Frühjahr 1308 - Frankreich
Wie für die
Landbevölkerung auch, waren die Wintermonate für die Flüchtlinge
eine Zeit des Hungers gewesen. Nachdem königliche Forstwächter die
Wälder durchstreift hatten, wagten sie kaum mehr zu jagen oder
Fallen aufzustellen. Vor ein paar Wochen war es gelungen, einen
Teil der Inhaftierten aus Provins zu befreien, kurz bevor sie in
ein anderes Verlies überführt wurden. Zur Freude der Flüchtlinge
war ein Geistlicher unter ihnen, Kaplan Helias. Doch für Komtur
Renalt war die Hilfe zu spät gekommen... Er war gestorben, kaum
dass sie ihren Zufluchtsort erreicht hatten, und ein paar Wochen
darauf noch zwei weitere Brüder.
Ranulf hatte sich in
Orleans verdingt. Dort an der Dombauhütte hoffte er am ehesten
Nachrichten vom Papst zu erhalten. Doch mit dem Schnee schmolz auch
die Hoffnung auf den Heiligen Vater dahin. Clemens war krank, und
die Kardinäle, denen seine Geschäfte anvertraut waren, Vertraute
des Königs. Die Brüder erfuhren, dass die Templer in England und
Irland gefangen gesetzt worden waren - trotz aller gegenteiligen
Versprechen König Edwards. Auch in der Provence hatten sich die
Kerkertüren hinter den Ordensbrüdern geschlossen.
Die Stimmung in
Fontainebleau war gespannt.
„Ich sage euch, Papst
Clemens rührt keinen Finger für uns!“ rief jemand unvermittelt.
„Oder hat er seine Kommission vielleicht schon berufen? Auf seine
Hilfe zu warten hat keinen Zweck!”
„Aber der Heilige
Vater ist unser einziger Richter!“ widersprach Jocelin. “Nur er
kann den Orden retten!“
„Ach, Clemens ist doch
ebenso gefangen wie unsere Brüder! Man munkelt überall, dass der
König ihn erpresst!“
„Oder er ist ganz
einfach zu feige, was zu unternehmen!“
Jocelin musste an den
Spielmann denken, dem er im Herbst begegnet war. Wie waren doch
dessen Worte gewesen?
‚Der König lässt den
Papst tanzen wie eine hölzerne Puppe.‘ Welche Chance hatte Clemens
dann überhaupt, dem Orden der Templer die Hilfe zu bieten, die er
so nötig brauchte? Jocelin wollte hoffen, wollte glauben, dass sich
alles zum Guten wenden würde. Doch in den letzten Wochen war der
Zweifel stärker geworden.
„Wie lang wollen wir
noch warten, bis wir etwas unternehmen? Bis wir hier verhungern?!
Warum reiten wir nicht zu Clemens und zeigen ihm, wie ein Templer
zu kämpfen vermag?“ schrie Bruder Raimond.
„Raimond, beherrscht
Euch!”
„Zum Teufel! Wenn Ihr
zu feige seid, die Waffen zu erheben, dann gehe ich allein!” Er
warf den harten Brotkanten auf die Erde und schritt zornig aus der
Gemeinschaft der Brüder.
Jocelin wollte ihm
nach, doch da stürmte Raimond schon mit einem Freudenschrei
zurück.
„Ranulf! Ranulf ist
da!“
Fast noch mehr als das
unverhoffte Wiedersehen erfreute die Brüder der große Sack, aus dem
Ranulf Mehl, Brot, Butter, Käse und sogar einen Schinken zu Tage
förderte.
Während er das erste
Brot verteilte, berichtete er: „Die Dombauhütte wurde geschlossen.
Der Bischof hatte sich wohl etwas zu reichlich aus den
Templergütern bedient, und Papst Clemens ließ den Bau einstellen,
als er es bemerkte.“
„Dann ist der Papst
wieder in Franzien?“
„Seit etwa einer Woche
ist er wieder in Poitiers, ja. Die Verhandlungen mit Seiner
Majestät sollen auch wieder aufgenommen werden. Aber das wird noch
dauern bis nach dem Turnier.“
„Ein
Turnier?“
„Anlässlich der
Ritterweihe des Thronfolgers in 12 Tagen. König Philipp will ein
großes Fest ausrichten mit Kampfspielen und Turnieren Mann gegen
Mann. Und seine Majestät ist freigiebig: man sagt, für den Sieger
habe er einen Preis von hundert Goldflorins
ausgesetzt.“
„Freigiebig! Ha! Mit
dem Gold unseres Ordens! Hundert Goldflorins!“ rief Raimond. „Einer
von uns sollte reiten und es zurückholen!“
„Was redet Ihr? Keinem
Bruder des Tempels ist es gestattet, an einem Turnier
teilzunehmen!“ entgegnete Louis.
„Gut, Ihr kennt die
Regeln auswendig, was? Und wer will über uns richten, wenn wir uns
nicht an jeden Buchstaben halten?! Der Meister sitzt im Kerker und
unser Komtur ist tot!“
„Komtur Jocelin
-“
„Oh, Ihr könnt Euch
auch nur hinter Ihm verstecken, was? Und deshalb werden wir
zusehen, wir irgend so ein Schlagetot das Preisgeld kassiert und es
dann mit Saufen und Fressen durchbringt!“
„Schluss damit!“ fuhr
Jocelin den jungen Ordensbruder an. „Louis hat Recht. Die Regel
verbietet es.“
„Ach, WUSSTE ich es
doch!“ fauchte Raimond nur.
„Trotzdem wird jemand
von uns reiten.“
„Was?“
„Ich. Ich werde für
den Tempel antreten.“
Auf Jocelins laute
Erklärung folgte überraschtes Schweigen.
„Jocelin, das kannst
du nicht“, ergriff Arnaud schließlich das Wort. „Das
-“
„Ich weiß, niemand
kann mir Dispens erteilen. Ich muss es allein verantworten, und das
werde ich auch, bis ich Gelegenheit bekomme, um Vergebung zu
bitten. Aber wir dürfen uns diese Chance nicht entgehen lassen,
nicht in der Situation, in der wir derzeit sind!“
„Aber du, keiner von
uns, ist in der Verfassung, ein Turnier zu reiten!“
„Ich habe meine Brüder
nicht befreien wollen, damit sie schlimmer als Tiere leben, Arnaud!
Der Orden hat mich ausgebildet, und mit dieser Ausbildung werde ich
ihm dienen. - Zwölf Tage sind noch Zeit bis zu den ersten Kämpfen,
sagst du, Ranulf. Das reicht, um zu Kräften zu kommen und zu
trainieren.“
„Dann werde ich dich
begleiten“, beschloss Arnaud und erhob sich. „Und die Gelegenheit
nutzen, mich ein wenig umzuhören unter den Gästen des
Turniers…Einem blinden Bettler wird man keine allzu große
Aufmerksamkeit schenken, und ihn nicht sonderlich für voll
nehmen.“
„Und ich komme auch
mit“, fügte Louis an. „Als Euer Knappe!“
Als Tancred den Kerker
betrat, strahlte Freude in Komtur Roberts abgemagerten Zügen auf.
Der junge Dominikaner war seit Monaten sein einziger Kontakt zur
Welt. Eine seltsame Freundschaft war zwischen den beiden Männern
gewachsen. Längst überstieg Tancreds Sorge für den Gefangenen den
Auftrag Guillaume Imberts.
„Ich habe einen Balsam
mitgebracht, Bruder Robert“, sagte er und begann die Verbände von
Roberts Füßen zu lösen.
Die Brandwunden
heilten schlecht und brachen immer wieder auf. „Lasst, ich kann
selbst-“
„Es macht mir nichts
aus!“ erwiderte der junge Mönch mit einem Lächeln. Alles, womit er
das Los des Gefangenen erleichtern konnte, sah Tancred als
Möglichkeit der Buße für die Taten der Inquisition, die er mehr und
mehr verabscheute.
„Wie geht es meinen
Brüdern?“ Robert wagte die Frage kaum zu stellen.
„Sie sind am
Leben.“
„Am Leben...“ Diese
beiden Worte hatten eine ganz neue Bedeutung bekommen in den
vergangenen Monaten. Leben, das bedeutete in erster Linie
‚überleben‘: die Verletzungen, die Krankheiten, die Feuchtigkeit
des Kerkers, den Hunger, den Durst, die Finsternis. Von einem Tag
zum anderen.
„Ist Bruder Pietro di
Bologna noch bei ihnen?“
„Der Priester? -
Ja.“
„Das ist gut. Er kann
den Brüdern beistehen und sie stärken. Ich würde so gern selbst zu
ihnen sprechen, sie sehen...“
„Ihr könntet
schreiben, Sire“, schlug der junge Dominikaner zögernd vor. Komtur
Robert blickte ihn an, einen Moment lang dem verlockenden Angebot
erliegend. Dann aber sagte er: „Nein, Bruder Tancred. Ich will dich
nicht in Gefahr bringen. - Weißt du etwas von Meister
Jacques?“
„Nichts Genaues. Ich
hörte, dass er und die übrigen Mitglieder des Obersten Kapitels
noch in Corbeil gefangen wären, doch niemand darf zu ihnen. Sie
werden streng bewacht. König Philipp fürchtet wohl, dass man sie
befreien könnte, so wie es mit den Brüdern von Etampes und einigen
anderen Orten geschehen ist.“
„Demnach hat man die
Flüchtlinge noch immer nicht aufgegriffen?“ fragte Robert voller
Hoffnung. Tancred nickte.
„Gott schütze sie! -
Hat Papst Clemens die Kommission schon berufen?“
„Nein. Wahrscheinlich
will er damit warten, bis das Turnier vorbei ist. Und dann ist auch
bald die Heilige Woche...“
„Das Fest des Leidens
und Sterbens unseres Herrn. Und wir dürfen die Sakramente nicht
empfangen! Die Messe dürfen wir nicht hören! Mit welchem Recht?!“
Komtur Robert strich über das zerschlissene Kreuz seiner
Tunika.
„Unser Orden hat
gelobt, für Jesus Christus zu kämpfen, für ihn zu sterben, wie er
für uns gestorben ist. Wie kann man glauben, dass wir das heilige
Kreuz verleugnen und schmähen?“ Seine verzweifelte Stimme brach und
er bedeckte das Gesicht mit den Händen. „Warum hilft Gott uns
nicht? Uns, seinen Rittern? Warum rettet er uns nicht vor den
Verleumdern?“
Auf der alten
römischen Straße nach Paris herrschte reger Verkehr. Spielleute und
Schausteller waren unterwegs, reiche Herren mit stattlichem
Gefolge. Inmitten der übermütigen Turnierkämpfer zog eine seltsam
anmutende Gruppe der Stadt entgegen: ein Mann in ärmlichen Gewand,
ohne Sattel reitend, aber ein Schwert an der Seite, neben dem Pferd
ein junger Mann im Bauernkittel mit einer Lanze über der Schulter,
und ein blinder Mann im Mönchshabit.
Ein kahlköpfiger Mann
fischte eine Münze aus seiner Börse und warf sie Bruder Louis vor
die Füße. „Hier, damit sich dein Herr wenigstens etwas Brot kaufen
kann, wenn es schon für einen Sattel nicht reicht!“
Ein junger Ritter auf
prächtig aufgeputzten Pferd winkte ihnen zu: „He, Ritter
Habenichts, wo wollt Ihr denn hin?“ Der Wind blähte die weiten
Ärmel seiner Brokattunika. „Etwa zu dem Turnier? Dann gebt Acht,
dass Euch das Gewand nicht vorher vom Leibe fällt!“
Der Spott erntete
zustimmendes Lachen von den übrigen Reisenden. In diesem Augenblick
lenkte ein älterer Ritter sein Pferd nach vorn. „Sire Francis, Ihr
habt die Manieren eines Bauerntölpels!“ tadelte er den jungen
Ritter. „Ihr wisst nicht, welches Schicksal diesen Mann ins Unglück
gestürzt hat, also hütet Euch zu spotten!“ Jocelin musternd ritt er
näher. „Ihr scheint mir ein wirklicher Ritter, kein weibischer
Feigling, der Angst hat, sein kostbares Gewand im Kampf zu
beschmutzen.“ sagte er mit einem Seitenblick auf den jungen Mann,
der zornig sein Pferd herumriss und an den Gaffern
vorbeigaloppierte. „Wie ist Euer Name?“
„Jocelin ...von
Judäa.“
„Von Judäa?! Gott im
Himmel, es ist lange her, dass ich einen Poulain getroffen habe!
Ich wünsche Euch von Herzen Glück! - Nun muss ich sehen, dass ich
Sire Francis einhole. Er macht nur Dummheiten, wenn ich ihm nicht
die Zügel anlege!“
Als sie merkten, dass
es nichts mehr zu sehen gab, setzten die anderen Reisenden ihren
Weg fort. Nur noch manchmal traf ein neugieriger Blick Jocelin und
seine Gefährten.
Am Nachmittag
erreichten sie Paris. Die meisten Reisenden wandten sich vor der
Porte Saint-Denis nach Westen, wo unter den mächtigen Mauern des
Temple die Turnierbanner wehten.
Für Jocelin galt es
zunächst jedoch, einen Geldverleiher ausfindig zu
machen.
Er und seine beiden
Ordensbrüder schlugen die Richtung zur Rue du Temple ein. Irgendwo
dort, erinnerte sich Jocelin, hatte zumindest vor einigen Jahren
ein lombardischer Kaufmann gewohnt.
Im Oktober vergangenen
Jahres war Jocelin denselben Weg in die Stadt gekommen, noch
ahnungslos über das Unheil, das den Orden ereilt hatte. Es schien
eine Ewigkeit her...
Bruder Louis spähte
durch ein Tor in den düsteren Hinterhof.
„Wie wollt Ihr hier
jemanden finden, Sire Jocelin?“
„Es ist sicher ein
Steinhaus. Man sagte, dass er sehr reich sei. Er ist sogar einmal
in offenen Streit mit dem Komtur von Paris
getreten...“
„He, wen sucht ihr
denn?“ kam eine Stimme aus dem Fenster über ihnen.
„Einen lombardischen
Kaufmann!“
„Von denen gibt‘s hier
keinen mehr! König Philipp hat sie alle zum Teufel gejagt, diese
verfluchten Halsabschneider!“
Louis stieß mit dem
Fuß in den Straßendreck. „Was jetzt?“
Ohne Geld gab es
keinen Sattel, und ohne Sattel kein Turnier!
„Die Juden“, schlug
Arnaud vor.
„Ach, die werden nicht
mehr viel haben zum Verleihen nach der letzten
Sondersteuer!“
„Trotzdem. Wir
versuchen es!“
Eine Mauer trennte das
Judenviertel von der übrigen Stadt. Noch vor einigen Jahrzehnten
hatte es eine blühende Gemeinde beherbergt.
Aber seit den
Bedrückungen durch König Philipp und den Überfällen einer
Bevölkerung, die einen Schuldigen für ihr Elend suchte, waren viele
Juden ausgewandert. Die Häuser standen leer, und Armut zog in die
Gassen ein. Nur in den Arkaden eines einzigen Hofes verrieten
aufgestapelte Warenballen einen gewissen Reichtum.
Jocelin wies Louis an,
bei Arnaud zu warten, und betrat den Hof. Eine Frau zog zwei am
Boden spielende Kinder an sich und flüchtete ins Haus, als sie
seiner ansichtig wurde.
Kurz darauf trat ein
Mann in mittleren Jahren heraus. Sein Gesicht wirkte abweisend, ja
feindselig.
„Was willst
du?“
„Ich...bin gekommen,
um einen Kredit zu erbitten.“
„Ich soll dir etwas
leihen? Du siehst nicht aus, als könntest du je einen Pfennig
zurückzahlen! O nein!“
Er drehte sich um.
Verzweifelt nach Worten suchend packte Jocelin ihn am Arm. „Wartet!
Ich bin ein Ritter, ich werde im Turnier kämpfen! Ich brauche das
Geld für einen Sattel! Ich werde Euch alles zurückzahlen, darauf
gebe ich mein Wort!“
Der Jude befreite sich
aus dem Griff. „Was meinst du, wie viele Christen mir schon ihr
Wort gegeben haben, und wie viele es hielten? Ich kann nichts für
dich tun, selbst wenn ich wollte. Heute Morgen war der Bischof von
Cambrai bei mir und verlangte eine ungeheure Summe. Gott sei‘s
geklagt, aber ich werde wohl keine Münze wieder sehen! Und mein
Geschäft“, er machte eine Bewegung über die Warenballen, „läuft
auch nicht besonders. Die Leute sind zu arm!“
„Wisst Ihr denn
niemanden, der mir etwas leihen kann?“
„Hier nicht, nein.
Aber in Outre-Petite-Pont, bei Sainte-Geneviève soll es einen
Verleiher geben, ein Christ, wie man sagt, der sich nicht schert um
die Gebote seiner Kirche. Versuch es bei ihm!“
Der triefäugige Wirt
beugte sich zu Jocelin und zischte: „Ob ich dir Geld leihe, du
Hurensohn? Du weist doch ganz genau, dass die Kirche es verboten
hat! Verschwinde!“
Wie um diesen Worten
Nachdruck zu verleihen, knurrte ein bösartig aussehender, riesiger
Hund hinter der Theke. Jocelin war bereits aus der Schenke, da
sagte eine weibliche Stimme: „Du brauchst Geld? Dann komm‘
mit!“
Die Frau führte die
Ordensbrüder an den stinkenden Werkstätten der Gerber vorbei in
eine weitere düstere Spelunke. Dort wälzten sich zwei Betrunkene im
Kampf über den Boden. Ein Fußtritt traf sie in die Seite. „Raus,
ihr Schweine!“ brüllte ein breitschultriger Mann, riss die
Betrunkenen hoch und beförderte sie mit einem weiteren Tritt vor
die Tür.
Dann begrüßte er die
Frau mit einem Kuss.
„Wen schleppst du da
an, he?“
„Kundschaft für
Merot.“
Der Mann zuckte mit
den Schultern und schrie in das Halbdunkel der Wirtsstube: „Merot!
Merot, zum Teufel, du fauler Sack!“
Eine Holzstiege
knarrte, und ein nachlässig gekleideter Mann erschien vor den
Ordensbrüdern.
„Du kommst um Geld zu
leihen?“ wandte er sich ohne Umschweife an Jocelin. „Wie
viel?“
„Genug für einen guten
Sattel.“
Merot wog eine Börse
in der Hand und nannte eine Summe. „30% Zinsen, wenn du nach einer
Woche zahlst, jede Weitere 10% mehr.“
„Das ist Wucher!“ rief
Arnaud empört.
„Nun, wenn es dem
frommen Bruder nicht passt, behalte ich mein Geld.“ Er entblößte
ein schadhaftes Gebiss.
Jocelin starrte auf
die Börse. Es war ein ungeheurer Zinssatz! Aber es war die einzige
Möglichkeit! Oder sollte er das Turnier aufgeben? Aber... 100
Florins! 100 Florins ihres eigenen Ordens! „Ich
akzeptiere.“
Der Wucherer zählte
langsam Münze für Münze in Jocelins Hand.
„Du verstehst
natürlich, dass ich eine Bürgschaft brauche.“ bemerkte er
beiläufig. „Aber ich bin kein Unmensch. Ich verlange nichts, was du
nicht hast! Es genügt, wenn einer deiner Begleiter solang bei mir
bleibt, bis du zahlst!“
Noch ehe Jocelin etwas
erwidern konnte, wurde Louis von zwei Männern gepackt.
„Wir werden ihn sicher
verwahren, keine Angst!“
Louis‘ Gesicht
verzerrte sich in sprachlosem Entsetzen. Der Gedanke, wieder
eingesperrt zu sein, brachte ihn in Panik.
„Ihr könnt ihn nicht
hier behalten!“ protestierte Jocelin, doch der Wucherer blieb
ungerührt.
Die beiden Männer
zogen Louis mit sich fort. Seine Furcht machte sich in einem
verzweifelten Schrei Luft: „Bruder Jocelin!“
Die Aufmerksamkeit
auch der letzten Wirtshausgäste war erregt. Jocelin meinte von
ihren Blicken durchbohrt zu werden. Ihm schwindelte.
Wie aus weiter Ferne
hörte er die spöttische Stimme des Wucherers: „Der hat ja mehr
Angst, als sollte er in die Hölle! Wir schicken dir ja deinen
schwarzberockten Freund!“
Arnaud! Arnaud trug
die Mönchskutte! Sie hielten ihn für ‚Bruder Jocelin‘! Mit einem
tiefen Atemzug suchte Jocelin dem Zittern seiner Glieder Herr zu
werden. Er wagte einen vorsichtigen Blick. Die Gäste lachten.
Niemand schien Verdacht geschöpft zu haben. Der Wucherer bedeutete
Jocelin und Arnaud zu gehen.
„Und denk daran, je
eher du zurückzahlst, desto eher kommt euer Freund zu seiner
Beichte!“ rief er ihnen noch hinterher. Sein Lachen, wie das
Meckern eines Ziegenbocks, verfolgte sie bis weit auf die
Straße.
Die Schausteller gaben
eine meisterhafte Darbietung. Klatschen und Jubelschreie brandeten
bei jeder grotesken Verrenkung, den Sprüngen und Salti durch die
Menge.
In einem weiten Bogen
säumten die Zuschauer den Turnierplatz. Selbst auf den Bäumen
hockten sie. Es war ein relativ warmer Frühlingstag; nach den
letzten Regengüssen rochen die Wiesen und die Erde frisch. Etwas
erhöht, im Schatten eines blauen Baldachins, saß König Philipp mit
seiner Familie und den engsten Vertrauten. Eine Abteilung Söldner
umstand die Tribüne. Seine Majestät war misstrauisch. Da war das
Volk, eine brodelnde, unkontrollierbare Masse. Da war der Adel, den
die immer strengere Beschneidung seiner Privilegien aufbrachte. Und
schließlich - ein Haufen flüchtiger Templer irgendwo in den
Wäldern, derer man einfach nicht habhaft wurde!
Ein Fanfarenstoß
erklang. Die Köpfe der Menschen wendeten sich zu den bunten
Turnierzelten. Dort zeigten sich die ersten Ritter. Prinz Louis,
der am Vortag den Ritterschlag erhalten hatte, war bei ihnen, stolz
in seiner glänzenden Rüstung, das Lilienbanner an der Lanze. Neben
ihm ritt Charles de Valois, der Bruder des Königs. Gräfin Ghislaine
de Montfort ließ die Augen über die Wappen auf den Schilden
wandern. Der Graf von Etampes, der Graf von Angers... Auch ihr
Gemahl war oft an der Seite der Großen Frankreichs in Turniere
geritten. Wie hatte er mit seinen Siegen geprahlt! Und dann war er
in Courtrai von einem Bauern erschlagen worden wie ein räudiger
Hund. Was half ihm nun sein Ruhm? Der König der Könige würde nach
anderem fragen...
Ghislaine blickte sich
nach ihrem Sohn um, aber Yvo war nirgends zu sehen. Dabei war sie
seinetwegen zu dem Turnier gereist, damit er etwas von den
ritterlichen Tugenden lerne. Doch im Grunde, was sollte er hier
lernen? Was außer Eitelkeit und Hochmut? Die edlen Ritter,
wie sie die Spielleute besangen, gab es wohl nur noch in deren
Liedern. Die Gräfin war ärgerlich. Aber sie merkte nicht, wie tief
sie in Wahrheit all dieses leere Gepränge
verabscheute.
Ein weiterer
Fanfarenstoß verkündete das Eintreffen der Herausforderer. An ihrer
Spitze ritt ein riesenhafter Mann in schwarzglänzender Rüstung. Er
wurde jubelnd begrüßt. Die Ausrufung des Herolds war überflüssig.
Jeder kannte Jorge de Fontcalda, oder wurde spätestens jetzt von
den Umstehenden aufgeklärt, dass der katalanische Ritter schon an
die hundert Turniersiege zu verzeichnen hatte. Den meisten galt es
sicher, dass er auch aus diesem Waffengang als Sieger hervorgehen
würde. Dem Katalanen folgte ein englischer Baron, die Haare in eine
modische Lockentracht gelegt.
Ghislaine de Montfort
hielt erneut nach ihrem Sohn Ausschau. Auf der Wiese focht eine
Herde Kinder ihr eigenen Turnier. Aber auch dort war Yvo nicht. Ein
Raunen unter den Zuschauern lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder zum
Kampfplatz.
„Sire Jocelin, Herr
von Judäa“, rief der Herold.
Ghislaine de Montfort
ertappte sich dabei, wie sie sich reckte um den Ritter sehen zu
können, dessen Namen sie noch nie gehört hatte. Seine Rüstung war
so schmucklos wie die eines einfachen Söldners. Doch das
ungewöhnlichste war der Schild: dort, wo bei den übrigen Rittern
prächtige Wappen prangten, zeigte der seinige ein einfach
gezeichnetes Marienbild. Der neue Herausforderer lenkte sein Pferd
an der Tribüne vorbei, grüßte den König mit einem Senken der
Lanze.
Philipps Anblick
brannte in Jocelins Augen. König Philipp hatte den Befehl zur
Verhaftung der Templer gegeben! Er war schuld an den drei Gräbern
im Wald, schuld, dass Bruder Arnaud betteln musste! Am liebsten
hätte Jocelin es laut herausgeschrieen…
„….Ihr reitet nicht
unter dem Wappen Eurer Familie? Sehr interessant.“ Philipps Stimme
klang sanft und klar, gar nicht wie die eines
Monsters.
„Die Meinen sind tot,
begraben im Sand von Palästina“, erwiderte er, und soweit er
wusste, war dies nicht einmal eine Lüge. „Christus ist mir Vater
und Maria Mutter.“
„Ein hoher Anspruch.
Haltet Ihr das nicht für etwas hochmütig?“
„Ich halte es für
demütiger als unter dem Wappen meiner Familie zu reiten und ihren
Ruhm zu mehren anstatt den Ruhm Gottes!“
Etwas weiter hinten
unter dem Baldachin klatschte Guillaume de Nogaret süffisant in die
Hände. Es war genau die Sorte bigotter Reden, die er besonders
liebte! Er würde die Summe des heutigen Preisgeldes verwetten, dass
der Kerl mit dem Marienschild noch gestern Abend im Badehaus
herumgehurt hatte! Es drängte den Siegelbewahrer, irgendetwas in
der Art fallen zu lassen, aber da entließ Seine Majestät den Ritter
aus Judäa.
Während Prinz Louis
einen leichten Waffengang gegen den jungen Herzog der Bretagne
wagte, begutachtete Jocelin noch einmal seinen erworbenen Sattel.
Es schien gutes Material zu sein, ordentliche Polsterungen, nicht
zu harte Gurte, und er saß gut, aber besser einmal zu oft
überprüft, als sich beim Kampf Nachteile einzuhandeln - oder
Schlimmeres! Der Ordensbruder klopfte seinem Pferd beruhigend auf
die Seite, dann noch ein letzter Blick auf die Hufeisen, dass sich
auf dem Weg hierher nichts festgetreten hatte...
