften Zeugen war der Verleumdungskampf geführt worden. Man hatte Bonifatius der Häresie und Götzenverehrung angeklagt, des Ämterkaufs und anderer übler Verbrechen. Dann, im Frühjahr, hatte Guillaume de Nogaret mit einer Handvoll Söldner den Papst in seinem Palast in Anagni überfallen und drei Tage gefangen gehalten. Bonifatius, dieser zähe alte Knochen, lebte zu Nogarets Missfallen nach seiner Befreiung noch lang genug, seinen Peiniger zu exkommunizieren. Sein Nachfolger Benedikt IX. bekräftigte den Bann, und auch Papst Clemens verweigerte die Absolution.
Die königliche Prozession hatte die Klosterfestung der Templer erreicht. Die gewaltige Zugbrücke senkte sich über den Graben. Zu beiden Seiten nahmen die Herolde Aufstellung und schmetterten eine Ehrenfanfare. Im selben Augenblick wurde auf der Spitze des Wehrturmes das Lilienbanner gehisst. Stolz ritt Philipp im Temple ein. Heute kam er nicht als Bittsteller, sondern als Sieger!
Aus dem Halbdunkel des Treppenaufgangs tauchte die braun-weiße Dominikanerkutte des Großinquisitors Imbert auf. Seine gedrungene Gestalt und der breite Schädel mit der fleischigen gebogenen Nase täuschten. Hinter dem plumpen Äußeren lebte ein wendiger, brillanter Geist. Er betrat das Audienzzimmer des Königs, das noch am Morgen Privatgemach des Templermeisters Jacques de Molay gewesen war. Nach einem Kniefall vor seinem Beichtvater sagte Philipp: “Ich will, dass die Gefangenen noch heute befragt werden.“
„Dein Eifer ist löblich, mein Sohn“, erwiderte der Großinquisitor sanft. „Ich weiß um deine große Liebe zu unserer heiligen Mutter Kirche. Doch es ist besser, mit der Untersuchung noch einen Tag zu warten. Dann haben die Gefangenen Zeit, sich über ihre Situation klar zu werden, den Hunger zu spüren, die Schmerzen der Fesseln... dann werden sie bereitwilliger aussagen.“
Die Worte klangen in Philipp nach und beunruhigten ihn etwas. Inquisitor Imbert sprach von Männern, die gewohnt waren, Entbehrungen und Leiden zu ertragen. Würden sie überhaupt aussagen?
„Gott führe die Templer zur Reue!“ fuhr Imbert fort. Seine Stimme schwang sich in das Gewölbe empor wie Donnergrollen. „Oh, Satan wird ihre Herzen verstockt machen, aber ich werde um sie kämpfen! Und Gott und alle Engel werden mit beistehen! Denn im Himmel wird größere Freude über einen bekehrten Sünder sein als über 99 Gerechte! - Sorge dich nicht, Philipp!“
Der Inquisitor senkte seine Hand auf den Kopf des Königs.
„Christus sei gelobt, der durch dich diese entsetzliche himmelschreiende Sünde ans Licht gebracht hat!“
Philipp schloss mit einem frommen Amen. Imberts glühender Eifer würde ihm ohne Zweifel bald die Geständnisse einbringen, die nötig waren, um Papst Clemens zu überzeugen…
Papst Clemens, den er ganz einfach übergangen hatte...
„Vielleicht habe ich doch etwas zu rasch gehandelt“, sagte der König in jenem Ton gespielter Zerknirschung, der bei seinem Beichtvater nie die Wirkung verfehlte.
„Dein heiliger Zorn ist verzeihlich, Philipp! Das Wohl Frankreichs erforderte dein schnelles Eingreifen. Wer eine Häresie entlarvt und sie nicht verfolgt, macht sich schuldig am Leib Christi, der Kirche!“
Jacques de Molay stützte sich hoch und machte einige Schritte, soweit es die Ketten zuließen. Er hatte keine Ahnung von der Größe der Zelle im Louvre, in die man ihn gebracht hatte. Bis auf einen schwachen Schein durch das Gitter über der Tür hüllte Dunkelheit ihn ein.
Er richtete die Augen auf dieses fahle Licht, versuchte zu begreifen, was geschehen war. Er befand sich im Kerker, in Ketten, Verbrechen angeklagt, bei deren Nennung allein ihn Abscheu erfasste. Er, souveräner Meister des Ordens der Ritter Christi vom Tempel Jerusalems! Noch gestern war er in Begleitung eines Gefolges von zwei Rittern, einem Kaplan, einem Schreiber und einem Schildträger durch Paris geritten. Noch gestern hatte er über das beste Heer der Christenheit geboten. Noch am Morgen hatte keiner in der Pariser Komturei Verdacht geschöpft, als Guillaume de Nogaret mit einer Schar königlicher Söldner Einlass gefordert hatte. Aus heiterem Himmel war der Blitz des Verderbens in das Haus des Tempels eingeschlagen.
„Eine Untersuchung wegen des Zehnten“, hatte Nogaret vorgebracht, und die Tore waren ihm geöffnet worden. Mit der ihm eigenen Frechheit marschierte der Siegelbewahrer bis in den Kapitelsaal, verlas einen Erlass Seiner Allerchristlichsten Majestät Philipps IV. und erklärte die Brüder des Templerordens für verhaftet….
Jacques de Molay horchte auf. Irgendwo knarrte eine Tür. Dann Schritte, das Schleifen von Eisenketten. Ein neuer Gefangener. Doch man brachte ihn nicht zu ihm, sondern in eines der anderen Verliese.
„Wohin mit ihm?“ fragte der Waffenknecht ungeduldig. Der kahlköpfige Wärter maß den sich heftig wehrenden Gefangenen mit einem durchdringenden Blick.
„Ach, zum Teufel! Ich hab‘ die Nase voll heute! 180 Gefangene an einem verdammten Morgen! Steck ihn zu den anderen!“
„Ich sage dir, der macht uns noch Ärger! Die Sorte kenn‘ ich schon!“ knurrte der Waffenknecht, während er eine Tür aufsperrte. Für einen kurzen Augenblick beleuchtete die Kerze des Wärters einige zusammengekauerte Gestalten. Der Waffenknecht stieß den Gefangenen in den Kerker und schloss die Ketten an der Wand an. Alles ging sehr schnell. Die Tür wurde geschlossen. einer nach dem anderen rasteten die Riegel in ihr Bett. Das Geräusch hallte noch lang durch das unheimlich stille Gewölbe.
Langsam gewöhnten sich die Augen des Gefangenen an das spärliche Licht. Er machte eine Gestalt aus, die auf ihn zutappte. Sämtliche Muskeln angespannt schob er sich an der Mauer hoch. Mit welcher Verbrecherbande mochte man ihn zusammengelegt haben? Es gab Gefangene, die in den Jahren ihrer Haft blutrünstig wie wilde Tiere wurden. Die Stimme des Schemens vor ihm klang allerdings recht menschlich, mit feinem italienischen Akzent: „Bruder Robert?“
Der Komtur von Paris war ebenso erleichtert wie entsetzt. „Ihr seid auch hier, Pietro?“
„Ja, Sire, das ganze Ordenshaus! Ich hatte allerdings gehofft, dass Ihr entkommen wäret, weil Ihr nach Sens aufgebrochen wart!“
„Kurz nach St. Nicolas griffen mich königliche Söldner auf... Bei Gott, die ganze Komturei! Dann ist es wahr, was man mir sagte!“
„Die Anklage? Ja. Aber wenn uns die Ankläger erst gegenübergestellt werden, wird es ein leichtes sein, diese böswilligen Gerüchte zu zerstreuen.“
Bruder Pietro, Kaplan, sprach mit der Sicherheit des Rechtsgelehrten. Er hatte mehrere Jahre in Bologna studiert und versah das Amt eines Ordensprokurators am Heiligen Stuhl. Komtur Robert spürte die Schmerzen in seinen Handgelenken zu sehr, um diesen Optimismus zu teilen.
„Ich wurde behandelt, als sei ich schon verurteilt“, sagte er.
Aus der Menge der übrigen Gefangenen schallte eine schrille Stimme, in der ähnliche Ängste mitschwangen: „Was wird mit uns geschehen, Komtur Robert? Warum dürfen wir den Meister nicht sprechen?“
Der Angesprochene wandte den Kopf, als sähe er in die Runde des Ordenskapitels. Aber hier umgab ihn nur Dunkelheit, und es fiel ihm schwer, gegen dieses schwarze Nichts anzusprechen. Doch seine Brüder erwarteten etwas von ihm. Wenn er schon keine Aufklärung geben konnte, so musste er ihnen wenigstens Mut und Trost vermitteln. „Ich weiß nicht mehr als ihr alle“, begann er, nach den rechten Worten suchend. Es kostete ihn Mühe, der eigenen Verwirrung Herr zu werden. In der Bedrängnis einer Schlacht hätte er gewusst, was es zu sagen galt. Aber sie waren nicht in der Gewalt der Ungläubigen, sonders des allerchristlichsten Königs Philipp von Frankreich.
”Ob wir leben oder sterben, wir sind des Herrn! Denkt an diese Worte, Brüder, die der Heilige Bernhard von Clairvaux an unseren Orden gerichtet hat. Gott prüft uns, und diese Prüfung werden wir tapfer ertragen…“
„Ach Gott!“ kam ein zorniger Ruf. „Gott hat uns verlassen, merkt Ihr das denn nicht? Wir haben Akkon verloren, alle Festungen im Heiligen Land, eine nach der anderen! Und jetzt sitzen wir hier wie die Ratten in diesem stinkenden Loch!”
„Es gibt keinen Grund, Gott zu fluchen, Bruder! Christus, der am Kreuz für uns gestorben ist, wird uns nie verlassen!“
„Aber sein Vikar auf Erden hat uns in Ketten legen lassen!“
„Ich weiß nicht, wie der Heilige Vater einen solchen Unfug überhaupt glauben konnte!” sagte Bruder Pietro. ”Aber ich werde in einer Petition um die Erlaubnis bitten, den Orden vor Gericht verteidigen zu dürfen! Dann wird Clemens die Wahrheit über diese Verleumdung erfahren! - Und jetzt, Lasst uns beten, Brüder!“
Die einen laut miteinander diskutierend, die anderen noch ergriffen von stummem Entsetzen zerstreuten sich die Menschen. Sie schoben und drängten, und mancher reiche Bürger stieß dem zerlumpten Pilger rücksichtslos in die Seite.
Weder dies noch das Stimmengewirr drangen in Jocelins Bewusstsein. Er stand reglos, auf seinen Pilgerstab gestützt, und starrte die leere Holztribüne vor dem Universitätsgebäude an. Mühsam krochen seine Gedanken den weiten Weg der vergangenen Stunden zurück. Stunden, die ihn in einen tosenden Strudel des Wahnwitzes hineingerissen hatten.
Gestern war er in die Stadt gegangen, um mehr über das Schicksal seiner Ordensbrüder zu erfahren. Doch die Leute hatten höchstens mit einer unbestimmten Geste auf seine Fragen geantwortet. In einer Situation wie dieser lauerten Denunzianten der Inquisition überall, und ein Wort zuviel konnte einen unbescholtenen Bürger rasch als Ketzer ins Gefängnis wandern lassen. Irgendwo hatte er gehört, dass es am nächsten Morgen eine öffentliche Verlesung der Anklagepunkte gegen seinen Orden vor der Universität geben sollte.
So fand er sich früh nach einem alptraumgequälten Schlaf im Kirchenportal auf dem Fakultätsplatz ein.
Der Platz hatte sich rasch gefüllt. Jung und Alt, Arm und Reich war zusammen geströmt. An diesem Morgen schien niemand seiner Arbeit nachzugehen. Als die Menge schon dicht gedrängt stand, hatten Bewaffnete einem beleibten, in reichen Pelz gekleideten Herrn den Weg gebahnt. Enguerrand de Marigny, Finanzminister des Königs. Jocelin hatte mit einer raschen Bewegung seine Kapuze übergezogen, fürchtend, dass Marigny ihn wiedererkennen könnte, hatte er ihm doch auf mehreren Reisen Geleitschutz gegeben. Aber diese Befürchtungen waren grundlos gewesen. De Marignys helle Augen nahmen Menschen wie einen zerlumpten, schmutzigen Pilger gar nicht wahr. Plötzlich war das vielstimmige Gemurmel erwartungsvoller Stille gewichen und der erste Magister hatte die Tribüne betreten.
„Auf Befehl Seiner allerchristlichsten Majestät Philipps IV,. von Gottes Gnaden König von Frankreich, verlesen wir die Anklage, die die Heilige Inquisition gegen den Orden der Ritter des Tempels erhebt“, begann er, während die übrigen Doktoren heraustraten. „Glaubwürdige und ehrenhafte Zeugen offenbarten Seiner Majestät die üblen Verbrechen und in seiner Pflicht als Verteidiger der Kirche…“
„Zeugen? Was für Zeugen?“ hatte sich Jocelin gefragt.
„Die Templer werden beschuldigt, dass sie bei der Ableistung der Profess Christus unsern Erlöser...“ der Magister stockte ob der Ungeheuerlichkeit der Anklage. “...verleugnen. Man zeigt den Novizen ein Kreuz, und sie werden aufgefordert, unserem Herrn dreimal ins Angesicht zu spucken...“
Der Magister hatte die Lesung fortgesetzt. Aber seine Worte wahren kaum zu verstehen gewesen, weil neben der Tribüne einige Leute brüllten: „Verbrennt sie! Verbrennt sie!“
Mit ausgebreiteten Händen hatten die Theologen die Menge zu beschwichtigen gesucht. Jocelin hallten die Worte noch immer in den Ohren, mit dem sie dann die Aufzählung der Schandtaten fortsetzten:
„Sodann entledigen sich die Novizen aller Kleider, die sie im weltlichen Leben trugen und stellen sich nackt vor den, der sie aufnimmt. Und jener küsst sie, wie der widerwärtige Brauch dieses Ordens es bestimmt, zuerst auf das Ende des Rückgrates, dann auf den Nabel und schließlich auf den Mund, zur Schande aller menschlichen Würde. Und nachdem sie mit solch verabscheuungswürdigen Taten gegen das göttliche Gebot gesündigt haben, verpflichten sie sich mit dem Gelübde ihrer Profess, ohne auch den Bruch mit dem Gesetz der Natur zu fürchten, sich einer dem anderen hinzugeben im Laster des entsetzlichsten Konkubinats… So entlud sich der Zorn Gottes über dieses verruchte Geschlecht, und er brachte sie durch die Hand unseres Königs zu Fall. Gott stürzte die Söhne des Unglaubens, denn sie haben die Quelle des lebendigen Wassers verlassen und Götzen angebetet... Erfüllt eure Pflicht gegenüber der Kirche und dem Königreich, Bürger! Wenn ihr etwas wisst zu dieser Angelegenheit oder flüchtige Templer kennt, macht unverzüglich eure Aussagen! Gott wird jeden reich belohnen, der die Arbeit der Heiligen Inquisition unterstützt! Wer aber böswillig Dinge verbirgt oder die verruchte Ketzerei dieses Ordens fördert, soll der Exkommunikation verfallen!
Gegeben zu Paris am 14. Oktober im Jahre des Herrn 1307.“
Jocelin sah sich um. Die Menschen tauschten erschrockene Blicke. Viele bekreuzigten sich. „Sie glauben es! Bei dem allmächtigen Gott, sie glauben es wirklich!“ dachte er. Er zweifelte nicht, dass sich die Leute auf ihn stürzen und ihn umbringen würden, wenn man ihn erkannte. Seine Augen erfassten Enguerrand de Marigny. Das feiste Gesicht von keiner Regung verzogen, verließ der Minister den Platz. Jocelin umklammerte seinen Pilgerstab, kämpfte gegen den Drang, Marigny zu packen und zu schütteln. Er musste doch wissen, dass es Lügen waren! Er hatte doch genug Zeit mit den Ordensbrüdern verbracht!
Während der kommenden Stunden, die Jocelin ziellos durch Paris lief, begann er zu begreifen, in welche Lage ihn die ungeheuerliche Anklage der Inquisition gebracht hatte.
Er galt als Ketzer, als Abtrünniger, schlimmer noch als die Ungläubigen, denn er hatte Christus gekannt und ihn verlassen. Er hatte ihn zum zweiten Mal verraten wie Judas. Er galt als Sodomit, ein Anhänger der widerwärtigsten Sünde, vor der selbst die Tiere zurückschreckten, und die ihn aus der gesamten Schöpfung ausstieß. Er war zu einem lebensunwürdigen Wesen jenseits allen Erbarmens gestempelt. Jeder durfte ihn straflos töten… Ihm, der die Sarazenen als Feinde der Christenheit bekämpft hatte, waren die eigenen Glaubensbrüder zu Feinden geworden.
Haltsuchend lehnte sich Jocelin an eine Mauer.
Seine Hand ertastete fein skulpturiertes steinernes Rankenwerk. Als er aufsah, erkannte er, dass er im Portal einer Kirche stand. Er trat ein, hastig, als ein Flüchtling vor einer feindlich tobenden Welt in den bergenden Schoß Gottes. Aber nur einen Augenblick lang umfing ihn das Gefühl der Sicherheit. Aus dem Halbdunkel des niedrigen Kirchenraumes grinste ihn eine dämonische Fratze von einem der Kapitelle an. Sie zog Jocelins Blick an und fesselte ihn.
Hatte das Böse von der Heiligen Kirche Besitz ergriffen? War es stärker als die erlösende Kraft Christi? Die Fratze blähte sich, verdeckte das klein und hilflos wirkende Kruzifix auf dem Altar. Jocelin versuchte zu beten, aber die Krallen der Teufelsfratze umschlossen seinen Hals. Er berührte das Templerkreuz auf seinem Gewand und rang nach Atem.
‚Gesegnet, die bezeichnet mit dem Zeichen des Lammes...‘
Für ihn und all seine Brüder war das Kreuz ein Fluch geworden, ein Mal des Todes.
„Wir sind unschuldig, du weißt es, Herr Gott!“ flüsterte Jocelin, versuchend, sich von der Teufelsfratze zu befreien.
„Hilf mir! Hilf mir!“
Er schlug die Hände vors Gesicht und fiel auf die Knie. Was sollte er tun? Wohin sollte er gehen? Solange er zurückdenken konnte, war eines der Ordenshäuser seine Heimat, und die Brüder seine Familie gewesen, er kannte nichts anderes. Und jetzt?! Wer war Freund und wer war Feind in einer Zeit, in der die Freunde und Beschützer von einst sich zu Feinden und Verfolgern gewandelt hatten?
Erst im Schutz der einbrechenden Dunkelheit wagte sich Jocelin aus der Kirche. Zur drängendsten Sorge waren ihm Hunger und Durst geworden. Er beschloss, in das Universitätsviertel umzukehren.
Dort erklangen aus unzähligen winzigen Schankstuben die Lieder der Spielleute. Er entdeckte einen Schweinetrog, in dem bereits ein Straßenjunge herumwühlte.
Der Halbwüchsige maß den Mann im Pilgergewand mit einem feindseligen Blick. Aus dem Trog stieg ekelerregender Gestank auf, und als der Straßenjunge sich ein angeschimmeltes Brot in den Mund schob, krümmte sich Jocelin würgend zusammen. Er wankte zurück und setzte sich auf eine Stufe, bis die Übelkeit vergangen war.
Dann wandte er sich in Richtung des Klosters Saint Germain de Près. Vielleicht gab man dort einem Pilger ein Almosen...
Plötzlich verstummten die Flötenklänge aus dem nahe gelegenen Gasthaus, und der Gesang wurde von wütendem Geschrei abgelöst. Eine Rauferei bahnte sich an. Schon wurde die Tür aufgerissen und einige Männer stürmten heraus. Sie zerrten einen sich heftig wehrenden Jüngling im Studententalar mit sich. Schwertklingen und Dolche blitzten auf. Dies war mehr als ein harmloser Streit! Der Student wurde zu Boden gestoßen, ein Stiefel drückte ihn nieder.
Er schrie um Hilfe, aber niemanden schien die Ungleichheit des Kampfes zu stören. Ein paar Huren brachten sich kreischend in Sicherheit, Straßenjungen verfolgten neugierig das Geschehen. In diesem Augenblick vergaß Jocelin die Gefahr, in der er selbst sich befand.
Er packte den Pilgerstab mit beiden Händen und hieb ihn dem zunächst stehenden Raufbold in den Rücken. Der wandte sich ebenso verwundert wie erbost dem Fremdling zu, der sich einzumischen wagte. Nach dem zweiten Schlag zerbrach der Pilgerstab. Jocelin warf das Holz fort und zog sein Schwert. Die anderen vier Männer griffen ihn von der Seite an.
Jocelin täuschte sie mit einem geschickten Ausfall, entwaffnete seinen ersten Gegner und wechselte die Klinge in die linke Hand. Angesichts der unerwarteten Kunstfertigkeit des Fremdlings verzogen sich die Raufbolde ohne es auf einen Kampf ankommen zu lassen.
„Für einen Pilger seid Ihr verdammt gut bewaffnet“, sagte der Student leise, und Jocelin wurde bewusst, wie unüberlegt er gehandelt hatte. Er schlug den Pilgermantel zurück und schob sein Schwert in die Scheide.
„Ihr werdet mich nicht verraten.“ Es klang wie eine Beschwörung.
„Ihr habt mir das Leben gerettet... Sire. Nun, ich habe nichts, um Euch meinen Dank zu zeigen. Aber wenn Ihr wollt, könnt Ihr diese Nacht bei mir bleiben... ich denke, es gibt nicht viele Plätze, wo Ihr Aufnahme finden werdet! - Ich habe ein Zimmer unten an der Seine.“
„Könnt...“ Jocelin stockte und sah zu Boden. Wie entwürdigend war es für einen Ritter, so betteln zu müssen! “...Ihr mir etwas zu Essen geben?“
„Morgen. Meine Wirtin legt mir jeden Tag frisches Brot vor die Tür.“
Die Kammer des Studenten lag unter dem Dach eines schmalen Fachwerkhauses, dessen Füllwerk an einigen Stellen schon heraus gebrochen war. Das Obergeschoß, erreichbar nur über eine wacklige Treppe, hing gefährlich weit über den Fluss. Der Lärm der Lastschiffer klang herauf. Trotzdem schlief Jocelin schon bald nachdem er sich auf dem dünnen Strohsack ausgestreckt hatte.