Aus einem der anderen
Zelte klang das Streiten zweier jugendlicher Stimmen. Offenbar
hatten sich die Knappen eines Kämpfers in die Haare bekommen. Das
klatschende Geräusch einer Ohrfeige bereitete dem Disput ein Ende,
und einen Moment später wetzte ein Junge mit rotem Gesicht an
Jocelin vorbei. Der Templer dachte an Louis, den er eigentlich für
die Knappendienste mitgenommen hatte, und der jetzt im Keller
dieser Kaschemme wahrscheinlich Todesängste ausstand.
„Ich muss siegen, ich
muss es schaffen!“ Er schloss die Augen für ein kurzes inbrünstiges
Gebet um Beistand der Gottesmutter und des Heiligen
Georg.
Ein Krachen ließ ihn
sich wieder dem Turnierplatz zuwenden. Prinz Louis saß noch im
Sattel, während sich ein Knecht um den am Boden liegenden Herzog
der Bretagne bemühte. Irgendwo aus den Zuschauerreihen klang lautes
Schluchzen. Aber die Befürchtungen waren schlimmer als die
Tatsachen, denn in diesem Augenblick rappelte sich der Gefallene
von selbst wieder auf.
Die nächsten Kämpfe
waren Jorge de Fontcalda vorbehalten. Mühelos hob er zwei Ritter
aus dem Sattel. Tosender Beifall belohnte ihn. Nun galt der Aufruf
des Herolds Jocelin.
Ghislaine de Montfort
beugte sich vor. Wen würde dieser seltsame Ritter aus Judäa
fordern? Sie sah erstaunt, wie sich seine Lanze vor dem Grafen von
Baux senkte. Ein Ausruf des Staunens ging durch die Reihen. Die
ersten Wetten wurden geschlossen.
„Ein Goldbyzantiner
auf Berengar des Baux!“ rief eine Stimme, die Ghislaine de Montfort
zu verabscheuen gelernt hatte. Esquieu de Floyran nickte ihr mit
einem schmalen Lächeln zu.
„Fünfzig auf Jocelin
von Judäa!“ antwortete die Gräfin, allein um ihm zu widersprechen.
Im Grunde war es ihr absolut gleichgültig, wer diesen Waffengang
gewann. Hauptsache, er endete und sie konnte zurück in die
Abgeschiedenheit von La Blanche. Hauptsache, Yvo stellte nicht
wieder irgendetwas an… Wo war der Junge bloß?
Berengar des Baux
musterte seinen Gegner unwillig. Ein Waffengang mit einem
unbekannten armseligen Poulain konnte doch keinen Ruhm bringen!
Einen Moment lang erwog er, die Forderung abzulehnen, aber dann
senkte er seine Lanze ebenfalls. Sie nahmen ihre Plätze ein, der
Herold gab das Zeichen, und sie stürmten los.
Der Graf zielte auf
den unteren Teil von Jocelins Schild. Im letzten Augenblick
richtete sich der Templer in den Steigbügeln auf, presste den
Schild eng an seine Seite und stieß die Lanze vor. Sie traf mit
einem dumpfen Geräusch Berengars Brustpanzer und hob ihn aus dem
Sattel. Als der Staub sich legte, stand sein Gegner jedoch
aufrecht, während ein Knecht sich um sein Reittier bemühte, und hob
die Faust zum Zeichen, dass er den Kampf nicht als beendet
betrachtete.
Ghislaine de Montfort
gestattete sich einen ersten triumphierenden Blick zu Floyran, der
nur spöttisch die Lippen verzog. „Noch ist es nicht vorüber,
Madame. Des Baux hat noch genügend Zeit, diesen Hänfling aus
Outremer Staub fressen zu lassen! Ha, seht Euch das an, ein Mönch
als Schwertträger! Wahrscheinlich BADET der auch im
Weihwasser!“
Ghislaine folgte
Floyrans abschätziger Handbewegung und sah gerade noch, wie
tatsächlich ein Mann in schäbiger Mönchskutte dem Ritter sein
Schwert reichte. Wirklich, ein seltsamer Kämpfer!
Jocelins Hände
schlossen sich fest um den Griff seiner Waffe, und er holte zum
ersten Schlag aus, stellte sich vor, nicht gegen Graf Berengar zu
fechten, sondern gegen jenen schönen Dämon auf der Tribüne... Der
Gedanke ließ ihn mit solcher Wut angreifen, dass sein Gegner
zunächst zurückwich. Aber kaum hatte Berengar die Kompetenz seines
Gegners erkannt, verteidigte er seine Ehre mit der gleichen
Kühnheit. Hiebe prasselten auf die Schilde der Kontrahenten nieder,
rissen eine Scharte in das Wappen der Des Baux. Die Zuschauer
verfolgten den Kampf gespannt. Ein Schrei erhob sich, als Jocelin
den Grafen gegen die Barriere abdrängte. Doch jener zwang seinen
Gegner, sich wieder zurückzuziehen, holte mit neuer Kraft aus. Das
Schwert des Grafen glitt über Jocelins rechte Beinschiene und hätte
ihn fast zu Fall gebracht. Hastig wich er vor dem erneuten
Angriff aus, drehte sich halb und versuchte, Berengar zu
entwaffnen. Doch der Graf fing den Hieb ab, sprang zurück und griff
von der Seite an. Seine Klinge traf Jocelins Schild, aber ehe er
zum zweiten Mal ausholen konnte setzte der Templer ihm das Schwert
an die Kehle.
„Ergebt Euch,
Sire!“
Berengar des Baux
senkte seine Waffe. Durch den Sehschlitz seines Helms sah Jocelin,
wie sein Gegner ihn zornig anfunkelte. „Der Teufel hole die
Poulains!“ knurrte er. „Hättet ihr so gegen die Sarazenen gekämpft,
wurde das Heilige Land noch uns gehören!“
Die Szenerie von der
Tribüne aus beobachtend, spuckte Esquieu de Floyran aus und verließ
die Zuschauerränge.
Yvo de Montfort
wischte die schmutzigen Hände an seiner Tunika ab, die bereits die
Spuren der vergangenen Rauferei trug, und sah sich abenteuerlustig
um. Die heutigen Turnierkämpfe hatten gerade geendet. Aus dem Lager
klang das unvermeidliche Stöhnen und Schreien, dass die Arbeit der
Wundärzte begleitete. An der Umzäunung vor den Zelten entdeckte Yvo
etwas Neues, Reizvolles: einen einsamen alten Bettler in einer
Mönchskutte.
„Du, lass ihn, er ist
blind!“ meinte der rothaarige Bursche neben dem jungen Grafen.
„Komm, wir gehen zurück ins Lager! Vielleicht können wir einem der
Ritter bei den Pferden helfen!“
„Ach was! Langweilig!
Der Kerl hier wird auf seinem einen Auge schärfer sehen als der
Jagdfalke meiner Mutter, dass wette ich! Ich kenn‘ diese Ratten
doch! Die stellen sich blind, um mehr Almosen einzuheimsen! Oder er
ist gar unterwegs, um da was zu klauen, in den Zelten! Gleich wirst
du es sehen, eh!“
Yvo rannte auf den
Bettler zu, vollführte eine rasche Bewegung vor dessen Gesicht.
Bruder Arnaud spürte den Luftzug und streckte den Arm
aus.
„He, willst du mich
fangen?“ lachte Yvo. „Versuch‘ es doch!“
Der Schmerz der
Erniedrigung ließ Arnaud zittern. Er hatte geglaubt, in den
Jahrzehnten im Dienst des Ordens Demut erlernt zu haben, aber diese
Schmach überstieg fast seine Kraft. Er war ein Ritter, aus einem
der angesehensten Geschlechter Frankreichs, Adjutant des Meisters
der Templer!
Yvo de Montfort war so
in sein grausames Vergnügen vertieft, dass er seine Mutter nicht
kommen hörte. Sein Kamerad verdrückte sich eilig, als er das
gräfliche Gefolge sah. Ghislaine packte ihren Sohn am
Arm.
„Was tust
du?!”
„Ich... mache ein
bisschen... Spaß.“
“Spaß?!“ wiederholte
Ghislaine und versetzte ihrem Sohn eine Ohrfeige.
„Weißt du nicht, dass
uns in jedem Armen der Herr Christus selbst begegnet?! - Geh‘ in
den Wagen!“
Yvo warf einen Blick
auf sein Reitpferd und murrte: „Ich bin doch kein Kind
mehr!“
„Aber du benimmst dich
wie ein Milchkind ohne Verstand! Geh‘! Oder ich bringe dich morgen
in die Abtei von Villefort, das schwöre ich!!!”
Unter dem Grinsen der
gräflichen Soldaten trottete Yvo zum Wagen. Ghislaine seufzte.
Großer Gott, wie sehr fehlte ihrem Sohn die starke Hand des Vaters!
Sie wandte sich wieder dem Bettler zu und erkannte jetzt in seiner
Gestalt den seltsamen Begleiter des Ritters aus Judäa. „Verzeih
meinem Sohn!“ bat sie und legte ein glänzendes Geldstück in Arnauds
Hand. Dann kehrte sie zu ihrem Gefolge zurück.
Esquieu de Floyran
hielt sich abseits von dem Treiben im Festsaal des königlichen
Palais. Er war gekränkt, dass Gräfin Ghislaine de Montfort ihn an
diesem Abend nicht die mindeste Beachtung geschenkt hatte. Aber
noch weit mehr erboste ihn der Verlust von fünfzig Goldbyzantinern.
Mit welcher Freude sie dieses gierige Weib in Empfang genommen
hatte! Eigentlich wurde es mehr als Zeit, dass ihr jemand diese
Flausen der Arroganz austrieb und sie auf den Platz verwies, der
einer Frau zustand!
Er kippte einen Becher
Wein hinunter. Wer hätte auch gedacht, dass der magere Bursche aus
Outremer den Grafen von Baux besiegen würde! ‚ Von Judäa‘, ‚
Jocelin von Judäa‘, was war das für eine Seigneurie? Und wieso ritt
er nicht unter seinem Familienwappen? Was sollte der Quatsch mit
dem ‚Maria ist meine Mutter’? Entweder der Mann war ein Idiot oder
- Irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Und das, genau das würde er
herausfinden, schon um die Freude der Gräfin von Montfort über den
Sieg dieses Kerls zu dämpfen! Er verließ die Festgesellschaft und
das Palais über die nachtdunkle Rue de la Harpe und wandte sich in
Richtung der Seine.
Dort lag das Palais
“Aux Quinze Anges“, der Wohnsitz des neunzigjährigen Chronisten
Jean de Joinville. Floyran ließ den Türklopfer solang gegen das Tor
donnern, bis er schlurfende Schritte hörte. Der Diener Joinvilles,
kaum jünger als sein Herr, überschüttete den Besucher mit einem
Schwall der Entrüstung.
„Mach‘ auf! Ich komme
im Namen der Heiligen Inquisition!“
Das kleine Fenster in
der Mitte der Tür öffnete sich, und der Diener erging sich in einer
erneuten empörten Rede, was denn die Inquisition mit einem so
ehrwürdigen und rechtschaffenen Herrn wie Sire Jean zu tun habe,
der den heiligen König Louis auf dem Kreuzzug begleitet
hatte.
„Alter, hör auf zu
quatschen und lass mich rein! Oder ich trete die Tür
ein!“
Mit zitternden Händen
schob der Diener jetzt die Riegel zurück und zog die Pforte auf.
Selbst das dauerte Floyran noch zu lang und er half mit einem
kräftigen Stoß nach, der den Bediensteten fast zu Fall brachte.
Einen Moment später stand er in der großen, düsteren Eingangshalle
des Palais. An den Wänden aufgereihte Schilde, Schwerter und Banner
erzählten von der ritterlichen Vergangenheit seines Besitzers. Zwei
riesige Leuchter mit dem Jerusalemkreuz verliehen dem Raum eine
sakrale Atmosphäre. Und dann trat Jean de Joinville ein. Er stützte
sich auf einen Stock, doch schien das mehr Gewohnheit als
Notwendigkeit zu sein. Weißes Haar umrahmte sein Gesicht, das
zerknittertem Pergament ähnelte. Von den durchscheinenden,
knochigen Händen konnte man nicht glauben, dass sie jemals eine
Waffe gehalten hatten. Doch trotz aller Zerbrechlichkeit lag eine
gewisse Kraft in seiner Gestalt. Er setzte sich in einen der hohen
Lehnstühle und sagte: “Es muss ein gewichtiger Grund sein, dass die
Heilige Inquisition mich zu dieser Stunde zu sprechen wünscht, da
man ja sogar mit der Verhaftung der Templer bis zum Morgen warten
konnte!“
„Es ist in der Tat von
Bedeutung, Sire“, begann Esquieu de Floyran, aber ein Klopfen von
Joinvilles Stock unterbrach ihn.
„Wer seid Ihr? Ich
spreche nicht gern mit Namenlosen!“
„Sire Esquieu de
Floyran.
„Esquieu de Floyran“,
wiederholte der alte Chronist und ließ keinen Zweifel, dass der
Träger des Namens seiner Ansicht nach nicht gerade unter die
Rechtschaffenden zu zählen sei. „Nun, sprecht!“
„Ihr kennt das Heilige
Land, Sire. Ich möchte, dass Ihr mir etwas erzählt über eine
Seigneurie von Judäa!“
Der folgende Morgen
des Turniers war der Kunst der Bogenschützen gewidmet. Erst am
Nachmittag setzte man die Zweikämpfe fort. Esquieu de Floyran hatte
diesmal seinen Platz auf der Tribüne des Königs und seiner
Vertrauten nicht eingenommen. Er lehnte an einem Pfosten der
Umzäunung und verfolgte ungeduldig, wie vier Ritter gegeneinander
antraten. Seine Gedanken fieberten in freudiger Erwartung. Er war
im Besitz eines kostbaren Wissens!
„Jocelin von Judäa,”
murmelte er vor sich hin und verzog die Lippen zu einem
genüsslichen Lächeln. Laut Joinville waren die Herren von Judäa
1282 im Mannesstamm ausgestorben; der Rest ihrer Besitzungen, die
nach den Landgewinnen der Sarazenen ohnehin kümmerlich waren, war
zwischen zwei reichen Bürgern Akkons und dem Erzbischof von Tyrus
aufgeteilt worden. Dieser Kerl mit seinem Marienbild auf dem Schild
war ein Betrüger und Scharlatan, womöglich irgendein Knappe, ein
Leibeigener, ein Waffenknecht, der seine Ausrüstung zusammen
gestohlen hatte! Was für eine Genugtuung würde es sein, wenn er ihn
vor den Augen der Gräfin bloßstellen konnte! Hmm… sie würde
sicherlich wütend werden und zetern! Und wütend fand er sie
besonders begehrenswert!
Wieder war der Ruf des
Herolds vom Turnierplatz zu hören: „Sire Francis von Wells fordert
Sire Jocelin von Judäa!“
Floyran verschwand
eilig zwischen den Zelten.
Das schmucklose weiße
Banner des Ritters aus Outremer flatterte am Rande des Lagers. Kein
Zelt, nur eine geflickte Plane war dort aufgestellt. Floyran
musterte die wenigen Habseligkeiten. Nichts Ungewöhnliches fiel ihm
auf. Ein Ledersack zum Aufbewahren der Rüstung, wie ihn hunderte
von Rittern benutzten... Essgeschirr aus Holz, eine Karaffe aus
Ton… Alles wühlte er durch während der Jubel der Zuschauer ihm
einen erneuten Sieg dieses ‚Mariensöhnchens’ verkündete. Nun, die
Freude würde ihm schon noch vergehen!
Der letzte Tag des
Turniers war angebrochen, der entscheidende Tag. Und ausgerechnet
heute regnete es, der Boden war aufgeweicht und bei jedem Huftritt
flogen Batzen feuchten Schlammes gegen die einstmals bunten Tücher
der Begrenzung. Dem Eifer der Zuschauer tat das Wetter keinen
sonderlichen Abbruch. Notfalls konnte man sich ja mit Wein
aufwärmen! Nur noch vier Ritter waren übrig: Jorge de Fontcalda,
ein Bretone, Charles de Valois und Jocelin. Die Wetten der
Zuschauer schraubten sich in schwindelnde Höhen.
Der Bretone fiel vor
der Lanze Valois‘. Die Spannung unter den Zuschauern war jetzt fast
spürbar. Wer von den beiden verbliebenen Rittern würde die
undankbare Aufgabe übernehmen und den Bruder des Königs fordern? Es
war Jocelin Judäa. Ohne eine Regung zu zeigen schlug er mit seiner
Lanze gegen den Schild Charles de Valois‘. Dieser weigerte sich.
Hochmut ließ ihn gegen Jorge de Fontcalda antreten und verlieren:
die Lanze des Katalanen verhakte sich in seinem Sattelgurt,
zerfetzte ihn und sorgte für einen wenig eleganten Bodenkuss des
Königsbruders.
Während ihn die
königlichen Knappen vom Platz trugen, ritt Jocelin auf Fontcalda
zu. Der Katalane beugte den Kopf zum Zeichen, dass er die Forderung
akzeptierte. „Ich habe gesehen, dass Ihr recht gut im Umgang mit
Lanze und Schwert seid, Sire Jocelin!“ rief er. „Aber bisher war
alles ein Spiel! Jetzt werdet Ihr merken, was ein wirklicher
Waffengang ist!“
Der Ordensbruder
erwiderte nichts. Reden diente nur der Ablenkung. Er musste sich
konzentrieren und diese Konzentration auch an sein Pferd
weitergeben, gerade bei diesem ungünstigen Wetter. „Lass mich nicht
im Stich, hörst du?“ Das Tier gab ein leises Wiehern von sich, als
habe es die Worte verstanden und stampfte mit dem Vorderhuf
auf.
Einen Moment später
trafen die beiden Kämpfer mit solcher Wucht aufeinander, dass die
Lanze Fontcaldas bis zum Schaft zerbarst, dabei Jocelins Schild und
Arm nach hinten reißend. Kurz wurde dem Ordensbruder schwarz vor
Augen, aber das Geschrei der Zuschauer katapultierte ihn zurück und
er blieb im Sattel. Sein Gegner winkte bereits triumphierend in die
Ränge, ein paar vereinzelte Buh-Rufe empfangend, die sich rasch zu
einem Crescendo steigerten.
„Jocelin, alles in
Ordnung?“ klang die besorgte Stimme Arnauds zu ihm. Er nahm den
Helm ab, um besser sehen zu können, und begutachtete seinen Schild.
Der untere Halteriemen war abgerissen, wie befürchtet. Sein Arm
fühlte sich ebenfalls noch etwas taub an. Aber er sah keinen Grund,
Arnaud zu beunruhigen.
„Ja“, erwiderte er
lediglich. „Betet für mich!“
Das Brüllen, Johlen
und Füßestampfen der Zuschauer ebbte ab, als der Herold die Frage
stellte, ob der Herr von Judäa willens sei, den Kampf fortzusetzen.
Jocelin gab das Zeichen für ‚Ja‘ und lenkte sein Pferd wieder nach
vorn. Ein letzter Blick zurück zu seinem Pflegevater, der am Rand
der Brüstung niedergekniet war, dann schob er den Helm wieder über
den Kopf.
Der Katalane packte
die neue Lanze, die sein Knappe ihm reichte, und dann jagten die
Gegner zum zweiten Mal gegeneinander. Diesmal jedoch zerschmetterte
der Stoß den Schild des Ordensbruders in zwei Teile, und die Wucht
des Aufpralls warf Jocelin aus dem Sattel. Er streifte mit der
Seite die Barriere, überschlug sich und blieb reglos im Schlamm
liegen. Fontcalda breitete die Arme aus und nahm den zögerlich
einsetzenden Beifall entgegen.
Jocelin erwachte und
nahm noch benommen einen Mann wahr, der sich über ihn beugte. Als
jener zurückwich, erkannte er Bruder Arnaud und eine Frau in
schwarzer Witwentracht.
“Ich sah, dass sich
kein Medikus um Euch kümmerte, und da habe ich Euch einen
geschickt", sagte sie gerade.
„Ich danke Euch...
Madame“, murmelte Jocelin und sah an sich herunter. Ein Verband
umschloss seinen Brustkorb und es bereitete Schmerzen, sich
aufzusetzen. „Hoffentlich keine gebrochenen Rippen...“ dachte er.
Dann erst wurde ihm klar, was geschehen war. Er hatte verloren!
Seine Brüder mussten weiter hungern! Und Louis! Wie sollten sie ihn
auslösen? Mit einem Stöhnen lehnte er sich zurück.
„Messire,” hörte er
die Frau jetzt sprechen, “verzeiht mir meine Kühnheit. Aber ich
hörte, dass Ihr keinem Herrn verpflichtet seid. Ich bitte Euch, in
meine Dienste zu treten. Als Lehrer für meinen Sohn. Ich bin Gräfin
von Montfort und ich werde Euch angemessen
entlohnen.“
Jocelin sah sie
erstaunt an. Er erinnerte sich vage, die Frau auf der Tribüne bei
der königlichen Familie gesehen zu haben. Es galt, vorsichtig zu
sein...
„Ihr setzt großes
Vertrauen in einen mittellosen Fremdling...”
„Ich habe Euch kämpfen
sehen, Messire, und ich weiß, dass Ihr ein guter Ritter
seid.”
„Ich habe den Kampf
verloren.”
„Nun, es kommt nicht
darauf an, aus allen Gefechten siegreich hervorzugehen“, entgegnete
sie mit einem leichten Lächeln, das Jocelin unwillkürlich Unbehagen
bereitete.
„Ein Ritter, der die
Heilige Jungfrau zu seiner Mutter erkoren hat, wird doch nicht so
grausam sein und sich vor den Nöten einer Witwe verschließen, nehme
ich an?“
Jocelin überlegte
fieberhaft. In ihren Diensten zu stehen konnte den Ordensbrüdern
vielleicht einige wichtige Informationen einbringen... auch das
Geld hätten sie bitter nötig...
„Ich... nehme an“,
hörte er sich sagen, trotz Arnauds missbilligendem
Kopfschütteln.
„Dann seid mir
herzlich willkommen, Messire Jocelin! Ihr und...“
„Sire Arnaud, mein...
Onkel, Madame.”
Niemand hatte bemerkt,
wie ein Mann hinter die Zeltplane gehuscht war. Ein Mann, der
begierig die Hand nach Jocelins Schwert ausstreckte. Er zog die
Waffe an sich, riss mit vor Erregung zitternden Händen die Klinge
aus der Scheide. Und da war, was er gesucht hatte! Nein, es war
noch viel besser, als alles, was er gesucht hatte! Kein Wappen, was
ihm den rechtmäßigen Besitzer der Waffe genannt hatte, sondern ein
Kreuz. Ein kleines eingraviertes Kreuz. Das Ordenskreuz der
Templer! Esquieu de Floyran jubelte in tiefer Befriedigung. Ein
flüchtiger Templer war er also, der feine Herr von Judäa! Er hatte
wohl gedacht zu entkommen... Ha! Wenn er richtig gehört hatte,
wollte er bei Gräfin von Montfort unterschlüpfen! Nun gut,
einen besseren Ort hätte er nicht wählen können... Nun würde er ihn
haben, und sie dazu... Voller grimmiger Freude sah er Ghislaine
nach, als sie davon schritt.
„Was hast du dir dabei
gedacht? Dich in ihre Dienste zu begeben? Jocelin!“ meinte Arnaud,
als er sich wieder mit seinem Ordensbruder allein wusste. “Wir
wissen zuwenig über sie. Das kann uns in große Gefahr bringen. Das
Beste wäre, wir verlassen so schnell wie möglich das
Lager!”
„Das kann ich nicht.
Ich habe mein Wort gegeben. Bedenkt doch, Arnaud, wie sehr Zugang
zum Hofe uns von Nutzen sein kann!”
„Dennoch! Es ist nicht
gut“, betonte der alte Ordensbruder noch einmal. Aber seine Stimme
war nur ein matter Widerschein des Aufschreis in seinem Inneren.
„Es ist von Übel! Es ist DAS Übel! Kannst du die Gefahr nicht
sehen, bei allen Heiligen Gottes?! Muss man blind sein, um es zu
sehen?!“ Doch das auszusprechen wagte er nicht.
Noch in der Nacht ritt
Jocelin trotz der höllischen Schmerzen in seiner Seite nach
Fontainebleau, um seine Kameraden zu benachrichtigen. Sie
vereinbarten, dass er zu festgesetzten Tagen an einen Treffpunkt
kommen sollte, um die Neuigkeiten auszutauschen. Bei Morgengrauen
war er wieder im Turnierlager.
Wenige Stunden später
brachen die zwei Ordensbrüder im Gefolge der Gräfin von Montfort
auf. Ihr Sohn hatte vom ersten Augenblick an keinen Zweifel daran
gelassen, dass er seinen neuen Lehrer verachtete. Während der
ganzen Reise hielt er sich trotzig abseits, sprach kaum ein Wort
und reagierte auf keinen Anruf.
„Er war nicht immer
so", wandte sich Ghislaine entschuldigend an Jocelin. “Aber seit
sein Vater tot ist - o Gott, manchmal habe ich Angst, er wird noch
einmal am Galgen enden!”
„Nein, das wird er
gewiss nicht, Madame. Ihr werdet sehen, bald könnt Ihr stolz auf
Euren Sohn sein", entgegnete Jocelin zuversichtlich. Er wusste, wie
man Disziplin lernte - und lehrte.
Der Stein der Burg
leuchtet warm in den letzten Sonnenstrahlen, als der gräfliche
Hofstaat eintraf. In einer fast anmutigen Bewegung schlängelte sich
die Mauer der weiträumigen Anlage den Hügel empor. Das gotische
Dach der Kapelle, auf dem höchsten Punkt erbaut, ragte über die
Wehrtürme und das Palais hinaus, schien mit seinem goldenen Kreuz
den Himmel zu berühren.
„Das himmlische
Jerusalem!“
Ghislaine lächelte und
legte die Hand auf seinen Arm. „Ihr werdet La Blanche sicher ebenso
lieb gewinnen wie ich, wenn Ihr erst eine Weile hier seid,
Sire!“
„Ich hoffe nicht.“
dachte er unwillkürlich. Das hier war nicht sein Platz, so
verlockend er im Augenblick auch schien.
Anstatt zu den
Lektionen zu erscheinen, verschwand Yvo schon am frühen Morgen des
folgenden Tages aus der Burg. Am Abend brachte ihn der Kastellan
der Stadt zurück. Er war mit einer Horde Straßenjungen beim Stehlen
erwischt worden. Auch am nächsten Tag trieb er sich irgendwo herum
und kam erst in der Dämmerung zurück. Sich völlig sicher und
unangreifbar fühlend wollte er grinsend an Jocelin vorüber. Doch
der Ordensbruder war keiner der Dienstleute seiner Mutter, die
nicht gewagt hatten, ihren Herrn zu züchtigen. Er packte Yvo am
Kragen und schleppte ihn zum Pranger.
„Was erlaubst du dir,
du Lumpenbündel? Ich bin ein Adliger, du kannst mich nicht
bestrafen wie einen gemeinen Bauern!“
„Ich kann hier keinen
Adligen sehen“, entgegnete Jocelin ruhig. „Ich sehe nur einen Dieb.
Und die Strafe für Diebe sind zwölf Stockhiebe.“
Yvo schlug um sich und
schrie, nun schon mehr ängstlich als wütend: “Ich bin der Graf von
Montfort! Ich... ich beschwere mich beim König!“
„Der König lässt
Dieben die rechte Hand abhauen.“
Ghislaine sah vom
Fenster aus zu, wie Jocelin ihrem Sohn die Hiebe verabreichte.