Der Student hingegen fand keine Ruhe. Mit steigender Nervosität lauschte er auf die Kommandos der Schiffer.
„Ich gewähre einem Ketzer Zuflucht“, dachte er. „Einem bösartigen Feind der christlichen Gesellschaft.”
Er blickte zu Jocelin, während seine Gedanken um die Anklagen kreisten, die er am Morgen gehört hatte. Nein, eigentlich wirkte der Ordensbruder nicht wie ein solcher Verbrecher!
Aber wie hatte es im Aufruf Seiner Majestät gestanden?
‚Wölfe im Schafspelz.‘ Und war es nicht das Kennzeichen jedes Häretikers, sich zu verstellen, um die Rechtgläubigen vom Weg abzubringen? Gerade dies war ein Fallstrick des Teufels, wie die Doktoren sagten... Der da hatte ihm geholfen... und? Einem Ketzer gegenüber gab es keine Verpflichtungen, galten keine Versprechen!
Der Student setzte sich und fuhr in seine Stiefel. Er wollte Gott nicht beleidigen, und er wollte auch nicht zulassen, dass er durch Ketzerei beleidigt wurde. Leise öffnete er die Tür der Kammer, trat hinaus und schob die Riegel von außen vor. Dann verließ er eilig das Haus. Aber als er an der Pforte des Franziskanerkonvents ankam, scheute er sich zu klopfen. Er ging noch lange auf und ab, ehe er den Mut fand, den eisernen Türklopfer zu heben und gegen das Holz zu schlagen.
„Gelobt sei Jesus Christus“, murmelte eine schläfrige Stimme durch das vergitterte Pfortenfensterchen. „Was kann ich für dich tun, mein Sohn?“
Der Student trat näher und befreite sich hastig flüsternd von seinem Wissen: „Am Quai du Chastelet, im zweiten Haus vor der Rue de Lavande hält sich ein Templer versteckt, in der Dachkammer.“
„Ich danke dir, mein Sohn.“ Die Stimme klang merklich munterer. „Gott möge dich segnen, dass du uns hilfst, Seine Feinde zu bekämpfen!“
Der Franziskaner machte das Kreuzzeichen, aber der Denunziant war bereits fort.
Ein polterndes Geräusch. Jocelin schreckte hoch.
Im nächsten Augenblick bemerkte er, dass er allein war. Von unten war eine gedämpfte Unterhaltung zu vernehmen. Dann Stille. Und dann ein Ton, den Jocelin nur allzu gut kannte: das Schleifen, wenn Schwerter aus der Scheide gezogen wurden. Hastig sah er sich um. Nur eine Tür. Hinter ihr lauerten die Häscher der Inquisition. Der Dachstuhl? Unmöglich. Das Fenster! Der junge Ordensbruder stürzte zu der kleinen Öffnung, riss die Pergamentbespannung heraus, warf einen Blick hinab. Schwärzlich glitzerndes Wasser. Er konnte nicht schwimmen. Aber es gab keine andere Wahl. Die morsche Treppe knarrte unter den Stiefeln. Jocelin entledigte sich des hinderlichen Pilgermantels und hing sich den Schwertgurt über die Schulter. Vorsichtig stieg er aus dem Fenster. Sein linker Fuß fand ein aus der Mauer ragendes Balkenende, die rechte Hand krallte er in eine Fuge. Jetzt flog die Tür auf. Jocelin ließ den Fensterrahmen los und duckte sich an die Seite.
„Er ist abgehauen!“ brüllte einer der Bewaffneten. „Da, durchs Fenster! Ich seh‘ ihn! Armbrustschütze!”
Verzweifelt suchte der Ordensbruder einen Halt, der es ihm ermöglichen würde, näher zur Hausecke zu kommen. Sein rechter Fuß glitt von der schmalen Fachwerkstrebe, er rutschte ab und konnte gerade noch den letzten Balkenstumpf packen. Doch der Fall brachte ihn wenigstens aus der Reichweite des Armbrustschützen. Er hörte die Söldner fluchen. Sie würden nicht so bald aufgeben. Er hangelte sich noch ein Stück näher an die Hauswand. Wenn er geschickt genug sprang, konnte er den Uferweg erreichen... Er schloss die Augen und ließ los. Nur um eine Handbreit verfehlte er die Kaimauer. Er atmete tief durch und richtete sich langsam auf. Zwischen den Häusern standen ein gutes Dutzend Söldner der Stadtwache mit gezogenen Schwertern; zwei von ihnen setzten sich soeben zum Ufer in Bewegung. Jeden Augenblick würden sie ihn entdecken. Ihm blieb keine Zeit zum Überlegen.
Einer der Söldner erhaschte einen Blick auf die weiße Tunika und schrie: „Dort! Hinterher!“
Jocelin kannte sich diesem Teil der Stadt nicht aus. Kurz entschlossen bog er in eine Gasse ein. Wie drohende schwarze Dämonen ragten die Fassaden der Häuser hier in den Nachthimmel. Eine Treppe führte in eine nächste, mit Arkaden überspannte Straße. Beinahe wäre er den Bewaffneten in die Arme gelaufen.
Er machte kehrt und flüchtete durch ein großes Steintor. Ein Moment blieb ihm, gerade genug, um die Schmerzen in seinen Gliedern zu spüren. Dann waren die Söldner wieder hinter ihm. Er rannte weiter durch ein endloses verwirrendes Labyrinth von Gassen, Arkaden, Stufen und Häusern, doch sie blieben ihm auf den Fersen. Sie kannten jeden Winkel, jede Abkürzung, kamen näher und näher. Jocelin hatte den Eindruck, im Kreis zu laufen. Erschöpft stürzte er auf die Knie. Er horchte in die Finsternis, aber diesmal dröhnte nur der eigene Herzschlag in den Ohren. Aber bald hallten die Befehle der Söldner wieder durch die Gassen. Mühsam kämpfte er sich halb laufend, halb stolpernd vorwärts.
Unvermittelt stand er vor einer mächtigen Mauer. Er folgte ihr eine Zeitlang ohne erkennen zu können, wie weit sie reichte. Jenseits der Mauer erhob sich die Silhouette eines Vierungsturmes und zweier schlanker Westtürme.
Saint Germain de Près! Jocelin schluchzte vor Erleichterung. Dorthinein würden sie ihn nicht verfolgen können! Aber noch war er nicht innerhalb des schützenden Klosters.
Die Mauer war übermannshoch und ohne Hilfe nicht zu erklimmen. Von der Krone rankten sich Weinreben. Jocelin versuchte sie zu fassen, erwischte jedoch nur die äußersten Spitzen. Das Trampeln der Söldnerstiefel kam näher. Einem Einfall der Verzweiflung gehorchend stieß der Flüchtling sein Schwert in eine Fuge zwischen den Steinen und stemmte sich daran hoch. Die Klinge federte gefährlich, hielt aber stand. Er griff in die Weinranken, riss das Schwert wieder heraus und zog sich mit letzter Kraft über die Mauer.  

Die Glocken der Abtei Saint Germain de Près läuteten schwungvoll den neuen Tag in die noch dichte nächtliche Dunkelheit ein.
Der Küchenmeister Bruder Cölestinus machte sich auf den Weg zu den Hühnerhäusern, um die Eier einzusammeln. Zufällig blickte er zur Seite und gewahrte zwischen den Schemen der Bäume einen hellen Schimmer. Waren die Ziegen etwa schon wieder im Gemüsegarten? Der alte Mönch trat entschlossen durch das Gebüsch und hob die Lampe.
Das Licht fiel auf einen Mann im Kettenhemd und dem Ordensgewand der Templer. Er hielt ein blankes Schwert in den Händen, dessen Spitze er nun auf den Mönch richtete. In seinen Augen lag der Ausdruck eines gehetzten Tieres, das alles zu wagen bereit war. Bruder Cölestinus neigte den Kopf, als sähe er nicht recht.
Jocelins Arme begannen zu zittern.
Der Mönch schien überhaupt keine Furcht zu haben! Mit freundlicher Stimme sagte er: „Legt das Schwert fort, Bruder! Ich bin nicht der rechte Gegner für Euch. „
Ein brummendes Geräusch ging von Jocelins Magen aus. Er schluckte in dem vergeblichen Versuch, es zu unterdrücken.
„Ihr habt Hunger? Kommt mit mir in die Küche, ich gebe Euch etwas zu Essen!“
Der Mönch tat, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, dass ihn früh um Fünf im Gemüsegarten ein Tempelritter mit dem Schwert bedrohte. Jocelin fragte sich, ob er überhaupt von der Verhaftung gehört hatte. „Ich... ich bin ein Templer“, sagte er.
„Ich kenne die Tracht Eures Ordens.“ Bruder Cölestinus lächelte. „Christus hat uns geboten, die Hungrigen zu speisen, auch wenn sie zufällig eine weiße Tunika mit rotem Kreuz tragen!“
„Die Inquisition hat geboten, uns alle anzuzeigen!“ erwiderte Jocelin. „Und das willst du tun, nicht?“
„Ich will Gott dienen, nichts sonst.“
Die Hand des Mönchs senkte sich auf das Schwert und drückte die Klinge langsam nach unten. Die einfache Güte des Mönches überwand Jocelins Misstrauen. Er ließ sich in das geräumige Küchengebäude führen.
 Guillaume de Nogaret warf einen missbilligenden Blick auf seine beiden Söhne, als er das Haus verließ. Sie bereiteten sich auf die Jagd vor. Sie hatten überhaupt an nichts anderem Interesse als an der Jagd und Mädchen! Er hingegen saß von früher Stunde bis spät in die Nacht über Protokollen und Gesetzessammlungen, der Essenz der Weisheit seiner Meinung nach.
Manchmal fragte er sich, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, Seiner Majestät nach Paris zu folgen. Die Stadt war ein verderblicher Sumpf... Der Siegelbewahrer stieg in den Sattel seines Pferdes, das der Knecht ihm bereithielt und ritt langsam in Richtung des königlichen Palais.
„Seid gegrüßt, mon Sire!“
Ein Reiter auf einem schwarzen Araberhengst  gesellte sich zu ihm. Sein langer Samtmantel war von derselben Farbe wie sein Pferd. Darunter trug er ein kostbar schimmerndes Brokatwams mit Zobelverbrämung. Nogaret erwiderte den Gruß mit einem Nicken.
„Euch hat diese Anklage ja schon einen ansehnlichen Ertrag verschafft, wie ich sehe, Esquieu!”
„Nicht so ansehnlich, wie er sein sollte nach allem, was König Philipp mir zu verdanken hat!“
Anmaßend wie seine Worte war das schmale, braunhäutige Gesicht mit der Raubvogelnase.
„Ihr solltet froh sein, dass man Euch das Leben geschenkt hat, Mann! Seid vorsichtig mit Euren weiteren Forderungen! Sonst wird man am Ende sagen, Ihr hättet die Templer aus Habgier und nicht aus Eifer für den Glauben angezeigt!“
„...wie Ihr, nicht wahr? Ihr seid ja ein so frommer Mann, Sire Guillaume!“
Der Hohn in der Stimme Floyrans entging dem Siegelbewahrer nicht. Er fragte sich, wie viel er wusste. Möglicherweise zu viel. „Versucht nicht, ein doppeltes Spiel zu treiben!“ drohte er.
„Nur keine Sorge, Sire! Habt Ihr mir nicht damals im Kerker gesagt, Ihr wolltet den Orden der Templer vernichten um jeden Preis? Ich helfe Euch dabei, aber ich habe meinen eigenen Preis!“
Nogaret neigte sich vor. Seine Züge waren kalt und unerbittlich. „Ich habe Euch schon einmal gesagt, fordert nicht zu viel! Ich werde Euren Kopf nicht noch einmal retten!”
Nein, im Gegenteil… ich muss sehen, dass ich ihn von Euren Schultern hole….
„Die Templer werden durch das Recht fallen! Durch das Recht ihrer eigenen Heiligen Kirche! Nur durch das Recht, merkt Euch das, Sire Esquieu!“ flüsterte er eindringlich.
Floyran lachte nur und trieb sein Pferd zum Galopp an.
Komtur Robert bewegte vorsichtig seine Hände in den Eisenfesseln. Wie lange war er jetzt schon hier? In ihrer Unbestimmtheit war die Zeit die schlimmste Qual. Seit ihrer Verhaftung hatte sich niemand mehr um die Gefangenen gekümmert. Die Welt außerhalb der meterdicken Mauern schien sie vergessen zu haben. Anfangs hatten die Männer noch Lärm geschlagen, wenn Schritte vor der Tür zu hören gewesen waren. Unterdessen war die Empörung einer dumpf brütenden Angst gewichen. Der Komtur von Paris hatte seine Ordensbrüder an Mut und Disziplin gemahnt, doch jede weitere Stunde höhlte diesen Befehl aus und zermürbte die Gefangenen. Nur Pietro di Bologna ging unermüdlich den Aufbau seiner Verteidigung durch, stellte im Geiste Listen der Entlastungszeugen auf und entwarf Petitionen an den Papst. Er gestattete sich nicht den mindesten Zweifel am Erfolg seiner Arbeit.
Komtur Robert lehnte sich erleichtert zurück. Endlich war es ihm gelungen, ein Stück seiner Tunika zwischen die Eisenfesseln und seine wundgescheuerten Handgelenke zu stopfen. In diesem Moment wurde die Tür des Kerkers aufgesperrt. Ein unerwartet heller Lichtstrahl ließ Robert blinzeln.
„Den da“, sagte eine Stimme. Ein Waffenknecht trat zu Komtur Robert, schloss dessen Fesseln ab und trieb ihn hinaus. Sofort packten ihn zwei Waffenknechte.
„Wohin bringt ihr mich? Lasst mich los!“
Einer der Waffenknechte antwortete Robert mit einem Schlag ins Gesicht.
„Ihr glaubt wohl, Ihr seid noch in Eurer Komturei?! Hier habt Ihr nichts mehr zu befehlen, edler Bruder!“ höhnte er.
Der Gefangene wurde in einen überwölbten Raum geführt. Gegenüber der Tür stand ein langer Tisch, an dem ein Dominikaner mit dem unerbittlichen Blick des Richters saß. Ein feingliedriger junger Mönch stand bei ihm und harrte mit offensichtlicher Abneigung des anberaumten Anschauungsunterrichts. Dann war da noch ein Schreiber. Am Ende des Tisches thronte Guillaume de Nogaret, die Anklageschrift des Königs vor sich. Er schien leidenschaftslos abzuwarten, aber in seinem Innern loderte ein begehrliches Feuer.  Er dürstete nach Rache. Seit Jahren schon. Und endlich, endlich würde er einen dieser Templer leiden sehen, sich winden vor Schmerz...
„Ich fordere, dass man mir die Ketten abnimmt!“ rief Komtur Robert den Anwesenden entgegen. „Mit welchem Recht behandelt man mich wie einen Verbrecher?“
Nogaret erhob sich.
„Ich glaube, Euch ist nicht völlig klar, wie es um Euch steht, mein lieber Komtur von Paris?“ sagte er salbungsvoll. „Ihr seid nicht in der Lage, etwas zu fordern. Ihr steht im Verdacht der schweren Häresie.“
„Das ist eine Verleumdung!“
Robert zuckte zusammen, weil der Dominikaner ihm Weihwasser ins Gesicht spritzte.
„Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Steh uns bei, o Gott, gegen die Macht des Bösen!“
Roberts verwunderter Blick streifte Nogaret, den exkommunizierten Siegelbewahrer. Was für ein Tribunal war das? Er öffnete den Mund, aber ehe er etwas sagen konnte, begann Guillaume de Nogaret mit der lauten Verlesung der Anklageschrift. Die Worte klangen schärfer als alles, was Robert bereits von seinen Ordensbrüdern gehört hatte. Ein bedrückendes Gefühl ergriff ihn, dass selbst Pietro di Bolognas brillanteste Verteidigung machtlos sein könnte.
„Wünscht Ihr, dass man Euch die Anklage auf Französisch wiederholt, Sire Commandeur?“
Robert schüttelte den Kopf.
„Ihr habt also verstanden, dass die Heilige Inquisition genau über die Verbrechen informiert ist, die der Orden der Templer begangen hat“, ergriff der Dominikaner das Wort. „Ich fordere Euch auf, in einer Sache, die den heiligen Glauben betrifft, die volle Wahrheit zu sagen!“
„Das tue ich!“ entgegnete Robert, und einen winzigen Moment lang hegte er die Hoffnung, dass sich doch alles zum Guten wenden würde.
„Bruder Tancred, lass den Zeugen schwören!”
Der junge Mönch hielt Robert ein Evangeliar entgegen, und der Komtur leistete den feierlichen Eid.
„Jetzt seid Ihr Gott verpflichtet, denkt daran und bekennt freimütig Eure Irrtümer ohne Ausnahme! Ihr braucht keine Furcht zu haben, Gott ist barmherzig, und die Kirche ist stets bereit, einen reuigen Sünder wieder aufzunehmen.“
„Ich habe nichts zu bekennen!“
„Ihr leugnet also, bei Eurer Profess Christus verleugnet und auf das Kreuz gespuckt zu haben?“ fragte der Dominikaner mit Nachdruck. Er rüstete sich für den Kampf gegen einen unsichtbaren Feind: den Teufel.
„Ja! Bei Gott und allen Heiligen, ich würde nie so etwas tun!“ Robert bekreuzigte sich und bekam erneut Weihwasser ins Gesicht.
„Ich habe viele Novizen aufgenommen, und niemals derartiges verlangt! Und ich habe auch noch nie davon gehört!“
„Und Ihr leugnet ebenso, die Novizen auf die eben beschriebene Art geküsst zu haben?“
„Ich habe sie auf den Mund geküsst zum Zeichen des Friedens und der Gemeinschaft, nichts sonst!“
„Habt Ihr ihnen erlaubt, ihre fleischliche Lust aneinander zu befriedigen?”
„Gott möge jene verdammen, die diese Lügen verbreitet haben!”
Der Protokollschreiber zuckte zurück. Guillaume de Nogaret gab den Waffenknechten ein Zeichen, die Robert daraufhin wieder ergriffen. Nogaret entriss dem Dominikaner die Fragevorlagen, die er ihm vor Beginn des Verhörs übergeben hatte.
„Ihr habt die Sodomie begangen, Ihr habt sie sogar zum Gesetz erhoben! Hier steht es! Selbst die Annalen der Ungläubigen berichten von den Ausschweifungen in den Konventen Eures Ordens! Und ein halbes Dutzend Zeugen hat es beschworen!“
„Wir sind unschuldig! Das ist die Wahrheit! Ich habe es auf die Evangelien geschworen, und ich wiederhole den Eid, sooft Ihr wollt!“
Der Dominikaner erhob sich mit zu Stein erstarrten Zügen.
„Der Teufel hat Euer Gedächtnis etwas getrübt, wie mir scheint, Sire. Aber wir werden Euch helfen, die Erinnerung wiederzufinden.“
Er befahl den Waffenknechten, Robert hinter ihm her zu führen und ging durch eine kleine Tür voraus. Sie öffnete sich in einen Raum, der schwarz war vom Ruß einer Feuerstelle im Zentrum. Das Wechselspiel der Flammen ließ die Folterinstrumente an den Wänden lebendig wirken, ein höllisches Szenario. Nur der Teufel fehlte. Oder war es der halbnackte Mann mit der roten Henkerkapuze, der neben dem Feuer stand?
„Ihr könnt die Werkzeuge sehen, Sire, die man bei der peinlichen Befragung anwenden wird, wenn Ihr nicht bereit seid zu gestehen!“ sagte der Dominikaner und machte eine ausholende Bewegung.
„Zuerst wird man Euch auf die Wippe spannen. Oder man wird Euch aufhängen, und mit jedem Mal werden die Gewichte verstärkt, bis die Sehnen der Glieder reißen.“ Er verstummte, um die Wirkung seiner Worte zu überprüfen und blickte Robert an.
„Ihr könnt mich nicht foltern! Wir unterstehen einem kirchlichen Gericht!“
„Ihr seid ein Ketzer und damit ipse facto exkommuniziert. Durch Eure Verbrechen habt Ihr Euch selbst vom Leib der Kirche getrennt!“
„Wir sind unschuldig.“
„Ihr seid sehr verstockt, Sire“, entgegnete der Dominikaner und richtete sich an den Folterknecht. „Tue deine Pflicht!“
Dann wandte er sich um und schritt hinaus, ohne weiter auf die Proteste des Komturs zu achten.
 Roberts Fesseln wurden aufgeschlossen, kräftige Arme warfen ihn auf die Folterbank. Während ihn einer der Waffenknechte gegen das Holz drückte, schnallte sein Gehilfe Roberts Beine und Arme fest. Als sie zurücktraten, näherte sich ein gesichtsloses Augenpaar hinter einer roten Kapuze. Unwillkürlich suchte Robert auszuweichen. Doch die Ledergurte hefteten seinen Körper unbeweglich auf die Bank. Machtlos. Hilflos. Ausgeliefert. Robert drehte den Kopf zur Seite.
„Helft mir, ihr heiligen Märtyrer! Heilige Jungfrau-“
Der Folterknecht riss die Spannvorrichtung um eine volle Umdrehung herum. Komtur Robert schrie auf. Der Schmerz war heftiger gewesen, als er erwartet hatte.
„Genügt das schon? Eh, ich habe alte Weiber gesehen, die länger durchhielten!“ rief ein Waffenknecht und rempelte seinen Kameraden an.
„Will der edle Herr nun aussagen?“
Robert biss die Zähne zusammen und schwieg. Er würde diesem Pack nicht noch einen solchen Triumph gönnen!
 Zur gleichen Stunde begannen die Verhöre der gefangenen Templer im ganzen Königreich. Bereits nach drei Tagen konnte Imbert seinem Beichtkind König Philipp einen ansehnlichen Stapel Geständnisse überreichen. 

Der Kammerdiener betrat auf Zehenspitzen die Sainte-Chapelle. König Philipp kniete auf einem samtgepolsterten Bänkchen, andächtig den Handlungen des Priesters folgend, der unter dem kostbaren ausgestellten Reliquienschatz die Messe zelebrierte. Der Kammerdiener schlug hastig das Kreuz und huschte zu ihm. „Euer Majestät, ein Gesandter des Apostolischen Stuhls!“
„Er soll warten“, flüsterte Philipp ohne sich umzuwenden.
Mit einer Leidensmiene zog sich der Kammerdiener zurück. Der päpstliche Gesandte war schon bei seiner Ankunft gereizt gewesen. Sofortige Audienz hatte er verlangt. Doch es half nichts. Seine Majestät pflegte nie an die Staatsgeschäfte zu gehen, ohne seine zwei Messen gehört zu haben.
Als Philipp den Gesandten endlich bereit war zu empfangen, gab sich der kleine italienische Kardinaldiakon keine Mühe, seine Abneigung gegen alles Französische zu verbergen. Er deutete eine steife Verbeugung an und hielt König Philipp eine Pergamentrolle entgegen. Seine Majestät erbrach das Siegel und überflog den Text:
„Clemens, Vikar Petri und Vikar Christi an Philipp, König von Frankreich... ich bin sehr beunruhigt über Dein Vorgehen in der Angelegenheit des Templerordens. Ohne die Autorisation der Heiligen Kirche Gottes hast Du die Brüder des Tempels gefangen genommen, ihre Güter beschlagnahmt... obwohl der Orden allein dem Heiligen Stuhl untersteht! Wir ermahnen Dich daher in aller Liebe, als treuen Sohn der Kirche, die Brüder des Templerordens einer Kommission zu unterstellen, die Wir bestimmen!“
Philipp ließ das Pergament sinken, seine Empörung wie stets hinter einer eisigen Fassade im Zaum haltend. Er war niemandem Rechenschaft schuldig! Er brauchte niemanden um Erlaubnis bitten! Er war von Gottes Gnaden König von Frankreich, und keine Macht stand über ihm! Der König blickte den Gesandten an. „Ihr wisst, was hier geschrieben steht?“
Der Kardinaldiakon nickte.
„Dann richtet Seiner Heiligkeit Clemens aus, dass seine Besorgnis grundlos ist! Ich habe nur meine christliche Pflicht getan, als die Inquisition meine Hilfe anrief.“
Guillaume Imbert, der einige Schritt hinter dem Thron stand, runzelte die Stirn. Der König hatte IHN gebeten, die Untersuchung gegen die Templer zu einzuleiten! Aber war bedeutete schon so eine juristische Formalität, wenn das Wohl der Kirche auf dem Spiel stand!
„Natürlich werde ich Seiner Heiligkeit gern die Ergebnisse der Befragung zur Verfügung stellen“, fuhr Philipp fort. „Ich ersuche den hochgeschätzten Vikar Petri im Namen der bedrohten Christenheit, auch die übrigen Fürsten zur Verhaftung der Templer aufzufordern! Ich bitte ihn, er möge ein guter Hirt seiner Herde sein und nicht zulassen, dass der böse Feind sie in die Irre führt!“
Die feine Drohung in der wohlgesetzten Rede entging dem Kardinaldiakon nicht. Zudem war er verärgert über den herablassenden Empfang. Aber Papst Clemens hatte ihn ausdrücklich gemahnt, Zurückhaltung zu üben. So ging der Gesandte ohne eine Erwiderung, als Philipp ihn entließ.
Der alte Mönch stieg die Treppe zum Keller hinab, langsam, um nichts aus der Schüssel zu verschütten.
„Bruder Jocelin?“ rief er leise.
Die Gestalt des Templers löste sich aus der Dunkelheit. Der Mönch setzte die Schüssel ab und legte ein Bündel daneben. „Ich habe Euch eine Gemüsebrühe mitgebracht, Brot und Eier.“
„Ich danke dir! Konntest du etwas Neues erfahren?“
„Es heißt, dass gestern mit der Befragung der Templer durch die Leute des Königs begonnen wurde.“
„Wer hat uns angeklagt? Wo wird die Verhandlung sein? Und Papst Clemens, was-“
Cölestinus hob beschwichtigend die Hände. „Es tut mir so leid, junger Bruder! Aber ich weiß nur, was ich von unserem Bruder an der Pforte gehört habe...“
Jocelins Gesichtsausdruck wurde verzweifelt. Er stützte sich an einen der Pfeiler und murmelte: „Etwas Furchtbares geschieht mit meinen Ordensbrüdern, und ich kann ihnen nicht helfen! Ich weiß nicht, was ich tun, was ich denken, was ich glauben soll! Alle wenden sich gegen uns! Warum? Ich-“
Plötzlich klapperten Sandalen auf den Stufen, und eine kindliche Stimme krähte: „Bruder Cölestinus!“
Jocelin wollte sich verbergen, aber der Schein der Öllampe in der Hand des Novizen hatte ihn schon erfasst. Die Augen des Jungen blieben an dem Templer haften und weiteten sich in sprachlosem Erschrecken. Im nächsten Moment raste er die Treppe wieder hinauf. Jocelin stürzte auf Cölestinus zu. „Halt ihn auf!“
„Ich bin alt. Er ist viel zu flink für mich, junger Bruder!“
„Aber er wird mich verraten! Und dann wird man mich der Inquisition ausliefern!“
„Nein. Nein, das wird nicht geschehen.“ Cölestinus legte beruhigend seine Arme um Jocelin. „Ich spreche mit dem Vater Abt. Er weiß sicher Rat! Er ist ein weiser Mann. Wartet hier, Bruder Jocelin, und habt keine Angst!“
Gauthier, Abt von Saint Germain de Près, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und lauschte den schlurfenden Schritten von Bruder Cölestinus. Der gute Alte! Seit Jahrzehnten versah er still und freundlich seinen Dienst in der Küche ...Vater Gauthier seufzte. Der Abt war ein Mann, der die Eintracht unter seinen Brüdern über alles schätzte.
Er hatte erfahren müssen, wie zerbrechlich die Gemeinschaft des Klosters war, wie angefochten von Neid, Stolz und Lauheit. Obwohl ihm die Pflichten seines Amtes manchmal zur Last wurden, kämpfte Gauthier unermüdlich. Kämpfte gegen die Welt, die beständig durch die Mauern zu brechen und den Konvent in ihre Händel, ihre Sünde und ihren Schmutz hineinzuziehen drohte. Und nun war genau das geschehen! Und ausgerechnet durch den herzensguten Cölestinus! Im Keller der Abtei hockte ein flüchtiger Ketzer...
Doch halt, seine Häresie war noch nicht bewiesen. Vielleicht war er unschuldig. Die Inquisition war zuweilen wohl etwas übereifrig, das wusste Vater Gauthier. Aber die Befehle des Königs waren eindeutig gewesen. Sollte Inquisitor Imbert erfahren, dass sich in Saint Germain de Près ein Templer verbarg, würden auch die ältesten verbrieften Privilegien die Abtei nicht schützen können.
In Saint Germain de Près ein Ketzer!
Etwas in Gauthier wehrte sich gegen die Bezeichnung. Ganz gleich, wozu die Inquisition den jungen Ritter erklärt hatte, er war ein Mensch, ein gejagter, verängstigter Mensch, der eine Zuflucht suchte.
Die Überlegungen des Abtes schwankten zwischen der Sorge um seine Klostergemeinschaft und Mitleid mit dem unbekannten Verfolgten. Bisher hatte er der Anklage, die gegen die Templer vorgebracht worden war, kaum Beachtung geschenkt. Es war nicht seine Sache, ihre Rechtmäßigkeit zu beurteilen. Und noch weniger Grund hatte er, sich zum Verteidiger des Ordens aufzuschwingen.
Aus dem Kreuzgang klang aufgeregtes Flüstern. Ob der Templer die Ursache der Unruhe war? Wie vielen mochte der Novize seine Entdeckung schon erzählt haben? Ein paar von den Mönchen würden darauf drängen, den Flüchtling der Inquisition zur übergeben. Sie waren treue Untertanen Seiner Allerchristlichsten Majestät! Andere, wie Cölestinus, mochten milder gestimmt sein. Streit und Unfriede würde in St. Germain einziehen.
„Dazu lass ich es nicht kommen!“ beschloss Vater Gauthier und stand auf. Im Kreuzgang hatte sich inzwischen eine ganze Gruppe Mönche eingefunden, die leise diskutierten.
 Währenddessen saß Jocelin in der bedrängend stillen, lichtlosen Nacht des Klosterkellers und versuchte, seine ebenso finsteren Gedanken zu ordnen. Bruder Cölestinus war nicht zurückgekommen. Wahrscheinlich hatte der Abt ihn sofort in Gewahrsam nehmen lassen.
Dann würde es nicht mehr lang dauern, bis die Söldner der Inquisition ihn aufgriffen.
Sein Zufluchtsort hatte sich als Gefängnis entpuppt. 

Abt Gauthier hatte sich vorgenommen, den unbequemen Flüchtling an Inquisitor Imbert zu übergeben. So schnell wie möglich. Doch bald begann die Vesper, also danach...
Auf dem Weg zur Kirche überlegte der Abt, dass es anschließend wohl schon zu spät wäre, Imbert zu benachrichtigen. Gewiss hatte die Angelegenheit bis morgen Zeit.
Der Abt gestand sich ein, dass ihm die Auslieferung Unbehagen bereitete. Die Predigt, die er am Morgen über den barmherzigen Samariter gehalten hatte, wollte ihm nicht aus dem Sinn gehen.
„Helfen wir einander!“ waren seine Worte gewesen. „Stehen wir unseren Brüdern bei, die in Bedrängnis, in Anfechtung sind, die die Last ihres Dienstes beschwert, die krank oder alt sind! Helfen wir ohne zu säumen, mit der Kraft unseres Gebetes und unserer Hände. Ja, vielleicht müssen wir dabei etwas abweichen von dem Weg, den wir gerade im Begriff waren zu gehen. Aber tat das nicht auch der Samariter? Er verließ die Straße um dem Überfallenen zu helfen. Ohne Zweifel hatte er ein Ziel, das er erreichen wollte, einen Auftrag, ein Pflicht, die ihn mahnte, auf dem schnellsten Weg vorwärts zu kommen. Doch er wich ab von dieser Pflicht, die ihm Menschen auferlegt hatten, um der Pflicht zu gehorchen, die Gott ihm ins Herz gelegt hatte: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Christus hat uns gesagt, liebet einander, daran soll die Welt euch erkennen!“
Gauthier ballte die Hände zusammen. Er liebte die Brüder seines Klosters! Sollte er sie etwa in Gefahr bringen wegen eines Fremden?! Aber hatte nicht auch der Samariter einem Unbekannten geholfen? Es war gerade, als wollte Gott ihn prüfen, wie weit er zu seinen eigenen Worten stand! Der Abt vermochte sich nicht auf seine Gebete zu konzentrieren.
Er sah zu Bruder Cölestinus. Auch er war nicht recht bei der Sache. In all den Jahren hatte Gauthier noch nicht erlebt, dass etwas den Gleichmut des alten Bruders gestört hätte.
Die Sorge um Cölestinus war es schließlich, die Abt Gauthier veranlasste, seine Entscheidung zu fällen. Nach dem Abendgebet ließ er den Küchenmeister zu sich kommen.
„Du hast unbedacht gehandelt, mein Sohn. Du hast deine Brüder und die Abtei in große Gefahr gebracht!“
Seine strenge Stimme erfüllte den Raum mit einschüchternder Macht.
Der alte Mönch kniete mit etwas Mühe nieder. „Ich bitte um Vergebung, Vater!“
„Der allmächtige Gott erbarme sich deiner und vergebe dir deine Schuld!“ Der Abt machte das Kreuzzeichen und hob Bruder Cölestinus auf.
„Gehe jetzt und sage unserem... Gast, dass die Abtei Saint Germain de Près ihm Schutz gewährt, solang es in meiner Befugnis steht.“
Bruder Cölestinus‘ Augen leuchteten auf. Mit einer Geste tiefster Ehrerbietung küsste er den Ring des Abtes. Vater Gauthier konnte nicht umhin, Cölestinus um dieser kindlichen Freude willen zu beneiden. Er selbst würde die Nacht mit der Überlegung zubringen müssen, auf welche Weise er bei der morgendlichen Kapitelsitzung die Brüder von seinem Entschluss überzeugte. Er musste sie ausnahmslos für sich gewinnen, dass keiner mehr zum Denunzianten werden wollte. Und er musste etwas über den Prozess gegen die Templer in Erfahrung bringen, um zu bestimmen, wie weiter mit dem Flüchtling zu verfahren sei...
Jocelin hatte Bruder Cölestinus‘ Nachricht angehört ohne Freude oder Erleichterung zu empfinden. Man gewährte ihm Zuflucht, solang es dem Abt beliebte...
Und wenn er sich eines anderen besann? Nach den vergangenen Tagen in einsamer, untätiger Finsternis, die nur Cölestinus Besuche durchbrachen, begann Jocelin sich zu fragen, was schlimmer war: die ständige Bedrohung durch die Auslieferung oder dem Inquisitor gegenüberzustehen. Auf die eine oder die andere Art war er ein Gefangener.
In Begleitung des Kommandanten der Pariser Stadtwache und einer stattlichen Truppe königlicher Söldner stand Guillaume de Nogaret vor Saint Germain de Près.
Eilig hatte man den Abt geholt, und nun blickte Vater Gauthier bis in die Tiefen seiner Seele entsetzt in Nogarets unbarmherziges Gesicht. Wusste er etwa schon von dem Flüchtling?!
Um sorglos klingende Stimme bemüht grüßte der Abt. Die Sitte des Bruderkusses überging er geflissentlich und erinnerte den Siegelbewahrer so daran, dass jener noch immer exkommuniziert war. Nogarets Züge wurden noch mürrischer. Er hasste es, offen an seinen Kirchenbann gemahnt zu werden.
„Ich bin gekommen im Auftrag Seiner Majestät des Königs. Es soll untersucht werden, ob diese Abtei ihren Dienst für Gott zum Wohle des Reiches getreulich erfüllt, oder ob, - was der Herr verhüten möge - sich der Geist des Übels eingenistet hat!“
Abt Gauthier wollte einwenden, dass allein der Papst das Recht hätte, einen Visitator nach Saint Germain de Près zu senden. Doch es war wohl klüger, Nogaret nicht noch mehr zu reizen. Er war imstande, etwas zu erfinden, um sich an dem Kloster rächen zu können! In diesem Moment war Vater Gauthier überzeugt, dass es keine obskure Ketzerei war, die König Philipp zur Verhaftung der Templer gebracht hatte. Es war etwas anderes… Und dieses andere hätte seine Augen ebenso gut auf Saint Germain de Près lenken können... Wie es nun vielleicht auch geschehen war...
„Ich werde Euch nach Kräften unterstützen, Sire. Ich stelle Euch einige meiner Mitbrüder zur Seite, die Euren Leuten bei der Untersuchung behilflich sein werden.“
„Aufpasser, wie?“ dachte Nogaret und entgegnete dem Abt: „Ich danke für Eure Mühe, Vater. Aber das wird nicht nötig sein.“
Gauthier nahm die Entscheidung mit einem höflichen Nicken zur Kenntnis, während er fieberhaft überlegte. Nach der eindringlichen Predigt, in der er seinen Mönchen ihre Lage erklärt und sie gemahnt hatte, nicht als Denunzianten zum Richter ihrer Mitbrüder zu werden, glaubte er diese Gefahr gebannt. Aber Guillaume de Nogaret konnte bereits aus einem Wort, einem Blick, einer Geste Verdacht schöpfen! Auf keinen Fall durften seine Männer den Templer finden! Er musste fort!
„So darf ich Euch wenigstens zum Mittagsmahl einladen? Die Gastfreundschaft ist eines der Werke, die der Heilige Benedikt all seinen Söhnen aufgetragen hat. Ihr sollt nicht meinen, dass wir darin der Regel untreu geworden seien.“
Nogaret sah die Freude in den Gesichtern der Söldner und gab widerwillig seine Zustimmung.
Vater Gauthier wandte sich um und rief den einige Schritt entfernt wartenden Prior zu sich. Die Betonung, die er auf jedes Wort legte, genau abwägend, sagte er: „Gehe zu Bruder Cölestinus und richte ihm aus, er möge vorbereiten, was er für richtig hält! Wir empfangen unsere ehrenwerten Gäste im Abtsrefektorium!“
Der Prior verstand. Die blitzenden Waffen der Söldner führten ihm die Bedrohung der Abtei nur allzu deutlich vor Augen. Mit einer Eile, die gerade noch ziemlich war, setzte er sich in Richtung der Küche in Bewegung. Doch der Teufel schien Nogaret beizustehen.
„Ich halte es für besser, wenn währenddessen ein paar Männer an den Toren Wache halten“, meinte er und erteilte die entsprechenden Befehle.
Abt Gauthier merkte, wie er zu zittern begann. Der Schrecken ließ ihn nicht einmal beachten, welch Unverschämtheit diese Maßnahme war. Nun war alles verloren! Er, Gauthier, der 15 Jahre lang seine Abtei beschützt und umsorgt hatte, hatte sie nun zugrundegerichtet...
Bruder Cölestinus unterwies gerade den jungen Novizen, wie ein Fisch auszunehmen sei, als der Prior in die Küche stürmte. „Nogaret ist mit einer Abteilung königlicher Söldner da, um die Abtei zu visitieren! Der Templer muss fort!“
Der alte Mönch blickte auf, verwirrt über die so hereinbrechenden Ereignisse. „Ja...können wir ihn denn nicht hier irgendwo verstecken?“
Der Prior verneinte mit einer konsequenten Geste. „Auf keinen Fall! Das ist viel zu gefährlich! Nogarets Leute werden überall herumschnüffeln! Nein, er muss hier heraus! Aber wie, bei der Allmacht Gottes? Selbst wenn wir ihn ungesehen bis zur Pforte bringen, wird die Inquisition ihn haben, sowie er außerhalb der Mauern ist! Das Geschrei der Leute, wenn sie den Templerhabit sehen, wird nicht zu überhören sein!“
Cölestinus senkte mit unglücklicher Miene den Kopf. Der Prior kaute nervös auf seiner Unterlippe.
„Ich, ich weiß!“ rief plötzlich der Novize aufgeregt. Wir machen einen Mönch aus ihm!“
Ein strafender Blick des Priors traf ihn. Was für eine hirnrissige Idee! Schließlich WAR der Mann schon ein Mönch! Allerdings… Nun, mochte sein, dass der Junge doch eine ganz helle Idee gehabt hatte… Und viel Zeit blieb ihnen nicht. ..
„Gut. Hole eine Kutte. Und bring das Barbierbesteck mit. Und beeile dich!“
Der Mahnung hätte es nicht bedurft. Für den Novizen waren der Flüchtling und die königlichen Söldner ein willkommenes Abenteuer. Eine knappe halbe Stunde später, während die unwillkommenen Gäste sich am ersten Gang der Mahlzeit erfreuten, trat ein junger Mönch aus der Küche. Kahlgeschoren, in schwarzer Wollkutte, und einfache Sandalen an den Füßen. Das einzige, was ihn von den ihn begleitenden zwei Brüdern unterschied, war das Bündel über der Schulter. Jocelin hatte sich geweigert, die eigenen Gewänder zurückzulassen. Sein Schwert trug er unter der Kutte, sorgfältig umgebunden, damit es beim Gehen nicht auffiel.
„Wir bringen Euch bis zur Pforte“, flüsterte der Prior ihm zu. „Dann seht, dass Ihr rasch aus der Stadt kommt! Wenn an Euch fragt, so kommt Ihr aus einem Konvent jenseits des Rheines, aus den Reichsgebieten. Ihr wart in Paris zum Studium!“
Jocelin nickte.
„Was auch geschieht, erwähnt niemals die Abtei Saint Germain de Près!“
Jocelin versprach es beim Kreuz Christi.
Das Gesicht des Priors blieb unbewegt. Wie weit war einem angeblichen Ketzer zu trauen? Wenn man ihn nur schon los wäre, und die Leute des Königs dazu! Der Prior bog um eine Ecke und blieb abrupt stehen. Mit einer Handbewegung hielt er auch die übrigen zurück.
„Es sind Söldner an der Pforte. Nogaret versteht sein Handwerk, dass muss ich sagen! Sicher hat er ihnen befohlen, niemanden herauszulassen!“
Eine Zeitlang standen die Mönche und Jocelin unschlüssig hinter der Mauer. Der besorgte Blick des Priors wanderte zwischen den Söldnern und dem Refektorium hin und her.
Der Templer fühlte sich unbehaglich bei dem Gedanken an die Gefahr, in die er die Mönche brachte. Früher konnte er sich auf sein Schwert und seine Gewandtheit im Kampf verlassen. Da war ER es gewesen, der Bedürftigen Schutz und Hilfe gab! Jetzt war er auf das Wohlwollen Fremder angewiesen! “Ich könnte versuchen, über die Mauer zu klettern, so wie ich hereingekommen bin“, schlug er vor.
„Nun, ein Mönch, der sich über die Klostermauer hangelt, wäre wohl nicht gerade ein unverdächtiger Anblick!“ gab der Prior sarkastisch zurück.
Nach einer geraumen Weile sagte Bruder Cölestinus so ruhig, als handele es sich um die unwichtigste Sache der Welt: “Nogaret lässt unsere Haupttore bewachen, aber doch sicher nicht die “Schandpforte“!”
Im nächsten Augenblick waren die vier auf dem Weg dorthin: Der Küchenmeister sollte Recht haben. Die kleine Tür, durch die aus der Gemeinschaft verstoßene Mönche hinausgelassen wurden, war unbewacht. Die Hände des Priors zitterten vor Freude, als er die Pforte öffnete und Jocelin auf die menschenleere Straße hinauswies. Er dankte Gott inbrünstig für die Befreiung aus der Gefahr. Und das würden alle tun, außer vielleicht dem jungen Novizen, der dem Abenteuer enttäuscht nachschaute. 