Zuletzt standen ihr ebenso Tränen in den Augen wie Yvo. Als der
Junge mit hängendem Kopf im Palais verschwunden war, trat sie zu
Jocelin. „Glaubt Ihr, dass es helfen wird?“
„Es ist hart. Aber die
Strenge ist notwendig. Jetzt hasst er mich, doch bald wird er
merken, dass er im Grunde sich selbst hasst. Morgen wird er zu den
Lektionen erscheinen, und er wird sich anstrengen, um mir zu
zeigen, wer er ist.“
„Gebe es Gott! - Ihr
kennt Euch aus, Sire. Wo habt Ihr das gelernt?“
„Auf Zypern, das
meiste. Ich ... ich hatte zwei jüngere Brüder...“
„Wollt Ihr mir die
Freude bereiten, und über die Stätten berichten, an denen unser
Herr Christus gelebt und gelitten hat, Jocelin? Ich habe mir immer
gewünscht, selbst einmal nach Jerusalem zu reisen!”
„Wenn es Euer Wunsch
ist. Gern, Madame.“ Eigentlich hätte er sich lieber zurückgezogen.
Aber er wollte auch keinen Verdacht erregen.
Jocelin saß lange bei
Ghislaine am Kamin und erzählte von Palästina. In diesen Stunden
fand zum ersten Mal seit langer Zeit in seiner Seele etwas anderes
Raum als das verzweifelte Ringen um Gerechtigkeit für seinen Orden,
oder die Frage, wo sie etwas fanden, um ihre Mägen zu
füllen.
„...Den ersten Ort,
den wir auf unserer Prozession besuchten, war die Kapelle des
Heiligen Kreuzes, dort wo die Kaiserin Helena das Kreuz unseres
Herrn gefunden hat“, erinnerte er sich an den Besuch in der
Grabeskirche von Jerusalem. Er war kaum acht Jahre alt gewesen
damals; umso wunderbarer erschien ihm alles im Rückblick. „Überall
auf den Stufen entlang der Wände knieten und standen die Pilger, um
kleine Kreuzzeichen in den Stein zu ritzen, zum Zeichen, dass sie
da waren. Sie erzählten sich, dass wer hier sein Siegel auf diese
Weise hinterlassen hat, am Jüngsten Tag nicht zu den Verlorenen
gezählt würde. Dann gingen wir wieder hinauf, bis zum Altar über
Golgotha und hörten die Messe.“
„Und das Grab Christi?
Mein Großvater erzählte mir, dass Tag und Nacht gewaltige Kerzen
ringsherum brennen...“
„Ja, das stimmt. Sie
waren höher als ich damals. Und die große Kuppel der Kirche ist
offen, damit immer die Engel auf und absteigen können zum
Grab.“
Das Feuer warf ein
unwirkliches Farbenspiel über ihre Gestalt. Sie lächelte und hatte
die Augen halb geschlossen Er fühlte sich an das Bild der Heiligen
Jungfrau in der Kirche von Provins erinnert - und realisierte einen
Moment später das Blasphemische dieses Gedankens. Hastig starrte er
zu Boden.
„Verzeiht mir!“ sagte
Ghislaine, seine Reaktion missdeutend. „Es muss furchtbar gewesen
sein, Eure Heimat zu verlieren. Es tut mir leid, wenn ich Euch
diesen Kummer zurückgebracht habe.“
„Nein. Nein, ich...
denke gern an die Zeit zurück, bevor -“ Er unterbrach sich, hätte
fast gesagt ‚bevor der Orden sich nach Zypern zurückzog‘. „Bevor
wir uns nach Zypern retteten.“
„Trotzdem ist Euer
Gesicht jetzt zu traurig, als dass ich Euch so gehen lassen könnte.
Das bringt Unglück!“ Sie griff nach der Laute, die über dem Kamin
hing.
Doch Jocelin erhob
sich.
„Ich glaube, es ist
besser, wenn ich jetzt gehe, Madame. Es ist schon spät und ich habe
wieder Schmerzen.”
„Ah, vergebt mir, ich
denke nur an mich! Ich werde Euch eine Kräutersalbe
auflegen.”
„Nein, danke. Macht
Euch keine Umstände. Ich wünsche Euch eine gute
Nacht!”
Mit einer leichten
Verbeugung war er aus der Tür.
Ghislaine blickte ihm
nach. Ein wunderlicher Mann….
Aber es tat so gut,
einfach nur einmal wieder zu träumen, wie sie es als Kind getan
hatte, oben auf dem Burgturm, wenn ihr Großvater ihr vom Heiligen
Land erzählt hatte und aus La Blanche das Himmlische Jerusalem
wurde.
Während sie sich für
die Nachtruhe vorbereitete, machten sich beiden Templer auf in die
Burgkapelle. Es war ein kleines, altes Gemäuer, mit einer Decke,
die vom Ruß hunderter Kerzen seit ihrer Erbauung geschwärzt war.
Zwei Fenster, an der Ost- und an der Westseite waren mit kostbaren
Glasscheiben verschlossen worden, deren Bildprogramm jedoch jetzt
im Dunkel nicht zu erkennen war. Der Altar war schlicht mit einem
weißen Tuch geschmückt. Das seitlich hängende Ewige Licht, eine
bauchige Öllampe, beleuchtete schwach das Kruzifix auf der Mensa
und die an der Seite auf einem Pfeiler stehende Jungfrau mit
Kind.
„Im Namen des Vaters,
des Sohnes und des Heiligen Geistes“, sagte Bruder Arnaud,
bekreuzigte sich und kniete nieder. Jocelin tat es ihm gleich. Dann
begannen sie flüsternd die vorgeschriebene Reihe an Vaterunsern zu
beten. Die immer gleichen Worte, die sich wie eine imaginäre
Perlenschnur aneinanderreihten, waren wie eine Brücke. Für eine
Weile schien die wirkliche Welt mit ihrer Grausamkeit und ihrer
Finsternis zu verschwimmen und einer lichteren Heimat Platz zu
machen.
„Vater unser im
Himmel, geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme…“
Gott musste sie doch
einfach hören, er konnte nicht vor ihrem Flehen die Ohren
verschließen, er KONNTE es nicht!
„Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden… Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir
vergeben jenen, die gegen uns gesündigt haben! Und erlöse uns von
dem Bösen! Amen!“
Am nächsten Morgen
widmete Jocelin sich weiter der Ausbildung Yvos. Der Junge war
diesmal eifrig bei der Sache, wenn auch nur aus Trotz gegenüber
seinem Lehrmeister. Ghislaine sah mit einiger Hoffnung, dass ihr
Sohn wohl zumindest einen Waffenstillstand mit Jocelin geschlossen
hatte. Einen Waffenstillstand allerdings, den er gewillt war,
auszureizen und auf die Probe zu stellen, wie sich in den folgenden
Tagen erweisen sollte. Manche Kleinigkeit ließ Jocelin ihm
durchgehen, doch gab es eine Grenze, bei deren Überschreiten er den
jungen Grafen rigoros heran nahm. Zuweilen sah Ghislaine diese
Disziplinierungsmaßnahmen mit gemischten Gefühlen – andererseits
hatte ihre eigene mütterliche Nachsicht wohl auch nicht zu Yvos
Besten gereicht…
Beinahe jeden Abend
saß sie dann mit ihren Gästen zusammen und genoss die Abwechslung
ihrer Gesellschaft. Auch wenn sie merkte, dass Jocelins Onkel sie
nicht sonderlich mochte, das war kaum zu übersehen. Aber nun
ja, alte Griesgrame gab es überall! Und allein die Anwesenheit
ihrer Gäste genügte, ihrem Heim etwas mehr an Leben zu verleihen.
Das hatte sie so lange vermisst!
Das strenge
Fastengebot sorgte dafür, dass sich am Karfreitag kaum ein Mensch
auf der Straße zeigte. Wen die Pflicht hinaus zwang, der schlurfte
mit mürrischem Gesicht einher.
Verwundertes
Kopfschütteln begleitete Jocelin, als er im Galopp durch Paris
ritt, das von der Gräfin geliehene Geld sorgsam in einem
Lederbeutel am Körper verstaut.
Am heutigen Tag waren
alle Gasthäuser und Schenken verriegelt. Die Kirche hatte alle
Lustbarkeiten untersagt, und die Beamten Seiner Allerchristlichsten
Majestät sorgten dafür, dass niemand das Verbot übertrat. So
dauerte es eine Weile, bis man Jocelin an der Spelunke des
Wucherers öffnete.
„Du kommst zu
unrechter Zeit!“ knurrte ihm eine Stimme entgegen. „Heute gibt‘s
keinen Wein, und auch keine Weiber!“
„Ich will nur meine
Schulden bezahlen.“
Auf diese Worte hin
schob sich Merot durch die Tür und musterte ihn
prüfend.
„Hat wohl etwas länger
gedauert, was, Herr Ritter? Was glaubst du denn, wie lang wir den
Kerl hier durchfüttern? Fast eine Woche! Wir sind doch kein
Hospiz!“
Er riss den Geldbeutel
an sich und zählte zweimal die Münzen nach. Dann wandte er sich in
den Schankraum um und befahl, den Gefangenen
herauszuführen.
Louis stolperte
Jocelin vor die Füße. „O Gott, ich dachte, Ihr holt mich nie hier
raus!“
„Verzeiht mir“, bat
Jocelin, während er seinen Ordensbruder vor den Schrankraum
brachte. „Ich konnte es einfach nicht eher
bewerkstelligen...“
Er schwang sich auf
den Rücken seines Pferdes, half Louis hinter sich auf, und während
sie die Stadt mit ihren alptraumhaften Erinnerungen hinter sich
brachten, berichtete er, was geschehen war...
„Das heißt also, Ihr
werdet noch einige Zeit auf La Blanche bleiben, Sire Jocelin?“
fragte Louis.
„Solang, bis ich das
Geld abgedient habe wenigstens, was sie mir für heute geliehen
hat.“
„Ah...ich weiß nicht,
ob das gut ist“, brachte Louis zögernd vor. „Auf dieser Burg
zusammen mit dieser... Frau. Ihr wisst schon...“
„Die Gräfin von
Montfort unterhält gute Beziehungen zum Königshof. Das kann uns nur
nützlich sein!“
„Aber die Regel
verbietet den Umgang mit Frauen. Es könnte sein, dass... nun, ich
habe nicht das Recht, Eure Entschlüsse anzuzweifeln, ich habe Eurer
Wahl zugestimmt, ich weiß, aber manche Brüder könnten denken, dass
Ihr den Orden verraten wollt...“
„Denkt Ihr
das?“
Louis senkte den Kopf.
„Unser Komtur sagte immer, die Sünden des Fleisches sind es, die
schon so viele vom Weg ins Paradies abgebracht haben. Ehe man es
überhaupt bemerkt.“
„Das war recht
gesprochen. Wir sind Ordensbrüder, und alles, was uns abhält Gott
zu dienen, lässt uns dem Teufel dienen!“ Seltsamerweise hatten die
Worte, die er selbst so oft von Arnaud gehört hatte, plötzlich
einen faden Beigeschmack, als er sie aussprach. Er fühlte sich
veranlasst hinzuzufügen: „Aber das ist auch eine schwere Zeit, und
wir müssen günstige Gelegenheiten ergreifen!“
Louis nickte nur.
Wenig später trennten sich ihre Wege. Louis schlug die Richtung
nach Fontainebleau ein, während Jocelin wieder auf La Blanche
zuhielt.
Wieder einmal war nach
einem Tadel Yvos Wut mit ihm durchgegangen. Fluchend warf er mit
einem Speerstoß die hölzerne Übungspuppe um.
„Nie bin ich Euch gut
genug! Leuteschinder! Bettelpack!“ schrie er Jocelin an. „Ich
könnte von den besten Rittern des Königs ausgebildet
werden!“
„Das wirst du aber
nicht, wenn du nicht lernst, dich zu beherrschen!“
„Wenn mein Vater noch
hier wäre, würde er Euch vom HOF JAGEN!“
Jocelin griff ihn am
Arm. „Dein Vater ist tot. Und du machst ihm Schande.“
Wütend riss der Junge
sich los und packte den Speer.
„Nein, genug damit für
heute, Yvo.”
„Was ist, seid Ihr
schon müde?!”
„Hol’ dein Pferd! Ich
will sehen, wie du dich im Sattel hälst!”
„Ha! Jeder weiß, dass
ich der beste Reiter in der ganzen Grafschaft bin!”
Der Junge beherrschte
sein Pferd tatsächlich meisterhaft. Während sie den steinigen
Nordhang hinab galoppierten, nahm er auf seinem Rappen geschickt
jedes Hindernis. Jocelin ließ ihm einen Vorsprung und Zeit, seinen
Zorn dabei loszuwerden. Erst am Waldrand holte er wieder zu ihm
auf.
„Du hattest Recht, du
bist ein hervorragender Reiter!” rief er ihm zu.
Yvo zog die Zügel an
und drehte sich mit einem triumphierenden Lachen um. Sichtlich mit
sich kämpfend fügte er dann hinzu: „Ihr seid aber auch nicht
schlecht! Bisher gab’s keinen, der mich hat einholen können. -
Sagt, wie viele Sarazenen habt Ihr in die Hölle
geschickt?”
„Der Krieg ist kein
Turnier, Yvo. Wenn man um sein eigenes Leben kämpft, bleibt keine
Zeit, die toten Feinde zu zählen.”
„Mein Vater ist im
Krieg gefallen.” Yvos Stimme war leise geworden. „Wenn er noch da
wäre… dann…“
„Ich habe auch viele
meiner Freunde im Krieg verloren. Es ist furchtbar, ich weiß
es.”
In diesem Augenblick
zuckte ein Blitz über den Himmel, gleich darauf grollte Donner. Bei
ihrem wilden Ritt hatten Jocelin und Yvo nicht bemerkt, wie das
Unwetter heraufgezogen war. Wieder blitzte es. Regen setzte ein.
Ehe sie das schützende Blätterdach erreicht hatten, waren sie bis
auf die Knochen durchnässt.
Jocelin musste an
jenen Freitag vor nunmehr sechs Monaten denken, an dem er von
Provins aufgebrochen war. Sechs Monate! Und noch immer hatte sich
keine Stimme zur Verteidigung des Ordens erhoben!
„Messire Jocelin",
fragte Yvo unvermittelt", werdet Ihr mich lehren, wie die Sarazenen
kämpfen?”
„Ja. Ja, warum nicht",
erwiderte der Ordensbruder noch ganz in Gedanken. Als die ersten
Sonnenstrahlen die Wolken durchbrachen und der Regen verebbte,
machten sich die beiden durchgefroren auf den Rückweg.
Kaum im Burghof
angelangt sprang Yvo ohne einen Gedanken an sein Reittier aus dem
Sattel und wetzte in Richtung Küche davon. Auf der Treppe kam ihm
seine Mutter entgegen.
„Gütiger Gott! Junge,
wie siehst du aus?”
„Wir waren
ausreiten.”
Yvo griff nach einem
frischen Laib Brot und rutschte nah an das Kaminfeuer.
„Und Sire Jocelin? Wo
ist er? Ihm ist doch nichts geschehen?”
„Weiß nicht. Im Stall,
denk’ ich“, brachte Yvo zwischen zwei Bissen hervor und schloss
genüsslich die Augen, als die Wärme ihn durchdrang.
Ghislaine eilte zu den
Stallungen. Jocelin hatte gerade seinem Pferd eine Decke
übergeworfen, als sie eintrat.
„Ihr denkt an Euer
Pferd, aber nicht an Euch selbst!” Sie nahm ihren Mantel und legte
ihn um seine Schultern.” Ihr könnt Euch ja den Tod
holen!”
Er wandte sich ihr zu,
ein überraschtes Lächeln auf dem Gesicht, über das noch die
Regentropfen aus seinem Haar rannen, und Ghislaine fühlte sich
plötzlich so verwirrt, dass ihr die Worte fehlten. Mit einer
fahrigen Geste tastete sie nach den Haarsträhnen, die ihr in die
Stirn hingen. Für Augenblicke, die ihr wie Ewigkeit schienen, sahen
sie einander nur an.
„Schickt Yvo zu mir“,
brach Jocelin dann die Stille, „er hat zu lernen, dass er sich erst
um sein Reittier kümmern muss, bevor er es sich in der Wärme
gemütlich macht!“
„Vater unser, der du
bist im Himmel, geheiligt werde dein Name...“ Gedämpft klangen die
Stimmen Arnauds und Jocelins durch die kleine Kapelle wie jeden
Abend, wenn der Rest der Burgbewohner mit Ausnahme der Wachposten
längst schlief. Aber diesmal konnte Jocelin sich nicht so auf seine
Andacht konzentrieren wie er es gewohnt war. Immer wieder
geisterte Ghislaines Lächeln durch seine Erinnerung; wie sie am
Nachmittag nach dem Ausritt mit Yvo zu ihm in den Stall gekommen
war. Es war nicht nur eine momentane Unaufmerksamkeit, eine kleine
Zerstreuung, wie der Teufel sie dem aufmerksamsten Beter abringen
konnte. Nein, ihr Bild hatte eine ganz andere Präsenz, und das
gewahr werdend fühlte der junge Ordensbruder mit Verwirrung
gepaartes Entsetzen in sich. Er konnte das Gefühl nicht einordnen,
und umso mehr schien es ihm von Übel...
Er hob den Kopf und
versuchte in dem matten Lichtschein das Wandgemälde über dem Altar
zu deuten. Christus in der Glorie, und darunter… eine Stadt mit
weißen Zinnen. Das himmlische Jerusalem! Er hörte Ghislaines
Stimme: ‚Erzählt mir von der Heiligen Stadt… ist es wahr, dass ihre
goldenen Kuppeln das Licht der Sonne überstrahlen?‘
„Jocelin?“
Arnauds Stimme ließ
ihn aufschrecken und er merkte, dass er mitten in seinem Gebet
verstummt war.
„Ich... ich glaube,
ich bin... sehr müde. Verzeiht mir.“
Der alte Templer
nickte. Aber die Antwort seines Pflegesohnes stellte ihn keineswegs
zufrieden. Jocelin war immer einer jener Brüder gewesen, die noch
nach aller Mühsal des Tages, allen Waffenübungen in den
Gebetszeiten neue Kraft geschöpft hatten. Er hatte ihn noch nie
derart abschweifen hören...
Die folgenden Tage
entschuldigte sich Jocelin mit vagen Ausreden vor den gemeinsamen
Essen und abendlichen Stunden am Kamin mit Ghislaine. An jenem
Abend aber hatte kurz vor Toresschluss ein Franziskaner auf
La Blanche um Obdach erbeten, weil sein Pferd lahmte. Jetzt saß er
mit Ghislaine, Arnaud, und Jocelin beim Nachtmahl, und die
Ordensbrüder hofften auf neue Nachrichten.
„So. Nach Tours seid
Ihr also unterwegs, Bruder", bemerkte Arnaud wie
beiläufig.
Der Bettelmönch nickte
und stocherte nach einer Gräte.
„Ich muss die Predigt
halten zur Eröffnung des Ständetages. Ich hoffe, Euer Schmied
bekommt das mit dem Hufeisen wieder hin, so dass ich morgen weiter
kann!”
„König Philipp hat die
Stände einberufen?” wiederholte Ghislaine überrascht.
„Ja. Er will ihre
Meinung einholen, was mit den Brüdern des Templerordens geschehen
soll. Ach, ich sage Euch, Messires, zwei Priester aus meinem
Konvent waren bei den Verhören voriges Jahr in Paris dabei; es ist
wirklich entsetzlich, was sie berichtet haben! Unglaublich, dass
sich solche Verbrechen in unserer Mitte abgespielt haben, ohne dass
jemand was davon geahnt hat!”
Dankend lehnte er eine
weitere Portion Gemüse ab und schob den Teller zurück. „Stellt Euch
vor, die Templer lassen ihre Novizen auf das Kreuz unseres guten
Herrn Jesus spucken und darauf herumtrampeln! Sie schänden Knaben
und sie treiben Hexerei mit teuflischen Götzenbildern! Gott sei
gelobt, dass wir einen so guten König haben, der diesen Skandal
aufgedeckt hat! Wir müssen viel für ihn beten!”
„Ja, das müssen wir",
echote Arnaud.
Der Franziskaner
gähnte.
„Ich glaube, ich bin
doch recht erschöpft von dem Ritt heute...”
Ghislaine winkte dem
Mädchen, das die Speisen aufgetragen hatte: „Zeig’ dem ehrwürdigen
Bruder die Kammer, die wir ihm hergerichtet haben!”
„Oh, Madame, Ihr meint
es gut mit meinen alten Knochen! Der Herr möge es Euch
vergelten!”
Er machte das
Segenszeichen über den Anwesenden.
„Madame Gräfin,
erlaubt, dass auch wir uns zurückziehen", bat Arnaud, als die
Schritte des Bettelmönchs verklungen waren.
„Selbstverständlich,
Messires. Ich bin wohl keine gute Gesellschafterin", sagte
Ghislaine scherzend. “Morgen werde ich ein paar Spielleute
einladen.”
Das Lächeln schwand
von ihren Lippen, sobald Jocelin den Saal verlassen hatte. Sie trat
ans Fenster und blickte ihm nach, wie er Arnaud über den Hof
geleitete. Wie ernst sein Gesicht bei der Erzählung des
Franziskaners gewesen war...Und die Tage zuvor... Warum floh er
plötzlich ihre Gesellschaft? Hatte sie irgendetwas gesagt, was ihn
verletzt haben könnte? Seufzend schloss sie die Fensterläden und
rief nach einem Knecht, das Feuer zu löschen.
Jocelin vergewisserte
sich, dass niemand in der Nähe ihrer Kammer war. Dann sagte er
leise:
„Wir müssen nach Tours
und versuchen, mit den Abgeordneten zu sprechen.”
„Ja. Aber zuvor
brauchen wir unbedingt Kontakt zu Meister Jacques. Ohne seine
Autorisation ist kein Bruder befugt, etwas zu
unternehmen.”
„So weit ich weiß, ist
er immer noch in Corbeil.”
Arnaud nickte. „Und
Philipp wird ihn bewachen wie seinen Augapfel! Aber es muss einen
Weg geben, zu ihm zu gelangen!”
„Morgen ist Sonntag.
Da erhält Yvo keinen Unterricht. Ich werde nach Fontainebleau
reiten und die Sache mit den Brüdern beraten.“
Esquieu de Floyran
hatte die Messe König Philippe zuliebe besucht. Es war für ihn eine
abscheulich frömmelnde Angelegenheit mit einer langweiligen,
moralisierenden Predigt gewesen, nur zu einem nütze: ungestörten
Gedanken an Ghislaine de Montfort nachhängen zu können. Es war
beinahe sechs Wochen her, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte
- in Begleitung dieses Templerrenegaten Jocelin ‚von Judäa‘.
Diverse Erledigungen bei Hofe und eine leidige Infektion, die ihn
für fast einen Monat so gut wie ins Bett zwang, hatten bisher alle
Planungen erstickt. Aber nun... nun war es wirklich an der Zeit!
Nachdem er sich von einem Höfling genügend Geld für ein aufwendiges
Gewand erschlichen hatte, begab er sich also auf die
Reise.
Ghislaine war allein,
als Esquieu de Floyran kam. Mit leichtem, elegantem Schritt und
siegesgewiss lächelnd. “Seid herzlich gegrüßt,
Madame!”
„Erklärt Euer Kommen!”
befahl sie kühl ohne den Versuch machen zu wollen, die Höflichkeit
zu wahren.
„O Madame, wie könnt
Ihr fragen? Ihr seid der Grund meines Besuches. Seit dem Turnier
habe ich Euch nicht mehr bei Hofe gesehen, und so habe ich mir
Sorgen gemacht.”
Großer Gott, sie hatte
noch nie einen so schlechten Lügner gehört!
„Ihr seid gütig und
ohne Arglist, und das verleitet übelwollende Menschen, Euch
auszunutzen, Madame.”
„Ach ja?”
„Madame, Ihr seid zu
Unrecht so schroff zu mir. Ich bin Euch ganz ergeben. Und einen
verlässlichen Freund könnt Ihr jetzt sehr gut
gebrauchen.”
„Ich vermag Euch nicht
zu folgen!”
„Ihr wisst doch, dass
die Güter von Begünstigern der Templer an die Krone fallen, so will
es König Philipp. Ach, wie schade wäre es doch, wenn Ihr diesen
herrlichen Besitz verlieren würdet.” Er genoss es zu sehen, wie
mehr und mehr die Angst Ghislaine ergriff. Er kam noch etwas
näher und senkte seine Stimme. “Madame, der Mann, dem Ihr Obdach
und Speise gewährt in Eurer Großmut - ”
„Sire
Jocelin?”
„Hat er Euch erzählt,
woher er kommt? Wer er ist?”
„Was wollt Ihr damit
sagen, Floyran? Hört auf, wie die Katze um den heißen Brei zu
reden!”
„Er ist ein Templer,
ein Götzendiener und Verschwörer…”
„Geht,
Floyran!”
„…und ich würde euch
raten, nicht allein in seiner Nähe zu verweilen.“
„Hinaus!“ Ghislaine
mühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. „Ich bin
nicht gewillt, die Lügen Euerer Denunziantenzunge
anzuhören!”
„Ihr tätet gut daran,
etwas freundlicher zu mir zu sein!” Mit einem raschen Griff hatte
Floyran sie an sich gerissen. „Wenn ich es will, wandert Ihr noch
heute in den Kerker! Was meint Ihr, erwartet Frauen, die mit einem
gotteslästerlichen Templer Unzucht treiben?!”
Sie wehrte sich
zornig, schrie um Hilfe. Lachend ließ Floyran sie los. Schon
stürmten zwei ihrer Waffenknechte in das Gemach, hinter ihnen
Jocelin, der den Lärm von seiner Kammer aus gehört
hatte.
„Werft diesen Mann
hinaus!” rief sie, auf Floyran deutend.
„Denkt an meine
Warnung, Madame!” rief er, als einer der Männer ihn am Arm packte.
Mit einem Seitenblick maß er Jocelin. „Wir sehen uns wieder, beau
frère!”
Der Waffenknecht stieß
ihn durch die Tür, sein Kamerad zerrte ihn die Treppe
hinunter.
Erst als die Tür
zufiel würde Jocelin klar, was der Fremde eben gesagt hatte. Beau
frère… Eine plötzliche Kälte kroch in ihm hoch, während er sich
langsam zu der Gräfin umwandte. Sie war blass, aber ihr Blick
fixierte ihn fest.
„Wer war
das?“
„Esquieu de Floyran",
erwiderte sie. „Der Mann, der die Templer denunziert hat.” Ihre
Worte waren wohl überlegt, und sie ließ ihren Gast dabei keine
Sekunde aus den Augen. Ihre rechte Hand ruhte auf einem zierlichen
Dolch an ihrer Seite. „Und Ihr, Jocelin, wer seid
Ihr?”
Er
schwieg.
„Antwortet mir, Sire
Jocelin! Ist es wahr, was Floyran sagte, seid Ihr ein
Templer?!”
Er antwortete nicht,
und dieses Schweigen war beredt genug!
Es ist die Wahrheit!