Es war schon Abend, als die Waffenknechte Jaques de Molay aus dem Verlies holten.
Seit man den Meister vor acht Tagen in die Burg von Corbeil gebracht hatte, sah er das erste Mal wieder menschliche Gesichter. Zuvor waren nur Stimmen zu ihm geklungen: die rauen Befehle der Wächter und die Schreie derer, die man mit ihm hierher gebracht hatte.
Die Schreie der Gefolterten...
Molays Seele befand sich in einem Taumel von Angst und verzweifeltem Aufbegehren. Als er jetzt vor Guillaume de Nogaret stand, war er entschlossen, zu kämpfen.
Er erwartete ein Verhör, doch der Königliche Siegelbewahrer hatte ihn im Audienzsaal vorführen lassen. Mit einer leutseligen Geste begrüßte er den Meister: „Euer Eminenz, Sire de Molay, es tut mir aufrichtig leid, dass wir uns unter solchen Umständen wieder sehen...“
„Ihr habt mich und meine Brüder verhaften lassen!“ Für einen Augenblick war er wieder der stolze Souverän, der über ein glänzendes Heer gebot. „Ich weiß nicht, was Ihr mit dieser Frechheit bezweckt, Nogaret, aber wenn Ihr noch nicht exkommuniziert wäret, würde Euch das den Bann einbringen!“
„Geht nicht so leichtfertig mit kirchlichen Strafen um, Sire, das rate ich Euch! - Im Übrigen tut Ihr mir unrecht. Ich habe nur die Befehle unseres Herrn Königs ausgeführt. Und Seine Majestät war sehr entsetzt darüber, welcher Unflat der Ketzerei sich des Ordens der Templer bemächtigt hat!“ Nogarets Stimme hob sich. „Eine Ketzerei, wie man sie seit den Katharern nicht mehr gehört hat!“
„Das ist absoluter Unsinn! Altweibergeschwätz!“
„Altweibergeschwätz?! Vierhundert Brüder bisher haben unter Tränen der Reue bekannt!“
Nogaret lehnte sich zurück und weidete sich daran, wie Molays stolzes Wesen zu einem erschrockenen, verwirrten Häuflein zusammenschmolz.
„Ja, Meister des Tempels, deine edlen Brüder haben fast alle gestanden!“ warf er seinem Gegenüber in Gedanken an den Kopf. „Wenn auch nicht immer ganz freiwillig... Und du wirst ebenso gestehen, wenn dich Inquisitor Imbert dann befragt, dafür werde ich schon sorgen!“
In einem schwachen Versuch, wieder Boden unter den Füssen zu gewinnen, sagte Jaques de Molay: „Sie haben gelogen. Dafür sollen sie aus dem Orden ausgestoßen werden!“
„Sie haben um das Heil ihrer Seele willen gestanden! Nun, da sie sich in der sicheren Obhut seiner Majestät befanden, wagten sie zu offenbaren, wozu man sie bei ihrer Profess verpflichtet hatte! Das Kreuz anzuspucken und Christus zu verleugnen, die Sodomie zu treiben und Götzen anzubeten!“
„Nichts davon ist wahr!“
Guillaume de Nogaret lächelte mitleidig.
„Ich zweifle nicht an Eurer Aufrichtigkeit, Sire de Molay. Aber... konntet Ihr alles wissen, was in den einzelnen Häusern Eures Ordens vor sich ging?“
„Ich verbürge mich für meine Brüder!“
„Die heilige Inquisition hat sie für schuldig schwerer Verbrechen befunden!“
„Darüber kann nur der Papst entscheiden!“
Guillaume de Nogaret stimmte zu, in die Rolle des helfenden Beraters schlüpfend: „Aber Seine Heiligkeit Clemens wird den Orden der Templer hiernach...“ Er klopfte auf den Stapel der vor ihm liegenden Geständnisse, „zweifellos aufheben, und dies umso sicherer, wenn der Meister hartnäckig an seinen Irrtümern festhält.“
„Was für Irrtümer?“ fuhr Jacques de Molay dazwischen, aber Nogaret überging die Frage und sprach in leisem, beschwörendem Ton: „Ich sage Euch, Sire, die einzige Möglichkeit, den Orden zu retten - und das wollt Ihr doch, oder? - ist, dass Ihr bekennt! Geht, legt ein vollständiges Geständnis ab und lasst Euch rekonziliarisieren! Dann wird der Papst an Euren Willen zu Besserung und Reform glauben und den Orden nicht aufheben!“
„Wie kann ich das? Wie kann ich eine solch abscheuliche Verleumdung mit meinem Eid bestätigen?“
Guillaume de Nogaret legte dem Meister vertraulich die Hand auf die Schulter.
„Wollt Ihr den Orden retten oder nicht? Dann befolgt meinen Rat! Zögert nicht! Ich meine es gut mit Euch! Es ist nur eine Formalität, nichts weiter…“
Inquisitor Imbert sah dem Verhör des Meisters in gesammelter Ruhe entgegen. Er hatte es sich persönlich vorbehalten und lang um die Gnade gefleht, Gott möge Jacques de Molay ohne Folter zum Bekenntnis bewegen. Aber sollte es nicht so sein… Das Herz des Inquisitors war von aufrichtiger Liebe für die Menschen erfüllt. Und gerade diese Liebe war es, um deretwillen er die Folter befahl.
Denn was bedeuteten die Qualen des Körpers im Vergleich zu den Leiden einer Seele in den Fängen des Teufels?
Jahrelange Erfahrung ließ Imbert sofort die Unsicherheit und Angst erkennen, die Jaques de Molay zu verbergen suchte. Der Inquisitor atmete auf. Normalerweise versprach dieses Verhalten ein rasches und unkompliziertes Geständnis. Er begann mit der Verlesung der Anklagepunkte, dann ließ er den Meister auf die Evangelien schwören. Nach einer Erinnerung an das Jüngste Gericht stellte er die erste Frage: „Wann seid Ihr in den Orden aufgenommen worden?“
„Es ist 42 Jahre her, dass man mir in der Komturei von Beaune den weißen Mantel verliehen hat.“
„Wer hat Euch aufgenommen?“
„Bruder Humbert de Pairaud. Und viele andere Brüder waren anwesend, die unterdessen gestorben sind. Auch der edle Ritter Amaury de la Roche, ein Freund unseres verehrten König Louis, war da...“
Guillaume Imbert übersah den etwas seltsamen Fakt der Anwesenheit des Freundes eines heiliggesprochenen Königs bei einer so schändlichen Zeremonie, wie die Aufnahme in den Templerorden es sein sollte.
„Wie seid Ihr aufgenommen worden?“
„Man hat mir die Statuten und die Regeln für das Leben im Konvent vorgelesen. Ich legte die Profess ab, und dann gab man mir den Mantel.“
„Danach hat man Euch ein Kreuz gezeigt und Euch aufgefordert, unseren Erlöser Jesus Christus zu verleugnen und dreimal auf das Kreuz zu spucken?“
Jacques de Molay zögerte.
Dann sagte er mit leiser, fast unhörbarer Stimme: „Ja…“ Um seine Worte abzumildern fügte er hinzu: „Aber ich habe nur einmal gespuckt...“ Vielleicht war es weniger schlimm, wenn er die heilige Zahl vermied?
„Einmal?“ wiederholte der Inquisitor.
„Ja. Und ich habe Christus nur mit dem Mund verleugnet, nicht mit dem Herzen!“
Im Lauf des Verhörs bekannte Jacques de Molay alle weiteren Vorwürfe, voller Reue, wie Guillaume Imbert meinte.
Aber es war eher die Abscheu vor dem, was er gestand, die Molay den Kopf senken ließ.
Der Inquisitor freute sich schon seines Triumphes über die Kräfte des Bösen, als er die letzte Frage stellte: „Als Ihr die Keuschheit verspracht, hat man Euch da empfohlen, Euch mit Euren Brüdern fleischlich zu vereinen nach dem Brauch des Ordens, und eine entsprechende Aufforderung nie abzulehnen?“
Jetzt hob Jacques de Molay den Kopf. Das war ganz einfach zuviel, das KONNTE er unmöglich gestehen! „Nein, man hat mir weder eine so abscheuliche Sünde befohlen, noch habe ich sie jemals begangen!“
„Sire, überlegt gut, was Ihr sagt!“
„Es gibt nichts zu überlegen! Das ist die Wahrheit!“
Ein Augenblick ging in drückender Stille vorüber.
„Weshalb leugnet Ihr? Wisst Ihr nicht, dass dies völlig sinnlos ist? Wir haben die Aussagen Eures Knappen, von Euch in einer einzigen Nacht zweimal missbraucht worden zu sein! Wir haben das Geständnis eines Ritters, der behauptet, mit Euch aufgenommen worden zu sein! Wir haben Berichte, dass Ihr diese Sünde in allen Häusern des Ordens für gut und notwendig erklärt habt! Warum also wollt Ihr Euch jetzt Schaden zufügen, indem Ihr leugnet?“
Als Jacques de Molay schwieg, sprach der Inquisitor weiter: „Ihr wisst, dass man hartnäckige Ketzer der peinlichen Befragung unterzieht?“
„Ich bin kein Ketzer!“ wollte Meister Jacques protestieren, aber seine eigenen Worte sprachen gegen ihn.
Er hatte gestanden, und jede anderslautende Aussage stempelte ihn zum Relapsus, für den es nur eine Strafe gab: den Feuertod.
 Die Peitsche sauste nieder und hinterließ einen weiteren blutigen Striemen auf dem Rücken des Gefangenen.
Die ungerührte Stimme des Inquisitors folgte: „Gesteht Ihr?“
„Ich glaube... an Gott, den Vater... den Allmächtigen...“
Es war die gleiche Frage und die gleiche Antwort wie stets zuvor. Achtmal hatte man Komtur Robert in den vergangenen Tagen verhört, fünfmal unter der Folter, und alles, was er stets von sich gab, war das Glaubensbekenntnis. Imbert hatte ihn in eine Einzelzelle verlegen lassen. Solche Unbeugsamkeit war ein zu gefährliches Beispiel für die übrigen Gefangenen. Der Folterknecht holte erneut aus. Robert sah das Gesicht des Dominikaners zu gräulichem Nebel zerfließen. Er würde das Bewusstsein verlieren... Man würde ihm einen Kübel Wasser über den Kopf schütten, dann würde es von vorn beginnen... Robert hatte das Gefühl, dass sich keine heile Stelle mehr an seinem Körper befand. Alles schien eine einzige brennende, schmerzende Wunde zu sein. Nach der ersten Befragung hatte Robert seine Tunika zerrissen um sorgsam die Verletzungen zu verbinden. Das hatte er längst aufgegeben. Sein Gewand war so schmutzig wie seine Zelle, und wenn ihn die Folterknechte nach Beendigung des Verhörs hineinstießen, blieb er einfach liegen.
Die Peitsche hatte die stickige Luft zerteilt ohne die Haut des Gefangenen zu berühren.
„... an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn...“
Komtur Robert öffnete die Augen. Inquisitor Guillaume Imbert war eingetreten. Er hatte dem Folterknecht mit einer Handbewegung Einhalt geboten. Nun wechselte er einige eilige Worte mit seinem Ordensbruder. Dann wandte er sich Robert zu. Der Komtur suchte sich aufzurichten und vergaß dabei seine verbrannten Füße. Mit einem Stöhnen sank er wieder zusammen, aufrecht gehalten nur von den am Gewölbe angeschlossenen Fesseln.
Imbert blickte ihn an. Sein breites Gesicht bekam einen fast kindlichen Ausdruck.
„Ihr leidet sehr, wie ich sehe“, sagte er. „Aber Ihr selbst seid es, der Euch diese Qualen zufügt! Legt Euer Bekenntnis ab - nein, Ihr seid schwach, es genügt, wenn Ihr die Artikel unterzeichnet - und man wird Euch baden, Eure Wunden versorgen, Speise und Trank und ein gutes Quartier geben!“
Komtur Robert erwiderte den Blick des Inquisitors mit der ganzen Verachtung, deren er noch fähig war. „Ich will den Orden verteidigen!“
„Warum seid Ihr so verstockt? Euer Leugnen hilft Euch nicht. Mir liegen die Aussagen eines Mannes vor, der von Euch in den Orden aufgenommen wurde; Eure Verbrechen sind bekannt. Ihr habt die Novizen Christus verleugnen lassen, nicht wahr? Wir wissen alles, was Ihr getan habt! Euer Leugnen ist zwecklos! Auch Euer Meister hat alle Verbrechen gestanden...”
Robert stieß ein Lachen aus, das die Anwesenden erschauern ließ. „Ein großer Erfolg, nicht wahr?! Was habt ihr mit ihm gemacht? Ihn über dem Feuer aufgehangen? Auf die Wippe gespannt? Ausgepeitscht?“
„O nein, dessen bedurfte es nicht. Er hat absolut freiwillig gestanden, ohne jeden Zwang. Ihr habt keine Hilfe von Eurem Meister zu erwarten, noch von sonst jemandem Eurer Kommandeure! Sie alle haben die Verbrechen des Ordens eingestanden!“
Einen Moment lang schien Komtur Roberts Widerstand gebrochen. Guillaume Imbert glaubte sein Gefecht gewonnen.
Da sagte Robert mit lauter Stimme: “Unsere Hilfe... ist im Namen des Herrn!“ 

Nach einer ermüdenden Wanderung entlang der abgeernteten Felder und armseliger Dörfer erreichte Jocelin eines späten Nachmittags den Weiher von Rambouillet. Er beschloss, sich in einer Scheune ein Nachtquartier zu suchen. Die Menschenmenge, die sich am Brunnen versammelt hatte, lenkte jedoch zunächst sein Interesse auf sich. In ihrer Mitte saß ein Mann mit einer Laute, bekleidet mit ehemals wohl prächtigen bunten, jetzt aber zerschlissenen Gewändern, eine Narrenkappe auf dem Kopf. Er sang:
„Wisst ihr es nicht, Leute, wisst ihr es nicht? Gekommen ist die Stunde des Gerichts! Gekommen sind die Tage des Übels und der Klage!“
Wortreich schilderte er die Schrecken der Apokalypse, die Qualen der Verdammten und das Zittern der Seelen auf der Waage des Erzengels Michael. Schon lösten sich die ersten Gestalten aus den Reihen der Zuschauer. „Gekommen ist die Stunde der Versuchung! Gebt acht, Leute, gebt acht!“
Der Gaukler entlockte seinem Instrument einen schaurigen Ton. „Denn der Weg zur Verdammnis ist breit, wie unser Heiland lehrt. Und viele sind‘s die auf ihm gehn! Denn es verführet sie der Antichrist, der das Szepter hält! Schön wie ein Engel ist er wohl, doch falsch und bös‘ sein Herz!“
An dieser Stelle unterbrach er seinen Gesang, zog eine Münze aus dem Beutel und zeigte sie: „Seht ihr, wie sie glänzt? Aber ihr täuscht euch, wenn ihr meint, es sei gutes, reines Silber! Schön ist nur die Schale, darinnen ist billiges Kupfer! Genauso ist es mit dem Antichrist! Darum seid wachsam... Denn er wird wenden was gut war und heilig und rein, in Falschheit und Lüge und Schein...“
Immer geringer wurde die Zahl der Zuhörer, bis der Sänger mit einem resignierten Kopfschütteln verstummte.
„Ja, die Leute wollen keine traurigen Lieder“, sagte er zu Jocelin gewandt. „Wie sie auch keine Predigten über das Ende der Welt hören wollen, nicht wahr, Mönch? Die Leute wollen was Lustiges in diesem Tal der Tränen...“
„Du glaubst wirklich, dass die Zeit des Gerichts gekommen ist?“
„Kennst du die Schrift nicht besser als ich, Mönch? Ich singe, was ich sehe... Und ich sehe das Heilige Land in den Händen der Ungläubigen, die Fürsten Krieg gegeneinander führen, anstatt gegen die Feinde Gottes. Ich sehe einen König, der das Oberhaupt der Christenheit wie einen Strauchdieb gefangen setzte und den neuen Papst tanzen lässt wie eine hölzerne Puppe.” Er machte die entsprechenden Bewegungen.
„Du kommst viel herum?“ wagte Jocelin vorsichtig zu fragen. „Das kann man sagen!“
Jocelin vergewisserte sich, dass niemand sonst seine Worte hören würde, dann fuhr er fort: „Weißt du etwas über die Sache mit den Templerbrüdern?“
„Ah...“ Der Gaukler zog eine Grimasse, als wolle er sein Gegenüber daran erinnern, dass er nicht ernst zu nehmen sei. „Was soll ich wissen, mein guter Bruder, he? Der König und die Inquisition halten ihre Hände darüber, und Kerkermauern sind stumme Zeugen!“ Dann neigte er sich vor und sagte: „Du stellst gefährliche Fragen, Mönch! Bist du am Ende ein Spitzel des Königs? Dann wisse, ich bin ein Narr und Narrenworte sind Rauch im Wind!“ Er lachte.
„Aber sind wir nicht alle Narren in dieser Zeit? Der eine spielt seine Rolle freiwillig, und der andere, weil ein Schwert auf seine Kehle gerichtet ist! Ich war im päpstlichen Palais, als der Heilige Vater einen Brief unseres heiligen“- er faltete fromm die Hände, “Herrn Königs erhielt. Seine Majestät forderte einen regelrechten Kreuzzug gegen den Tempel und drohte Clemens selbst mit einer Anklage wegen Häresie. Die italienischen Kardinäle waren außer sich vor Empörung. Die französische Partei pochte auf die Rechte Philipps als Verteidiger des Glaubens. Fast hätten sie sich eine Schlacht geliefert! Clemens verlangte totenbleich nach seinem Leibarzt. Oh, nicht einmal meine besten Späße konnten ihn wieder aufmuntern! Er sah mich an und sagte: Ich beneide dich um deine Narrenschellen, sie sind die einzige Antwort auf diese Welt des Wahnsinns...“
„Bist du noch immer am Hof des Papstes?“
„Wenn ich es wäre, säße ich dann in diesem gottverlassenen Dorf?! Meine Zunge war einigen Kardinälen wohl zu frech, das verursachte ein ungesundes Klima... Und so bin ich gegangen! - Und du, Mönch?“ Er musterte Jocelins Statur, die mehr Übung im Waffenhandwerk verriet als im Bücherschreiben, seine unrasierten Wangen und das Bündel über der Schulter. „Aus welchem Kloster hast du dich davongemacht?“
„Ich war in Paris zum Studium.“
„Ach, erzähl‘ mir nichts! Aber ich verstehe dich! Ich war zwei Jahre in Cluny, und mehr als Fressen und Saufen hab ich dort nicht gelernt! Ein Sündenpfuhl, der allein Gott wohl zum Gericht reizte! Und bei den Templern wird es nicht viel anders gewesen sein! In allen Schenken erzählt man sich ihre Schandtaten!“
Der Gaukler zupfte an den Saiten seines Instruments und rief laut genug, dass die Leute in den Häusern ihn hören konnten: „He, he, ich singe euch ein Lied über die Geheimnisse des Tempels! Kommt Leute, kommt und hört!“
Ein paar Türen öffneten sich.
Die jungen Burschen waren die ersten, die sich wieder um den Gaukler scharten.
„Kommt, ja kommt! Und vergesst den Silberling für den armen Sänger nicht! Ich will euch singen eine gräuliche Geschicht’ ! -Weiße Mäntel trugen sie, doch drunter war‘ n sie schwarz von Sünde, Keuschheit und Armut schworen sie, doch hört, was ich euch künde!“
Jocelin zog sich zurück. Die gleiche Verzweiflung, Angst und Wut wie bei der Anklageverlesung erfasste ihn. Und es waren auch die gleichen Menschen, gierig nach Abscheulichkeiten, entsetzt, aber jedes Wort genüsslich aufsaugend. Sie glaubten die monströsen Gerüchte, wie sie den Wundertaten der Heiligen glaubten.
 Guillaume de Nogaret legte die Akten zur Seite. Im untersten Fach seines Schrankes betätigte er einen kleinen Hebel und zog eine Geheimschublade heraus. Ein Medaillon lag darin, alt, beschlagen, unscheinbar, mit einem fremdartigen Symbol, dessen Bedeutung der Siegelbewahrer längst vergessen hatte. Seine, Bedeutung, ja, nicht aber den Mann, der es getragen hatte. Zärtlich strich er über das Metall. Morgen würde er seiner Rache wieder ein Stück näher kommen... Morgen würde Jacques de Molay sein kostbares Geständnis vor der Universität wiederholen...
 Der große Saal der Pariser Universität war bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Studenten aller Klassen waren mit ihren Doktoren erschienen, die Kleriker von Notre-Dame, der Bischof von Paris mit seinem Gefolge. Die Gesandten der Dominikaner und Franziskaner drängten sich auf den vordersten Bänken. Der Erzbischof von Sens hatte das Erscheinen mit der Begründung abgelehnt, seine priesterlichen Pflichten ließen ihm keine Zeit.
„Der König wird nicht sehr erfreut sein, wenn er vom Fernbleiben seiner Eminenz erfährt“, meinte Enguerrand de Marigny zu seinem Bruder, einem farblosen Mann im Bischofsornat.
„Gewiss! Ich habe gehört, dass Seine Majestät in letzter Zeit ohnehin etwas verstimmt über ihn war. Da ist es doch gut möglich, dass er sich bald nach einem neuen Erzbischof umsieht.“
Der Finanzminister lächelte verstohlen. Der Ehrgeiz seines kleinen Bruders kannte keine Grenzen. Seit dem Tag, an dem ihn der Vater zum geistlichen Stand bestimmt hatte, tat er nichts anderes als nach lukrativen Pfründen Ausschau zu halten! Unliebsamer Konkurrenten pflegte er sich mit Verleumdungen, Bestechungen und nicht zuletzt Mord zu entledigen. Bis jetzt hatte er es damit bis zum Bischof von Cambrai gebracht. Enguerrand, der sich seinen Aufstieg bei Hofe mit ähnlichen Mitteln erkämpft hatte, empfand eine Art Stolz für seinen gelehrigen Bruder. Wenn er auch zugeben musste, dass Philipp wenig geeignet für das Priesteramt war. Der Prozess gegen den Templerorden war zweifellos eine gute - und wahrscheinlich auch die einzige - Gelegenheit, ihn auf einen Erzbischofsthron zu heben...
Eskortiert von einer Abteilung königlicher Söldner wurden in diesem Moment die Gefangenen in den Saal geführt: Jacques de Molay, der Komtur der Normandie Godefrois de Charny und fünf weitere Ritter. Man war darauf bedacht gewesen, sie in einem ordentlichen Zustand zu präsentieren. Dem aufmerksamen Beobachter entgingen dennoch weder die von Erschöpfung gezeichneten Gesichter noch die Verbände, die bei jeder Bewegung sichtbar wurden. Manche der Anwesenden kannten die Gefangenen persönlich und zeigten Betroffenheit. Unter ihnen der Gesandte des aragonesischen Hofes. Er schätzte Jacques de Molay, und er wusste um die unentbehrlichen Dienste der Templer in Aragon. Ohne ihre Hilfe wäre das Königreich mehr als einmal von den Sarazenen überrannt worden. Er schenkte der Anklage keinen Glauben, sondern hielt alles für einen perfiden Schachzug des französischen Königs, Gold in die Finger zu bekommen. Der schöne Philipp hatte die Juden erpresst und die Lombarden ausgenommen, und nun war der Tempel an der Reihe!
Guillaume de Nogaret trat an das Pult. Die Magister der Rechtsfakultät riefen ihre Studenten zur Aufmerksamkeit. Es war eine brillante Darstellung, die Nogaret entrollte.
Von der Göttlichkeit des Rechts griff er aus auf die Pflichten der Kirche und die Pflichten der weltlichen Herrscher, schilderte die Gefahr der Häresie für die göttliche Weltordnung um schließlich den Orden der Templer mit Worten zu zermalmen.
Einige Studenten klatschten Beifall. Der aragonesische Gesandte drehte sich angewidert zur Seite.
„Wie kann ein König sich nur mit solchen Emporkömmlingen wie diesem Nogaret umgeben?“ dachte er. „Er tritt alles mit Füßen, was althergebrachtes Recht ist!”
Sein Blick blieb an Esquieu de Floyran hängen, der ihm gegenüber an der Wand lehnte. Der Gesandte erinnerte sich, dass es derselbe dunkelhäutige Mann gewesen war, der vor knapp einem Jahr am Hofe von Aragon üble Gerüchte über die Templer feilgeboten hatte. Bei König Jayme war er auf taube Ohren gestoßen. Bei Seiner Majestät Philipp hatte er offenbar mehr Glück gehabt...
Eine Zeit des Schweigens folgte auf Nogarets Diskurs, der den Zuhörern wohl Gelegenheit geben sollte, sich die verabscheuungswürdigen Gestalten der Gefangenen einzuprägen. Einer der Templer brach ohnmächtig zusammen. Er wurde aus dem Saal geschleift, während Imberts Donnerstimme den Höhepunkt einleitete: die öffentliche Bestätigung der geleisteten Geständnisse. Er begann mit Jacques de Molay. Den Kopf tief gebeugt ließ der Meister die Lesung seiner Aussage über sich ergehen. Er hatte gestanden in der vollen Überzeugung, dass das Verfahren ohnehin unrechtmäßig und damit seine Aussage gegenstandslos sein würde, wenn der Papst die Angelegenheit erst übernahm, wie es seine Pflicht war. Nogaret hatte ihm versprochen, dass nach seinem Geständnis niemand mehr gefoltert werden würde, eine Audienz vor dem Papst und die Stellung von Prokuratoren. Nichts von alledem war geschehen. Alles was man von ihm wollte, war eine Wiederholung des schmachvollen Geständnisses!
„Ich kann es nicht... Ich kann unmöglich diese Lügen bestätigen...”
Er fühlte eine Hand auf der Schulter. Als er den Kopf wendete, sah er in Nogarets Augen.
„Ihr wisst, was mit Euch geschieht, wenn Ihr widerruft. Mit Euch und Euren Brüdern“, flüsterte der Siegelbewahrer. „Denkt daran. Bestätigt Eure Aussage, so wie ich Euch geraten habe!”
Der Klang der Stimme bohrte sich wie eine glühende Klinge in den Kopf des Meisters. Nogaret schob ihn nach vorn, die Hand noch immer auf seiner Schulter und fragte:
„Sire de Molay, habt Ihr in einem Punkt Eurer Aussage gelogen oder die Wahrheit verschleiert, aus Furcht vor dem Kerker oder der Folter?“
Schweigen herrschte im Saal.
„Nein...” sagte Jacques de Molay dann kaum hörbar. „Ich habe die ganze Wahrheit gesagt...“
Jenen unter den Zuhörern, die bisher an der Schuld der Templer gezweifelt hatten, war das Entsetzen anzusehen. Die bereits Überzeugten nickten einander vielsagend zu. Der aragonesische Gesandte jedoch verließ den Saal. Er war nicht gewillt, einer solchen Würdelosigkeit noch länger beizuwohnen.
„Eure Verbrechen und die Eures unseligen Ordens sind groß, aber Gottes Gnade hat Euch zur Reue geführt!“ sagte Imbert. „Danken wir dem Herrn für seine Barmherzigkeit! Doch zu unserem Bedauern gibt es noch immer einige Brüder, die sich der Liebe unserer Mutter Kirche für ihre verirrten Schafe verschließen, die an ihrem abscheulichen Aberglauben festhalten! Wir bitten Euch daher, Sire de Molay, bei Eurer Autorität als Meister, ruft diese Brüder auf, ihr Geständnis abzulegen!“
Er hielt Jacques de Molay Pergament und Schreibfeder entgegen. Der Meister verharrte regungslos. Die Verantwortung für seine eigene Aussage war er bereit zu tragen, aber für die Geständnisse all seiner Brüder? Durfte er ihnen eine solche Sünde befehlen? Aber, andererseits, durfte er zulassen, dass sie litten und starben ohne den Trost der Sakramente?
Mit zitternder Hand schrieb der Meister den Befehl an alle gefangenen Templer, unverzüglich zu gestehen und drückte sein Siegel darunter.
Godefrois de Charny, Provinzmeister der Normandie, sah es voller Verzweiflung. Er selbst hatte alle Anklagepunkte unter der Folter gestanden und war entschlossen gewesen, öffentlich zu widerrufen. Doch nun? In seiner Profess hatte er sich verpflichtet, dem Meister zu gehorchen, was auch immer dieser verlangen mochte… Als die Reihe an ihn kam, seine Aussage zu bestätigen, setzte Godefrois de Charny laut hinzu: „Und ich flehe Gott, der alles weiß, und seinen Vikar auf Erden, Seine Heiligkeit Clemens V. an, mir und allen, die uns folgen werden zu vergeben!“
Niemand ahnte, dass es Godefrois um eine ganz andere Schuld als die der Anklagepunkte ging.
Schon seit einigen Tagen begnügten sich die Kerkermeister des Louvre damit, ihre geschwächten Gefangenen in Ketten zu legen, ohne sie an der Mauer anzuschließen.
Mühsam tastete sich ein Servient zu Pietro di Bologna.
„Vater Pietro, ich will beichten! Ich bin ein Sünder, ein elender Sünder!“
„Gott ist den zerknirschten Herzen nahe, und er errettet die Demütigen!“ suchte Pietro di Bologna zu trösten.
„Er wird mich verdammen, Vater! Ich habe gelogen! Ich habe meine Brüder verleumdet! Ich habe alles gestanden, was sie von mir wollten!“ stieß der Servient hervor. „Ich wollte es Komtur Robert heimzahlen, weil er mir damals für drei Tage  das Ordensgewand genommen hatte! Ich fühlte mich ungerecht behandelt, aber er hatte Recht! Ich hätte den Sattel nicht einfach nehmen dürfen, ohne zu fragen! Ich wusste es und habe es trotzdem getan! Und jetzt habe ich ihn verleumdet! Ich habe gesagt, dass er mich aufs Kreuz spucken ließ!“
„Wir sind schwach nach unserem Fleisch, Bruder. Gott hat es so gewollt, um uns seine Barmherzigkeit umso reicher zu schenken. Wir haben alle gesündigt, denn wir haben alle die Verleumdungen der Inquisition gestanden, auch ich, Bruder.“ antwortete Pietro dem Verzweifelten. „Aber der Heilige Vater wird uns freisprechen!“
„Wie viele werden dann von uns noch am Leben sein?“ ließ sich eine Stimme vernehmen. „Denkt an Bruder Guido, der sich erhängt hat, und die zwei Brüder, die schon unter der Folter gestorben sind!“
Der Servient ergriff Pietro di Bolognas Arme und rief: „Ich werde vielleicht nicht lang genug leben für die Gnade des Papstes! Sprecht mich frei, ich flehe Euch an! Ich kann den Teufel schon sehen, er lauert auf mich!“
„Habt keine Angst! Christus hat den Teufel besiegt! In seinem Namen löse ich Euch von Euren Sünden!“

Der Pfad war vom Regen ausgespült und steinig. Jocelin wanderte seit dem frühen Morgen durch den Wald. Bisher war er keinem Menschen begegnet. Ein Schwarm Krähen begleitete ihn und im Dickicht raschelten die Läufe flinker Tiere. Ein hoher pfeifender Ton ließ ihn aufhorchen. Vielleicht ein Tier, dass sich in einer Falle verfangen hat? Er hatte schon tagelang nichts Rechtes mehr gegessen. Wieder erklang das ängstliche Pfeifen.
Es kam linker Hand aus dem Unterholz. Jocelin bahnte sich einen Weg durch das halbvertrocknete Gestrüpp. Tatsächlich! Unter den aufragenden Wurzeln eines gestürzten Baumes duckte sich ein Hase, den linken Hinterlauf von einer primitiven Schlinge festgehalten. Der Ordensbruder streckte die Hand nach dem Tier aus.
„Ich lasse mich nicht bestehlen, und schon gar nicht von einem entlaufenen Mönch!“ Eine Klinge blitzte auf und die Stimme des noch unsichtbaren Gegners drang durch das Dickicht.
„Such das Weite, kleiner Mönch, das rat ich dir!“
Doch Jocelin war zu hungrig, den Hasen zu lassen. Blitzschnell drehte er sich um, bereit, seinen Gegner niederzuwerfen - vor ihm stand ein blonder junger Mann im Ordensgewand der Templer. Im ersten Augenblick wich der andere unsicher zurück, dann stürzte er auf Jocelin zu.
„Tut mir leid, jetzt kann ich dich nicht mehr laufen lassen!“ rief er.
Nur knapp entging Jocelin der Klinge des Anderen. „Haltet ein! Ich-” Jocelin blieb mit dem Fuß in einer Astgabel hängen.
Er fiel. Sein Ordensbruder holte zum letzten Schlag aus.
„Ich bin Templer wie ihr!“
Die Klinge verhielt über Jocelins Hals. „Was?“
„Aus Provins!“
„In einer Mönchskutte? ! Du bist einer dieser Verfluchten, die sich zu Handlangern der Inquisition erniedrigen!“
„Nein! Ich fand Zuflucht in der Abtei von Saint Germain de Près. Dort gab man mir die Kutte. - Glaubt mir, beim Kreuz Christi!”
„Wie seid Ihr entkommen?”
„Komtur Renalt hatte mich nach Paris gesandt, aber das Unwetter hatte die Brücke zerstört. Ich kam zu spät...”
Der Fremde senkte seine Klinge.
„Zu spät? Die himmlischen Heerscharen müssen Euch beschirmt haben! Ich bin geflohen, als man mich zum Verhör holte,” sagte er leise. Dann streckte er Jocelin die Hände entgegen und half ihm auf.
„Bruder Louis von Etampes“, stellte er sich vor.
Jocelin umarmte seinen Ordensbruder mit Tränen in den Augen. Endlich war er nicht mehr allein!
Später, am Feuer, über dem der Hase briet, berichtete sein neuer Kamerad, was geschehen war.
„Die Leute des Grafen verhafteten uns im Morgengrauen und steckten uns in die Verliese unserer eigenen Komturei. Zuerst glaubten wir, dass alles ein Irrtum sei, der nur unser Haus in Etampes betraf. Dann begannen die Folterungen. Unserem Komtur haben sie die Beine gebrochen... Wir haben ihn schreien gehört, einen Tag lang. Dann war es plötzlich still...”
Louis atmete tief ein, unfähig weiter zu sprechen.
„Ich will versuchen, mich bis nach Orleans durchzuschlagen.” fuhr er nach einer Weile fort. Meine Familie hat große Besitzungen dort. Vielleicht kann ich mich irgendwo verstecken...“
„Uns verkriechen. Ist das alles, was wir tun können?“
Jocelin stand auf. Sein Gesicht spiegelte den in ihm tobenden Kampf wieder. Ein Kampf gegen seine eigene Angst und Verzweiflung, gegen eine bedrohliche, weglose Finsternis.
„Wir haben doch gelobt, niemals vor unseres Feinden zu fliehen, sondern uns ihnen zu stellen! Wir haben gelobt, unser Leben für unsere Brüder einzusetzen, wie Christus sich für uns dahingegeben hat! Wir werden uns nicht verkriechen wie Verbrecher, die das Licht fürchten!“
„Was wollt Ihr denn tun?“
„Wir... wir müssen unsere Brüder befreien! Wir müssen zum Papst, zu den Bischöfen! Sie haben uns die Privilegien gegeben, die jetzt mit Füßen getreten werden!”
„Wir laufen nur der Inquisition in die Arme!“
„Wir müssen etwas unternehmen, Bruder Louis! Sonst ist unser Orden tot! Getötet nicht durch die Inquisition, sondern durch uns selbst! Wir dürfen diese Verbrechen nicht geschehen lassen! Wir müssen unser Recht einfordern!”
Sein Mitbruder antwortete nicht sofort. Er hob den Bratspieß vom Feuer, wartete einen Moment, bis der Wind die größte Hitze genommen hatte. Dann schnitt er einen dicken Streifen Fleisch herunter und reichte ihn Jocelin.
„Nehmt! Wir werden Kraft brauchen, wenn wir unsere Brüder aus dem Kerker holen wollen!“ 

Inmitten einer schwatzenden Menge Landvolkes gingen die beiden Templer durch das Stadttor von Etampes. Bruder Louis zog nervös an seiner Kapuze. Jocelin hatte ihm einen Bauernkittel besorgt. Trotz dieser Verkleidung fürchtete Louis, erkannt zu werden.
Ein lauter Ruf scheuchte die Leute auf. „Der Graf! Zur Seite!“
Jocelin packte Louis am Arm und drückte sich gegen eine Hauswand, um den Pferdehufen zu entgehen. Ein Bauer versuchte hektisch, seine Gänse von der Straße zu treiben.
„Zur Seite!“ brüllte der Reiter erneut und hieb mit der Peitsche nach ein paar Bettlern. Dann ritt der Graf vorüber, eine stattliche Erscheinung in reichen Gewändern. In einigem Abstand folgte eine Abteilung Ritter mit dem gräflichen Wappen auf den Mänteln.
„Das sind fast alle seine Leute.“ flüsterte Bruder Louis. Jocelin blickte den Reitern nach. „Sie verlassen die Stadt!“
„Ja….Das heißt, dass nur noch ein gutes Dutzend seiner Männer in der Stadt sein werden... und die Truppe königlicher Söldner...- Lasst uns weitergehen, Jocelin!“ Er machte eine leichte Kopfbewegung zur anderen Straßenseite. Dort stand ein Mann in blaugefärbter Kutte und beobachtete sie. Als er merkte, dass man ihn entdeckt hatte, machte er sich eilig davon. Beunruhigt sah Bruder Louis sich mehrmals um, während sie ihren Weg fortsetzten. Aber der blau gewandete Mann tauchte nicht wieder auf.
 Gleich einigen anderen, die das Markttreiben genießen wollten, setzten sich die beiden Flüchtlinge an den Brunnen. Vor ihnen erhob sich die Templerkomturei von Etampes.
Jocelin schätzte die Verteidigungskraft ab. Eine einfache Ringmauer. War der Graf erfahren, hatte er auf jedem der Flankentürme wenigstens einen Armbrustschützen postiert, ein paar Reservemänner auf dem Wehrgang. Der Großteil der königlichen Söldner würde im Burghof lagern. Hinter den Marktständen war das Vorwerk zu sehen. Auch dort waren mehrere Bewaffnete auf Posten. Jocelin dachte an die Belagerungen und Überfälle im Heiligen Land, von denen die älteren Brüder erzählt hatten. Vermutlich könnten sie es schaffen, in die Burg einzudringen, doch irgendeiner der Wächter würde zweifellos Alarm schlagen und es käme zum Kampf. Bei einem gewöhnlichen Angriff mochte dies gleichgültig sein. Doch Bruder Louis und er mussten mit etwa zwanzig geschwächten Gefangenen wieder hinaus. Es wäre unklug, die Burgbesatzung bereits zu Anfang auf sich aufmerksam zu machen...
Da leuchtete unerwartet der Zipfel eines tiefblauen Gewandes auf, nur wenige Schritt entfernt.
„Da ist er wieder!“ flüsterte Jocelin. Er befahl seinem Kameraden, am Brunnen zu warten und pirschte sich an den Fremden heran. Doch der bemerkte seinen Verfolger und ergriff die Flucht.
Jocelin rannte ihm nach. Über den Markt, dann in eine schmutzige Gasse. Hinter dem großen Rad einer Wassermühle bog der Mann ab und war verschwunden. Vorsichtig ging der Ordensbruder um das Schöpfrad herum und blieb stehen. Alles war ruhig. Doch nein, dort am Torbogen, bewegte sich da nicht etwas? Er wandte sich um, da traf ein Schlag seinen Kopf und es wurde dunkel um ihn.
Bruder Louis wurde unruhig. Es war bereits später Nachmittag und Jocelin noch immer nicht zurück. Hatte er etwas gefunden, was ihn aufhielt? Oder war ihm etwas zugestoßen? Die Leute begannen, neugierig zu starren. Wie lange mochte es dauern, bis einer der Markthändler ihn als verdächtig anzeigte? Seine Besorgnis wuchs. Schließlich brachte er es nicht länger fertig, untätig seiner eigenen Verhaftung entgegenzusehen, während sein Ordensbruder vielleicht seine Hilfe brauchte. Er machte sich auf die Suche. Zunächst im Handwerkerviertel, vorbei an den Werkstätten der Kupfer- und Goldschmiede, der Zinngießer und Dengler, bis hinunter an den Fluss, wo die Gerber und Färber arbeiteten. Dann ging er die angrenzende Gasse der Tuchhändler weiter. Einer der reich gewordenen Kaufleute ließ sich gerade ein neues Haus errichten. Zimmerer sägten an den Gerüstbalken, und ein Steinmetz war mit dem Türsturz beschäftigt. Louis hatte die Baustelle schon hinter sich gelassen, als ihm etwas auffiel. Er machte kehrt, aus den Augenwinkeln den Steinmetz beobachtend.
Jener hantierte mit einem Winkeleisen, wie es bei den Byzantinern und Arabern üblich war. Wie es die Handwerker des Tempels benutzten. Bruder Louis‘ Herz schlug schneller. Er trat an die Seite des Steinmetzes. „Du hast viel zu tun, was?“
„Hm“, machte der Handwerker, ohne aufzusehen.
„Aber du kannst dir dein Brot verdienen, wie es scheint! Du hast gute Werkzeuge!“ wagte Louis einen Vorstoß.
„Hm.“
„So ein Winkeleisen habe ich noch nie gesehen. Hast du das von einer Reise mitgebracht?“
Jetzt sah der Steinmetz auf. „Du bist reichlich geschwätzig, Mann! Was interessiert dich so an meinem Winkeleisen? Ich hab‘ es und damit genug!“
Da Louis neben ihm stehen blieb, sagte er mit spürbarem Unwillen: „Hör‘ zu, wenn du Arbeit suchst, melde dich dort drüben! Aber steh‘ mir nicht länger im Licht!“
Der Ordensbruder schickte ein kurzes Gebet zu Gott und beschloss, dass Risiko einzugehen. Er hob die rechte Hand in Brusthöhe und machte das Zeichen, welches bei den schweigend eingenommenen Mahlzeiten im Konvent “Gib mir, Bruder“ bedeutete.
Die Haltung des Steinmetzes änderte sich nicht. Aber in seinem Gesicht spiegelte sich Überraschung. Er reichte Bruder Louis das Winkeleisen, der die Nadel so einstellte, dass sie in den Osten der Stadt wies, zur Komturei. Dann legte er das Messgerät auf den Türsturz.
Endlos scheinende Augenblicke vergingen. Dann zeichnete der Steinmetz die Form eines Kreuzes in den Staub. „Etampes?“ fragte er dabei flüsternd.
Bruder Louis nickte kaum merklich.
„Chalou“, flüsterte der Steinmetz seinerseits und deutete in die westliche Richtung. „Folge mir, aber langsam und unauffällig!“
Er sammelte seine Werkzeuge auf und verschwand in der Tür des angrenzenden Hauses. Kurz darauf nahm Bruder Louis denselben Weg. Er fand sich in dem überladenen Arbeitsraum eines Holzschnitzers wieder. Hinter einer halbfertigen Figur der Heiligen Jungfrau verbarg sich eine verhangene Türöffnung. Louis vergewisserte sich, dass sein Dolch griffbereit war, dann schob er den Vorhang zurück. Im nächsten Moment legte sich eine Hand auf seinen Mund, er wurde an den Armen gepackt, auf die Knie gestoßen. Kerzenlicht blendete ihn.
„Lasst ihn los! Ich kenne ihn. Es ist Louis, einer von den Ritterbrüdern!“
Die Kerze entfernte sich, und dahinter formte sich ein rundes Gesicht mit buschigen Brauen. Der Ingenieur der Komturei von Etampes.