Gütiger Himmel, es ist wahr! Ghislaine fühlte, wie das Entsetzen in
ihr Zorn Platz machte. Sie fühlte sich vom Schicksal verraten
und hintergangen. ER hatte sie belogen und
hintergangen…
„Ihr braucht keine
Furcht zu haben. Wir werden La Blanche sofort verlassen“, hörte sie
Jocelin endlich wieder sprechen und ihr den letzten
Hoffnungsschimmer entreißen, es könnte doch alles eine Lüge
sein.
„Ghislaine, wir sind
keine Verbrecher! Wir spucken nicht auf das Kreuz und beten keine
Götzen an! Man hat uns verleumdet! Männer wie dieser Floyran! Ihr
müsst mir glauben, Ghislaine! Wir sind unschuldig!” Er wusste
nicht, warum ihm plötzlich soviel daran lag, dass sie ihm glaubte –
aber es war so.
Sie musterte ihn
schweigend, nicht fähig, irgendetwas zu tun. Waren das Lügen? Die
Lügen und Verlockungen der Dämonen, vor denen Floyran sie gewarnt
hatte? Und war das der Weg des Verderbens, der sich vor ihr
ausbreitete? Nein. Nein, sie musste Jocelin glauben! Sie musste es
ganz einfach, denn sonst, hatte sie das Gefühl, würde die Welt über
ihr zusammenstürzen... Er konnte kein Ketzer sein! Sie konnte sich
nicht so in ihm getäuscht haben!
„Ich wende mich an den
König!“ entschied sie, tief Atem holend. „Er muss davon
erfahren!“
„Madame Ghislaine, es
war König Philipp, der den Befehl zu unserer Verhaftung gab, und
zur Folter meiner Brüder. Er glaubt nicht nur den Verleumdungen, er
hat bisher auch alles darangesetzt, dass wir unsere Unschuld nicht
beweisen!”
Wie war das möglich?
Philipp? Wie konnte Philipp so etwas Abscheuliches tun?! Sie schlug
die Hände vors Gesicht und schüttelte langsam den
Kopf.
„Was...was wollt ihr
jetzt tun?” fragte sie dann.
„Wir müssen fort von
La Blanche, nachdem Floyran von unserer Anwesenheit weiß. Soviel
steht fest. Wir werden versuchen, auf dem Ständetag etwas zu
erreichen.”
„Auf dem Ständetag...“
Ghislaine versuchte, ihre wirr durcheinander jagenden Gedanken zu
ordnen. „Mein Onkel, Erzbischof Gregor.... Er wird sicher zu den
Abgesandten gehören! Ich werde ihm schreiben! Er wird Euch
anhören!”
„Madame, ich will
nicht, dass Ihr Euch meinetwegen in Gefahr begebt!”
Doch sie war schon auf
dem Weg, ihr Schreibbesteck und Pergament zu holen.
Als Arnaud von den
Geschehnissen erfuhr, war er entsetzt.
„Du hast ihr gesagt,
wer wir sind?”
„Ich hatte keine
andere Wahl. Andernfalls wäre sie erst recht misstrauisch geworden.
Nach Floyrans Andeutungen konnte ich nichts mehr abstreiten! Und
wer weiß, was sie dann unternommen hätte.”
„Und wer weiß, was sie
jetzt tut? Dieser Brief, den sie dir gesiegelt hat, könnte eine
Falle sein und wir laufen in Tours in die Arme der
Inquisition.”
„Ich vertraue Gräfin
Ghislaine.“
„Du... vertraust
ihr?“
Arnauds seltsamer
Tonfall bei diesen Worten entging Jocelin. Er hatte schon weiter
gesprochen: „Wir gehen so vor, wie ich es gestern mit den Brüdern
besprochen habe, mit dem Unterschied, dass wir nicht mehr nach La
Blanche zurückkehren. Ich bringe Euch nach Fontainebleau und Ihr
brecht sofort mit Louis und Ranulf nach Tours auf. Ich reite nach
Corbeil und sehe, ob ich an Meister Jacques herankomme. - Das Geld,
was Ghislaine mir gegeben hat, wird mir hoffentlich dabei helfen! -
Ich werde am Sonntag bei euch in St. Madeleine in Tours sein,
so Gott will.”
„Wir sollten
vorsichtig sein. Floyran könnte ein paar Männer anheuern, um uns
abzufangen.”
„Ja.” Jocelin
schnallte seinen Schwertgurt um. „Dann wird er nicht mehr
davonkommen!”
„Jocelin", Arnaud
legte seinem Ordensbruder die Hand auf den Arm. „Keinen Hass! Hass
ist eine Teufelssaat, und der Anfang des Verderbens!”
„Ich weiß.“ Das waren
diese Worte des verehrungswürdigen Bernhard von Clairvaux. Die
Essenz ihres Glaubens, ihres Ordens. Zu kämpfen und sterben, auch
zu töten, aber nicht aus Hass, sondern aus Liebe: für jene, die es
zu beschützen galt.
Worte! „Und die
Qualen, den Tod, den Floyran verschuldet hat?!”
„Dennoch, Jocelin. Wir
dürfen nicht hassen. Wir müssen beten für unsere Verfolger, so wie
unser Herr es uns gelehrt hat. Wer das Schwert aus Hass führt, ist
verloren!”
Jocelin erwiderte
nichts. Er wollte Arnaud kein Versprechen geben, das er vielleicht
nicht im Stande war zu halten.
Wie ein Besessener war
Esquieu de Floyran nach Paris geritten, um die Templer auf La
Blanche anzuzeigen. Doch auf halbem Wege besann er sich eines
anderen. Er konnte sie nicht der Inquisition ausliefern ohne
gleichzeitig Ghislaine in Gefahr zu bringen. Das würde jede
Hoffnung auf ihre Gunst für immer zunichte machen, ganz abgesehen
davon, dass man sie unpraktischerweise vielleicht ebenfalls in
einem Kerker verschwinden ließ! Nein, er musste diesen Bastard von
Templer allein in seine Gewalt bringen...
Zwei Tage später
erschien Floyran wieder vor La Blanche, im weiten orientalischen
Gewand eines Juden. Die Torwächter erkannten ihn nicht und ließen
den vermeintlichen Gewürzhändler ein. Es war Mittag, und kaum ein
Mensch war im Hof der Burg zu sehen.
Aus der Kapelle klang
eine helle Stimme. Comtesse Ghislaine sang das Mittagsoffizium.
Esquieu lehnte sich an die Mauer des Palais und lauschte eine
Weile. O ja, sie war fromm, aber das machte sie nur umso
reizvoller! Welche Befriedigung würde es sein, ihr zu zeigen, dass
sie nicht anders war als die bemalten Huren...
Unterhalb des
Bergfrieds schlug ein Junge mit seinem Holzschwert in verbissenem
Eifer auf eine Strohpuppe ein.
„Aha, der junge Graf“,
erinnerte sich Floyran und ging auf ihn zu.
„He, Junge, ich
suche-“
Yvo drehte sich um und
musterte den Besucher von Kopf bis Fuß. „Wie wagst du mit mir zu
reden, Ungläubiger?!“
„Vergebt mir, Euer
Gnaden!“ sagte Esquieu de Floyran in gespielter Demut und musste
sich ein Lachen verkneifen. „Ich suche... einen Ritter aus dem
Heiligen Land.“
„Sire Jocelin ist
fort!“
„Und wohin ist er
gegangen?“
„Was geht‘s dich an,
Jude? Er ist eben ganz einfach FORT!“ Yvo brachte mit einem
zornigen Hieb die Übungspuppe zu Fall.
Esquieu de Floyrans
Augen verengten sich. Zum Teufel, der Templer war ihm entwischt!
Nun gut, er würde zurückkommen! Ganz sicher würde er das. Die
Fleischeslust würde ihn schon wieder zurücktreiben in die Arme
seiner Geliebten! Und dann... dann würde er da sein und ihn
erwarten...
Er wollte gehen, doch
dann wandte er sich noch einmal um: „Ich habe noch etwas zu
bestellen, junger Herr! Grüßt Madame Ghislaine von Sire Esquieu de
Floyran. Sie möge sich seiner erinnern! Denn ER hat sie nicht
vergessen.“
Die Burg von Corbeil
ragte über der Stadt auf wie der Stein gewordene Herrschaftswille
des Königs. Ein tiefer Graben umgab das aus den Felsen wachsende
Bollwerk. Vier Türme krönten die äußere Mauer.
Der Kastellan war ein
rotgesichtiger, beständig schwitzender Mann, beherrscht von dem
Eifer, keinen Fehler zu begehen. Alles, was von der Normalität
abwich, stürzte ihn in hitzige Nervosität. Und was verlangte da
dieser junge Mann?
„Bringt mich zu dem
Meister der Templer!“
„Bei allen Heiligen!“
ächzte der Kastellan. „In wessen Auftrag kommt Ihr?“
„Ich habe meinen
Befehl von einem hohen Herrn, und ebenso hoch wird Eure Belohnung
sein!“
Der Kastellan wischte
sich den Schweiß von der Stirn und starrte auf die Goldflorins, die
der Mann vor ihm auf den Tisch zählte. Ein hoher Herr?! Wer, wenn
nicht König Philipp? Der König von England? Der Papst
etwa?
„Seine Majestät hat
jeglichen Kontakt zu den Gefangenen untersagt!“
„Seine Majestät wird
nichts erfahren.“
Mächtiger als König
Philipp?! Heilige Barmherzigkeit, warum musste gerade ihm das
passieren?! Und dieses Gold... wie viel mochte es
sein?
„Aber wenn die Wache
ihren Rundgang macht, wird man uns sehen!”
„So lang wird es nicht
dauern.”
Jocelin legte den
vorletzten Goldflorin auf den Tisch. Eine Weile herrschte
Schweigen, unterbrochen nur vom Seufzen und Ächzen des Kastellans.
Schließlich stand er doch auf und bedeutete dem Ordensbruder, ihm
zu folgen.
Jacques de Molay und
der Provinzmeister der Normandie Godefrois de Charny schraken auf,
als die Tür ihres Verlieses entriegelt wurde. Voller Furcht,
Überraschung und Misstrauen richteten sich ihre Augen auf dem
jungen Mann, den der Kastellan einließ. Betroffen erkannte Jocelin
seinen Befehlshaber. Das Gesicht hinter der rußenden Kerze war das
eines alten Mannes. Er fiel auf die Knie und küsste die rechte Hand
des Meisters.
Jacques de Molay hob
ihn auf und umarmte ihn. „Wer seid Ihr, Bruder?“ fragte er
bewegt.
„Jocelin aus der
Komturei Provins, Sire.”
„Vertraut ihm nicht!”
fiel ihm Charny ins Wort. „Es wäre nicht das erste mal, dass sie
uns einen falschen Bruder schicken, um uns
auszuhorchen!”
Doch Jacques de Molay
hatte sich an einen fernen Tag auf Zypern erinnert. „Jocelin, der
Pflegesohn von Bruder Arnaud...”
„Ja. Ich komme als
Gesandter von den Brüdern, die in Freiheit sind, und bereit, Euch
und dem Orden zu dienen!“
Mit einer Hoffnung,
die aus der Verzweiflung geboren war, hörte Godefrois de Charny,
was Jocelin berichtete. War dieser junge Mann das Zeichen Gottes,
um das sie Tag und Nacht flehten?
„Sire Arnaud und ein
anderer Bruder sind bereits auf dem Weg nach Tours, um mit den
Abgeordneten der Stände zu sprechen. Und hier ist die Petition, die
wir einem der geistlichen Abgeordneten geben wollen. Wir bitten
Euch um Approbation, wenn Ihr damit einverstanden seid,
Messire.”
Jacques de Molay
musste das Schreiben dicht vor die Augen halten, um die Buchstaben
noch unterscheiden zu können. Dann nickte er langsam. „Ja. Erinnert
sie an die Privilegien unseres Ordens! Unser Archiv ist in den
Händen König Philipps, aber das hier wird genügen. Bruder Arnaud
kennt sich aus...”
Der Meister nahm eine
Kerze, tropfte etwas Wachs auf das Pergament und drückte seinen
Siegelring unter die Petition.
Eine Faust donnerte
gegen die Kerkertür. „Beeilt Euch, zum Teufel!“ drängte der draußen
wartende Kastellan.
„So lange ich
Gefangener bin und im Kerker, bestelle ich Bruder Arnaud und Euch
zu den Prokuratoren des Ordens. Ihr könnt Euch beiordnen, wen Ihr
für richtig haltet -“ Jacques de Molay streifte seinen Ring ab und
übergab ihn Jocelin. „Nehmt dies als Zeichen, dass ich Euch
investiert habe.”
Godefrois de Charny
runzelte die Stirn. Waren Arnaud und der junge Bruder aus Provins
einer solchen Kompetenz fähig? Nogaret und der Großinquisitor
Imbert hatten sie alle überrumpelt und ins Gestrüpp ihrer
Gesetzestexte gelockt. Konnte überhaupt noch ein Mensch einen
Ausweg finden?!
„Bruder Jocelin, was
wisst Ihr von unseren Brüdern in Aragon, in England, im Reich? Sind
sie noch in Freiheit?“ fragte Molay.
„Die Brüder in England
sind gefangen, obwohl Papst Clemens noch keinen allgemeinen Befehl
erlassen hat.”
„Aber König Philipp
hat einen langen Arm!” murmelte Godefrois de Charny
sarkastisch.
„Aus Aragon und dem
Reich haben wir noch nichts gehört", fuhr Jocelin
fort.
„Wer weiß, was noch
geschehen wird... Ich gebe Bruder Arnaud und Euch alle
Vollmachten, Bruder Jocelin, auch über die Brüder in den anderen
Ländern!“
Der Kastellan klopfte
erneut.
„Ihr müsst gehen. -
Gott schütze Euch!“
Einen Augenblick
später waren die Gefangenen wieder allein.
Lauf, lauf,
lauf!“
Arme streckten
sich nach ihm aus, Hände versuchten ihn zu packen, aber seine
Kinderbeine waren viel zu langsam. Er stolperte, fiel und schrie
aus Leibeskräften, obwohl man ihm doch geboten hatte, ruhig zu
sein. Er sah, wie die Bewaffneten in das Haus eindrangen, hörte das
Krachen und Scheppern zu Boden geworfener und berstender
Gefäße.
„Guillaume, komm her!
Lauf doch, um Gottes willen!“ Die Stimme klang noch schriller als
die zersplitternden Karaffen der Küche. Aber der Junge rührte sich
nicht. Er saß im Schlamm des hinter der Viehtränke abführenden
Weges und starrte hinunter auf das Haus wie unter einem Zauberbann.
Zwei der Soldaten zerrten einen Mann mit sich.
„Großvater!
GROSSVATER!!!“ Jetzt rannte der Junge, aber nicht den anderen
Flüchtlingen hinterher, sondern abwärts, zurück zum Haus.
„Großvater! NEIN! NEIN! NEIN!“
Der alte Mann in der
schwarzen Robe drehte sich zu ihm um. Ein verzweifelter Ausdruck
kam in seine Züge. Er schrie etwas, aber der Lärm der Bewaffneten
ließ die Laute nicht bis hinauf zu dem Kind dringen, das sich im
aufgeweichten Erdreich und über sperriges Wurzelwerk zu ihm
vorwärts zu kämpfen suchte. Halb stolpernd, halb rutschend den
kleinen Hang hinter dem Haus hinab.
Zwei gepanzerte Arme
ergriffen den alten Mann und bugsierten ihn in Richtung eines
Wagens. Der Junge sah einen weißen Mantel durch das Blattwerk
leuchten. Einen weißen Mantel mit einem blutroten
Kreuz...
„Guillaume, Guillaume,
wach auf!“ Seine Frau rüttelte ihn an den Schultern, und der
Siegelbewahrer ließ endlich den Albtraum hinter
sich.
„Schon wieder diese
alte Geschichte?“ fragte sie, ihre Haare wieder unter die
Nachthaube stopfend, während Nogaret aufstand, zu der neben dem
Bettalkoven stehenden Waschschüssel trat.
„Ja.“ Er tauchte die
Hände und dann das Gesicht ein. „Es wird erst ein Ende nehmen, wenn
alles vollbracht ist...“
Seine Frau schüttelte
den Kopf. Er hatte ihr weder die ganze Wahrheit über die damaligen
Ereignisse erzählt, noch was ihn sonst in dieser Sache bewegte. Es
war nichts, was sie etwas anging, was sie verstehen würde... Er
griff nach seinen Sachen. Er wollte nicht noch mehr Zeit mit Schlaf
vergeuden. Der Ständetag rückte heran. Es gab noch viel zu tun...
sehr viel, bis er endlich das erreicht haben würde, was
hoffentlich die Albträume für immer aus seinem Geist
verbannte...
Jocelin stand in einer
Ecke des Rathausplatzes von Tours. In zwei Tagen würde hier die
Hauptversammlung der Stände tagen. Aber schon heute fanden sich die
Menschen ein, um sich an zahlreichen Pamphleten zu erhitzen. Ihr
Ziel schien es zu sein, die Menge gegen den Papst
aufzuwiegeln.
„Clemens, was seid Ihr
für ein Hirte?“ ereiferte sich einer der bezahlten Redner. „Ihr
sorgt für Eure Familie, verschachert Ämter der Heiligen Kirche an
unwürdige Verwandte! Wisst Ihr nicht, dass die Sorge um die Seelen
das höchste Gut ist, und Ihr verschleudert es! Wie schlecht tut Ihr
den Dienst, den die Christenheit Euch anvertraut hat!“
Das Gebaren des
Redners ließ keinen Zweifel, dass für ihn ‚die Christenheit‘
gleichzusetzen war mit dem Allerchristlichsten König Philipp. Und
sangen nicht selbst die Kinder Spottverse über den Papst von Königs
Gnaden?
„Clemens, Ihr
verschleudert nicht nur das Gut der Kirche, Ihr seid auch
nachlässig in der Bestrafung der Feinde Christi! Diese Templer sind
alle Gotteslästerer und Mörder, wie lang wollt Ihr noch dulden,
dass sie unseren Herrn beleidigen? Bedenkt, Clemens, es sind die
Lauen, die Gott aus seinem Mund speit! Enttäuscht das Volk nicht
länger, das auf Euch hofft! Befreit es von der Geisel der Ketzerei
oder -“ Die Stimme schallte weit über den Platz, “oder das Volk
wird sich von EUCH befreien!“
Sprechchöre
antworteten dem Redner: „Befreit uns! Befreit uns von den Ketzern!
Befreit uns von den Ungläubigen!“
Jocelin machte sich
auf den Weg durch die schreiende, wild gestikulierende Menge. Papst
Clemens würde großen Mut brauchen, wollte er sich dieser
fanatischen Flut entgegenstellen...
An der Pforte des
Martinsklosters angekommen, läutete er. Der Kopf eines Mönches
erschien hinter dem Klausurgitter. „Gelobt sei Jesus
Christus!“
„In Ewigkeit, Amen.
Ich ersuche um eine Audienz bei dem hochwürdigsten Gregor,
Erzbischof von Rouen!“
„Habt Ihr eine
Empfehlung des Königs?”
„Ich bin Jocelin von
Provins. Sagt Seiner Ehrwürden, ich komme von Gräfin Ghislaine de
Montfort. Hier ist eine Nachricht mit ihrem Siegel!”
Der Mönch seufzte,
betrachtete den seltsamen Ankömmling, der wie ein Bettler aussah,
aber offenbar keiner war und seufzte wieder. Dann öffnete er die
Tür und befahl: „Wartet hier im Garten, Sire!“
Gregor von Rouen
runzelte nachdenklich die Stirn, als der Mönch ihm berichtete.
Gräfin Ghislaine schickte ihn? Er erbrach das Siegel und begann zu
lesen. Der Mönch sah, wie die Farbe aus seinen Wangen wich. Es
musste eine schlimme Nachricht sein... Der Erzbischof sah durch das
winzige Spähloch in der Galeriewand in den Garten
hinunter.
„Ist er das?“ Der
Mönch bejahte.
„Nun gut.“ Er wandte
sich zu dem Mönch um. „Bring ihn in meine Zelle!”
Wenig später verneigte
sich Jocelin vor dem Erzbischof.
„Ihr habt den Brief
von Gräfin Ghislaine gelesen, Euer Ehrwürden?”
Der Erzbischof
nickte.
„Ich danke Euch, dass
Ihr bereit seid, mich anzuhören.”
„Dankt mir nicht zu
früh. Ich kann nichts für Euch tun.”
„Alles was ich und
meine Brüder wollen, ist Gerechtigkeit. In zwei Tagen wird König
Philipp die Stände nach einem Urteil befragen, das ihnen
nicht zusteht. Nur der Heilige Vater kann über unseren Orden
Gericht halten. Es ist Eure Pflicht, die Freiheit der Kirche zu
bewahren.”
„Ihr sprecht von
Pflichten und Rechten? Uns sind die Geständnisse Eurer Ordensbrüder
vorgelegt worden! Auch das Eures Meisters!”
„Diese Geständnisse
sind durch Betrug und Folter erpresst worden!“
„Ich habe nichts als
Euer Wort gegen hunderte belastende Protokolle,” entgegnete
er.
„Ich und ein weiterer
Bruder sind von Meister Jacques autorisiert, für den Orden zu
sprechen. Meister Jacques hat widerrufen; die meisten unserer
Brüder auch. Und ihre Geständnisse können nicht rechtskräftig sein.
Die Brüder sind von einer weltlichen Macht gefangen gesetzt worden
und verhört. Das ist gegen die Privilegien, die uns alle Päpste und
Bischöfe bestätigt haben! Keiner, der nicht Mitglied des Ordens
ist, darf gegen einen Ordensbruder aussagen, aber nur das ist
geschehen, ohne dass wir selbst die Namen der Ankläger erfuhren!
Niemand darf uns exkommunizieren außer dem Papst, aber vom Tag
unserer Verhaftung an hat man uns nicht mehr die Sakramente
gereicht!“
Jocelin reichte dem
Erzbischof die Petition.
„Wir können dies nicht
selbst auf dem Ständetag vorbringen. König Philipp ließe uns sofort
verhaften. Daher bitten wir Euch, es zu verlesen. Bei der Wahrheit
Gottes, verhelft uns zu unserem Recht.”
Kopfschüttelnd schob
Erzbischof Gregor die Pergamentrolle zurück.
„Ich kann es nicht
tun.”
„Ehrwürden! Der
Ständetag darf die Verfahren nicht approbieren!”
„Leiser, mein Sohn!”
wandte sich der Erzbischof an Jocelin. „In diesen Mauern gibt es
mehr Leute des Königs als Ihr meint.”
„Dann glaubt Ihr an
unsere Unschuld?!”
„Es geht nicht darum,
was ich glaube oder nicht. ‘Die Wahrheit Gottes’. Wenn es so
einfach wäre! Die Welt ist voller Übel, und zuweilen ist man
gezwungen, von zweien das kleinere zu wählen.”
„Ihr wollt zulassen,
dass Unschuldige verurteilt werden?”
Der Erzbischof schloss
die Augen und lehnte sich zurück.
„Ich rate Euch,
verlasst Tours, ehe man auf Euch aufmerksam wird.”
„Aber -!”
Gregor von Rouen
ergriff das Glöckchen, um nach dem Mönch zu läuten, der ihm als
Bediensteter zugeteilt worden war.
„Geht, habe ich
gesagt. Es ist Zeit für mein Offizium.”
Am nächsten Tag lehnte
Erzbischof Gregor es ab, ihn noch einmal zu empfangen.
Niedergeschlagen verließ Jocelin das Kloster, um sich wie geplant
mit seinen Brüdern in St. Madeleine zu treffen.
Zu dieser Stunde
drängten sich in der Kollegiatskirche die Bettler und erwarteten
die tägliche Almosenverteilung der Kanoniker. Jocelin musste sich
durch die Armen drängen, die ihm jammernd die Hände
entgegenstreckten, während er nach seinen Kameraden Ausschau hielt.
Hatten Arnaud und Louis es überhaupt bis Tours geschafft oder waren
sie unterwegs womöglich aufgegriffen worden?
Einer der Bettler
packte den Ordensbruder am Arm.
„Ich habe nichts!“
wehrte Jocelin unwirsch ab. „Lass mich los!“
„Eine milde Gabe,
Sire, eine milde Gabe!“ schrie der Bettler beharrlich.
Die Stimme ließ
Jocelin herumfahren. Aus dem Schatten einer Sackleinenkapuze
schenkte ihm Bruder Louis ein kurzes Lächeln. Unauffällig folgte er
ihm zu einem der Seitenaltäre, wo er nun auch Arnaud und Ranulf
entdeckte. Dem Himmel sei Dank!
„Ich bin erleichtert,
euch wohlbehalten hier zu sehen!“
„Wir genauso“,
antwortete Louis im Flüsterton. „Es waren ein paar Gerüchte im
Umlauf, man hätte einen Anführer der Templer in Paris gehängt. -
Und, ist es Euch gelungen, mit Meister Jacques zu
sprechen?“
„Ja. Und er hat mich
und Euch, Sire Arnaud, zu Prokuratoren des Ordens ernannt, solange
er und das Oberste Kapitel in Haft sind.“ Jocelin zeigte den
Siegelring des Meisters und überreichte ihn seinem Pflegevater.
„Tragt Ihr ihn; Euch kommt er eher zu als mir!“
Arnaud nahm den Ring
entgegen. „Ich hoffe, ich werde mich dieses Vertrauens würdig
erweisen... Hat man die Gefangenen in Corbeil noch einmal
verhört?“
„Bisher offenbar
nicht.“
„Hm...Philipp wartet
vielleicht auf den Applaus der Stände, bevor er weiter vorrückt!
Den wird er wohl auch bekommen, bei all den Privilegien, die er den
Abgeordneten der Städte in den letzten Monaten in den gierigen
Rachen geworfen hat!“ Einen Moment lang schwiegen die Ordensbrüder,
weil sich eine alte Frau vor dem Altar niedergeworfen hatte und die
dortigen Reliquien der Heiligen Regula tränenreich um Gewährung
irgendeiner Hilfe anflehte.
„Das klingt“, fuhr
Jocelin dann fort, als sie endlich wieder allein waren, „...als
hättet Ihr hier bei den Ständevertretern ebenso wenig wie ich
Erfolg gehabt.“
„Nun, ich habe gestern
mit dem Erzbischof von Toulouse gesprochen“, erwiderte Arnaud. „Die
Querelen, die er mit den Dominikanern hat sind ja bekannt, und so
dachte ich, dass macht ihn vielleicht geneigt, uns zuzuhören. Aber
das war ein Irrtum. Und was hat der Erzbischof von Rouen gesagt?
Wird er unsere Petition verlesen?“
Jocelin schüttelte den
Kopf. „Nein. Alles umsonst! Vielleicht glaubt er mir nicht...
oder...“ Er seufzte. „Ich kann es nicht sagen. Er sprach von einem
noch größeren Übel, das die Kirche bedrohe.“
„Was könnte größer
sein als die Schandtaten die an unserem Orden verübt werden?!“ rief
Louis zornig und hätte Aufmerksamkeit erregt, wenn nicht gerade
jetzt mit der Almosenverteilung begonnen worden wäre.