„Entschuldigt den rauen Empfang, Sire. Aber wir müssen vorsichtig sein. Überall treiben sich Spitzel der Inquisition herum!“
Louis stand auf, ein erleichtertes Lächeln auf den Lippen. „Ranulf! Gott sei gelobt! Wie viele seid ihr?“
„Vier“, antwortete der Ingenieur.
„Jedenfalls hier in der Stadt, soviel ich weiß. Ich hatte Glück. Als die königlichen Söldner die Komturei besetzten, war ich hier bei meinem Onkel, dem Schnitzer. Ihn“, er zeigte auf den Steinmetz, “traf ich am nächsten Morgen. Er kommt aus dem Haus von Chalou. Und dann noch zwei Arbeiter von den Landgütern. - Aber Euch habe ich in Ketten gesehen, Sire. Wie kommt es, dass Ihr hier seid?“
Misstrauen schwang in seiner Stimme mit. War Louis um den Preis seiner Freiheit zum Handlanger der Inquisition geworden?
„Ich konnte fliehen. Aber die Leute des Grafen sind hinter mir her. Ich...“ Ein Geräusch unterbrach Louis. Er fuhr herum und erstarrte. Selbst in dem schwachen Licht leuchtete die blaue Kutte des Ankömmlings. Einen Augenblick zu spät zuckte Louis Hand zu seinem Dolch. Der Blaugewandete warf sich auf ihn.
„Guy, er ist einer von uns!“
Verwundert hörte Louis, dass Ranulf seinen Angreifer kannte.
„Ein Templer?“ zweifelte der Mann in der blauen Kutte und musterte Louis. „Ja. Bruder Louis, aus unserer Komturei.“
„Aber ich habe ihn zusammen gesehen mit dieser Inquisitorenratte, die ich heute Nachmittag erwischt habe!“
Louis überkam eine böse Ahnung. Inquisitorenratte?!
„Trug der Mann, von dem du redest, eine schwarze Mönchskutte?“
„Da seht ihr es! Er weiß genau, wovon ich rede! Haltet ihn fest!“
„Nein!“ wehrte Louis ab. „Hört mir zu...“
 Jocelin erwachte. Noch undeutlich gewahrte er eine Bretterwand über sich. Langsam stützte er sich hoch. Es war hell, also noch Tag. Oder schon wieder? Wie viel Zeit war vergangen? Und wo war er? Die Decke des Raumes war so niedrig, dass er sich nicht völlig aufrichten konnte. Wie sie bestanden auch die Wände aus Holzbrettern. Nur der Teil, an dem er lehnte, war aus Stein. In einer Ecke lagerte Reisig. Nun, zumindest war das nicht der Kerker der Komturei, und wohl auch nicht das Gefängnis der Stadt. Jocelin griff an seine Seite. Das Schwert hatten sie ihm abgenommen, natürlich. Kurz zog er in Erwägung, dass es vielleicht gar nicht Häscher der Inquisition waren, die ihn überfallen hatten. Doch nein, gewöhnliche Räuber hätten sich nicht die Mühe gemacht, ihn einzusperren! Von draußen klang Wasserplätschern und das eigentümliche Knirschen nassen Holzes. Ah, ja, er war an einer Wassermühle gewesen. Auf den Knien rutschend untersuchte er Boden und Wände seines Gefängnisses. Die Bretter waren dicht und fest aneinandergefügt. Über der Mauer entdeckte er schließlich einen Ritz, der eine Luke verriet.
Er atmete tief ein, um die Schmerzen in seinem Kopf zu verdrängen und stemmte sich dagegen. Die Klappe bewegte sich nicht. Nach dem vierten Versuch gab er erschöpft auf. Es musste einen anderen Ausweg geben. ..
Plötzlich hörte er Schritte und ein schleifendes Geräusch. Eilig zog er sich in die Ecke hinter das Reisig zurück, bereit, sich auf den ersten, der sich näherte, zu stürzen.
Die Luke wurde aufgerissen. Ein Paar Beine streckten sich hinunter, dann erschien ein wohlbekannter blonder Haarschopf.
„Mein Gott, Louis! Sie haben auch Louis!“
Doch sein Ordensbruder stieg nicht hinab, sondern streckte ihm die Hand entgegen.
Kurz darauf machte er die Bekanntschaft der vier Ordensbrüder. Guy, der Landarbeiter in blauer Kutte, überreichte ihm sein Schwert.
„Ihr seid also der Bruder aus Provins! Ich hielt Euch für einen Spitzel der Inquisition, Sire!“ entschuldigte er sich mit einem schiefen Lächeln.
„Ein sicherer Platz ist hier nicht gerade für Euch“, meinte Ranulf und streifte Louis mit einem Blick. „Und für ihn noch viel weniger! Weshalb wagt ihr euch in diese Gefahr?“
„Wir sind hier, um unsere Brüder aus dem Kerker zu befreien. Wenn ihr uns helfen wollt...?“
Die Servienten sahen einander an.
Nach einer Weile schüttelte der Steinmetz heftig den Kopf.
„Ich mache nicht mit“, erklärte er. „Ich bin am Leben. Ich bin frei. Ich habe eine Arbeit, um nicht zu verhungern. Warum soll ich das alles aufs Spiel setzen?“
Louis erinnerte ihn beinahe zornig an die Leiden der gefangenen Ordensbrüder.
„Es sind nicht meine Brüder!“ Mit lauter Stimme und geballten Fäusten suchte der Steinmetz, die Scham über seine Furcht zu verbergen. „Ich habe für den Orden gearbeitet, und der Orden hat mich bezahlt! Ich schulde ihm nichts!“ Er drehte sich um und verließ die Brüder.
Louis wollte ihm nach, aber Jocelin hielt ihn zurück. „Lasst ihn gehen! Sein Gewissen wird ihn genug verfolgen und quälen.“
Die beiden Landarbeiter glaubten eine Gelegenheit gekommen, ihren Mut zu beweisen und erklärten ihre Gefolgschaft. Dann willigte auch Ranulf ein.
„Aber wie wollt ihr es anstellen, Sires? Der Graf lässt die Komturei doch streng bewachen!“
„Es ist weniger gefährlich, als ihr meint. Er hat einen Großteil seiner Männer auf die Landgüter mitgenommen.“ 

Bruder Pietro!“ Ein Servient rüttelte den Kaplan an der Schulter.
„Kommt schnell, es ist Bernard!“
Pietro di Bologna folgte ihm zu dem Ort, an dem das jüngste Mitglied der Pariser Komturei lag, der dreizehnjährige Bernard. Es war der hellste und trockenste Fleck des Verlieses.
Der Junge zitterte noch immer vor Kälte unter den Mänteln, mit denen die Gefangenen ihn zugedeckt hatten. Auf Anordnung Imberts waren seine Verletzungen verbunden worden. Doch die Wunden hatten sich bereits infiziert, und sein geschwächter Körper konnte nicht länger standhalten. Pietro di Bologna blickte in das blasse, schweißglänzende Gesicht und legte prüfend die Hand auf Bernards Stirn. Nein, es gab keine Hoffnung mehr. Der Junge spürte die Berührung und öffnete die Augen.
„Wir...sind...bald...in Jerusalem...nicht wahr?“ flüsterte er.
„Ja, das sind wir“, antwortete Pietro.
Trotz seiner Trauer fühlte er eine gewisse Erleichterung. Bernard wusste nicht mehr, dass er im Verlies lag. In einem sanften schönen Traum flog seine Seele dem Paradies entgegen. Dank sei Gott für diese letzte Gnade!
„Warum ist es so dunkel?“
„Es ist Nacht, mein kleiner Bruder. Aber bald wird die Sonne aufgehen. Dann kannst du Jerusalem sehen, die Grabeskirche mit dem goldenen Kreuz auf der Kuppel...“
Bernards Kopf war zur Seite gesunken.
„Er stirbt! Und ohne die Sakramente! Wie einen Hund werden sie ihn in ungeweihter Erde verscharren!“ sagte der Servient hinter Pietro bitter.
„Nein!“ Mit einem Mal wich die Trauer in Pietro di Bologna dem Zorn. Er stürzte auf die Tür zu und hämmerte mit den Fäusten dagegen. „Wir haben einen Sterbenden, lasst die
Sakramente bringen!“
Der gerade die Runde machende Wächter riss die Klappe vor dem Gitterfenster auf. „Einen Dreck tu‘ ich!“
„Er ist rekonziliarisiert! Er hat ein Recht, die Sakramente zu empfangen! Ein Recht, hörst du!“
„Ihr habt auf gar nichts ein Recht! Halts Maul, oder ich schneid‘ dir die Zunge raus!“
Die Klappe schlug wieder zu. Pietro di Bologna blieb stehen wie erstarrt, die Gitterstäbe umklammernd. Sein so unerschütterlicher Glaube an die Gerechtigkeit war zerbrochen. Er weinte.
Vor sich hinschimpfend setzte der Wächter seinen Weg fort. Er bemerkte den jungen Mönch im Schatten des Treppenaufgangs nicht. Doch der Gehilfe der Inquisition hatte den kurzen Wortwechsel gehört, und dass einem Sterbenden der Leib des Herrn verweigert werden sollte, bestürzte ihn. Das durfte nicht geschehen!
Ohne lang zu überlegen, lief der Mönch die Stufen hinauf, rannte durch die Galerie in Richtung der königlichen Gemächer. Ein paar Höflinge sahen ihm verwundert nach.
Atemlos erreichte er sein Ziel: die Kapelle. Er drückte gegen die Pforte. Gott sei Dank, sie war nicht verschlossen!
Ein Stoßgebet um die Vergebung seiner Ehrfurchtslosigkeit auf den Lippen öffnete er das goldene Tabernakel, nahm einige der geweihten Hostien heraus. Die kostbare Beute an sein Herz gepresst eilte er zurück in den Kerker.
„Brüder des Tempels?“ erklang ein leiser Ruf.
Pietro di Bologna hob den Kopf. Erstaunt blickte er in das junge Gesicht eines Dominikaners.
„Schnell, Bruder! Ich bringe Euch die Heilige Speise!“ flüsterte der Mönch und hielt ein weißes Bündelchen durch das Gitter.
Misstrauisch griff Pietro di Bologna danach. War das ein grausamer Spott der Inquisition?
Er schlug das Tuch auseinander. Sieben Hostien lagen darin.
„Mein Gott!“ sagte er, nach Worten suchend, die seine Dankbarkeit ausdrücken konnten. „Der Herr Christus möge es dir vergelten! Wer bist du?“
„Bruder Tancred.“
Entfernt waren die Stimmen des Wächters und des Kerkermeisters zu hören. Der junge Mönch drehte sich ängstlich um.
„Warte, Bruder Tancred!- Einer von uns, der Komtur Robert, ist vor Tagen zur Befragung geholt worden. Weißt du etwas von ihm? Ist er am Leben?“
„Ja...“
Die Stimmen kamen näher. Hastig floh der junge Mönch.
Pietro di Bologna widmete sich wieder Bernard, durchströmt von neuer Kraft. Nein, es war noch nicht alles verloren! Gerade wieder hatte Gott seine Barmherzigkeit erwiesen! Laut begann er das Credo zu sprechen. Nacheinander fielen anderen Gefangenen fielen ein.
„Amen!“ schloss ein vielstimmiger Chor.
Kaplan Pietro hob eine Hostie und zeichnete das Kreuz über Bernard. „Der Leib des Herrn erhalte deine Seele für das ewige Leben...“ Er legte das Heilige Brot in den Mund des Jungen. „Nimm auf, o Herr, deinen Diener am Ort der Hoffnung...Befreie, o Herr, die Seele deines Dieners...“
Plötzlich richtete sich Bernard auf. Seine Augen strahlten.
„Jerusalem!“ hauchte er. „Ich kann es sehen...“
König Philipp las den Brief des Papstes zum zweiten Mal, gegen seinen Verstand hoffend, dass er sich getäuscht hatte.
Aber da stand es, vom Clemens selbst geschrieben:
„Du, Philipp, hast die Hand auf die Personen und Güter der Templer gelegt, und, was der Gipfel unseres Schmerzes ist, du hälst sie noch immer gefangen, ja nach allem, was man hört, bist Du sogar noch weiter gegangen und hast dem Betrübnis des Kerkers noch ein anderes hinzugefügt...“
Selbst in diesen zurückhaltenden Zeilen war die Empörung des Papstes über die angewandte Folter zu spüren.
„...aus diesen Gründen, und weil Wir glauben, dass es Unser von Gott verliehenes Recht ist, fordern Wir die Überantwortung aller Brüder des Templerordens unter Unsere Gewalt und Unser Recht. Kraft Unserer apostolischen Autorität entheben Wir hiermit die Inquisitoren ihrer Befugnisse und untersagen ihnen, ohne die Zustimmung des Heiligen Stuhls in dieser Sache weiter tätig zu sein...“
Das Unfassbare war geschehen. Der kranke, ängstliche Papst Clemens bot ihm die Stirn! Philipp legte die Hände so fest um die Armlehnen seines Stuhls, dass die Knöchel weiß durch die Haut schimmerten. Er sah das Land der Templer vor sich, all die zahllosen Dörfer, Felder, Weiher, ihre ertragreichen Landgüter, ihre Festungen, und vor allem, ihr Gold. Das Unabdingbare, um seinen Reformen zum Erfolg zu verhelfen!
Sollte er das alles wieder verlieren? Das Volk war leicht zu beeindrucken und neigte sich, wie der Wind gerade blies. Clemens mochte eine traurige Figur abgeben, aber er war der Nachfolger des Heiligen Petrus, und das Volk war so fromm wie dumm.
Und wenn Clemens den Templern eine öffentliche Verteidigung gewährte, war es gut möglich, dass die Stimmung zugunsten der Ordensmänner umschlug. Philipp hatte schon einmal erfahren müssen, wozu ein aufgebrachter Pöbel fähig war... Er stand auf und rollte den Brief zusammen. Langsam gewann er seine gewohnte Ruhe zurück. Papst Clemens saß in Poitiers. Beschützt - oder bewacht, wie man es sehen wollte - von französischen Truppen...
Er wandte sich an den im angrenzenden Gemach wartenden Kammerdiener: „Lasst Guillaume de Nogaret holen!”
Nur eine halbe Stunde darauf verbeugte sich der Siegelbewahrer vor König Philipp.
Seine allerchristliche Majestät bedeutete ihm huldvoll, sich neben dem Thron niederzusetzen.
„Euch wird nicht entgangen sein, Messire, dass eine gewisse... Verwirrung herrscht über die Befugnisse eines Königs zur Verfolgung einer Häresie von einer Abscheulichkeit, wie die Templer sie begangen haben“, begann Philipp ohne umschweife. „Einer Häresie, die nicht nur unser christliches Volk gefährdet, sondern auch die Heilige Mutter Kirche untergräbt und heimtückisch nach ihrem Verderben trachtet.
In seiner Bosheit ist es dem Satan gelungen, das Herz vieler zu verdunkeln und gegen das Recht aufzuwiegeln, dass der allmächtige Gott mir, seinem Schwert auf Erden geschenkt hat.“
Philipp neigte den Kopf. Das Licht glänzte in seinen Locken wie ein Heiligenschein. „Ihr seid Jurist, Sire Guillaume. Ihr kennt die Winkelzüge des kirchlichen und des weltlichen Rechts wie kein anderer. Ihr werdet den Heiligen Vater überzeugen, dass der Orden der Templer kein Orden ist, sondern eine üble Sekte, und dass er somit nicht unter die Rechtshoheit der Kirche fällt... Dass ich in dieser Sacher nicht als Ankläger irgendeiner Partei, sondern als Verteidiger des Glaubens handle. Ich will... die Verteidigung der Gnade und Pflicht des Königtums. Ihr werdet sprechen über das geistliche Schwert des Papstes und das weltliche des Königs, über die Macht des Königs zur Verfolgung der Ketzer ohne Autorisation des Heiligen Stuhls- und gegen den Heiligen Stuhl, wenn jener selbst dem Irrglauben verfallen scheint!“
Scheu betrat Bruder Tancred die Zelle.
Mit erschreckender Macht drängte sich ihm das Bild des gekreuzigten Christus auf, als er den Gefangenen ansah. Die Arme ausgebreitet hing er in den Ketten. Das zerfetzte Gewand bedeckte kaum mehr die zerschundenen Glieder. Sein Kopf war vorn übergebeugt wie leblos.
„Bruder Robert?“ fragte Tancred und kam näher. Die Erinnerung an den stolzen Ritter, der vor einer Woche der Inquisition vorgeführt worden war, hinterließ ein Gefühl von Schande in ihm. Er war in den Orden der Dominikaner eingetreten, um die Irrgläubigen mit feurigen Predigten zu bekehren, nicht durch glühende Folterinstrumente!
Die Lider des Gefangenen hoben sich. Nur ein kurzes Aufleuchten seiner Augen verriet, das noch Leben und Verstand in dem gequälten Körper wohnten. Tancred setzte Robert einen Krug an die trockenen Lippen. „Trinkt! Es ist warme Milch mit Honig!“
Nur wenige Schluck gewährte ihm der Mönch, wie Guillaume Imbert es aufgetragen hatte. Dann löste er die Fesseln. Stöhnend sank Komtur Robert auf den Boden der Zelle. „Was...willst du?“ brachte er mühsam hervor.
„Ich bin hier um Euch zu pflegen, Bruder.“
„Wozu? Lasst mich... doch... sterben!“
„Der Papst hat die Inquisition suspendiert. Er wird eine eigene Kommission zur Untersuchung einsetzen.“
„Endlich... es ist spät... sehr spät...“ 

Jocelin und die Leute der Komturei von Etampes waren wieder an der alten Wassermühle zusammengekommen. Obwohl das Mahlwerk ratterte, wagte Louis nur leise zu erläutern, was er mit seinem Ordensbruder geplant hatte: „Es sind 22 Gefangene, 5 oben im Konventgebäude und die anderen im Verlies.“
Er tippte auf den in den Sand gezeichneten Grundriss der Komturei.
„Von der Kirche aus führt ein Gang bis in die Kerker, für den Priester, wisst ihr. Den werden wir benutzen. Die Söldner dürfen uns nicht verfolgen können. Deshalb nehmen wir ihre Pferde. Hier sind die Ställe. Es gibt zwei Eingänge, in Richtung des Haupttores; dort stehen zwei bis vier Wachen; und hinten zum Turnierplatz, wahrscheinlich unbewacht. Über das Konventsgebäude könnten wir ihn erreichen. Wir brauchen nun einen Mann, der die Pferde losbindet und ruhig hält, bis Bruder Jocelin und ich mit den Gefangenen kommen.“
„Ich kann recht gut mit Pferden umgehen. Ich werde es tun“, meldete sich einer der Arbeiter.
„Ich danke dir!”
In diesem Moment kam vor dem Tor ein Pferdewagen zum Stehen. Auf dem Kutschbock saß der andere der beiden Landarbeiter von Etampes und winkte. Ranulf sprang auf.
„Unser Weg in die Komturei!“ rief er und zeigte auf die Last des Wagens: drei Fässer. „Wir werden dem Herrn Grafen einen ganz besonderen Wein liefern!“ Er grinste spitzbübisch.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit war es dann soweit.
Drei bewaffnete Männer verschwanden in den Fässern: Jocelin, Ranulf und Louis, bekleidet mit seinem Ordensgewand. Sollte er sterben, hatte er erklärt, so als Templer, und nicht wie ein Abtrünniger im Bauernkittel.
Die beiden Landarbeiter nahmen auf dem Kutschbock Platz. Versehen mit genauen Befehlen fuhren sie los.
Die Wachposten am Burgtor starrten müde über die Spitzen ihrer Hellebarden. „Was wollt ihr denn noch?“ knurrte einer von ihnen den Ankömmlingen entgegen.
„Wir bringen den Wein für den ehrenwerten Herrn Grafen.”
„Davon weiß ich nichts!“
„Vom Landgut Saint Martin des Eaux.“
„So?“ Der Wächter ging um den Wagen herum, wohl mehr aus Gewohnheit denn aus Misstrauen.
„Warum kommt ihr nicht mit den Anderen?”
„Oh, Sire, dass weiß ich nicht! Der Herr Graf hat uns vorausgeschickt, wir sollen den Wein bringen!“
Der Wächter verdrehte die Augen, im Stillen die Beschränktheit der Bauern verfluchend, und winkte den Wagen durch das Tor.
Im Hof der Komturei flatterte das Lilienbanner über den Zelten der königlichen Söldner. Die Männer saßen am Feuer, scherzten und beachteten den Wagen kaum, der vorbeifuhr. Guy ließ unauffällig den Blick schweifen, suchte sich an der Beschreibung Bruder Louis‘ zu orientieren. Dort war die Kirche... das Refektorium... der Küchenkamin... das Konventsgebäude... Er war nur ein, zweimal hier gewesen seit seinem Ordenseintritt.
„He, wo wollt ihr hin?“
Die Landarbeiter erschraken. Hinter ihnen stand ein Waffenknecht des Grafen.
„Zum Weinkeller“, antwortete Guy, am ganzen Körper zitternd.
„Dann müsst ihr da hinunter!“
„Ah? Danke, Sire, vielen Dank!“
Guy deutete eine Verbeugung an und lenkte das Zugpferd in die andere Richtung. Kaum war der Bewaffnete verschwunden, zog er die Zügel wieder an. Unterdessen war die Sonne untergegangen, die Umrisse der Mauer begannen in der Dämmerung zu verschwimmen.
Der zweite Landarbeiter stieg vom Kutschbock, spähte um die Ecke und nickte dann. Guy klopfte auf den Deckel des ihm zunächst stehenden Fasses. Während sein Kamerad die Umgebung im Auge behielt, kletterten Jocelin, Louis und Ranulf aus ihrem Versteck. Der Ingenieur brachte sich geduckt unter die hölzerne Galerie in Sicherheit. Jocelin schlich mit gezogenem Schwert die Mauer der Kirche entlang. Louis wartete, bis die Landarbeiter die Fässer abgeladen hatten. Wenig später fuhr ein fröhlich pfeifender Bauer mit einem leeren Wagen aus der Komturei. Gerade noch vor Schließung der Tore kam er aus der Stadt, um seinen Platz am Hang unter der Burg einzunehmen.