„Ich weiß es nicht“,
flüsterte Arnaud. „Aber...es muss eine mächtige Waffe sein, mit der
der König die Kirche erpresst...“
„Was unternehmen wir
jetzt?“
„Auf die Entscheidung
des Ständetags warten“, entgegnete Jocelin. „Vielleicht geschieht
ein Wunder und Erzbischof Gregor fasst sich ein Herz?“ Er glaubte
selbst nicht daran, aber er wollte etwas sagen, um wenigstens seine
Brüder aufzumuntern.
Das Wunder geschah
nicht.
Die Prälaten gaben
ebenso wie die übrigen Abgeordneten des Ständetages ihre Zustimmung
zum Vorgehen des Königs und forderten die Todesstrafe für die
Templer. Schweigend machten sich die drei Ordensbrüder auf den
Rückweg - und wurden vor der Martinspforte beinahe umgerannt, als
ihnen in panischer Hast einige Leute entgegen
stürzten.
„Die Templer! Die
Templer!“ brüllten sie, und im nächsten Augenblick preschten drei
Reiter die Straße herauf, in Rüstung, mit geschlossenem Visier, im
weißen Ordensmantel. Jocelin drückte sich an die Mauer. Entsetzt
sah er, wie die Reiter Fackeln gegen die Klostergebäude
schleuderten. Flammen schlugen hoch. „Verräter! Falsche Christen!“
klang eine dumpfe Stimme durch ein Visier. Dann wendeten die Männer
ihre Pferde.
„Ich reite ihnen nach!
Wartet in St. Madeleine!” rief Jocelin. Einen Augenblick später war
er den Fremden auf den Fersen. Sie hatten gute Pferde und
verlangten ihnen das letzte ab. Jocelin verfolgte sie bis in die
Ebene, doch dann schwenkten sie vom Weg ab, verschwanden über den
Fluss im Wald. Jocelin gab auf. Er stieg aus dem Sattel und
gewährte seinem Reittier eine Zeit der Erholung. Dann ritt er
langsam nach Tours zurück.
Die Gesänge der Vesper
klangen durch St. Madeleine, als Jocelin die Pforte öffnete. Ein
paar Gläubige, die sich hier zur Andacht eingefunden hatten,
drehten sich empört über die Störung um. Jocelin schenkte ihnen
keine Beachtung. Hinter dem nördlichen Vierungspfeiler entdeckte er
seine Ordensbrüder. Louis blickte ihn fragend an. Jocelin
schüttelte den Kopf. „Sie sind in den Forst von
Neuilly.“
„Wir müssen sie
unbedingt aufhalten. So etwas darf nicht noch einmal passieren!”
sagte Bruder Arnaud.
„Ist der Brand
gelöscht worden?”
„Ja. Gott sei
Dank.”
„Am besten, wir
brechen sofort auf, ehe sie Zeit haben, sich aus dem Staub zu
machen!”
„Ja, wenn sie das
nicht schon getan haben!”
Jocelin griff Arnaud
bei der Hand und strebte gefolgt von Louis dem Portal
zu.
Die drei Templer
ritten langsam in das Gehölz, aufmerksam auf jeden Laut horchend.
Aber lange Zeit klang nur das Schreien eines Eichelhähers zu ihnen.
Das Waldgebiet war nicht groß, doch für Menschen, die nicht
entdeckt werden wollten, boten sich zweifelsohne genügend
Schlupfwinkel. Die fremden Brüder würden Angst haben, genau wie sie
selbst in Fontainebleau die Entdeckung fürchteten.
Plötzlich krachte ein
Baumstamm auf den Weg nieder. Die Pferde scheuten. Im nächsten
Moment sahen sich Jocelin und seine Begleiter von einigen Männern
in abgerissenen Kleidern umringt, die ihre Armbrüste schussbereit
auf sie hielten.
„Ihr seid mutig,
allein in dieser Gegend zu reisen,” sagte ein dunkeläugiger Mann.
„Was wollt ihr hier?”
„Wir sind auf der
Suche nach einigen Dienern Gottes,” erwiderte Jocelin vorsichtig.
Er war sich sicher, dass die gesuchten Ordensbrüder um sie standen.
Räuber pflegten nicht so lang zu warten, ehe sie einen Mann um sein
Hab und Gut erleichterten...
„In den Wäldern? Sucht
lieber in den Kathedralen und Klöstern!”
„Ja, da findet ihr
eine Menge Diener Gottes!” Ohne ihre Waffen zu senken warfen die
Männer nun einen fragenden Blick zu einer großen Gestalt, die eben
im Schatten des Blätterdaches aufgetaucht war.
Ein Paar dunkler Augen
richtete sich auf Jocelin, Louis und Arnaud.
Sie
warteten.
„Wer seid ihr? -
Antwortet, wenn euch euer Leben lieb ist!”
Jocelin öffnete den
Mund zu einem Gebet, das dem Ordensgründer Hugo de Payens
zugeschriebenen wurde. Jeder Templer musste es kennen - und für
Fremde würde es nur ein Gebet sein:
„Herr, mache uns
tapfer im Kampf und in allen Widrigkeiten, tüchtig zu allem guten
Werk...“
In den dunklen Augen
des Fremden blitzte es auf. Die Worte schienen ihm nicht neu,
zumindest das war klar zu erkennen.
„...und rüste und aus
mit der Kraft des Glaubens“, vollendete der Fremde schließlich
langsam und trat vor auf die Straße. Er trug einen braunen Umhang
und hatte dunkles, bis über die Schultern fallendes
Haar.
„Ihr seid Brüder? Und
in Freiheit?“
„Mit Gottes Hilfe,
ja!“ entgegnete Arnaud.
Ein Raunen ging durch
die Umstehenden.
Der Dunkeläugige gab
den anderen ein Zeichen, ihre Waffen zurückzustecken. „Steigt ab!
Wenn ihr lügt und Leute des Königs seid werdet ihr den nächsten Tag
nicht mehr sehen!” Dann wandte er sich an zwei seiner
Gefolgsmänner: „Verbindet ihnen die Augen und bringt sie in unser
Lager.”
Als man Jocelin die
Binde wieder abnahm, befand er sich auf einer Lichtung. Mehrere
einfache Windschirme aus Reisig spannten sich über einigen
Männern.
Die Überraschung
überwältigte Jocelin. „Arnaud, hier sind mindestens 15
Brüder!“
„Wir sind 22. Einige
sind unterwegs.“
„Woher kommt
ihr?“
„Aus der Auvergne die
meisten. Wir haben so viele befreit, wie möglich war. Und ihr? Seid
ihr allein?“
Arnauds Antwort ließ
ihn einen Freudenruf ausstoßen.
„Also sind noch mehr
in Freiheit! Bei Gott, ich wusste es! Was habt ihr in Tours
gemacht?”
„Wir haben versucht,
Erzbischof Gregor von Rouen zu gewinnen, sich für uns
einzusetzen.”
„O ja. Das haben wir
auch versucht!” entgegnete der fremde Ordensbruder
bitter.
„Ich will hoffen, dass
wir den verräterischen Prälaten wenigstens eine Lektion erteilt
haben, die sie so schnell nicht vergessen! Sie sollen schon auf
Erden etwas von dem Höllenfeuer kosten, das ihnen bereitet
ist!”
Jocelin verstand gut,
was seinen Mitbruder bewegte. Hatte er nicht selbst
gewünscht, Esquieu de Floyran den Dolch ins Herz zu stoßen? Und
doch hatte Arnaud Recht. Sie durften dem Hass keinen Raum
geben.
„Ihr hättet das nicht
tun dürfen! Das ist Wasser auf die Mühlen unserer
Gegner!“
Mit einem Mal schlug
die Stimmung um.
„Was wollt Ihr uns
befehlen Bruder? Ihr kommt hierher, und glaubt, Ihr könnt uns
sagen, was wir tun sollen?“
„Es geht nicht um
mich! Es geht um den Orden!“ entgegnete Jocelin. „Wir sind zu
unrecht angeklagt! Wollt Ihr den Orden mit Unrecht
verteidigen?!“
„Unrecht! Ich sage
Euch was! Ich bin ein Sünder, ich habe gespielt und Krieg geführt
gegen das Gebot der Kirche, ich habe den Diakon umgebracht, der für
meinen Onkel spionierte! Ich bin zu den Templern gegangen, um meine
Seele zu retten! Und dafür hat man mich zum Verbrecher erklärt!
Dafür, dass ich den Verbrechen entsagen wollte! - Ich kämpfe für
den Orden, und ich kämpfe mit allen Waffen, weil er das einzige
ist, woran ich noch glaube!“
Unter den anderen
erhob sich zustimmendes Gemurmel.
„Ich kann nicht
zulassen, dass Ihr den Namen des Ordens auf diese Weise
befleckt!“
„Dann versucht mich
daran zu hindern!“
Er zog sein Schwert
und trat kampfbereit auf Jocelin zu. Einige andere folgten seinem
Beispiel.
Jocelin hob
beschwichtigend die Hände.
„Legt die Waffen
nieder! Wir sind von Meister Jacques als Prokuratoren bestellt.
Bruder Arnaud trägt das Ordenssiegel, seht!”
„Meister Jacques? Er
hat uns auch verraten!” Aber er merkte, wie die eben noch feste
Gefolgschaft seiner Brüder ins Wanken geriet. Sie alle hatten
einen heiligen Eid geschworen, ihrem Meister zu gehorchen. Sich
gegen die Anmaßungen eines Bruders zu wehren war eine Sache, den
Befehlen der vom Meister eingesetzten Prokuratoren zu widersprechen
eine andere. Ein Schwert nach dem anderen wurde auf den Boden
geworfen. Mit zusammen gepressten Lippen starrte der Dunkeläugige
auf Arnaud und Jocelin. Dann ging er wortlos ging er an ihnen
vorüber und verschwand im Wald. Die anderen Brüder sahen ihm
unschlüssig hinterher.
„Ich hole ihn zurück“,
beschloss Jocelin, und Arnaud nickte. Die ganze Christenheit hatte
sich gegen die Templer verschworen, Feindschaften untereinander
durften sie sich nicht leisten!
Er fand seinen
Mitbruder auf einer nahen Lichtung, sich auf sein Schwert stützend
und vor sich hin starrend. Als er Jocelin bemerkte, wandte er sich
um. „Habt Ihr meine Strafe festgesetzt, Sire
Prokurator?“
„Wir haben keine
Gewalt, Euch zu bestrafen. - Ich möchte Euch bitten, schließt
Euch uns an! Ihr wollt für den Orden kämpfen, und das wollen wir
auch. Wir brauchen Euch!“
Der Fremde sah auf die
Hand, die Jocelin ihm entgegenstreckte. Zögerte.
„Wie nennt man Euch,
Bruder?”
„Jean.
Jean de Saint-Florent.”
„Für den Tempel,
Bruder Jean! Wir brauchen Euch und die anderen! Kommt mit
uns!“
„Für den Tempel.” Er
schlug ein.
Das Antlitz des Königs
war so unbeweglich wie die steinernen Statuen am Portal der
Kathedrale, auf die er blickte. Philipp wartete. Am Tag zuvor hatte
Papst Clemens die Mitglieder seiner Untersuchungskommission
berufen, trotz der Entscheidung der Prälaten auf dem
Ständetag.
Den Meister und die
übrigen Würdenträger wollte er selbst verhören. Und fünf Kardinäle
hatten den Auftrag erhalten, sich mit Templern aus allen Teilen
Frankreichs zu befassen. Stephanus war darunter, der ehemalige
Siegelbewahrer des Königs, und die Brüder Landulf und Petrus
Colonna, die sich ebenfalls dem französischen Hof verpflichtet
wussten. Doch wieweit würde ihre Loyalität reichen?
Könige vergingen, die
heilige Mutter Kirche blieb...
Kaum war ihm das
Dekret des Papstes mitgeteilt worden, hatte Philipp Nogaret zu
Verhandlungen zu Clemens geschickt. Und nun wartete seine
Majestät.
Papst Clemens hatte
einen kühnen Zug getan, aber das Spiel war noch keinesfalls
entschieden! Plötzlich kam Bewegung in die Pferde. Seine Majestät
sah, wie Guillaume de Nogaret die Stufen der Kirche hinunter
schritt. Aus seiner Haltung war nichts abzulesen, aber Philipp
wusste, dass er nicht kommen würde, ohne erreicht zu haben, was er
wollte.
Wenig später stand der
Siegelbewahrer vor ihm. Mit einer leichten Verbeugung reichte er
Philipp eine Pergamentrolle.
„Es ist die Kopie
einer päpstlichen Verfügung, Euer Majestät.“
Ohne eine Regung zu
zeigen las der König die nochmalige Beschwerde Clemens‘ V., dass
man ihn vor der Verhaftung der Templer einfach übergangen habe,
dass der Großinquisitor ihn auch danach über nichts informiert
habe. Der Papst benutzte scharfe Worte, doch dies war nur die Wut
eines schon geschlagenen und gefangenen Löwen. Denn am Ende des
Erlasses prangte deutlich das Ergebnis der Verhandlungen: „Da Wir
wissen, dass du mit gutem Willen gehandelt hast, geliebter Bruder“,
schrieb Clemens an Inquisitor Imbert“, verleihen Wir dir und deinen
Brüdern, und allen, die im Amt des Heiligen Offiziums tätig sind,
alle früheren Rechte und Privilegien im Kampf gegen die
Häresie...”
Philipp fühlte Wärme
durch seine Glieder strömen. Die Suspension der Inquisition war
aufgehoben! „Kehren wir nach Paris zurück, Guillaume!“
Unlustig warf
Ghislaine ihre Stickerei zur Seite und stieg die Treppe zum Hof
hinab. Dort schlug Yvo in verbissenem Eifer auf eine Strohpuppe
ein. Er war noch immer wütend auf Jocelin. Aber wenigstens brachte
ihn der Zorn dazu, fleißig zu üben. Und er trieb sich nicht mehr
herum und stahl...
Hufschläge hallten von
den Mauern wider. Ghislaine sah einen Reiter im blauen,
liliengeschmückten Wams und mit dem königlichen Banner durch das
Tor kommen. Diensteifrig eilte ihm ein Knecht entgegen. Der
Ankömmling übergab ihm das Banner und stieg ab.
„Ich bringe eine
Botschaft Seiner Majestät für die Gräfin von
Montfort!”
Ghislaine erschrak.
„Sie haben Jocelin… und jetzt holen sie mich…“ war ihr erster
Gedanke.
Doch der Bote näherte
sich mit einer höflichen Verbeugung.
„Madame, ich entbiete
Euch die herzlichsten Grüße unseres Königs. Seine Majestät hofft,
dass Ihr Euch bei guter Gesundheit befindet.”
Ihre Furcht machte es
ihr schwer, den Gruß zu erwidern.
„Ich bin gesandt, Euch
im Namen Seiner Majestät einzuladen zur Vermählung von Prinz
Philipp...”
Eine Hochzeit! Guter
Gott, es ist nur eine Hochzeit!
Sie wandte sich nach
den Mägden um, die gerade die Gemüsekörbe entluden und klatschte in
die Hände. „Kommt her! - Geht zu Odette und bestellt ihr, sie soll
ein reichliches Mahl für unseren Gast herrichten, der eine so
freudige Nachricht gebracht hat!”
Dabei war das Letzte,
wonach es sie verlangte, ein fröhliches Brautpaar, Lachen, Tanz und
Spielleute. Aber eine Einladung des Königs war ein
Befehl.
Der Duft der
Blumengirlanden erfüllte die gesamte Kathedrale. Kerzenlicht
leuchtete auf Brokat- und Seidengewändern, brach sich in kostbaren
Schmuckstücken. Adlige und Bürger hatten ihr Möglichstes gegeben,
sich herauszuputzen. Einer hatte versucht, den anderen zu
übertreffen an diesem Festtag.
Das königliche Paar
stand unter einem gestickten Baldachin im Chor. Hoch aufgeschossen
der junge Prinz Philipp. Schon jetzt war abzusehen, dass er die
viel gerühmte Schönheit seines Vaters nie sein Eigen nennen würde.
Er schielte etwas, was ihm einen verschlagenen Ausdruck gab. Die
stupsnasige Braut neben ihm wirkte in ihrem schweren Samtkleid wie
eine zum Patronatsfest geschmückte Heiligenfigur. Gräfin Ghislaine
sah, wie nervös das Mädchen war. Ihr selbst war es nicht anders
gegangen, damals, als man sie vor den Traualtar befahl. Sie entsann
sich an diesen Tag, als sei er gestern gewesen. Der Graf von
Montfort, den sie nur einmal gesehen hatte, zehn Jahre älter als
sie, mit einer lauten, dröhnenden Stimme. Die Blumen, das festliche
Bankett und schließlich ihre plötzliche Angst, als ihr Gemahl sie
ins Brautgemach trug. Ihre Amme hatte sie längst in die Pflichten
einer Ehefrau eingeführt gehabt, und dennoch war sie nicht auf das
vorbereitet gewesen, was kam. Ihre erste Vereinigung war qualvoll
für sie gewesen… In den folgenden Jahren hatte sie sich mit ihm
abgefunden, weil ihr keine andere Wahl blieb, und sie hatte für
jeden längeren Kriegszug gedankt, der ihren Gemahl für Monate von
ihr fernhielt.
Für einen Augenblick
geisterte die Frage in ihr, wie es mit Jocelin hätte sein können.
Sie stellte sich vor, wie seine Hände das Brauthemd von ihren
Schultern streiften, sanft und langsam, nicht mit der hungrigen
Hast, die der Graf von Montfort damals an den Tag gelegt hatte...
Mit einem heftigen Kopfschütteln versuchte sie, den Gedanken
loszuwerden. Dabei umklammerte sie so fest ihren Rosenkranz, dass
die Schnur zerriss und die Perlen mit einem leisen Klirren auf den
Steinfußboden rollten.
„Was bist du doch für
eine dumme Gans!“ schalt sie sich im Stillen und presste die Lippen
zusammen. „Du weißt nicht einmal, ob er auch nur das geringste
Interesse an dir hat! Und wenn es so ist, solltest beten, dass es
so bleibt! Er ist ein Mönch und du hast kein Anrecht auf
ihn!“
„Kein
Anrecht!!!“
„Madame
Ghislaine?“
Sie schrak zusammen
und merkte erst jetzt, dass sie die letzten Worte laut gemurmelt
hatte.
„Ist Euch nicht wohl?“
Ihre Zofe blickte sie besorgt an. „Ihr seht sehr blass
aus...“
„Alles in Ordnung. Nur
etwas viel... Weihrauch...“
Der Bischof von Paris
sprach den Segen über die Brautleute. Unter den Jubelrufen der
Versammelten schritt das Paar nun das Kirchenschiff hinunter.
Kinder streuten Blumen unter ihre Füße. Draußen vor der Kirche
wartete ein dicht gedrängtes Spalier armer Bürger und Bauern.
Begierig hefteten sie die Augen auf die Pracht, die ihrem Alltag so
fremd war und die aus einer anderen Welt zu stammen schien. Auf dem
Kirchplatz waren für den König, das Brautpaar und die übrigen
Angehörigen der königlichen Familie prächtig aufgezäumte Reittiere
bereitgehalten worden. Zu Pferde legten sie den Weg zum Louvre
zurück, immer begleitet von Klatschen, Hochrufen und
Blumen.
Im Louvre angelangt
begab sich die Festgesellschaft in den weiten, luftigen Saal, der
erst unter König Philipp fertig gestellt worden war. Während die
ersten Speisen aufgetragen wurden, postierte sich eine spanische
Gauklertruppe in der Mitte des Saales. Der Sänger begann mit einer
Preishymne auf den König. Ohne eine Regung zu zeigen lauschte Seine
Majestät dem Lob seiner Weisheit, Freigiebigkeit und Tapferkeit. Es
war ein schuldiger Tribut, den der Sänger entrichtete. Jeder der
Gäste wusste, dass er in der nächsten Schenke ebenso
inbrünstig ein Spottlied auf Philipp zum Besten geben
würde.
„Madame!”
Ghislaine hob den
Kopf. Der spanische Sänger hatte sich ihr zugeneigt. „Ich sehe,
unser Lied hat Euer Herz berührt. Ah, welche Wohltat für einen
Künstler - aber Eure Augen inspirieren mich zu einem anderen
Gesang! Einem Lied vom Blau des Meeres...”
Früher hatte sie
Gefallen gefunden an den Balladen der Gaukler und den Darbietungen
kühner Jongleure. Diesmal aber war ihr all dies zuwider. Nur um
lästigen Fragen aus dem Weg zu gehen reihte sie sich nach dem Essen
schließlich unter die Pavane-Tänzer ein. Hier war es, dass sie sich
plötzlich Esquieu de Floyrans lächelndem Gesicht gegenüber
sah.
„Madame Ghislaine, wie
schön, Euch zu sehen!”
Sie wollte den Reigen
verlassen, doch schon hatte er ihre Hand ergriffen.
„Wusstet Ihr, dass die
Templer von Paris in diesen Mauern gefangen sind?” rief er ihr zu,
während sie die Seiten wechselten. Sehr reizvoll, wenn man bedenkt,
dass wir über ihren Köpfen tanzen, nicht wahr?”
Ghislaine verwechselte
die Schritte. Plötzlich war ihr Floyran ganz nah.
„Keine Angst, Euer
Geliebter ist nicht darunter,” wisperte er ihr ins
Ohr.
Angewidert stieß sie
ihn zurück.
„NOCH nicht,” fügte
Floyran maliziös hinzu, verbeugte sich und übernahm die nächste
Partnerin.
Nach Mitternacht
zerstreuten sich die Gäste in Hof und Garten. Ghislaine beeilte
sich, in ihr Gemach zu kommen, denn sie fürchtete die
Nachstellungen Esquieu de Floyrans. Erst als sie die Tür hinter
sich verriegelt hatte, fühlte sie sich in Sicherheit. Müde öffnete
sie das Fenster und beugte sich in die frische Nachtluft hinaus. In
einiger Entfernung floss die Seine. Schwankende Lichter kündeten
von vereinzelten Booten.
„In zwei Tagen bin ich
wieder auf La Blanche“, sagte Ghislaine sich. „Gott sei
Dank.“
Der Rückweg der Schar
Brüder von Tours war ohne Zwischenfälle verlaufen. Bis jetzt.
Plötzlich waren die königlichen Söldner aufgetaucht und hatten die
Templer in ein heftiges Handgemenge verwickelt. Waren sie verraten
worden oder war es ein böser Zufall? Es blieb ihnen keine Zeit,
darüber zu rätseln.
Jocelin schlug seinem
Pferd die Sporen in die Seite und holte zu Jean de Saint-Florent
auf.
„Wir müssen uns
teilen!“ rief er ihm zu. „Nehmt den Weg über Baugy!”
Zunächst hatten die
Templer den Eindruck, das Manöver gelinge. Jean schwenkte mit einer
Gruppe hinter der Wegbiegung ab, und die königlichen Ritter
hefteten sich an seine Fersen. Einige Söldner preschten
Jocelins Gefährten nach. Die Kluft zwischen ihnen und den
Ordensbrüdern wuchs rasch. Plötzlich aber klangen die Pferdehufe
wieder ganz nah, der Feind hatte ihnen den Weg abgeschnitten!
Jocelin sah den Kommandanten und zwei Söldner vor sich über die
Hecke setzen. Armbrüste klackten. Schon surrten die ersten Pfeile.
Und einen Augenblick später sank Bruder Arnaud getroffen zusammen.
Tot oder nur verletzt?!
„In den Wald!“ schrie
Jocelin.
Dicht gefolgt von den
Söldnern trieben die Templer ihre Pferde ins Unterholz. Zweige
schlugen den Flüchtenden ins Gesicht, Dornenranken zerfetzten ihre
Gewänder. Irgendwann schluckte das Dickicht die Stimmen der
Verfolger. An einem kleinen Bach verhielten die Ordensbrüder. Ihre
Pferde zitterten vor Erschöpfung, und ihnen selbst ging es nicht
anders. Jocelin schob die Kapuze seines Kettenhemdes zurück und
strich durch die schweißverklebten Haare.
Sie haben unsere Spur
verloren“, hörte er Louis sagen und schüttelte müde den Kopf. „Es
ist nur eine Frage der Zeit, bis sie uns haben.“ Er half, Arnaud
aus dem Sattel zu heben. Vorsichtig betteten ihn die Brüder auf den
Waldboden. Der alte Ordensbruder war am Leben, aber die Verwundung
konnte gefährlich werden. Der Pfeil war oberhalb der Rippen in den
Rücken gedrungen. Arnaud bewegte die Lippen, aber nur ein schwaches
„Jocelin?“ war zu verstehen.
„Ich bin hier. Haltet
durch!“
„Jocelin... wenn ich
... sterbe...“
„Ihr dürft Euch nicht
zu sehr anstrengen! Ruht Euch aus! Zu sprechen werden wir
später noch Zeit haben!“
„Nein... Jocelin... du
musst etwas... wissen...“ Aber er hatte keine Kraft mehr, weiter zu
sprechen. Sein Kopf sank zur Seite.
„Wie steht es um
ihn?“
„Nicht gut“,
antwortete Jocelin, den Blick von der Verwundung seines
Pflegevaters lösend und zu Louis aufblickend „Aber hier kann ich
nichts für ihn tun.“
„Dann los nach
Fontainebleau! Ehe die ganze Gegend voll von den Leuten des Königs
ist!“
„Unmöglich. So weit
kann er nicht mehr reiten! Ich warte bis Einbruch der Nacht, dann
bringe ich ihn nach La Blanche, das ist der nächste Weg.“ An den
Mienen der anderen sah er, dass sie diese Entscheidung nicht gerade
befürworteten, aber er würgte jeden Einspruch mit einem
kategorischen “Louis, Ihr reitet mit den anderen nach
Fontainebleau! SOFORT!” ab.
Es war zur zweiten
Nachtwache, als Jocelin auf La Blanche zuhielt, seinen bewusstlosen
Pflegevater vor sich im Sattel. „Wer da?“ schrie ihm der Wächter
über die Zinnen zu.
„Zwei arme Pilger. Wir
haben keinen Platz mehr in der Herberge gefunden.“
Der Wächter runzelte
die Stirn. Die Straßen waren voll von falschen Pilgern, die einem
mitleidigen Wirt die Kehle durchschnitten! Und die beiden Gestalten
in ihren schäbigen Umhängen machten keinen Vertrauen erweckenden
Eindruck.
„He, ihr da, wartet!“
rief er hinab, dann trat er in den Turm und stieß den dösenden
Waffenknecht an.
„Zwei Fremde bitten um
Quartier. Lauf zu Madame Ghislaine und frag nach ihren
Anweisungen!“
Schlaftrunken
stolperte der junge Mann über die Stufen zum Hof.
Vor der Kammer der
Gräfin schlief ihre Zofe. Sie schreckte mit einem Kreischen hoch,
als der Waffenknecht sie an der Schulter rüttelte. „Heilige
Jungfrau-“
„Irgendwelches
Gesindel ist vor dem Tor und bittet um Obdach! Hol‘ die Herrin!“
Ächzend und schnaufend schlurfte die Zofe zur Tür.
Wenig später eilte
Ghislaine dem Waffenknecht nach.
„Ich würde sie nicht
einlassen, Madame Gräfin, wenn Ihr mir erlaubt, das zu sagen“,
empfing sie der Wächter. „Seht, die führen gewiss nichts Gutes im
Schilde!“
„Nein, lass die
Zugbrücke herunter! Ich kümmere mich um die beiden!“
Der Torwächter
seufzte. Madame Ghislaine würde in ihrer Güte dem Teufel selber
Obdach gewähren! Kopfschüttelnd schaute er zu, wie sie den Fremden
entgegenlief.
Erkennend, wer da um
Gastrecht ersuchte, griff sie erschrocken in die Zügel des
Pferdes.
„Jocelin!“
„Leise!“ warnte er.
„Es soll niemand wissen, dass ich hier bin! Bringt uns an einen
Ort, wo wir ungestört sind, Madame!”
Ihr Blick glitt über
den zusammengesunkenen Körper vor ihm auf dem Sattel. Sie nickte.
Dann huschte sie zum Palais, stieß eine Tür auf und verschwand in
der Dunkelheit. Es dauerte eine Weile, ehe es ihren klammen Händen
gelang, eine Kerze anzuzünden. Schließlich winkte sie.
„Was ist
passiert?“
„Söldner. Sie
erwischten uns kurz vor der Abzweigung nach Paris. - Holt mir noch
ein paar Kerzen, heißes Wasser und etwas zum
Verbinden!”
Ghislaine rannte zur
Küche. Sie dankte Gott, dass die Knechte den Ofen schon angeheizt
hatten. Hastig schob sie Holz nach und hing einen Wasserkessel über
das Feuer. Aus einer Truhe suchte sie die frische Tischwäsche und
zerriss sie in lange Streifen. Sie hatte Angst, dass irgendjemand
sie überraschen könnte, oder Jocelin entdecken... Und doch war sie
so glücklich, ihn wieder zu sehen, dass sie fürchtete, man könne
ihr diese Freude ansehen.
Wenig später kniete
sie neben dem Ordensbruder.
„Ihr müsst mir helfen,
Ghislaine, bitte! Haltet ihn fest!“
Jocelin tastete nach
der eingedrungenen Pfeilspitze und machte einen tiefen Schnitt
entlang des Schaftes. Der Verletzte stöhnte und bäumte sich
auf.
„Festhalten,
Ghislaine!” stieß Jocelin zwischen den Zähnen hervor. Er bekam die
Pfeilspitze zu fassen, riss sie aus dem Fleisch.
Ghislaine schluckte
heftig, als sie das Blut über seine Hände spritzen sah und bemühte
sich, ihre aufsteigende Übelkeit unter Kontrolle zu
bringen.
Rasch presste er einen
Wergballen auf die Wunde und knotete einen Leinenstreifen darüber.
Mit noch zitternden Händen reichte Ghislaine ihm die restlichen
Binden zu.
„Ihr seid eine tapfere
Frau... Ich bitte Euch um Vergebung für die Unannehmlichkeiten.
Aber Bruder Arnaud brauchte dringend Hilfe. Er hätte es nicht mehr
bis zu unserem Lager geschafft.”
„Nein, nein, es ist
nicht schlimm,” entgegnete sie mit einem matten Lächeln, zog ihren
Umhang aus und breitete ihn über den Verwundeten. „Habt Ihr mit
Erzbischof Gregor sprechen können?”
„Ja. Aber er konnte
uns nicht helfen. - Oder wollte es nicht. Wie alle. Aber ... wir
haben noch mehr Brüder getroffen, die der Verhaftung voriges Jahr
entronnen sind. Sie haben sich uns angeschlossen. Wenigstens etwas,
das die Reise nach Tours gebracht hat.“
Widerwillig öffnete
Floyran die Tür. Aber als er den Besucher erkannte, schob er ihn
eilig ins Haus. Es war einer der Männer von La Blanche, die er
gekauft hatte.
„Jocelin von Judäa ist
wieder da“, sagte er.
„Bist du
sicher?“
„Ja, Sire. Er kam
diese Nacht. Mit noch einem. Ich habe sie genau gesehen. - Was ist
mit meiner Belohnung, Sire?“
Er streckte Esquieu de
Floyran herausfordernd die Hand entgegen. Der lachte.
„Sire, ich habe ein
Pferd zuschanden geritten, um Euch die Nachricht zu
bringen!“
„Was interessiert mich
dein verdammter Gaul!“ Floyran packte den Mann am Gewand. „Ich
bezahle dich, wenn der Templer vor dem Inquisitor steht!“ zischte
er. „Und hüte dich, ihn zu warnen, das sag‘ ich dir! Du weißt, was
mit denen geschieht, die den Templern helfen!“
Esquieu de Floyran
machte eine bezeichnende Handbewegung. „Ein Wort an König Philipp
genügt, und du hängst! - Verschwinde!“
Die Neuigkeit von
Jocelins Anwesenheit auf La Blanche versetzte Esquieu de Floyran in
einen Zustand freudiger Erwartung. Er befahl die übrigen seiner
Angeheuerten zu sich.
„Holt eure Waffen und
macht die Pferde bereit!”
„Gehen wir auf die
Jagd, Sire?“
„Oh ja...“ erwiderte
Floyran und strich lächelnd über die Klinge seines
Schwertes.
Während seine Männer
in den Stall hinuntergingen, schnallte er den Schwertgurt um die
Hüften, schob einen Dolch unter das Hemd und einen weiteren in den
linken Stiefel.
Wenig später war er
mit seinen Kumpanen unterwegs. Je näher er den Besitzungen der
Gräfin von Montfort kam, desto häufiger begegneten ihm königliche
Söldner. Offenbar hatten sie bisher keinen Erfolg gehabt, dachte er
schadenfroh.
„He, Messire, woher
kommt ihr?” rief ihm einer der Männer zu.
„Aus
Paris.”
„Habt Ihr irgendwelche
verdächtigen Leute gesehen? Wir sind auf der Suche nach einem
Haufen flüchtiger Templer.”
Floyran tat, als
überlege er. Dann wies er in die Richtung der Seine.
„Auf einem Floß habe
ich ein paar Männer gesehen. Gut möglich, dass sie es
waren.”
„Danke, Messire!” Der
Söldner gab seinen Leuten den Befehl, ihm zum Fluss zu
folgen.
Floyran nickte
selbstgefällig. Auf keinen Fall sollten ihm die Söldner irgendwie
in die Quere kommen! Er brauchte freie Hand!
Im Burghof herrschte
die Betriebsamkeit der Morgenstunden, und so merkte Ghislaine
nicht, wie ihr ein Mann folgte. Hinter dem Taubenturm griff er nach
ihrem Arm. Sie drehte sich um und blickte in ein knochiges Gesicht
mit wildem Bart. Der Mann drückte ihr ein klein zusammengefaltetes
Pergament in die Hand. Bevor sie ein Wort sagen konnte, war er
wieder durch das Tor verschwunden. Verwirrt schlug sie das
Pergament auf - und kehrte mit nur mühsam gezügelten Schritten zu
den beiden Ordensbrüdern zurück.
Jocelin las zweimal
die ungelenken Zeilen.
„Wir haben eine
Botschaft von Papst Clemens. Kommt zum Kreuz von
Jalouses.“
„Wie sah der Mann aus,
der Euch das gegeben hat, Madame?“
„Groß, ziemlich
verwahrlost, mit blondem Bart. Er trug einen ledernen
Waffenrock.“
Nachdenklich
betrachtete Jocelin den seltsamen Brief. Die Beschreibung konnte
auf Bruder Raoul aus Provins passen. Aber wie sollte er an eine
Botschaft von Papst Clemens gekommen sein? Und vor allem, woher
sollte er wissen, dass ER hier war? Louis hatte vermutlich gerade
erst ihren Schlupfwinkel in Fontainebleau erreicht. Und einer der
anderen Brüder aus Jean de Saint-Florents Gefolgschaft? Wer von
ihnen konnte überhaupt schreiben? Und warum hatte er ihm die
Nachricht nicht selbst überbracht, anstatt die verräterischen Worte
dem Pergament anzuvertrauen? War ihm irgendeiner der Söldner
gefolgt? Doch weshalb sollte er sich die Mühe machen, eine
Nachricht zu fälschen, anstatt seine Truppe zu alarmieren? Nichts
passte zusammen! Aber wenn es wirklich eine Nachricht von seinen
Ordensbrüdern war, würden sie glauben, ihm sei etwas zugestoßen,
wenn er nicht erschiene...
So entschloss sich
Jocelin letztlich, auf das Treffen einzugehen, obwohl er sich große
Sorgen um Arnaud machte. Nur kurz hatte sein Pflegevater das
Bewusstsein wiedererlangt, hatte versucht zu sprechen, aber ehe es
ihm möglich gewesen war, Worte zu finden, hatte die Ohnmacht ihn
wieder mit sich gerissen. Solange er denken konnte, war Arnaud
stets derjenige gewesen, der ihn beschützt und beschirmt hatte; er
hatte ihn ausgebildet, ihm alles gelehrt, was er wusste. Den alten
Ordensritter nun so hilflos daliegen zu sehen, gab ihm ein Gefühl
der Ohnmacht, und der Gedanke, dass ihn königliche Söldner dahin
gebracht hatten, ließ Zorn in ihm aufschlagen.
Die Kapuze tief in das
Gesicht ziehend wandte sich Jocelin von Arnaud ab.
„Ihr werdet also
gehen?“ fragte Ghislaine. „Und was geschieht, wenn … Euch etwas
zustößt?“
‚Wenn es eine Falle
der Inquisition ist’ – das kam ihr nicht über die Lippen. Es war
ihr geradezu, als würde sie damit das Böse
herbeirufen!
„Ich muss gehen. Ich
bitte Euch nur … sorgt für Sire Arnaud. Sobald es ihm besser geht,
gebt ihm Euer schnellstes Pferd und empfehlt ihn Gottes
Gnade!“
Sie nickte, und er
verließ die kleine Kammer mit eiligen Schritten.
Ghislaine blickte ihm
mit sehr gemischten Gefühlen nach. Sie konnte nicht genau
beschreiben, was ihr Angst machte, aber irgendetwas stimmte
nicht... Für einen Augenblick erwog sie, ihm hinterher zu laufen
und ihn aufzuhalten. Aber nein, das war kindisch! Und... es hätte
zu viel Aufsehen erregt. Sie umklammerte das Kreuz um ihren Hals
und ihre Lippen begannen ein lautloses Gebet zu
formen...
Schon bald erreichte
Jocelin das Wegkreuz, das die Abzweigung der alten Straße nach
Poitiers markierte. Hier war er letzte Nacht abgebogen. Plötzlich
bewegte sich der dunkle Schatten am Stamm des Kreuzes, und der
Ordensbruder erkannte einen Mann im Gewand der
Aussätzigen.
„Helft mir! Ach, helft
mir doch!“ krächzte er.
Jocelin stieg aus dem
Sattel, trat auf ihn zu.
„Ah, Sire, helft mir!“
Der Mann streckte ihm seinen verbundenen Arm entgegen. Als der
Templer sich zu ihm beugte, schnellte er nach vorn. Blitzschnell
hatte er den Hals des Ordensbruders umklammert. Jocelin versuchte
sich von ihm zu befreien, da stieß ihm ein zweiter Mann das Knie in
den Rücken. Ein harter Griff riss seine Arme nach hinten. In
unerreichbarer Ferne klirrte sein Schwert auf den Stein.
Lederriemen schnürten seine Handgelenke zusammen. Dann lockerte
sich der Griff um Jocelins Hals. Er wurde gepackt und auf die Füße
gezogen. Seine Augen tasteten sich über ein Paar schwarzer Stiefel
und einen roten Mantel zu einem lächelnden
Raubvogelgesicht.
„Floyran!!!“
„Es freut mich, dass
Ihr meiner Einladung gefolgt seid, beau frère!”
Er holte aus und
schlug ihm ins Gesicht.
„Wenn er zu fliehen
versucht, gebt ihm eins über den Kopf!” wandte er sich an seine
Männer. Aber seid vorsichtig, vergesst nicht, dass der Inquisitor
auch noch seinen Spaß mit ihm haben will!“
Hilflos musste Jocelin
mit ansehen, wie Esquieu de Floyran sein Schwert aufhob, sich auf
den Rücken seines Pferdes schwang und sich Richtung La Blanche in
Galopp setzte.
Selbstsicher ritt er
kurz darauf in den Burghof, stieß den Knecht nieder, der ihn
aufhalten wollte und schritt ins Palais hinauf.
Die Zofe sah empört
von ihrer Näharbeit auf, als er in Ghislaines Gemach
marschierte.
„Was erlaubt Ihr
Euch?!“ rief die Gräfin zornig und sprang auf.
„Schickt das Weib
raus!” fuhr er sie lediglich an und deutete auf die
Zofe.
Ghislaine nickte ihr
zu. „Geh, Jeanette!”
Floyran schlug die Tür
hinter ihr zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.
„So, und jetzt werdet
Ihr mich anhören, Madame, wenn Euch etwas an Eurem kleinen Templer
liegt!“ Er warf ihr das Schwert vor die Füße und sie erkannte
Jocelins Waffe.
“Was habt Ihr mit ihm
gemacht?“
„Noch ist ihm nichts
geschehen, Madame Ghislaine. Es liegt an Euch, ob ich ihn der
Inquisition ausliefere!“
„Wo ist er
jetzt?“
„Bei meinen Männern am
Wegkreuz.“
Ihr war, als hörte sie
eine Fremde sprechen: “Wie viel Gold wollt Ihr?“
„Gold?“ Esquieu
lachte. „Ich will Euch!“
„Ihr seid ja
verrückt! König Philipp würde einer solchen Verbindung
niemals zustimmen!“
„O doch, das wird er…“
erwiderte er in Gedanken. „Wenn ich ihm den Anführer der flüchtigen
Templer präsentiere. Erst werde ich zusehen, wie sie ihn langsam
über dem Feuer rösten… und dann werde ich mich mit dir
vergnügen…“
„Woher weiß ich, dass
ich Euch vertrauen kann? Das... Sire Jocelin überhaupt noch am
Leben ist?“
Esqieu de Floyran ließ
seine Hand über Ghislaines Nacken gleiten. „Ich bin ein Edelmann.
Ihr habt mein Wort. Sobald Ihr meine Frau seid, schenke ich dem
Templer seine erbärmliche Freiheit. Aber überlegt nicht zu lang.
Meine Männer könnten sonst den Drang verspüren, ihre Pflicht
gegenüber der Kirche zu tun. Und in diesem Fall werdet Ihr den
Templer nie wiedersehen. - Jetzt lasst mir etwas Wein bringen. Das
Warten auf dem Weg hat mich sehr durstig gemacht!” Er ließ
sich auf einer Bank nieder und zog seine Handschuhe aus. „Ach ja,
und Ihr könntet schon mal nach einem Geistlichen
schicken…“
Ghislaine kämpfte
gegen ihr Zittern an, während sie Esquieu de Floyrans Weinpokal
nachfüllte.
„Ihr seid eine
vorzügliche Gastgeberin, Madame. Wir werden einen glänzenden Hof
halten in Paris!“
Sie wich seinen
glühenden schwarzen Augen aus. Noch nie waren ihr die Fabelwesen
auf den Gobelins ringsum so bedrohlich erschienen. Krallenbewehrte
Pranken, gefletschte Zähne, selbst die Blumenranken bildeten ein
Gewirr von Dornen. Die Wandteppiche erzählten die Geschichte der
Gralssucher. Eine Prinzessin war zu sehen, die mit ängstlich
erhobenen Händen den Kampf zweier Ritter beobachtete. Einen von
ihnen hatte der Künstler schwarz dargestellt, den anderen
weiß.
Ghislaine musste an
Jocelins Ritt in das Turnier denken. Ihre Hände umklammerten den
Fuß der Weinkaraffe. Sie kannte den Ausgang des Streites auf dem
Gobelin. Der weiße Kämpfer siegte, weil ihm die anderen Gralsritter
zu Hilfe kamen.
Die anderen
Gralsritter? Die Templer von Fontainebleau!
„Sire Floyran, erlaubt
Ihr, dass ich mich für einen Augenblick entferne?” fragte sie,
bemüht, ihrer Stimme einen leichten Klang zu geben.
„Ja. Aber versucht
keine Finte! Denkt immer an Euren kleinen Templer draußen am
Wegkreuz!”
Ghislaine rannte zur
Kammer ihrer Zofe.
„Ist Yvo schon von der
Jagd zurück, Jeanette?”
„Ja - Madame, was
-”
„Ich habe keine Zeit,
es dir zu erklären! Lauf’ und hol’ Yvo!”
Ein paar Minuten
später stand ihr Sohn vor ihr, barfuss und mit halb offenem Hemd,
weil er sich gerade hatte waschen wollen. „Was ist
los?“
„Yvo, hör mir zu! Mein
Junge...“ Himmel, wo sollte sie anfangen?! Es blieb so wenig
Zeit!
„Mutter? Was ist
passiert?“
„Es geht um... um Sire
Jocelin. Er braucht unsere Hilfe, deine Hilfe...“
„Sire Jocelin?“ Yvo
verzog das Gesicht. Er hatte es seinem Lehrmeister immer noch nicht
verziehen, dass dieser ganz einfach bei Nacht und Nebel
verschwunden war. „Warum sollte der MEINE Hilfe brauchen? Für ihn
war ich doch nur ein Faulpelz und Nichtskönner!“
Ghislaine fasste ihren
Sohn an den Schultern und blickte ihn verzweifelt, beschwörend an.
„Du bist beinahe erwachsen, Yvo. Ich werde dir etwas sehr wichtiges
sagen. Etwas, was du nicht weitererzählen darfst, um unser aller
Leben willen nicht! Versprichst du mir das und wirst du mir
helfen?“
Jetzt nickte der
Junge, bemerkend, dass es wohl wirklich um eine große Sache
ging.
„Gut. Du weißt, dass
die Templer im Königreich verhaftet wurden, nicht
wahr?“
„Ja, natürlich! Wegen
-“
„Hör mir zu, Yvo!
Bitte!“ Sie zog ihren Sohn nahe zu sich, so dass kein eventueller
Lauscher an der Tür ihre hastig geflüsterten Worte verstehen
konnte...
Es hat sehr lang
gedauert, Madame Ghislaine“, Das einfallende Sonnenlicht spaltete
Floyrans Gestalt, während er durch den Saal
spazierte.
War da ein Hauch von
Misstrauen in seiner Stimme? Bei Gott, wenn er jetzt aus dem
Fenster blickte, würde er Yvo mit Jocelins Schwert durch das
Burgtor galoppierten sehen!
Er nahm ihr Gesicht in
die Hände und kam ihr ganz nah.
„Ihr seid die schönste
Frau, die ich je gesehen habe. Es war eine Schande, Euch jahrelang
in diese schwarzen Gewänder einzuschließen. Damit ist jetzt
Schluss!” Er löste den schwarzen Schleier und schob ihre Haube
zurück.
In den Falten des
Kleides ballte Ghislaine die Hände zur Faust. Ihr Herz schlug zum
Zerspringen. Aber sie musste ihn so lange wie möglich auf La
Blanche festhalten! So lange wie möglich! Darum ertrug sie seine
gierigen Finger, als sie die Verschnürung ihres Kleides aufrissen.
Sie schrie nicht, als er sie niederdrückte und sich über sie
warf.
„Er ist ein
Rekonziliarisierter! Ich denke nicht daran, mit ihm aus einer
Schüssel zu essen!” schrie Bruder Raimond und funkelte den ihm
gegenübersitzenden Ordensbruder, einer der damals aus Provins
Geretteten zornig an. „Er ist ein verdammter Verräter! Es ist
schlimm genug, dass er und seinesgleichen hier mit uns leben
müssen!”
„Ihr habt kein recht,
so mit Euren Brüdern zu sprechen!” rief Jean de
Saint-Florent.
„Gott weiß, wie sie
uns gezwungen haben, zu gestehen!” verteidigte sich Kaplan Helias.
„Ich lag Wochen in einem Graben, an Händen und Füßen
gefesselt!”
„Andere von uns hat
man auch gefoltert, und sie haben trotzdem nicht gestanden! Ich war
auch im Kerker! Trotzdem habe ich den Orden nicht erfundener
Verbrechen angeklagt!”
„Ihr seid auch eher
befreit worden!”
„Willst du nun auch
noch Komtur Jocelin die Schuld an deiner Feigheit geben,
Verräter?!” Raimond war aufgesprungen. Er packte den
zurückweichenden Ordensbruder am Gewand, ließ ihn aber dann mit
einem knurrenden Geräusch los.
Jean runzelte die
Stirn. Der junge Mann hatte eine Disziplinierung bitter nötig... Es
war nicht das erste Mal, dass es Streit gab, und Raimond war immer
vorne an.
Plötzlich verbreitete
sich Aufregung im Schlupfwinkel der Ordensbrüder. Einer der Späher,
die im Wald patrouillierten, war zurück - und nicht allein! Er
hielt das Reittier eines verunsichert blickenden Jungen am
Zügel.
„Er schlich draußen
herum. Er sagt, er sei Yvo de Montfort und wolle zu den Templern.
Was machen wir mit ihm?“
„Ich will
-“
„Du hälst den Mund,
Bürschchen!“ Nach dem Zusammenstoß mit den königlichen Söldnern
gestern war man in allerhöchster Alarmbereitschaft.
„Laufen lassen ist zu
gefährlich, er könnte uns verraten“, meinte einer der Brüder und
betrachtete den Jungen argwöhnisch.
„Ich habe das Schwert!
Das Schwert von Sire Jocelin!“ rief Yvo jetzt und streckte mit
beiden Händen die Waffe nach vorn. „Meine Mutter schickt mich, von
La Blanche!“
Jean de Saint-Florent
nahm die Waffe entgegen. Das war Jocelins Klinge ... oder,
zumindest ein Schwert des Ordens, wie das eingravierte Signum
deutlich machte.
„Von La Blanche…
soso.”
„Mutter sagt, man habe
ihn in einen Hinterhalt gelockt! Ich sollte zu Euch reiten und
Hilfe holen! Wieso glaubt Ihr mir nicht?!“
„Wenn er die Wahrheit
sagt…sollten wir uns beeilen“, murmelte Ranulf.
„Und wenn er
lügt?“
Jean gebot den Stimmen
mit einer Handbewegung Einhalt. Seine Entscheidung war gefallen.
„Wenn wir nicht riskieren wollen, dass Sire Jocelin im Kerker des
Königs landet – und das will ICH nicht, beim Blut Christi! –
sollten wir uns schleunigst auf den Weg machen! Wer Angst hat, kann
sich hier verkriechen, wer mich begleiten will – holt eure
Waffen!“
Näher und näher rückte
das steinerne Wegkreuz. Floyran lächelte stolz und siegessicher.
Ghislaine zog unwillkürlich die Zügel an. Sie fühlte sich
erschöpft, gedemütigt, beschmutzt.
Nun vermochte sie
bereits die verwitterte Christusgestalt auf dem Kreuz zu erkennen.
Ihr stummes Gebet war ein verzweifelter Aufschrei, den Floyrans
Stimme durchbohrte wie ein Schwert.
„Folgt mir, Madame
Ghislaine! Ihr sollt sehen, dass ich Euch nicht belogen habe!” Er
lenkte sein Pferd in den Wald und schob das Gestrüpp
auseinander.
Ihr Blick fiel auf
Jocelin. Er hing einige Fußbreit über dem Boden an einem Ast,
geknebelt und gefesselt. Als er sie gewahrte, spannte sich sein
Körper im vergeblichen Versuch, sich zu befreien.
„Floyran, Lasst ihn
herunter!“
„Aber das wäre doch
sehr unklug von mir, Madame, ihm jetzt Gelegenheit zur Flucht zu
geben! Ihr könntet es Euch noch anders überlegen... Wenn der
Priester den Segen über uns gesprochen hat, schicke ich einen
meiner Leute. - Nur keine Angst, Madame, er wird es schon
überleben! Die Templer sind zähe Burschen!“
Er weidete sich an dem
Schmerz und der Angst der beiden Menschen in seiner Gewalt. Sein
Genuss bahnte sich in einem Grinsen den Weg nach
draußen.
„Nun, edler Bruder,”
begann er langsam, dabei um Jocelin herum wandernd. “Ihr seht,
wohin die niedrigen Begierden führen... Aber - Euer Geschmack war
nicht schlecht, das gebe ich zu.” Seine Augen glitten über
Ghislaine und dann wieder zurück zu seinem Gefangenen. „Die
Sarazenen würden ein Vermögen zahlen für diesen Leib... ah, und so
willig… Ich könnte Euch in allen Einzelheiten...“
Floyrans Rede endete
in einem schrillen Kreischen.
Zwischen seinen
Fußspitzen federte ein Pfeil in der Erde. Er stolperte zurück, riss
das Schwert aus der Scheide. Sein hastiger Blick umfasste ein
halbes Dutzend Männer, die aus dem Unterholz traten. Er fuhr herum,
sah gerade noch, wie seine beiden Söldner sich davonmachten. „Ihr
feigen Schweine!“ brüllte er, außer sich vor Wut, die in nackte
Angst umschlug.
„Weg mit dem Schwert!“
forderte eine Stimme. Vom Gesicht des Sprechers waren nur die
dunklen Augen zu erkennen.
Esquieu schleuderte
ihm die Waffe vor die Füße. Noch in der Bewegung nahm er die Gräfin
wahr, die Jocelin zu erreichen suchte. Seinen Dolch packen und sie
an sich reißen waren eins. Ghislaine schrie auf, als sie die Klinge
an ihrer Kehle spürte.
„Nun sieht es etwas
anders aus, nicht wahr?“ Floyran lachte krampfhaft. „Macht bloß
eine Bewegung und sie ist tot!“
Die Frau eng an seine
Seite gepresst, zog er sich Schritt für Schritt zu seinem Pferd
zurück.
Jocelins und
Ghislaines Blick kreuzten sich, ein Moment voller Qual und Schmerz,
der sich wie ein glühendes Brandeisen in sie senkte. Ihre zitternde
rechte Hand fühlte den Silberbeschlag des Dolches an ihrem
Gürtel.
Floyran schob sie
gegen den Sattel. „Hoch mit dir, du Schlampe!“
In dieser Sekunde
handelte Ghislaine, ohne noch zu denken. Sie umklammerte die
zierliche Waffe, ihr Arm fuhr herum und sie stieß zu. Floyrans
Augen weiteten sich in ungläubigem Entsetzen. Er öffnete den Mund,
aber statt Worte quoll nur Blut über seine Lippen. Sein Griff
lockerte sich, und einen Moment später sackte er vor ihr zusammen.
Ghislaine wich zurück, geschockt. Erst jetzt begriff sie wirklich,
was sie getan hatte. Mit einiger Mühe drehte sie den Kopf zu
Jocelin, Halt und Hoffnung suchend und trotzdem halb Abscheu in
seinen Zügen erwartend.
Einer der Brüder war
gerade dabei, ihn los zu binden. Kaum war er frei, eilte er zu ihr.
Als Ghislaine seine Hände auf den Schultern fühlte, hatte sie
plötzlich keine Kraft mehr, sich aufrecht zu halten. Alles drehte
sich um sie.
„Ghislaine… Ghislaine,
was hat er Euch angetan?!” Jocelin grub die Hände in ihr
windzerzaustes Haar und starrte auf den zusammen gekrümmten
Leichnam Floyrans.
„Wichtig ist…“
flüsterte sie heiser, um ihre Fassung kämpfend, “wichtig ist nur,
dass Ihr lebt … in Freiheit seid, …und die Welt von diesem Teufel
befreit...”