Die Pforte zur Kirche war unbewacht. Jocelin stieß die Tür auf und glitt ins Innere. Auch hier war niemand. Düster und kahl erstreckte sich das Kirchenschiff. Die Banner und Waffen, die einst die Wände geschmückt hatten, waren verschwunden, ebenso die goldenen Leuchter, die Altardecken, das Prozessionskreuz. Eine einzige halbabgebrannte Kerze warf ihr erbärmliches Licht auf die steinerne Nacktheit. Gleich hinter dem Gurtbogen zum Chorraum, gegenüber der Sakristei, öffnete sich der von Bruder Louis beschriebene Gang.
Jocelin ergriff die Kerze und trat ein.
Der Gang führte über mehrere Windungen und Treppen nach unten. Das andere Ende versperrte eine mit Eisenbändern beschlagene Holztür. Der Ordensbruder horchte. Dann zog er langsam die Riegel zurück, öffnete die Tür einen winzigen Spalt. Weiter, ganz vorsichtig... Noch ein Stück... Mit einem weiteren Schritt stand er im Verlies. Aus dem Wachraum streckte sich ein Bein in den Gang. Daneben lehnte ein Schwert an der Wand. Angespannt setzte Jocelin Fuß vor Fuß. Der Wachposten mit dem gräflichen Wappen auf der Brust saß am Tisch, einen Würfelbecher vor sich. Sein Kamerad war wohl eben nach draußen gegangen… Arglos gähnte der Posten.
Jocelin schnellte nach vorn und schlug ihn nieder. Hastig fädelte er die Schlüssel von dessen Gürtel, als er den zweiten Wächter kommen hörte. Er duckte sich im Schatten des Türbogens.
Die Schritte verhielten - der Posten hatte seinen Kameraden entdeckt - wurden wieder rascher. Jetzt erreichte er den Bogen. Jocelin sprang aus der Deckung. Ein Hieb mit dem Schwertknauf ließ auch den zweiten Wachposten niederfallen. Der Ordensbruder rannte zu der niedrigen Pforte, die in den Kerker führte. Eine ihm ewig scheinende Zeit brauchte er, um sie aufzusperren.
Aus dem Dunkel klang ihm eine erschrockene Stimme entgegen und er antwortete gedämpft: „Ruhig! Keine Angst! Ich bin hier, um euch zu befreien!“
Er zog eine Fackel aus der Halterung und leuchtete in den Kerker. Der Zustand der Gefangenen erschreckte ihn.
„Wie viele seid ihr?“
„Dreizehn.“
„In Ketten?“
„Einige. - Wer ist da?“
„Bruder Jocelin aus Provins.“ Er bückte sich und schloss dem ersten Gefangenen die Fesseln auf.
„Wartet, ich helfe Euch!“ bot ein Bruder im grauen Gewand des Servienten an und griff nach den Schlüsseln.
In diesem Moment klang eine vertraute Stimme durch das Gewölbe. „Jocelin? Jocelin, bist du es?”
Diese Stimme! Bei allen Heiligen, es war die Stimme von - Wie erstarrt blickte Jocelin auf die hohe Gestalt des Mannes, der an der Wand aufgerichtet hatte. Der Mann war einäugig, und auch das verbliebene Auge schien blind. Eine breite Narbe zog sich schräg über die Wange bis zur Schläfe. Jocelin hatte nur einmal eine solche Verletzung gesehen. Damals in den letzten Stunden des Kampfes um Akkon, als die Sarazenen die Mauern überwanden und einer von ihnen seinen Säbel in das Gesicht eines Ordensbruders schlug!
„Arnaud?” fragte er fast tonlos und ging auf den Gefangenen zu. „Arnaud!”
Als wolle er prüfen, ob er ein Traumbild vor sich habe, drückte er seinen alten Pflegevater an sich.
„Arnaud, wie kommt Ihr hierher? Ich glaubte, Ihr seid auf Zypern!”
„Ich bin erst dieses Jahr mit Meister Jacques gekommen.” Der alte Templer streckte die Hand aus und berührte das Gesicht des Jüngeren. Jocelin… Er hatte nicht geglaubt, ihm je wieder zu begegnen… War das ein gutes Zeichen in dieser Stunde der Not?
Da erst bemerkte Jocelin die blutige Tunika seines Ordensbruders. „Ihr seid verletzt!”
„Ah, es ist nicht so schlimm. Der Heiligen Jungfrau sei Dank, die Folterknechte wussten nicht, dass ich der Adjutant des Meisters bin.”
Der Servient griff Jocelins Arm. „Messire, es sind alle frei.”
Er nickte und wandte sich um. Sie mussten sich beeilen.
„Folgt mir, so leise wie möglich! Stützt euch gegenseitig, damit niemand stolpert!“
Sie erreichten ungehindert den Kirchenraum, von da aus über die Treppe das Dormitorium. Im Kapitelsaal trafen sie Louis. Erstauntes Raunen kam auf, als die Brüder ihn erkannten.
Er hatte nur zwei Männer bei sich. Sein linker Ärmel war zerfetzt, und an seinem Schwert klebte Blut.
„Abtrünnige“, murmelte er. „Alle drei! Sie wollten die Söldner alarmieren! Ich musste sie töten!“ Das Entsetzen über die eigene Tat klang noch in seiner Stimme nach. Jocelin biss die Zähne zusammen. „Gott sei uns gnädig! Schnell jetzt!“
Unter Louis‘ Führung durchquerten die Flüchtlinge den Kreuzgang, unbemerkt von den Wachen auf dem Wehrgang. In den Stallungen war es still. Fast zu still. Ob Guy etwas geschehen war? Doch dann würde im Lager der Söldner größere Unruhe herrschen…
Er schlüpfte durch die Tür, sah sich um. Unvermutet sagte eine Stimme neben ihm: „Sire?“ Lautlos hatte Guy sich an seine Seite geschlichen.
„Sind die Pferde bereit?“ fragte Louis und presste die Hand auf sein vor Schreck wie wild schlagendes Herz.
„Ja.“
„Dann los!“
 Mit einem letzten Blick überzeugte sich Jocelin, dass jeder leidlich auf einem Pferd saß. Dann gab er das Zeichen. Aufgescheucht preschten den Flüchtlingen auch die restlichen Pferde des Stalles hinterher. Im nächsten Augenblick pfiffen die ersten Pfeile vom Wehrgang und ein Wächter blies das Signalhorn. Einige Bewaffnete ergriffen die Flucht vor den Hufen der Pferde, hektische Befehle schreiend.
Doch die ersten Templer waren durch das Tor in der Nacht verschwunden. Jocelin blieb an der Seite des Tores zurück, bereit, sich den heraneilenden gräflichen Männern entgegenzustellen. Erneut spannten die Schützen auf den Mauern ihre Armbrüste. Ein halbes Dutzend Pfeile fuhren neben Jocelin in den Boden. Doch sie galten nicht ihm. Das Opfer hätte Ranulf sein sollen, der gerade von der Treppe des Wehrgangs gesprungen war. Der Ordensritter kam ihm zu Hilfe und griff ihn im vollen Galopp auf.
„Das Tor!“ keuchte der Ingenieur, sich an Jocelin festklammernd. „Das Tor! Beeilt Euch, Sire!“
Erst jetzt erkannte Jocelin, dass das Fallgatter bereits halb heruntergelassen war. Im letzten Moment entkamen sie. Hinter ihnen bohrten sich die eisernen Spitzen in die Erde.
Esquieu de Floyran lag halbnackt auf den Samtkissen, den Kopf an der Schulter einer üppigen Hure.
„Ihr seid so dunkel“, sagte sie und rieb verwundert über seine Haut.
„Den Weibern, die ich bisher hatte, gefiel es“, gab Floyran zurück. „Schwarz wie der Teufel, he!“ Er lachte und die Frau zuckte zusammen.
„Hast du Angst vor mir? Mein Vater sagte immer, meine Mutter sei eine Teufelin gewesen, eine schwarze sarazenische Hexe...”
„Seid Ihr ein Heide?”
„Ich? Ich glaube an gar nichts! Außer an mich selbst! Und ich muss sagen, dieser Glaube hat mich bisher weiter gebracht…“ Er packte sie, drückte ihren weichen, weißen Körper in die Kissen. „….als alles Gelaber der Priester…“
In diesem Moment klopfte es an der Tür.
„Sire Esquieu, der königliche Siegelbewahrer Sire Guillaume ist hier!“
„Ich komme!“ Floyran fluchte, stand auf, zog eine Tunika über und ergriff den Waffengurt.
Nogaret erwartete ihn im holzgetäfelten Saal des Hauses.
„Ich freue mich, Euch auf meinem eigenen Besitz begrüßen zu dürfen!“
„Nun, Ihr habt Euch erheblich verbessert, wenn man dieses Haus mit den Kerkermauern vergleicht, in denen Ihr mich zum ersten Mal empfingt!“
“Wenn Ihr damit andeuten wollt, ich sollte zufrieden sein - ich bin es nicht. Ihr wisst, was ich will!“
„Eines von den Templergütern.“
Floyran nickte lächelnd und hob eine Weinkaraffe. „Unter anderem…“
Als Nogaret ablehnte, füllte er den eigenen Becher.
„Ihr habt doch gehört, dass der Papst die Güter des Templerordens beschlagnahmt hat, bis ein endgültiges Urteil gefällt sein wird.“
„Und was unternimmt Seine Allerchristlichste Majestät? Er ist auf der Jagd!“
„Der König schickt eine Gesandtschaft zu Clemens um zu verhandeln. Mehr darf ich Euch darüber nicht sagen.”
„Ach! Verhandlungen!” Esquieu de Floyran leerte seinen Becher auf einen Zug. „Was ist, wenn der Papst den Orden nicht verurteilt? Was wollt Ihr dann tun?“
„Belastet Euch nicht mit diesen Sorgen!“
„Gut, gut!“ rief Esquieu ungehalten. ”Aber vergesst nicht, ab und zu ein Wörtchen für mich einzulegen. Ich bin kein sehr geduldiger Mann! Sonst werde ich ausplaudern, was ICH über EUCH weiß!”
Guillaume de Nogaret beugte sich vor. “Ihr solltet mir dankbar sein.” sagte er in eindringlichem Ton. “Ich bin mitten in der Nacht aufgebrochen, um Euch zu warnen!”
„Zu warnen? Wovor?”
„In der vergangenen Nacht sind die Gefangenen der Komturei von Etampes entflohen...“
„Was?! Bei dieser Bewachung? Dann muss ihnen einer von den Söldnern geholfen haben!“
„Nein. Es waren Templer. Niemand weiß, wie sie in die Burg gekommen sind.“
„Aber das ist doch ganz unmöglich!“
„Man hat sie ganz deutlich gesehen, Sire Esquieu. Es waren Templer. Einer von ihnen in voller Rüstung.”
Floyran fuhr sich beunruhigt durch das Haar. Er mochte es ganz und gar nicht, von einer Horde unsichtbarer Feinde umgeben zu sein. „Sie werden nicht weit kommen, denke ich doch!“
„Bisher hat man sie noch nicht! Wer auch immer ihr Anführer ist, er ist kein Dummkopf! Sie haben Pferde, vielleicht auch Waffen, und nichts zu verlieren. Versteht Ihr? So gut wie überall weiß man, dass Ihr den Orden denunziert habt. Ich rate Euch, legt Euch eine kleine Leibgarde zu!“
Der königliche Siegelbewahrer wandte sich zur Tür.
„Ich muss gehen. Lebt wohl, Sire Esquieu, und beherzigt meinen Rat!“ Er hoffte inständig, dass der andere dies tat – weniger, weil ihm an dessen Leben etwas gelegen war, im Gegenteil, sondern weil er nicht riskieren wollte, dass die Templer ihren Denunzianten in die Finger bekamen und er dann vielleicht ein Wörtchen zu viel erzählte… Wovon auch immer. Floyran hatte sich schließlich als sehr erfinderisch im Lügen und Verdrehen von Wahrheiten erwiesen...
König Philipp richtete sich im Sattel auf und blickte dem über die Lichtung springenden Hirsch nach. Die Hundemeute neben ihm zerrte an den Leinen. Aus dem Gehölz klang das Signal der Jagdgehilfen, die das Wild in die gewünschte Richtung trieben. Philipp gab dem Hundeführer ein Zeichen. Laut bellend stürzte die Meute los. Der König ergriff den Speer, den ihm sein Knappe entgegenhielt und schlug seinem Pferd die Sporen in die Seite. Im Galopp verschwand er hinter den Hunden im Dickicht. Philipp liebte die Jagd, die kalte Luft auf der Haut, das Gebell der Hunde, den Herbstwald in seinen bunten Farben.
Dies lenkte ihn von dem beunruhigenden Fakt ab, dass Meister Jacques de Molay und fast alle anderen Befragten ihre Geständnisse widerrufen hatten, sobald die Entscheidung des Papstes zu ihnen gedrungen war. Dass die Gefangenen aus Etampes befreit worden waren...
Finanzminister Enguerrand de Marigny, der wie die meisten Mitglieder des Kronrates den König begleitete, zeigte nur mäßiges Interesse am Geschehen. Ihn beschäftigten eigene Probleme. Seit der Suspendierung der Inquisition war die Stellung des Erzbischofs von Sens wieder unangefochten. Es war sogar wahrscheinlich, dass der Papst ihn zum Leiter seiner Untersuchungskommission machte. Zu allem Überfluss hatte auch noch ein Bürger der Stadt Cambrai beim Heiligen Stuhl Klage gegen ihren Bischof eingereicht. Alles in allem sah es recht ungünstig für die Karriere von Marignys kleinem Bruder aus. Lustlos ritt Sire Enguerrand der Jagdgesellschaft nach. Einmal mehr beneidete er den Siegelbewahrer Nogaret, der wegen wichtiger Geschäfte in Paris verblieben war.
In der Ferne verkündete Hundegebell, dass das Wild gestellt war. In einem letzten verzweifelten Versuch zu entkommen, wollte der Hirsch über ein Bachbett setzen. Aber noch im Sprung durchbohrte der Speer des Königs sein Herz.
„Ein Meisterwurf, Majestät!“ lobte eine Stimme hinter ihm. Philipp drehte sich um und erblickte eine Reiterin in dunkler Witwentracht. Unter der schwarzen Haube schimmerte das Oval ihres Gesichtes fast weiß.
„Gräfin Ghislaine de Montfort!“
Philipp ritt ihr entgegen und machte eine elegante Verbeugung. „Seid gegrüßt, Madame!“
Ein flüchtiges Lächeln, dann kehrte die ernste Miene zurück. Ghislaine de Montfort hatte in ihrem Leben noch nicht viele Sonnentage gesehen. Mit knapp vierzehn Jahren hatte man sie dem Grafen von Montfort vermählt. Zwei der Kinder, die sie von ihm empfing, starben noch bevor sie laufen lernten, und im Krieg um Flandern hatte sie ihren Gemahl verloren. Geblieben war ihr ein frecher Sohn, der sich mit den Leibeigenen prügelte.
„Ich bin ebenfalls auf der Jagd“, antwortete Gräfin Ghislaine auf die Frage des Königs. „Meine Begleiter trafen Eure Jagdknechte, und ich hoffte, wir könnten uns Euch anschließen. Doch wie ich sehe ist es zu spät.“
„Nun, wenn Ihr es wünscht, Madame, können wir morgen noch eine kleine Hatz veranstalten.“
„Ich halte Euch ungern von den Staatsgeschäften ab, Majestät!
Philipp dachte an Nogaret, der die Gesandtschaft an den Papst vorbereitete. Nein, es gab keine dringenden Geschäfte. Vorerst jedenfalls nicht. Seine einzige Waffe war die Zeit, und die galt es mit Geduld zu handhaben...
„Ich werde meinen Jägern befehlen, dass sie morgen bei Sonnenaufgang bereit sein sollen“, entschied Philipp und hob das Horn, um zum Sammeln zu blasen. Gräfin Ghislaine betrachtete ihn verstohlen. Noch immer besaß er die gleiche ausgesuchte Höflichkeit und Eleganz wie in seiner Jugendzeit, aber von einer Art, die eher Distanzen schuf, als sie zu überbrücken. Noch immer hatte sie das Gefühl, dass dies nur ein Teil seines Wesens war, der Teil, der sich in seine Rolle als König makellos einfügte. Niemals in ihrer Zeit am Hof hatte Ghislaine de Montfort Philipp lachend, weinend oder auch nur zornig gesehen. 

Jocelin trat unter den aus Zweigen und Erde aufgerichteten Schirm zu seinem Pflegevater. Erst bei Tagesanbruch hatte Jocelin die Verletzungen Arnauds und der anderen gesehen. Er hatte sie mit Salz aus einer Tierlecke ausgewaschen und notdürftig verbunden. Unglücklicherweise war kein Heilkundiger unter den Geretteten.
Auf die Frage, wie es ihm ginge, lächelte Arnaud und umschloss Jocelins Hand.
„Ich bin glücklich, dass du am Leben und unversehrt bist. Ich wusste dich in einer französischen Komturei, und die ganze Zeit habe ich dich in den Händen der Folterknechte gesehen.  Das war meine größte Qual. Aber nun...”
„Ich habe die Verlesung der Anklage gehört, ” erinnerte sich Jocelin an jenen furchtbaren Tag. “Wer kann uns solcher Verbrechen beschuldigt haben, Arnaud?”
„Auch uns haben sie die Anklage vorgelesen. Aber wer uns angeklagt hat, das weiß ich nicht. Niemand hat einen Namen genannt. - Das ist kein rechtmäßiger Prozess.”
„Aber warum hat Papst Clemens noch keinen Einspruch erhoben?”
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Arnaud und seufzte leise. „Angeblich hat er die Inquisition suspendiert.”
„Suspendiert?! Bei Gott, wenn das wahr ist, können wir mit Meister Jacques Kontakt aufnehmen!”
Arnaud schüttelte den Kopf und lehnte sich erschöpft zurück. „Nein. Selbst wenn es wahr ist - wir wissen zu wenig, um irgendetwas zu unternehmen.”
„Das heißt, wir werden nur warten?”
„Noch. Ja.”
Einer der Verwundeten stöhnte. Jocelin sah, wie Louis sich um ihn bemühte. Dann kam der junge Ordensbruder zu ihm.
„Wir brauchen eine feste Unterkunft, ein Versteck. Wenn der Schnee kommt, sind wir verloren!”
Jocelin nickte. „Kennt Ihr etwas Geeignetes?“
„Es gibt eine alte Kirchenruine in der Nähe...“
„Die, an der wir auf dem Weg nach Etampes vorbeigekommen sind? Das ist zu nah an der Straße. Dort werden die Söldner als erstes suchen.“
„Es ist der einzige Ort, den ich kenne.“
„Ist einer von den anderen aus der Gegend?“
Louis überlegte. „Keiner von den Rittern, nein. Aber vielleicht ein Servient?“ Er wandte sich an die Runde um das Feuer.
Zwei Schmiedeknechte und der Landarbeiter Guy waren aus der Nähe von Etampes gebürtig. Doch auch sie wussten nur von der Kirchenruine.
Plötzlich aber fiel Guy etwas ein, und er hielt Bruder Louis zurück. „Es gibt eine Höhle. Ich habe sie als Kind entdeckt. Ich glaub‘, ich kann sie wieder finden.“
„Eine Höhle?“ fragte Louis mit leichtem Unbehagen in der Stimme. Unterirdische Gefilde hatten für ihn stets eine dämonische Ausstrahlung. Ihn fröstelte, als er Jocelin sagen hörte: „Wir brechen sofort auf!“
Guy führte die Brüder an einem Bach entlang noch tiefer in den Wald. Anfangs war er sich nicht ganz sicher. Erst als zwischen den Bäumen große Felsblöcke auftauchten, wusste er, dass er sich nicht verirrt hatte. Von draußen unsichtbar bildeten die Felsen eine Schlucht, gerade breit genug für einen Reiter. Nach einigen Metern weitete sie sich zu einem Kessel. Über den Rand hingen Wurzeln und lange Efeuranken, die im Wind schaukelten. Unter dem Gestrüpp gähnte eine Öffnung im Felsen. Mit einem langen brennenden Ast und einem Reisigbündel ging der Landarbeiter in die Dunkelheit voraus. Jocelin bekreuzigte sich und zwang sein scheuendes Pferd hinterher. Die Höhle wirkte anfangs niedrig, fast bedrückend, doch dann hob sich der Fels zum Gewölbe einer gewaltigen natürlichen Kathedrale.
Die Nachkommenden brachen in Rufe des Erstaunens aus. Guy entzündete das Reisig, und bald brannte ein großes Feuer. Man entschied, die Pferde draußen im Kessel zu lassen, bis im Vorderbereich der Höhle Pflöcke angebracht waren.
Die meisten Ordensbrüder waren eingeschlafen.
Jocelins Blick wanderte über die Schlafenden. Unwillkürlich musste er an die Säle voller Verwundeter in Akkon und später auf Zypern denken, damals, nach den letzten Gefechten um das Heilige Land. An jenen Tagen hatte er Schmerz und Trauer um die vielen seiner Kameraden empfunden. Jetzt fühlte er eher das Verlangen, Gott für ihren Tod zu preisen. Sie waren als Ritter Christi in der Schlacht gegen die Ungläubigen gestorben, nicht als verfemte Ketzer unter den Folterknechten eines christlichen Königs. Wieder drängte sich ihm die quälende Frage nach dem Warum auf. Warum hatte man sie angeklagt?
Was für abscheuliche Vorwürfe! Christus zu verleugnen, auf das Kreuz zu spucken! Wer konnte sich so etwas ausdenken? Doch nur jemand, der selber von Dämonen besessen war! Er erinnerte sich an seine eigene Ordensaufnahme, vor zehn Jahren auf Zypern, und wie er sich auf diesen Tag vorbereitet hatte, wie er ihn herbeigesehnt hatte!