Sie löste sich von
Jocelin und wandte sich an die anderen Ordensbrüder. “Wo ist mein
Sohn?“
„Hinten bei unseren
Pferden.” entgegnete Bruder Jean.
„Yvo?” fragte Jocelin
erstaunt. „Yvo ist hier?”
„Er war es, der Eure
Brüder geholt hat.”
Großer Gott! Jetzt
hatte er auch den Jungen mit hineingezogen! Und Ghislaine war
um seinetwillen zur Mörderin geworden! Er wusste mit einem Mal
nicht mehr, ob er Floyran oder sich selbst mehr
hasste.
Jean de Saint-Florent
berührte seinen Arm, und er schrak zusammen. „Wir sollten sehen,
dass wir hier fortkommen! Wer weiß, ob Floyrans Männer nicht mit
Verstärkung auftauchen!“
„Ja. Ihr habt
recht!“
Eine knappe halbe
Stunde später sahen sie wieder die weißen Mauern von La Blanche
durch die Bäume schimmern. Wie unschuldig... Das ‚Himmlische
Jerusalem‘...
Jocelin wies seine
Ordensbrüder an, im Schutz des Waldes zu warten, bis er mit Arnaud
zurückkehrte. Diesmal wollte er offen in die Burg einreiten.
Kannten ihn nicht die Meisten von Ghislaines Dienstleuten noch als
den Ritter aus Outremer, Lehrer des jungen Grafen? Es würde nichts
besonderes sein, ihn jetzt wieder an Yvos Seite zu
sehen...
Zunächst achtete in
der Tat niemand von den Dienstleuten auf sie. Doch auf einmal klang
ein Ruf, alle anderen Stimmen übertönend: „Dort ist der
Templer!“
Und dutzende
Augenpaare folgten einem ausgestreckten Arm und blieben an Jocelin
haften.
„Wer hat dir das
gesagt?“ fuhr Ghislaine den Sprecher an, ehe die plötzliche Stille
zu einem verräterischen Schweigen wurde. Über ihr eben noch blasses
Gesicht hatte sich zornige Röte gebreitet.
„Sire Esquieu de
Floyran, der Bote seiner Majestät!“ Der Mann stemmte die Arme in
die Hüften. Wenn Floyran ihn nicht bezahlen wollte, würde er eben
auf eigene Weise für seine Belohnung sorgen! Der Bischof, der
Papst, vor allem aber König Philipp boten gewiss reichlich Gold für
jenen Mann auf dem Pferd neben der Gräfin!
„Sire Esquieu war kein
königlicher Bote!“ entgegnete Ghislaine, hoffend, dass ihre Worte
fest genug klangen, obwohl sie am ganzen Körper zitterte. „Und Sire
Jocelin ist kein Templer! Wie kommst du nur auf solch einen
haarsträubenden Unsinn?! Du solltest nicht mehr so lange im
Wirtshaus hocken!“ Gedämpftes Kichern kam von irgendwo aus ihren
Leuten.
„Genug jetzt! Macht
euch wieder an die Arbeit! Los, Schluss mit dem Maulaffen
feilhalten!“
Gefolgt von Jocelin
und Yvo schritt Ghislaine die Treppe zum Palais hinauf. In ihren
Gemächern angelangt lehnte sie sich mit einem erleichterten Seufzer
gegen die Wand. Mit einiger Mühe widerstand sie dem Drang, ihrer
Erschöpfung nachzugeben und sich einfach auf die Fensterbank fallen
zu lassen. Heilige Muttergottes, was hatte sie getan?! Nein,
nicht darüber nachdenken, befahl sie sich. Nicht jetzt! Es gab noch
so vieles zu erledigen! Ihr Blick streifte Yvo. Der Junge durfte
nie davon erfahren, nie!
„Yvo?“
„Ja,
Mutter?“
„Geh‘ hinunter und
sage dem Küchenmeister, er solle das Nachtmahl herrichten. Und wenn
dich jemand nach Sire Jocelin fragt, erzähle, dass er mir nur einen
Brief von Erzbischof Gregor von Rouen gebracht hat, und heute noch
weiter reitet!“
Yvo nickte hastig und
wollte zur Tür, aber Jocelin hielt ihn zurück. „Was du heute getan
hast, davor wären viele Männer zurückgeschreckt. Ich danke dir, und
ich werde es dir nie vergessen. Aber du darfst keinem von dem
erzählen, was du gesehen hast, was hier geschehen ist! Nicht einmal
deinem besten Freund. Niemandem, verstehst du?”
Yvos Traum von langen
Heldenerzählungen vor seinen Freunden schmolz dahin. „Ich kann
schweigen!” entgegnete er fast trotzig. „Was denkt Ihr? Das ich ein
Milchkind bin?“
„Ein einziges Wort,
Yvo, kann dir oder deiner Mutter den Kerker einbringen... oder
Schlimmeres!”
„Ich werde schweigen!
Ich schwöre es!”
Jocelin klopfte ihm
stumm auf die Schulter und hatte ein elendes Gefühl dabei. Der
Junge war sich nicht im Mindesten im Klaren darüber, was dieses
Schlimmere bedeutete! Aber vielleicht war das gut so… Er wollte
noch etwas sagen, aber seine Mutter scheuchte ihn mit einem
neuerlichen „Nun geh schon!“ hinaus.
Dann beugte sie sich
über eine große, mit Kupferbeschlägen verzierte Truhe, die unter
dem Fenster stand. Der Duft von Lavendel verbreitete sich im Raum,
als sie den Deckel hob. Vor Jocelins erstaunten Augen nahm sie zwei
Hemden heraus, ein fein gearbeitetes Lederwams und einen
dunkelgrünen Mantel mit sizilianischen Stickereien. Die Sachen
hatten ihrem Gemahl gehört. Was sollten sie jetzt noch länger hier
liegen und auf den Mottenfraß warten?!
„Zieht das an, Sire
Jocelin. So werdet Ihr den Söldnern weniger verdächtig
erscheinen!”
„Danke...Ah, das ist
das Gewand eines Fürsten!” Seine Finger glitten über den weichen
Stoff; er hatte noch nie derart kostbare Kleidung
besessen…
“Ghislaine, wie soll
ich Euch das je vergelten?“ Es ging ihm nicht um dieses Gewand, um
das Geld, das sie ihm gegeben hatte damals für die Reise nach
Tours. Aber der Gedanke, dass Floyran seine gierigen Finger an sie
gelegt hatte, machte ihn geradezu rasend. Er streckte die Hand nach
ihr aus, aber sie wich zurück.
“Ich gehe Euch noch
etwas Proviant einpacken“, versprach sie. „Wir treffen uns unten in
der Kammer bei Bruder Arnaud!“
Jocelin schob den Arm
unter Arnauds Kopf und versuchte, ihm etwas von der Brühe
einzuflößen, die Ghislaine eben gebracht hatte.
„Ich könnte zum
Kloster schicken, dass man einige stärkende Mittel bereitet,” erbot
sich die Gräfin, aber Jocelin schüttelte den Kopf.
„Es sind schon genug
Leute, die von unserer Anwesenheit auf La Blanche wissen und
Verdacht schöpfen können. Die königlichen Söldner sind noch
überall; sie wissen, dass sie einen von uns verwundet haben. Ein
unbedachter Hinweis kann sie leicht auf unsere Spur bringen! Und
Floyrans Kumpane! Nein, wir müssen noch heute wieder
fort!”
„Aber glaubt Ihr, dass
er schon in der Lage ist zu reiten? Jocelin, wartet wenigstens noch
einen Tag! So leicht wird man nicht wagen, La Blanche zu
durchsuchen!” Vorhin hatte sie sich fast gefürchtet, mit ihm allein
zu sein, aber in diesem Moment hätte sie alles darum gegeben, ihn
wenigstens noch ein paar Stunden hier zu behalten.
„Nein, es ist zu
gefährlich! Ich will nicht, dass Ihr oder einer Eurer Leute in den
Kerker geschleppt werdet!“
Vorsichtig hob er
Arnaud in den Sattel seines Pferdes, stieg dann hinter ihm auf und
nahm den Proviantbeutel entgegen, den Ghislaine ihm
hinhielt.
Es widerstrebte ihm,
sie so zurückzulassen, nichts für ihre Sicherheit tun zu können,
sondern sich im Gegenteil davon machen zu müssen wie ein feiger
kleiner Dieb! Er suchte nach Worten, fand aber keine, und
schließlich war es Ghislaine, die die Stille brach: „Ich werde
jeden Tag beten, Euch gesund wieder zu sehen!“
„Ihr solltet …vielmehr
beten, dass sich unsere Wege nie mehr kreuzen, Madame. Ich habe
Euch genug Angst und Leid gebracht! Ich werde ... Buße tun, für
alles!“ Jocelin griff die Zügel seines Pferdes und lenkte das Tier
zum Tor. Ohne sich noch einmal umzuwenden, verließ er die
Burg.
Arnaud lag halb
aufgerichtet auf seinem Lager am Eingang der Höhle und wandte sich
Jocelin zu, der sich soeben neben ihm niedergelassen hatte. Dem
alten Ordensbruder ging es allmählich besser, auch wenn er noch
immer recht schwach war. Aber zum Glück hatte sich die Wunde nicht
entzündet.
„Nun, hast du das
Pergament und das Schreibzeug, Jocelin?“
„Ja. Hat ein halbes
Vermögen gekostet, aber ich habe es. - Arnaud, damals, als Ihr
verwundet wurdet, wolltet Ihr mir etwas erzählen. Etwas, was Euch
offenbar sehr wichtig war! Ihr sagtet, bevor Ihr sterbt, müsse ich
es wissen!“
Arnaud schüttelte den
Kopf. „Ich kann mich nicht mehr erinnern, was mir da durch den Kopf
gegangen ist. Ich war ja nicht recht bei mir. … Bruder Guy sagte
mir, dass Floyran tot sei?“
„Ja. Ist
er.“
„Hast du es
getan?“
„Nein. Ghislaine.
Ghislaine hat ihm den Dolch ins Herz gestoßen. Aber ich wünschte,
ich hätte es getan! Jeder andere, nur nicht SIE! “
Arnauds Hand legte
sich auf seinen Arm. „Du bist voller Aufruhr, voller Feuer, voller
Hass. Das ist nicht gut, Jocelin.“
„Und? Warum sollte ich
es NICHT sein?! Dieser Verfluchte hat uns so viel Leid, so viel Tod
gebracht! Er war es, der mit den falschen Anschuldigungen beim
König vorstellig wurde! Und… und er hat Ghislaine vergewaltigt!
Diese widerliche Ratte!“
„Ghislaine…“
wiederholte Arnaud langsam und ließ die Hand vom Arm seines
Ordensbruders sinken. Seine Gedanken schienen abzuschweifen, doch
dann sagte er: „Das gleiche Feuer und die gleichen Leidenschaften
haben deinen Vater zugrunde gerichtet, Jocelin. Ich will nicht,
dass du seinem Weg folgst.“
„Mein Vater? Ihr habt
mir erzählt, er starb bei einem Angriff der Sarazenen. Damals bei
der Belagerung von Akkon…“
„Ja… Aber vorher…
töteten ihn seine Leidenschaften. Ich kannte ihn gut, und ich habe
gesehen, wie sie ihn zerstörten.“
„Warum habt Ihr ihn
dann nicht davon abgehalten?“ Jocelin war in so gereizter Stimmung,
dass die Worte wie eine Anklage klangen.
„Weil er zu sehr damit
beschäftigt war, auf sich selbst zu hören, um irgendetwas anderes
wahrzunehmen.“ Er seufzte und wechselte das Thema, ehe sein junger
Ordensbruder eine weitere Frage stellen konnte: „Bist du bereit zu
schreiben? Ich diktiere dir die päpstlichen Privilegien in
chronologischer Reihenfolge. Ich hoffe, ich werde keines
vergessen!“
Schon wenige Tage
später stellten die neuen Nachrichten, die die Templer erreichten,
die mühevolle Arbeit Jocelins und Arnauds in Frage, eine
Verteidigungsschrift aufzusetzen. Papst Clemens hatte die
Suspension der Inquisition aufgehoben, vor nunmehr zwei Wochen
schon.
Der Heilige Vater
hatte sie verraten! Er hatte die Templer im Stich gelassen! Was
nützte da die Berufung einer Kommission, die er so laut verkündet
hatte! Was nützte das wahrheitsbeflissenste und rechtschaffenste
Gremium, wenn die Zeugen nicht die Wahrheit sagen konnten! Und der
Erlass des Papstes verdammte alle Brüder, die ihre ersten
erpressten Geständnisse widerrufen hatten, zu neuer Folter oder
Tod! Wer würde unter dieser Bedrohung noch bereit sein zur
Verteidigung? Dafür hatten sie Monate gewartet! Für diesen
VERRAT!
„Wir schicken unsere
Petition dennoch an den Papst und werden ihn bitten, auch die
Verteidigung anzuhören”, sagte Jocelin, doch im Stillen verlachte
er sich selbst. Briefe, Petitionen, wozu? In Tours hatten sie ihnen
nichts genutzt, und jetzt?!
„Die Leute des Königs
werden aus allen Gefängnissen Zeugen für die päpstliche Kommission
auswählen. Wir können davon ausgehen, dass König Philipp die
Absicht hat, jede Verteidigung zu ersticken. Seine Leute werden die
schwächsten der Gefangenen aussuchen, jene, die irgendeinen Groll
gegen den Orden hegen, die jeden Widerstand aufgegeben haben, die
das Meiste gestanden!”
„Wir müssen einen Weg
finden, ihnen Mut zu machen, trotz allem“, ergriff Arnaud das Wort.
„Unsere Aussagen wird niemand zu Protokoll nehmen, solange die
Verteidigung nicht ordnungsgemäß eingefordert ist und jeder als
Zeuge auftreten kann. - Für den 25. Juni sind die Zeugen nach
Poitiers vorgeladen... Es bleibt uns nicht viel Zeit. Das Beste
ist, das sich gleich morgen einige von uns auf den Weg nach
Poitiers machen, um die Lage in Augenschein zu nehmen und auf die
Zeugen zu warten.”
Echte Reue war ein
Werk des Heiligen Geistes, nicht des Inquisitors. Deshalb empfand
Guillaume Imbert auch keinen Stolz, als er in den Kerker hinunter
schritt. Es war nicht sein, sondern der Sieg Gottes über den
Teufel... Am Morgen hatte man ihm gemeldet, dass Komtur Robert von
Paris ihn sprechen wollte. Endlich, nach neun langen Monaten! Doch
noch während ihm der Waffenknecht die Zellentür aufsperrte, merkte
Imbert, dass er sich geirrt hatte. Der Gefangene warf sich ihm
nicht um Vergebung flehend vor die Füße. Er stand aufrecht, einen
entschlossenen Ausdruck im Gesicht. Anstellte seiner zerfetzten
Tunika trug er ein grobes braunes Hemd, aber über den Schultern lag
der Ordensmantel.
Inquisitor Imbert
durchbohrte dieses offensichtliche Zeichen der Unbußfertigkeit mit
einem vernichtenden Blick. Irgendjemand musste ihm den Mantel eines
toten oder rekonziliarisierten Bruders gebracht haben! Er würde
herausfinden, wer es gewesen war!
„Ich habe gehört, dass
Papst Clemens eine Kommission zur Untersuchung über meinen Orden
eingesetzt hat“, begann Komtur Robert. „Ich bitte, vor dieser
Kommission aussagen zu dürfen.“
„Ihr wollt ein
Geständnis ablegen?“ fragte Imbert, obwohl er die Antwort bereits
kannte.
„Ich entbiete mich zur
Verteidigung des Ordens gemäß den kanonischen
Gesetzen!“
„Einem verstockten
Ketzer, wie Ihr es seid, kann die Anhörung vor dem Heiligen Vater
nicht gestattet werden!“ entgegnete der Inquisitor schneidend und
wandte sich zum Gehen.
„Bei der
Barmherzigkeit Gottes, bringt mich vor den Papst!“ schrie Robert
ihm nach, aber nur Schweigen antwortete ihm. Der Gefangene hob die
Augen zu dem Bild des Gekreuzigten, das er in Stunden der Angst und
der Hoffnungslosigkeit in den Stein geritzt hatte.
„Du, o Herr, kennst
die Wahrheit!“ flüsterte er. „Offenbare sie! Verteidige unseren
Orden, Deinen Orden, Herr!“
Es war zu ungewohnter
Stunde, dass der Schüssel im Schloss der Kerkertür knirschte.
Verwundert erkannte Komtur Robert die vom Fackelschein umrissene
Gestalt Tancreds. Der junge Mönch ergriff seine Hände und flüsterte
hastig: „Man schickt mich zurück in mein Kloster. Morgen früh muss
ich fort.“
„Warum?“ fragte Robert
in der schrecklichen Gewissheit, den letzten Freund zu
verlieren.
„Weil ich Euch den
Ordensmantel gebracht habe.“
Robert wollte Tancred
umarmen, aber der junge Mönch stöhnte auf, kaum dass er ihn berührt
hatte.
„Imbert hat mich
auspeitschen lassen.“
„Was ist das für ein
Mensch? Möge Gott ihn strafen!“
Der junge Dominikaner
lächelte durch aufsteigende Tränen.
„Jetzt sind wir
Brüder, Sire Robert. Brüder im Leid. Ich werde für Euch und den
Tempel beten! Das kann Imbert nicht verhindern, und wenn er mich
bis ans Ende der Welt schickt! Und die Macht des Gebetes ist
groß!“
Stumm standen sich die
beiden Männer noch einen Augenblick gegenüber, ehe Tancred den
Kerker des Louvre für immer verließ.
„Der Mund des
Gerechten sinnt über die Weisheit nach, und seine Zunge spricht
gemäß dem Recht, das Gesetz Gottes ist in seinem Herzen“, schallte
der Introitus durch das Gewölbe der Kathedrale von
Poitiers.
Eine Wolke von
Weihrauch hüllte Papst Clemens und die ihm assistierenden Priester
ein. Das farbenprächtige Mosaik der Chorfenster ließ ein
überirdisches Licht auf die goldenen Altargeräte und die Gewänder
der Priester fallen.
„Kyrie eleison, Kyrie
eleison, Kyrie eleison...“ Der Papst stieg hinauf zum
Altar.
König Philipp, der der
Messe von einer Seitenloge aus beiwohnte, streifte mit eiskaltem
Blick die Gestalt des Vikars Christi. Clemens wirkte müde. So
müde…
Jocelin und Arnaud
hatten sich unter die festliche Menge der Gläubigen gemischt. Beim
vorsichtigen Umsehen hatte Jocelin die nach Poitiers entsandten
Brüder entdeckt.
Die Berichte, die
sie später unter einem Brückenbogen über die Reise gaben,
klangen wenig erfreulich.
„72 Brüder hat der
König bis jetzt nach Poitiers bringen lassen. Viele Komture sind
darunter. Die meisten aus den südlichen Provinzen, in denen die
Inquisition die meiste Übung hat.”
„Und sie sind übel
zugerichtet,” fiel ein anderer Bruder ein, der der Überführung
eines Gefangenentransportes beigewohnt hatte. „Sie sind so sehr
gefoltert worden, dass sie wohl kaum ein Wort der Verteidigung
wagen werden! Zumal sie immer noch von den Leuten des Königs
bewacht werden!”
„Sogar aus dem Orden
Ausgestoßene haben die Leute des Königs ausgewählt! Wie kann man
sie als Zeugen in dieser Angelegenheit anhören?!“
„Wo hat man sie
untergebracht?” wollte Jocelin wissen.
„In den Verliesen des
Bischofspalais die meisten, die anderen im Amtshaus des
Herzogs.”
„Streng bewacht, nehme
ich an.”
„Allerdings. Niemand
hat Zugang zu ihnen außer den Beichtvätern, die das
Dominikanerkloster schickt.”
Jocelin nickte
nachdenklich. Die Beichtväter hatten also Zugang. Damit ließ sich
vielleicht etwas machen.
„Wisst Ihr etwas von
Meister Jacques?” fragte er weiter.
„Nur Gerüchte. Man
soll sie in die königliche Burg von Chinon gebracht haben. Es
heißt, sie seien zu krank für die Weiterreise.”
„Zu sehr gefoltert
würde es wohl eher treffen.”
„Euren Brief haben wir
vor gut einer Woche in der päpstlichen Kanzlei abgegeben, Sire
Arnaud. Aber wenn er Clemens je erreicht hat, so verweigert er eine
Antwort. Täglich war einer von uns im Kloster, wo er residiert.
Clemens empfängt niemanden.”
„Ich versuche es
selbst noch einmal. – Außerdem wäre es gut, wenn wir einen der
Unsrigen in die Kanzlei einschmuggeln könnten. Es werden sicherlich
noch Kopisten gesucht.“
Einer der Brüder
bestätigte Arnauds Vermutung. Er hatte die entsprechenden Anschläge
an den Kirchentüren und am Marktplatz gesehen.
„Ich melde mich. „ Die
Worte kamen von Helias, dem ehemaligen Kaplan von Provins, der vor
vier Monaten hatte gerettet werden können. Geständig und
rekonziliarisiert, aber mit dem Willen, dieses Versagen wieder gut
zu machen.
Noch am selben Tag
ließ sich Bruder Arnaud in das Kloster führen, in dem Papst Clemens
residierte. Der Aufenthalt des Heiligen Vaters hatte den Konvent in
einen Bienenschwarm verwandelt. Notare liefen durch die Gänge,
Geistliche aller Rangstufen, Franziskaner, Dominikaner, Cölestiner,
Cistercienser und Johanniter bevölkerten den Gästeflügel des
Klosters. Eine große Anzahl von Laien belagerte täglich den
Audienzsaal, auf Begünstigungen wartend, die Entscheidung eines
alten Streites hoffend, oder einfach, um die Botschaften
irgendwelcher Barone zu überbringen. Manche vertrieben sich die
Zeit, einem mitgeführten Spielmann zu lauschen, andere rechneten
verzweifelt die Kosten ihres Aufenthalts aus, immer gereizter den
päpstlichen Kammerherrn um Audienz angehend.
Arnaud trug die
Mönchskutte, die man Jocelin einst in St. Germain-des-Prés gegeben
hatte. Bereitwillig ließen die Bittsteller den blinden Mann mit der
Aura eines heiligen Asketen den Vortritt, sei es auch nur um zu
sehen, ob ihm Audienz gewährt würde.
„Seine Heiligkeit ist
krank, das habe ich Euch heute schon einmal gesagt!” wehrte der
päpstliche Kammerherr gerade erneut einen ungeduldigen Adligen ab.
„Nein, Ihr könnt nicht zu ihm, unter gar keinen Umständen! Der
Heilige Vater wird heute und morgen niemanden mehr
empfangen!“
Der Mann drehte sich
wutschnaubend um und eilte mit großen Schritten an Bruder Arnaud
vorbei. Mit dem Blick eines Beamten, der es mehr als leid war,
beständige Bitten hören zu müssen, starrte der Kammerherr nun auf
den Ordensbruder.
„Und was wollt Ihr
noch? Ihr habt es doch gehört. Keine Audienzen mehr heute und
morgen.”
„Es handelt sich um
das Verfahren, das in drei Tagen beginnen soll.”
„Ach, jeder, der hier
kommt, hat angeblich etwas zu dem Prozess zu sagen! Wenn ich jeden
zu seiner Heiligkeit vorlassen würde-”
„Gebt mir nur einen
Augenblick! Clemens soll selbst entscheiden, ob er mich anhören
will!”
„Nein. Keine
Audienzen!” Mit diesem endgültigen Wort verließ der Kammerherr den
Saal.
Arnaud tastete sich
mit seinem Stock bis zu einer der Bänke in der Galerie und setzte
sich. Er überlegte, ob es Zweck hätte, sich mit den Mitgliedern der
Kommission in Verbindung zu setzen. Aber Thomas von Santa Sabina
war Dominikaner, und wohl kaum geneigt, etwas zu tun, was die
Inquisition und seinen Orden in schlechtes Licht rücken würde...
Petrus und Landulf Colonna verdankten ihr Amt dem Kampf König
Philipps gegen ihren Feind, den früheren Papst Bonifatius. Sie
waren vielleicht versucht, dieser Dankbarkeit deutlichen Ausdruck
zu verleihen. Stephan de Suisy hatte lange Zeit das Amt des
königlichen Siegelbewahrers versehen... Berengar Fredoli hatte sich
schon bei der Inquisition im Languedoc durch besondere Härte
hervorgetan...
Eine laute Stimme
störte Arnaud in seinen Gedanken. Sie gehörte einem
Johanniterbruder, der sich neben ihn gesetzt
hatte.
„Keine Audienzen! Wir
geben alles, um diese verdammte Insel zu erobern, und Seine
Heiligkeit hat nicht einmal Zeit für eine Audienz! Nur eines hört
man beständig: die Templer und Papst Bonifatius!”
Bruder Arnaud horchte
auf. Die Auseinandersetzung König Philipps mit Papst Bonifatius und
die Gefangennahme des Vikars Christi vor fünf Jahren durch Nogaret
hatten damals die Gemüter heftig bewegt.
„Bonifatius?”
wiederholte er, als habe er keine Ahnung, wovon sein Gegenüber
sprach.
„Ja. Man munkelt, der
König drohe Clemens mit einer förmlichen Anklage gegen seinen
Vorgänger!” erwiderte der Johanniter.
„Eine Anklage gegen
den Papst?”
„Man erzählt sich ganz
furchtbare Dinge.” Nun senkte der Johanniter seine Stimme.
„Häresie, Verschwörung, Götzendienst! Genau das gleiche, was man
jetzt den Templern vorwirft. Ich sage nicht, was ich darüber denke,
aber...! Ein Prozess gegen einen Papst, vielleicht seine
Verurteilung, wisst Ihr, was das bedeuten würde?!”
Arnaud bekreuzigte
sich. „Und Ihr sagt, der König droht Clemens damit?”
„Man hört Gerüchte. -
Ah, ich muss gehen. Gebe Gott, dass wir morgen endlich vorgelassen
werden, Bruder!”
Der alte Templer blieb
allein zurück.
Ein Prozess gegen
Papst Bonifatius! Das war also das zweite, die Kirche bedrohende
Übel gewesen, von dem Erzbischof Gregor damals in Tours gesprochen
hatte! König Philipp drohte Clemens mit einer Anklage von Papst
Bonifatius, wenn ihm der Papst im Falle der Templer nicht
willfährig genug war! Arnauds Hände schlossen sich fest um seinen
Stock, als könne der ihm Halt geben.
Das Dominikanerkloster
befand sich außerhalb der Mauern von Poitiers. Der schmale,
baumgesäumte Weg zum Stadttor führte an einer Viehtränke vorbei.
Dort lagen Jocelin, Guy und zwei weitere Brüder im Hinterhalt. Ihre
Gedanken weilten noch bei den Nachrichten, die Arnaud mitgebracht
hatte. Wenn König Philipp den Papst wirklich erpresste, dann würde
Clemens dem Orden vielleicht niemals zu Hilfe kommen können und
wollen. Dann waren die Templer gezwungen, ihr Recht vielleicht auch
gegen den Papst einzufordern. Umso wichtiger würde es sein, dass
die nach Poitiers gebrachten Zeugen für die Wahrheit
einstanden.