Unauslöschlich hatte sich dieser Moment in seine Erinnerung gebrannt. Er sah vor sich, als sei alles erst gestern geschehen, wie die Morgensonne durch die Fensterrose der Templerkirche von Nicosia strahlte, sich im Gold des Altarkreuzes und den Rüstungen der Ordensbrüder brach, die sich im Chor versammelt hatten. Auf ihren Mänteln leuchtete blutrot das Kreuz, das an den Tod Christi gemahnte. Jocelin entsann sich seiner Aufregung, als er in die Kapelle geführt wurde, und wie krächzend seine Stimme klang, als er um Aufnahme in die Gemeinschaft bat.
„Wisset, Sire Jocelin, dass Ihr alle Tage Eures Lebens der Sklave des Ordens sein werdet, dass Ihr niemals tun werdet, was Ihr wollt, sondern das, was man Euch befiehlt. Seid Ihr bereit, diese Härten zu ertragen?” hatte Meister Jacques ihn gefragt, und „Ja, mit Gottes Hilfe” war seine Antwort gewesen.
Seine Hand hatte auf einem aufgeschlagenen Evangeliar geruht, und noch heute erinnerte er sich an die Miniatur auf der Seite, die die Kreuztragung Christi zeigte.
„Seid Ihr frei und ledig von allen weltlichen Verpflichtungen? … Seid Ihr gesund an Leib und Seele? … Seid Ihr frei von allen kirchlichen Bußen und Strafen?” Und endlich, die letzte Frage: „Seid Ihr der Sohn eines Ritters aus ritterlichem Geschlecht, geboren aus rechtmäßiger Ehe?”
„Ja, das bin ich“, hatte er damals geantwortet, denn so wenigstens hatte Bruder Arnaud es ihm gesagt. Wer seine tatsächlichen Eltern waren, hatte ihn niemals interessiert. So weit er zurückdenken konnte, war ein Ordenshaus seine Heimat gewesen…
Aber jetzt war er ausgestoßen worden. Nicht durch irgendeine eigene Verfehlung, nein, durch die Verleumdungen eines Unbekannten, durch ein perfides Netz aus Lügen!
Plötzlich hatte Jocelin das Bedürfnis nach frischer Luft. Er ging hinaus und setzte sich vor der Höhle nieder. Weit, weit über ihm schimmerten die Sterne durch die Baumwipfel.  So friedlich und gleichmäßig, als sei alles Übel der Welt nur ein böser Alptraum; als könne der neue Tag anbrechen, und alles würde vergessen sein. Jocelin schloss die Augen. Er war müde, aber der Schlaf floh ihn. Was sollte weiter geschehen? Sie brauchten Essen, Decken, Medizin für die Kranken. Wie erging es seinen Brüdern in Provins? Voller Verzweiflung überlegte er, wie er auch sie befreien könnte, und musste doch einsehen, dass es unmöglich war mit den wenigen kampffähigen Brüdern und ohne Waffen. Es blieb ihm nur, für sie zu beten….
König Philipp hatte aus der Beute der zwei Jagden ein üppiges Festmahl im Temple bereiten lassen. Noch bevor es Gräfin Ghislaine und den übrigen Gästen jedoch gestattet wurde, sich daran zu erfreuen, lud Seine Majestät sie zu einer Predigt Guillaume Imberts. Er tat dies weniger aus Frömmigkeit denn aus Berechnung. Ein solches Fest war ein guter Anlass, sein Handeln in der Templerangelegenheit nochmals zu rechtfertigen, heimliche oder offene Verteidiger des Ordens zu warnen.
Der Oberste Inquisitor begann vom Sündenfall der ersten Menschen zu sprechen, und der daraus folgenden Anfälligkeit für die Verführungen des Bösen, in der Geschichte Israels.
„...Doch ein Teil der Israeliten wurde seinem Gott untreu, dem Gott, der sie aus der Gefangenschaft herausgeführt hatte! Während Mose auf dem Berg die Tafeln mit dem heiligen Gesetz erhielt, machten sich verdorbene und verfluchte Söhne seines Volkes daran, ein Götzenbild zu fertigen. Sie verließen den lebendigen und lebenspenden Gott für das elende Werk ihrer eigenen Hände, ein goldenes Kalb! Doch heißt es nicht ‚Jene, die die Götzen geschaffen haben, sollen ihnen ähnlich werden, und alle, die auf sie vertrauen‘? Ihre Ohren werden taub sein, und ihre Augen blind, und sie werden nicht gehen, es sei denn den Weg der Verdammnis! Und Mose, der das Volk geführt hatte wie ein gerechter König vor dem Herrn, bestrafte diese Söhne des Unglaubens!“
Die Gebildeten unter den Gästen verstanden die feine Andeutung. Moses, das weltliche Oberhaupt der Israeliten, nicht etwa Aaron, das geistliche, hatte die Strafe angeordnet und ausführen lassen. So wie auch König Philipp mit Recht ohne den Papst tätig geworden war.
„So versammelte Mose die Leviten und sagte ‚Der Herr befiehlt euch, nehmt euer Schwert und geht durch das ganze Lager! Tötet alle, die schuldig geworden sind, selbst eure Brüder und Freunde!“
Imbert fuhr mit der Vernichtung der Städte Sodom und Gomorrha fort.
„Es steht nicht geschrieben, dass alle Einwohner Sodoms diese Unzucht begingen, und dennoch ließ Gott Pech und Schwefel auf die ganze Stadt regnen. Warum? Weil jene, die nicht schuldig waren durch die Tat, dennoch schuldig wurden durch die Duldung der Tat. Sie duldeten die Sünde der anderen, anstatt sich von der Unflat zu reinigen! ‚Seid rein und heilig wie es euer Vater im Himmel ist!‘ mahnt der Apostel.“
Zu diesem Zeitpunkt bemerkte Ghislaine de Montfort, dass ein Mann sie aufdringlich musterte. Er war schlank und hatte ein dunkles Raubvogelgesicht. Sie ließ ihren Witwenschleier über das Gesicht fallen.
Inquisitor Imbert hatte mit einer flammenden Schilderung des Jüngsten Gerichts begonnen. Jetzt holte er zu einer letzten Ermahnung aus: „Unsere Kirche soll gereinigt werden von dem Geschwür der Ketzerei, damit dieser heilige Leib des Herrn nicht von uns aufs Neue gequält wird wie bei seiner Passion! Das mag schmerzen, doch es ist notwendig! Unser Erlöser, der Herr Christus selbst, ruft uns zu ‚Es ist besser, du verlierst ein Glied, als das dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird!‘ Hüten wir uns also vor falscher Rücksicht und Mitleid mit jenen, die Gottes Gebote gebrochen und der Kirche Schmach angetan haben! Hüten wir uns, damit wir am Tage des Gerichts sagen können ‚ In den Zelten der Frevler habe ich nicht gewohnt, und an den Tischen der Sünder nicht gesessen!
- Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.“
Der Festsaal erinnerte kaum mehr an das Refektorium der Ordensbrüder, das er einst gewesen war. Die Wände waren mit prächtigen Tapisserien behangen. Schalen mit Duftessenzen standen vor den Tischen, und hunderte Kerzen warfen ihr Licht auf die Gäste. Gräfin Ghislaine war die hohe Ehre zuteil geworden, an der königlichen Tafel Platz zu nehmen. Neben ihr saß der Thronfolger, der achtzehnjährige Louis. Seine beiden jüngeren Brüder, der ruhig und würdevoll wirkende Philipp und der engelsgesichtige Charles saßen an der anderen Seite des Königs, gemeinsam mit ihrer Schwester Isabelle.
Während die Speisen aufgetragen wurden, wandte sich Ghislaine zu König Philipp. „Sire, glaubt Ihr an die Schuld der Templer?“
„Die Geständnisse erweisen ihre Schuld, Madame.“
Eine Antwort wie diese hatte sie erwartet. Nichts sagend, ausweichend. „Ich hörte, dass die Folter angewandt wird?“
„Der Teufel hält seine Opfer fest in den Klauen. So ist eine gewisse Gewalt nötig, sie ihm auch wieder zu entreißen. Aber Ihr solltet Euch wirklich nicht mit solchen Fragen belasten.“
Ghislaine erwiderte nichts. Ihr Großvater hatte von Templern auf dem Kreuzzug berichtet, und dabei nichts von den abscheulichen Praktiken gesehen, deren sie nun beschuldigt wurden. Allerdings… Es mochte sein, dass das Böse sich erst in den letzten Jahrzehnten eingeschlichen hatte… Wer war sie, das zu beurteilen? Nachdenklich ließ sie die Augen durch den Saal wandern - und kreuzte erneut den glühenden Blick jenes dunkelhäutigen Mannes. Er lächelte ihr zu.
„Wer ist das dort, an der Seite des Siegelbewahrers?“ fragte Ghislaine einen Pagen.
„Sire Esquieu de Floyran, Madame, kennt Ihr ihn denn nicht?“
„Was soll das heißen?“
„Eh...jeder sonst weiß Bescheid über ihn. Er ist es, der die Templer angezeigt hat.“
Nun war es Ghislaine, die Floyran ansah. Der Mann, der sich gerade an einer Pastete gütlich tat, wirkte nicht wie ein frommer Eiferer für die Reinheit der Kirche.
Plötzlich stieg Ekel in ihr auf. Esquieu de Floyran, das üppige Mahl, die Spielleute, alles war ihr zuwider. Sie erhob sich so rasch, dass König Philipp sich ihr zuwandte. „Madame Ghislaine?“
„Ich bitte um Vergebung, Majestät. Mir ist übel“, erklärte sie kurz und war bereits aus der Tür. Eine schmale Treppe führte Ghislaine in den Kreuzgang. Die hohen Mauern und die schmucklosen Spitzbogenarkaden atmeten militärische Strenge. Die Klarheit der Formen wirkte beruhigend und befreiend.
Ghislaine setzte sich und schloss die Augen. Sollten die Männer, die hier gelebt und gebetet hatten, wirklich Feinde Christi sein? Wie konnte König Philipp einem Mann wie diesem Floyran Glauben schenken? Oder tat er das gar nicht? Waren es seine Berater, Nogaret voran, die entschieden hatten? Aber Seine Majestät war kein Mann, der sich von anderen lenken ließ... 

Der Tag hatte soeben erst begonnen. Noch bauschten sich dicke Nebelschwaden im Tal. Sie waren zu zehnt. An ihrer Spitze Jocelin und Ranulf, dann Briand und Raimond von den Geretteten aus Etampes und sechs Servienten. Hinter einer Wegbiegung, eingebettet in sanfte Hügel, tauchte das königliche Landgut von Beaudelu auf. Hier wurden die Abgaben und Steuern des Umlandes gesammelt und verzeichnet. Ein großer Reichtum für eine kleine Schar hungriger Flüchtlinge. Der Plan der Ordensbrüder war waghalsig und hing im Wesentlichen von der Neugier und dem Misstrauen der auf Beaudelu stationierten königlichen Söldner und Beamten ab. Der Hauptteil der kleinen Gruppe sollte mit einem Scheinangriff die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, während Jocelin, Briand, Raimond und Guy über die Mauer kletterten. Sie sollten von innen das Tor öffnen und sich Zugang zu den Speichern beschaffen. Ranulf hatte einen Katapult gezimmert. Der Ingenieur trug das zierlich wirkende Gerät vor sich auf dem Pferd.
Im Schutz einer Brombeerhecke befahl Jocelin abzusitzen. Ranulf ließ den Katapult nieder. Dann flammten die ersten Fackeln auf. In die Söldner auf dem Wehrgang kam Bewegung. Die Templer sahen Lanzen blitzen, geschrieene Befehle drangen zu ihnen. Ranulf legte den ersten harzgetränkten Wergballen in die Kelle des Katapults, zündete ihn an und löste das Spannseil. Das Wurfgeschoß schlug vor dem Haupttor auf die Erde und versetzte die Wachposten in erneute Aufregung. Sie vermochten den Gegner an den Brombeerbüschen auszumachen, aber er war außer Reichweite der Bogenschützen. Jocelin gab Briand und den anderen beiden ein Zeichen. Die Ordensbrüder rannten zur Mauer. Begleitet von wildem Geschrei der Kameraden feuerte Ranulf den Katapult wieder und wieder ab. Die Söldner auf dem Wehrgang hatten bald begriffen, dass ihnen von der scheinbar wahnsinnigen Schar da draußen keine wirkliche Gefahr drohte. Aber gerade diese offenkundige Sinnlosigkeit beunruhigte sie. Waren diese Verrückten vielleicht die Vorhut eines größeren Angriffs, die sie zu einem Ausfall verleiten sollte? Oder waren es, - wovor Gott sie bewahren mochte - teuflische Dämonen? Kampfbereit sammelten sich die Söldner am Torturm.
Bruder Briand drückte sich gegen die Mauer und prüfte zum letzten Mal, ob das Seil hielt. Ja, der Eisenhaken am Ende hatte sich in eine Steinfuge gekrallt. Langsam zog er sich nach oben. Kurz darauf waren seine Kameraden neben ihm. Bruder Guy spähte vorsichtig hinab. Tatsächlich, das Tor war unbewacht! Er nickte Jocelin zu, schlich ein paar Meter weiter und sprang dann auf einen Haufen aufgeschichtetes Stroh. Als er außer Sicht war, ließen sich die anderen drei die Mauer hinab.
„Das muss der Speicher sein“, flüsterte Jocelin und wies auf ein Gebäude mit gemauertem Untergeschoß. Der Lärm ihrer Ordensbrüder vor dem Tor übertönte die eiligen Schritte der Templer über den Hof und das Geräusch, als Bruder Briand mit dem Dolch das Türschloss aufbrach. Es dauerte einen Augenblick, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann erkannten sie aufgestapelte Säcke und Reihen von Fässern.
„Na bitte,” murmelte Raimond, den zunächst stehenden Sack öffnend. ”Gerste.”
Zweimal kurz hintereinander erklang ein Käuzchenruf. Das verabredete Signal! Also war es Guy gelungen, das Tor zu öffnen. Unbemerkt von den königlichen Söldnern wanderten die ersten Säcke aus dem Speicher zu den Pferden der Ordensbrüder. Plötzlich ein Zischen, Feuerschein erhellte das morgendliche Zwielicht. Eines der Geschosse von Ranulfs Katapult hatte ein Strohdach in Brand gesteckt. Hastig stürzten die Söldner zum Brunnen. Jocelin und seine Kameraden duckten sich in den Schatten der Hausmauer, als zwei der Männer in ihre Richtung abschwenkten. Sie verschwanden in einem angrenzenden Fachwerkgebäude, um kurz darauf mit Armbrüsten bewaffnet wieder zu erscheinen.
„Die Waffenkammer!” flüsterte Raimond aufgeregt. „Los, holen wir uns, was wir brauchen!”
„Nein! Das ist viel zu riskant!”
„Ich bin Ritter und kein Strauchdieb!”
Schon war der junge Ordensbruder aufgesprungen. Jocelin zögerte einen Augenblick, dann gab er den Befehl, Raimond zu folgen.
Eine Treppe tiefer, unter dem Kanzleiraum, lag die Waffenkammer. Raimond hatte sich bereits ein Kettenhemd übergestreift und war gerade dabei, sich mit einem Schwert zu versorgen.
„Bedient Euch, Messires!” rief er seinen Brüdern lachend zu. „Alles da, was das Herz begehrt!”
Briand griff nach einer Armbrust. Da knarrte eine Tür. Stimmen waren zu hören, dann hallten Schritte auf der Treppe – und Jocelin wusste, dass sie einen Fehler begangen hatten! Einen Fehler, der ihnen jetzt die Freiheit oder das Leben kosten konnte!
Raimond warf sich auf den ersten Söldner, stach ihn nieder. Aber schon waren andere hinter ihm, alarmiert durch den Schrei des Gefallenen. Auf der schmalen Treppe entbrannte ein erbitterter Kampf. Es gelang Jocelin, sich bis zur Tür durchzufechten. Er stürzte hinaus, auf das Tor zu. Söldner auch hier! Es blieb ihm keine Zeit, an Guy zu denken, der hier doch hatte warten sollen. Heftige Schläge austeilend drängten die Männer des Königs auf ihn ein. Aus den Augenwinkeln nahm er Bruder Raimond wahr. Mit Fußtritten versuchte der junge Ritter, sich aus der Umklammerung zweier Söldner zu befreien. Es gelang ihm, er bekam einen Dolch zu fassen und hieb um sich in blinder Verzweiflung.
Allmächtiger, wenn sie nur bis zur Mauer kämen!
Bruder Briand fiel, aber seine Kameraden waren außerstande, ihm zu helfen. Aus mehreren Wunden blutend sank er in die Knie. Ein Schwertstreich durchtrennte die Sehnen seiner rechten Hand, und er ließ die Klinge fallen. Die Aufmerksamkeit der Söldner galt für einen Moment allein ihrer sicheren Beute.
„Lauft!” schrie er mit letzter Kraft seinen Brüdern zu, den Arm zur Mauer streckend. Die Gelegenheit war winzig. Raimond rammte einem Gegner den Dolch in den Leib, stürmte den Wehrgang hinauf. Ein Söldner riss ihn nieder. Er stieß ihn zurück und sah Jocelin hinter sich. Mit einem Satz war der Ordensbruder neben ihm. „Über die Mauer!” keuchte er, Raimond am Arm packend. Sie stolperten vorwärts. Wo die Dunkelheit Buschwerk am Fuß der Mauer ahnen ließ, sprangen sie.
Der unsanfte Aufprall lähmte Jocelins Körper unter einer Kaskade von Schmerzen. Noch ehe er wieder recht zur Besinnung kam, griffen ihn zwei Hände.
„Messire? Seid Ihr in Ordnung?”
„Guy? - Ah... ja, ich glaube...”
„Ich hörte den Kampf. Aber Ihr hattet mir ja streng verboten, einzugreifen, wenn irgendwas schief geht.”
„Schon gut.” Jocelin beugte sich über Raimond. Der junge Mann war bewusstlos. Der Landarbeiter hob ihn über die Schulter.
„Wo ist Bruder Briand?”
„Tot, wenn Gott ihm gnädig ist. Er hat sich geopfert, damit wir entkommen konnten.”
Das Tor des Landgutes wurde aufgestoßen. Die ersten Söldner schwärmten mit Fackeln aus.
„Sehen wir, dass wir wegkommen, Sire Jocelin. Könnt Ihr gehen?”
Er stützte sich mühsam hoch.
„Es ist nicht weit“, versicherte Guy. „Dort hinten habe ich die Pferde. Bruder Ranulf wartet mit den anderen unten am Fluss.“
Bruder Louis’ Blick wanderte über die gestohlenen Vorräte. Zwei Sack Gerste, Erbsen, ein Fässchen Honig. Wenig für den Preis des Lebens einer ihrer Brüder. Und wie viele von den Leuten des Königs hatten sie getötet, sie, die doch gelobt hatten, ihre Waffen nur zur Verteidigung von Christen zu erheben! Und alles nur, weil Raimond nicht gehorcht hatte. Schon immer war der junge Ritter ein Heißsporn gewesen. Als sie noch zusammen in Etampes gelebt hatten, war kein Monat vergangen, in dem Raimond nicht wenigstens eine leichte Strafe zu verbüßen hatte. Entschlossen trat Louis in die Mitte seiner Brüder.
„Brüder“, begann er, “unser Komtur ist tot. Wir müssen jemanden wählen, der uns führen soll, dem wir den Treueid leisten und dem wir gehorchen.”
Zustimmendes Nicken antwortete ihm. Die Ordensbrüder waren es gewohnt, den Befehlen eines Oberen zu gehorchen. Es schien ihnen nur natürlich, einen neuen Kommandanten zu bestimmen.
„Ich schlage Bruder Jocelin aus Provins vor“, fuhr Louis fort.
„Ja, Bruder Jocelin soll uns führen“, pflichtete Ranulf bei. Andere schlossen sich ihm an. Jocelin hatte sie aus der Gefangenschaft befreit, er hatte Mut und Umsicht bewiesen. Sie sahen nichts, was gegen ihn spräche.
„Wieso ER?“ murrte Raimond. „Wir sind alle aus dem Haus von Etampes, wir sollten einen der unsrigen zu unserem Führer bestimmen!“ Er wusste sich schuldig an Bruder Briands Tod, und das Schuldbewusstsein machte ihn reizbar gegen alles und jeden.
Doch er blieb mit seiner Meinung allein. Alle außer ihm hoben die Hand, als Louis um die Zustimmung zu Jocelins Wahl bat. „Bruder Raimond, akzeptiert Ihr Bruder Jocelin von Provins als Komtur?”
„Meinetwegen“, brummte er nur ohne aufzusehen.
Louis wandte sich zu Jocelin um.
„Beau frère, Ihr habt die Wahl Eurer Brüder vernommen. Seid Ihr bereit, uns zu führen, getreu den Regeln und Gewohnheiten unseres Ordens?”
Jocelin bekreuzigte sich, langsam, feierlich. Mit einem Kreuz, das ein Gebet um Hilfe war.
„Ich bin bereit“, sagte er dann. „Möge Gott und die Heilige Jungfrau mir und uns allen helfen!”
Am nächsten Morgen schneite es, und der Winter erfasste nicht nur Erde und Pflanzen in seiner eisigen Umklammerung, sondern wie stets auch alle Aktivitäten. Papst Clemens zog sich in ein provenzalisches Kloster zurück, und Guillaume de Nogarets Gesandtschaft brach unverrichteter Dinge wieder nach Paris auf. Mitte November tauschte König Philipp die Gemächer des Temple gegen sein Jagdschloss an der Loire. Kälte und Schnee bereiteten selbst den Gedanken der Leute ein Ende, ließen alle Anklagen, Spekulationen und Verteidigungen hinter der Sorge um das tägliche Leben verschwinden. Für ein paar Monate vergaß Frankreich die gefangenen Ordensbrüder. Nur der Tod blieb in den Kerkern ein treuer Besucher. Doch die Templer waren voller Hoffnung auf den Heiligen Vater, der eine eigene Kommission und ein gerechtes Verfahren versprochen hatte.