Jocelin spähte durch
das Blattwerk. Zwei Dominikaner hatten die Klosterpforte verlassen.
Den Rosenkranz betend kamen sie näher. Jocelin und Louis ließen
ihnen einige Schritt Vorsprung, stürzten aus ihrem Versteck und
ergriffen die Mönche.
„Keine Angst, es
geschieht euch nichts,” versprach Jocelin, während er seinem
Gefangenen einen Knebel in den Mund stopfte. „Zieht eure Kutten
aus!”
Der Jüngere der beiden
Dominikaner wehrte sich so heftig, dass Louis ihn
niederschlagen musste. Eilig kleideten sich die beiden Ordensbrüder
um. Ihre Gefangenen in der Obhut von Guy zurücklassend machten sie
sich auf den Weg zur Stadt.
Der Amtmann des
Bischofs, der die Abgesandten der Dominikaner an den vergangenen
Tagen in Empfang genommen hatte, verhielt sich misstrauisch beim
Anblick der unbekannten Gesichter.
„Wo sind Bruder
Nikolaus und Bruder Thomas?”
„Bruder Thomas hat
heute bei unserem Prior zu tun. Und Bruder Nikolaus geht es nicht
wohl.”
Der Amtmann
nickte.
„Dann hat es ihn
gestern doch übler erwischt! Aber Ihr braucht keine Angst zu haben,
dass das noch einmal passiert! Wir haben die Gefangenen in Ketten
legen lassen!”
Er griff nach den
Schlüsseln und schlurfte zur Treppe.
Kurz darauf standen
die Templer ihren unglücklichen Ordensbrüdern gegenüber.
Jocelin bekreuzigte sich und hob die Stimme zu einer
eindringlichen Ermahnung:
„Bekennt all Euere
Sünden, denn unser Herr Jesus Christus ist barmherzig. Er, der die
Heilige Maria Magdalena errettet hat, die doch von sieben Dämonen
besessen war, er wird auch euch barmherzig sein...”
Als er den Amtmann des
Bischofs außer Hörweite wähnte, verstummte Jocelin. Er und Louis
schlugen ihre Kapuzen zurück. Erstaunt sahen die Gefangenen, dass
die beiden “Beichtväter” nicht die Tonsur der Priestermönche
trugen.
„Ihr seid keine
Dominikaner! Was soll das?” fragte eine ängstliche
Stimme.
Jocelin trat näher zu
den Gefangenen.
„Wir sind Brüder des
Tempels wie ihr auch“, sagte er leise. Doch seine Antwort
zerstreute die furchtsamen Bedenken der anderen nicht. Sie alle
hatten den Orden mit falschen Geständnissen belastet und sich von
ihm losgesagt! Waren diese Fremden hier, um sie zum Schweigen zu
bringen?!
„Was wollt ihr von
uns? Wer schickt euch?”
„Niemand hat uns
geschickt. Wir sind ein paar dutzend Brüder in Freiheit. Seit über
einem Jahr versuchen wir, ein gerechtes Verfahren durchzusetzen.
Darum sind wir heute auch hier: um euch zu bitten, bei eurer
Anhörung den Orden zu verteidigen!”
„Verteidigen? Das
können wir nicht!” rief ein hellhaariger Ordensritter von der
gegenüberliegenden Seite. „Man hat uns verpflichtet, unsere
früheren Geständnisse zu wiederholen! Wenn wir es nicht tun,
schicken sie uns auf den Scheiterhaufen! Und ich habe schon zwei
meiner Brüder brennen sehen!”
Jocelin wandte sich
dem Mann zu. „Wer seid Ihr?”
„Isnard...Isnard de
Montreal, Komtur von Carcassonne...”
„Ich kann mir
vorstellen, was Ihr durchgemacht habt, Bruder. Aber Ihr müsst
dennoch die Wahrheit sagen, ich bitte Euch!”
„Sie haben mich
wochenlang hungern lassen...” murmelte der Gefangene mit
gebrochener Stimme. ”Ich wusste gar nicht mehr, was ich sagte, als
sie mich verhörten...”
Jocelin legte
beruhigend die Arme um den weinenden Mann.
„Wir würden ja
widerrufen, Jesus der Sohn der Jungfrau ist mein Zeuge! Wenn wir
nur in Freiheit wären!” sagte ein anderer Bruder. „Aber so?” Er hob
zur Bekräftigung seiner Worte die gefesselten Hände.
„Verteidigt unseren
Orden, im Namen Christi! Das Schicksal des Tempels kann von eurer
Verteidigung abhängen! Die Bischöfe und der Papst sollen die
Wahrheit aus Eurem Mund hören!”
„Soll doch Meister
Jacques den Orden verteidigen! Aber er hat uns befohlen zu
gestehen! Wie sollen wir denn noch wissen, was zu tun
ist?!”
Ohne ihrer Brüder
sicher zu sein verließen Jocelin und Louis den Kerker.
„Nun, habt Ihr’s ihnen
recht eingebläut?” empfing sie der bischöfliche Amtmann leutselig.
Seine Art widerte Jocelin an.
„Die Gefangenen sind
in einem schlechten Zustand,” sagte er um äußere Gleichmut bemüht.
”Nehmt ihnen die Ketten wieder ab und sorgt für besseres
Essen!”
Der Amtmann zog
überrascht die Brauen hoch. Derlei Mitgefühl war er von den
Dominikanern nicht gewohnt. Dann zuckte er mit den Schultern. „Wenn
Ihr’s für richtig haltet...
Mich geht‘s nichts an.
- In der Küche haben wir wieder ein feines Süppchen für Euch
herrichten lassen, wie jeden Tag. Lasst es Euch schmecken,
ehrwürdige Brüder!”
Es war die erste warme
Mahlzeit seit Tagen. Aber der Gedanke an ihre gefangenen Brüder
nahm ihnen den Appetit.
Als nächstes suchten
Jocelin und Louis das herzogliche Palais auf. Aber dort sah es
nicht besser aus. Die Brüder im Kerker waren fast alle krank und
derart eingeschüchtert, dass ein Widerruf ihrer Geständnisse
nicht zu erwarten war. Die ehemaligen Templer, die sich freiwillig
als Zeugen gemeldet hatten, waren in einem der oberen Gemächer des
Palais untergebracht worden. Doch sie empfingen die beiden
Ordensbrüder mit einer sarkastischen Abfuhr.
„Ich soll den Orden
verteidigen, der mich ausgestoßen hat?!” rief einer der Männer.
„Ausgestoßen wegen vier Florins, die ich bei mir hatte! Wenn ich
nicht geflohen wäre, dann säße ich heute noch im Kerker und würde
langsam verfaulen! Oh nein!”
„Aber Ihr wisst, dass
diese Anklagen gegen den Orden Verleumdungen sind!”
„Ich-” erwiderte ein
Mann in speckigem Lederwams, “ich weiß nur, wie man mich
behandelt hat, ehe ich nackt aus der Komturei getrieben wurde!
Schert Euch zum Teufel, mitsamt Eurem Orden!”
„Gehen wir,” sagte
Louis und griff den Arm seines Ordensbruders. „Hört die
Vesperglocken!”
Tatsächlich läutete es
bereits. Sie mussten sich beeilen, wollten sie vor den Hirten an
der Viehtränke sein.
„Bitte, überlegt es
Euch,” wandte sich Jocelin noch einmal an die Ehemaligen. „Sagt die
Wahrheit, um Gottes Willen und seines Gerichts!”
Dann verließen sie das
herzogliche Palais. Durch die engen Gassen des jüdischen Viertels
strebten sie dem Südtor zu.
Als sie die Viehtränke
erreichten, war schon das Blöken der Schafherde zu hören. Jocelin
pfiff zweimal den als Signal verabredeten Vogelruf. Blattwerk
raschelte und Bruder Guys Kopf tauchte auf.
„Ah, Messires, da seid
Ihr ja endlich! Ich dachte schon, es ist etwas geschehen und ich
muss die ehrwürdigen Brüder nackt in ihr Kloster
zurückschicken!”
„Nun, gottlob nicht!”
rief Louis und zog die Kutte über den Kopf. „Aber jetzt
rasch!”
Guy löste die Fesseln
der beiden Dominikaner. Mit zornrotem Gesicht packte der Ältere
seinen Habit.
„Ihr werdet
exkommuniziert! Alle!” schrie er.
Jocelin griff nach den
Zügeln seines Pferdes.
„Spart Euch die Mühe,
Vater,” sagte er, selbst überrascht von dem schneidenden Hohn in
seiner Stimme.
„Ihr missachtet die
Schlüsselgewalt der Kirche!” erboste sich der Dominikaner. „Ihr
werdet in der Hölle brennen!”
Die ersten Schafe
sammelten sich um die Tränke. Jocelin zog Bruder Guy hinter sich in
den Sattel. Auch Louis saß schon auf seinem Pferd. Mit einem
Satz waren die Reiter auf dem Weg und galoppierten Richtung
Wald.
„Haltet sie auf!
Haltet diese Männer auf!” brüllte der ältere Dominikaner den Hirten
zu. „Haltet sie, oder ich bringe euch vor den
Inquisitor!”
Doch längst waren die
Ordensbrüder außer Reichweite.
Voller Sorge ließ
Guillaume de Nogaret das herzogliche Palais hinter sich. Der Vikar
des Herzogs hatte ihm vertraulich mitgeteilt, was er von den bei
ihm inhaftierten ehemaligen Templern erfahren hatte: der Komtur der
freien Templer war in der Stadt. Und nicht nur das, offenbar ging
dieser widerliche Bastard in den Verliesen ein- und aus. Was die
Gefangenen betraf, so bereiteten sie Guillaume de Nogaret kein
Kopfzerbrechen. Seine Leute würden sich noch einmal eingehend mit
ihnen befassen. Das würde ihnen die Gedanken an eine eventuelle
Verteidigung rasch austreiben. Aber dieses Komturs der freien
Templer musste er habhaft werden! Auf eine gewisse Weise
faszinierte den Siegelbewahrer die Persönlichkeit des unbekannten
Ordensbruders. Der Beschreibung nach war es derselbe, der rings um
Paris schon seit über einem Jahr für Unruhe sorgte. Wenn es
stimmte, was er vor der Abreise in Paris gehört hatte, war auch
Floyran von den Templern umgebracht worden... Damit hatten ihm die
verfluchten Ordensbrüder auch noch einen guten Dienst
erwiesen!
Die Mitglieder der
päpstlichen Kommission und ihre Notare nahmen im Kapitelsaal der
Abtei Platz. Kardinal Thomas, der Dominikaner, bedachte
Berengar Fredoli mit einem lauernden Blick. Es hieß, der ehemalige
Erzbischof von Bordeaux trüge die Hauptverantwortung, dass ihre
Sitzung bis heute vertagt worden war... Geheimverhandlungen mit dem
Papst hatte es angeblich gegeben...
Zwei königliche
Gardisten brachten den Zeugen, einen etwa vierzigjährigen
Ordensbruder, herein. Als er näher kam, merkten die Kommissare,
dass er stark hinkte. Berengar Fredoli ordnete an, einen Stuhl für
den Zeugen zu bringen. Dann nahm er die Vereidigung vor. Über einem
Evangeliar schwor der Zeuge, die volle Wahrheit zu sagen, was seine
eigene Person, die anderen Brüder und den gesamten Orden
betreffe.
Kardinal Berengar
hatte beschlossen, dem Zeugen nicht einfach sein bereits abgelegtes
Geständnis zur Bestätigung vorzulesen wie es eigentlich geplant
gewesen war. Er würde ihn nach allen Anklageartikeln erneut
befragen.
„Wie ist Euer Name,
und in welchem Ordenshaus habt Ihr gedient?”
„Isnard de Montreal.
Ich bin... war Komtur von Carcassonne,” antwortete er zögernd und
ließ den Blick über die Kommissare schweifen. Sollte er seine
Geständnisse widerrufen wie jener Komtur Jocelin es
wollte?
Berengar Fredoli
öffnete das Pergament, das sein Notar ihm gereicht hatte. Es war
das Protokoll des ersten Verhörs des Zeugen.
„Wer hat Euch
aufgenommen, Bruder?” fragte er.
Isnard de Montreal
erbleichte. Ihm war gesagt worden, er solle nur mit einfachem Ja
antworten, um seine früheren Aussagen zu bestätigen. Was sollte das
nun? Stellte man ihm eine Falle?
„Bruder Ponce, der
Provinzmeister der Provence.” erwiderte er zögernd.
„Hier in Eurer ersten
Aussage nennt Ihr noch einige Brüder als Anwesende.”
„Ein Priester
war noch dabei.”
„Wie war der Name
dieses Priesters?”
„Ich weiß nicht... es
war ein Spanier... er ist bald darauf gestorben.” Wieder wanderten
die Augen des Zeugen unruhig durch den Saal.
„Wie seid Ihr
aufgenommen worden?” fuhr der Kardinal mit dem Verhör
fort.
„Ich habe vor dem
Altar gekniet und Keuschheit, Armut und Gehorsam gelobt.” Heilige
Mutter Gottes, wenn er sich doch nur erinnern könnte, was er damals
gestanden hatte!
„Und nach Eurer
Profess?”
„Ich wurde
eingekleidet. Man gab mir den weißen Mantel und ich küsste das
Kreuz...”
Kardinal Berengar sah
in das vor ihm liegende Protokoll. In seiner ersten Aussage hatte
der Zeuge bekannt, auf das Kreuz des Ordensmantels gespuckt und
dabei Christus verleugnet zu haben. „Was geschah, nachdem Ihr das
Kreuz geküsst hattet?”
„Ich… ich wurde in
eine Kammer geführt. Dort holte der Meister ein Bild aus einem
Schrein... ein kleines goldenes Bild...
mit zwei
Gesichtern...”
Berengar Fredoli
senkte den Blick auf das Protokoll. Wahrhaftig, einige Monate zuvor
hatte der Zeuge von einem großen, schwarzen hässlichen Götzenbild
gesprochen!
„Auf dem Bild waren
also zwei Gesichter. War es ein Heiligenbild?”
„Ich weiß nicht... ich
glaube nicht... ich erinnere mich nicht. Es war so dunkel, ich
konnte nichts Genaues sehen...”
„Ein goldenes Bild
also. Und was verlangte der Meister dann von Euch?”
„Ich sollte es anbeten
und küssen... und Christus verleugnen.”
Kardinal Berengar
musste an den Brief denken, den Papst Clemens ihm gezeigt hatte.
Jener Brief, der von Folterung und Erpressung der Zeugen
berichtete, und der angeblich von in Freiheit befindlichen Templern
verfasst worden war. Sollte wahr sein, was sie angeklagt hatten? Zu
Beginn des Verhörs hatte Kardinal Berengar die zweite
Zeugenbefragung für unnötigen Zeitaufwand gehalten. Nun kamen ihm
Zweifel. Entweder der Zeuge hatte bei seiner ersten Aussage
gelogen, oder er log jetzt - oder er log überhaupt.
„Bruder Isnard, seid
Ihr gefoltert worden vor Eurer Aussage?”
„Ja. Sehr!” Der
Ordensbruder zeigte auf sein Bein und hob dann die linke Hand, an
der drei Finger fehlten. Die Kommissare waren betroffen. Aber
Berengar Fredoli wusste, dass die auch noch so deutlichen Spuren
der Folter keinen Beweis für die Unwahrheit der gestandenen Dinge
darstellten. Das Inquisitionsrecht verlangte eine genaue Antwort
des Zeugen.
„Bruder Isnard, ich
frage Euch eingedenk des Eides, den Ihr vor uns geleistet habt,
waren diese Folterungen der Grund für Euer Geständnis vor dem
Inquisitor?”
Nun schwieg der
Ordensbruder erschrocken. Er war mehrmals gemahnt worden, die
Folter auf keinen Fall zu erwähnen. Was würde man nun mit ihm
machen?!
„Ich habe... nicht
wegen der Folter gestanden.” stammelte er nach einer Weile. „Sires,
ich... ich bin nur ein armer Mann.” Schluchzend fiel er auf die
Knie. „Glaubt mir! O Gott, glaubt mir, ich habe nur gestanden, weil
es die Wahrheit war!”
Kardinal Berengar
befahl, das Häufchen Elend zu entlassen.
Fünf Tage lang führte
die Kommission ihre Untersuchung fort. Und Kaplan Helias, der
Bruder aus Provins, kopierte Stunde um Stunde die Geständnisse
seiner Brüder für das offizielle Register. Das Wissen um das Leid
hinter diesen kalten Worten quälte ihn. Wenn er den Abend zu seinen
Brüdern zurückkehrte, war er fast krank. Jocelin wollte ihn
schließlich des übernommenen Amtes entbinden, doch da weigerte er
sich. Einmal war er von den Inquisitoren besiegt worden. Nicht
wieder!
Als die Kommission
ihre Untersuchung beendet hatte, hatten Kardinal Berengars Zweifel
auch die übrigen Kommissionsmitglieder erfasst. Die Aussagen, die
sie gesammelt hatten, waren teilweise von einer haarsträubenden
Unglaubwürdigkeit. Das einheitliche Bild einer Ketzerei, wie
Berengar Fredoli sie gewohnt war zu verfolgen, existierte nicht!
Aber alle Zeugen hatten unter Eid ausgesagt, ohne jeglichen
Zwang.
Würden sie bei der
öffentlichen Anhörung vor dem Papst erklären, bei ihren
Geständnissen bleiben zu wollen? Dann musste Clemens sie als reuige
Bekenner ihrer Schuld von der Exkommunikation lösen - und ein
Verfahren gegen ihren Orden einleiten.
Die öffentliche
Vorführung der Zeugen fand auf dem Kathedralplatz statt. König
Philipp hatte es so gewünscht, damit möglichst viel Volk dem
unwürdigen Schauspiel beiwohnen konnte. Seine Majestät saß zu Füßen
des päpstlichen Thrones im Portal der Kathedrale. Jeder sollte
sehen, dass er ein treuer Sohn der Kirche war! Unterhalb der Treppe
hatten die Mitglieder der Kardinalskommission ihre Richterstühle
eingenommen. Ihnen gegenüber, umschlossen von einem Halbkreis
königlicher Gardisten, standen die gefangenen Templer. Die meisten
von ihnen trugen kein Ordensgewand mehr, zum Zeichen, dass sie die
Schuld ihres Ordens anerkannt und sich von ihm losgesagt
hatten.
Noch einmal las ein
Notar die gegen den Tempel erhobenen Anklagen vor und fasste die
Geständnisse zusammen.
Unter den Arkaden des
bischöflichen Palais verfolgten Jocelin und seine Gefährten das
Geschehen. Stumm beteten sie um Kraft für ihre gefangenen
Brüder.
Kardinal Berengar
stellte die entscheidenden Fragen an die Zeugen: „Seid Ihr durch
Druck, Versprechungen, Bestechung, Geschenke oder Furcht zu Euren
Aussagen gebracht worden?“
„Nein, wir haben um
der Wahrheit willen gestanden.“
Einer nach dem anderen
knieten die Zeugen vor dem Papst nieder.
„Vergebt uns, Heiliger
Vater! Vergebt uns unsere Schuld!”
Jocelin schloss ihn
ohnmächtiger Verzweiflung die Augen.
Nur eine Handvoll
Templer stand noch aufrecht vor der Kommission. Louis erkannte den
ehemaligen Komtur von Carcassonne.
„Nun, habt Ihr noch
etwas zu sagen?” klang die kühle, klare Stimme König Philipps über
den Platz, und sein eisiger Blick bohrte sich in die Gesichter der
Zeugen.
Komtur Isnard de
Montreal schüttelte den Kopf, dann bekreuzigte er sich und kniete
ebenfalls nieder.
„Habt keine Furcht,”
wandte sich nun Papst Clemens an die Ordensbrüder. „Die Kirche ist
gnädig und barmherzig. Wenn ihr noch etwas verschwiegen habt, dann
bekennt es jetzt, und man wird euch gnädig sein.”
„Vergebt uns,” war die
einzige Antwort, die er erhielt.
„Kommt, Messires. Hier
haben wir nichts mehr verloren,” sagte Jocelin enttäuscht und
lenkte sein Pferd die Straße hinauf. Er konnte weder den Anblick
der knienden Brüder noch des Papstes länger ertragen. Selbst das
Licht und die Wärme der Sonne waren im plötzlich widerwärtig. Wie
konnte es sein, dass der Himmel sich nicht verdunkelte und der Zorn
Gottes sich nicht über die Welt ergoss?
Die Nacht brach
herein. Seit Tagesbeginn warteten die Templer auf die Entscheidung
des Papstes. Arnaud und Jocelin waren in der Stadt und hatten ein
letztes verzweifeltes Bittgesuch um Anhörung weiterer Zeugen
überbracht.
„Papst Clemens muss
den Orden freisprechen”, sagte Kaplan Helias zum wiederholten Mal.
“Er kann nicht glauben, dass diese Geständnisse der Wahrheit
entsprechen! Nicht zwei von denen, die ich kopiert habe, stimmten
überein! Niemand würde doch einer häretischen Lehre anhängen, die
er selbst nicht kennt! Das ist widersinnig! Nein, selbst wenn
keiner der Zeugen widerrufen hat, Clemens muss uns
freisprechen!”
Auch Bruder Louis war
dieser Meinung. Er lehnte sich an einen Baumstamm zurück, und
während der Gesang der Vögel langsam in der Dunkelheit verebbte,
war er sich mit einem Mal des baldigen Endes ihrer Verfolgung
sicher. Vielleicht speisten Arnaud und Jocelin ja schon mit Papst
Clemens, und deshalb dauerte es so lang. Ja gewiss, dass würde es
sein! Ah, in ein paar Tagen könnten sie alle wieder in ihre
Ordenshäuser einziehen, die Glocke würde sie zum Gebet und zu Tisch
rufen wie stets...
„Sie
kommen!”
Der Ruf des Postens
riss Louis aus seinem schönen Traum. Erwartungsvoll sprang er auf.
Pferdehufe waren zu hören, dann schälten sich die Gestalten der
Reiter aus der Nacht.
Ihre Mienen
zerschlugen Louis’ Hoffnungen, noch ehe ein Wort gefallen
war.
„Clemens hat Euch
nicht angehört,” murmelte er.
Jocelin stieg aus dem
Sattel. „Er hat uns das hier übergeben lassen,” sagte er und hob
eine Pergamentrolle. Mit dem Dolch durchtrennte er das Siegelband
und trat ans Feuer.
Die Brüder scharten
sich enger um ihn, und er begann laut die Entscheidungen des
Papstes zu lesen:
„....da es scheint,
dass die den Templern zur Last gelegten Verbrechen wahr sind,
befehlen Wir Euch, Erzbischöfen, Bischöfen und Äbten, die
Untersuchung gegen die Personen dieses Ordens einzuleiten, gemäß
den kanonischen Bestimmungen... zum Ruhm und zur Verherrlichung des
Glaubens...Wir ordnen an, dass Ihr Euch einige geeignete Personen
in dieser Untersuchung zur Seite stellt, die Wir bestimmen
werden... Hütet Euch jedoch, Euch in das Verfahren über den
Gesamtorden einzumischen, welches Wir Uns vorbehalten... Wir
reservieren Uns auch in jeglicher Beziehung den Prozess gegen den
Meister des Tempels und die übrigen Würdenträger...”
„Kein Freispruch,”
rief Kaplan Helias bitter.
„Und der Papst lässt
uns auch nicht verteidigen,” setzte ein anderer Bruder
hinzu.
Jocelin senkte die
Augen noch einmal auf den schrecklichen Satz: ‚Es scheint, dass die
Verbrechen wahr sind...‘ Wie konnte Clemens das nur glauben? Wie,
bei Gott?
„Aber er gewährt uns
einen Prozess nach den Normen des kirchlichen Rechts“, wandte
Arnaud ein. „Das ist viel, nach allem, was der Heilige Vater hat
geschehen lassen - Gott vergebe mir -, aber ob es den Orden rettet,
hängt allein davon ab, wieweit sich Clemens und die Bischöfe von
dem Griff König Philipps befreien können. Und das, fürchte ich,
wird nicht allzu weit sein!“
„Seine Majestät will
unsere Verurteilung. Er wird nicht eher ruhen, bis er sie erreicht
hat!”
Jocelin griff nach dem
Wasserschlauch, den Kaplan Helias ihm reichte und trank
durstig.
„Aber - nicht alle
Herrscher werden an die Schuld des Ordens glauben.” suchte Louis
sich selbst Mut zu machen. „Der König von Portugal beispielsweise
ist ein großer Freund des Tempels, das weiß man. Oder auch Jayme
von Aragon...”
„Wenn Papst Clemens
befiehlt, unsere Brüder gefangen zunehmen, wird nach dem Glauben
von König Jayme oder König Diniz niemand mehr fragen. Und ganz
besonders nicht König Philipp, der dem Papst vielleicht gern seinen
Arm gegen die Begünstiger der Templer leiht“, erwiderte Jocelin.
”Wie weit, glaubt Ihr, wird König Diniz mit seiner Freundschaft
gehen? Wird er zulassen, exkommuniziert und seiner Krone beraubt zu
werden?”
Er ließ sich neben die
Feuerstelle fallen, müde und ausgelaugt.
„Was ist mit Meister
Jacques?” fragte einer der Brüder. „Hat er denn auch erneut
gestanden?”
„Ich weiß es nicht.
Über ihn und die anderen Würdenträger steht in der päpstlichen
Verfügung nichts.”
„Werdet Ihr versuchen,
zu ihm zu gelangen, Sire Jocelin?”
„Nach dem, was wir
hier in Poitiers unternommen haben, ist das wahrscheinlich genau
das, was König Philipp erwartet.”
Arnaud nickte.
„Philipps Leute werden auf Chinon sitzen und auf uns warten. Jetzt
zu Meister Jacques zu gehen, wäre der sicherste Weg in den
Kerker.”
„Was tun wir
dann?”
„Meister Jacques hat
Bruder Jocelin und mich zu Prokuratoren bestellt. Wir können
selbständig handeln, ohne neue Befehle des Meisters oder des
Kapitels, auch außerhalb Frankreichs... Papst Clemens hat ein
Verfahren gemäß dem Kirchenrecht angeordnet und Bischöfe als
Untersuchungskommissare eingesetzt. Sie sind es, an die wir uns in
erster Linie wenden müssen. Wir müssen die Verteidigung
organisieren. König Philipps großer Trumpf war bisher die
Isolierung unserer Brüder, von Meister Jacques, von ihren Komturen.
Philipp hat einen gegen den anderen ausgespielt.”
Kaplan Helias stimmte
zu. Im Kerker von Provins waren Aufrufe zum Bekenntnis zirkuliert,
von dem niemand wusste, ob sie echt oder gefälscht waren, die
Inquisitoren hatten von Geständnissen und Anzeigen gesprochen, die
vielleicht von Grund auf erlogen gewesen waren.
„...wir müssen dafür
sorgen, dass die Mittel für einen ordnungsgemäßen Prozess zur
Verfügung stehen.”
„Das heißt, dass
unsere Brüder dort, wo sie noch in Freiheit sind, so schnell wie
möglich so viel wie möglich des Ordensbesitzes verkaufen müssen,”
überlegte Jocelin. „Haben wir Vollmacht, so etwas zu befehlen,
Arnaud?”
„Unter diesen
Umständen, ja. Wir haben keine andere Wahl.“
Ja, sie hatten keine
Wahl.