Frühjahr 1308 - Frankreich

 
Wie für die Landbevölkerung auch, waren die Wintermonate für die Flüchtlinge eine Zeit des Hungers gewesen. Nachdem königliche Forstwächter die Wälder durchstreift hatten, wagten sie kaum mehr zu jagen oder Fallen aufzustellen. Vor ein paar Wochen war es gelungen, einen Teil der Inhaftierten aus Provins zu befreien, kurz bevor sie in ein anderes Verlies überführt wurden. Zur Freude der Flüchtlinge war ein Geistlicher unter ihnen, Kaplan Helias. Doch für Komtur Renalt war die Hilfe zu spät gekommen... Er war gestorben, kaum dass sie ihren Zufluchtsort erreicht hatten, und ein paar Wochen darauf noch zwei weitere Brüder.
Ranulf hatte sich in Orleans verdingt. Dort an der Dombauhütte hoffte er am ehesten Nachrichten vom Papst zu erhalten. Doch mit dem Schnee schmolz auch die Hoffnung auf den Heiligen Vater dahin. Clemens war krank, und die Kardinäle, denen seine Geschäfte anvertraut waren, Vertraute des Königs. Die Brüder erfuhren, dass die Templer in England und Irland gefangen gesetzt worden waren - trotz aller gegenteiligen Versprechen König Edwards. Auch in der Provence hatten sich die Kerkertüren hinter den Ordensbrüdern geschlossen.
Die Stimmung in Fontainebleau war gespannt.
„Ich sage euch, Papst Clemens rührt keinen Finger für uns!“ rief jemand unvermittelt. „Oder hat er seine Kommission vielleicht schon berufen? Auf seine Hilfe zu warten hat keinen Zweck!”
„Aber der Heilige Vater ist unser einziger Richter!“ widersprach Jocelin. “Nur er kann den Orden retten!“
„Ach, Clemens ist doch ebenso gefangen wie unsere Brüder! Man munkelt überall, dass der König ihn erpresst!“
„Oder er ist ganz einfach zu feige, was zu unternehmen!“
Jocelin musste an den Spielmann denken, dem er im Herbst begegnet war. Wie waren doch dessen Worte gewesen?
‚Der König lässt den Papst tanzen wie eine hölzerne Puppe.‘ Welche Chance hatte Clemens dann überhaupt, dem Orden der Templer die Hilfe zu bieten, die er so nötig brauchte? Jocelin wollte hoffen, wollte glauben, dass sich alles zum Guten wenden würde. Doch in den letzten Wochen war der Zweifel stärker geworden. 
„Wie lang wollen wir noch warten, bis wir etwas unternehmen? Bis wir hier verhungern?! Warum reiten wir nicht zu Clemens und zeigen ihm, wie ein Templer zu kämpfen vermag?“ schrie Bruder Raimond.
„Raimond, beherrscht Euch!”
„Zum Teufel! Wenn Ihr zu feige seid, die Waffen zu erheben, dann gehe ich allein!” Er warf den harten Brotkanten auf die Erde und schritt zornig aus der Gemeinschaft der Brüder.
Jocelin wollte ihm nach, doch da stürmte Raimond schon mit einem Freudenschrei zurück.
„Ranulf! Ranulf ist da!“
Fast noch mehr als das unverhoffte Wiedersehen erfreute die Brüder der große Sack, aus dem Ranulf Mehl, Brot, Butter, Käse und sogar einen Schinken zu Tage förderte.
Während er das erste Brot verteilte, berichtete er: „Die Dombauhütte wurde geschlossen. Der Bischof hatte sich wohl etwas zu reichlich aus den Templergütern bedient, und Papst Clemens ließ den Bau einstellen, als er es bemerkte.“
„Dann ist der Papst wieder in Franzien?“
„Seit etwa einer Woche ist er wieder in Poitiers, ja. Die Verhandlungen mit Seiner Majestät sollen auch wieder aufgenommen werden. Aber das wird noch dauern bis nach dem Turnier.“
„Ein Turnier?“
„Anlässlich der Ritterweihe des Thronfolgers in 12 Tagen. König Philipp will ein großes Fest ausrichten mit Kampfspielen und Turnieren Mann gegen Mann. Und seine Majestät ist freigiebig: man sagt, für den Sieger habe er einen Preis von hundert Goldflorins ausgesetzt.“
„Freigiebig! Ha! Mit dem Gold unseres Ordens! Hundert Goldflorins!“ rief Raimond. „Einer von uns sollte reiten und es zurückholen!“
„Was redet Ihr? Keinem Bruder des Tempels ist es gestattet, an einem Turnier teilzunehmen!“ entgegnete Louis.
„Gut, Ihr kennt die Regeln auswendig, was? Und wer will über uns richten, wenn wir uns nicht an jeden Buchstaben halten?! Der Meister sitzt im Kerker und unser Komtur ist tot!“
„Komtur Jocelin -“
„Oh, Ihr könnt Euch auch nur hinter Ihm verstecken, was? Und deshalb werden wir zusehen, wir irgend so ein Schlagetot das Preisgeld kassiert und es dann mit Saufen und Fressen durchbringt!“
„Schluss damit!“ fuhr Jocelin den jungen Ordensbruder an. „Louis hat Recht. Die Regel verbietet es.“
„Ach, WUSSTE ich es doch!“ fauchte Raimond nur.
„Trotzdem wird jemand von uns reiten.“
„Was?“
„Ich. Ich werde für den Tempel antreten.“
Auf Jocelins laute Erklärung folgte überraschtes Schweigen.
„Jocelin, das kannst du nicht“, ergriff Arnaud schließlich das Wort. „Das -“
„Ich weiß, niemand kann mir Dispens erteilen. Ich muss es allein verantworten, und das werde ich auch, bis ich Gelegenheit bekomme, um Vergebung zu bitten. Aber wir dürfen uns diese Chance nicht entgehen lassen, nicht in der Situation, in der wir derzeit sind!“
„Aber du, keiner von uns, ist in der Verfassung, ein Turnier zu reiten!“
„Ich habe meine Brüder nicht befreien wollen, damit sie schlimmer als Tiere leben, Arnaud! Der Orden hat mich ausgebildet, und mit dieser Ausbildung werde ich ihm dienen. - Zwölf Tage sind noch Zeit bis zu den ersten Kämpfen, sagst du, Ranulf. Das reicht, um zu Kräften zu kommen und zu trainieren.“
„Dann werde ich dich begleiten“, beschloss Arnaud und erhob sich. „Und die Gelegenheit nutzen, mich ein wenig umzuhören unter den Gästen des Turniers…Einem blinden Bettler wird man keine allzu große Aufmerksamkeit schenken, und ihn nicht sonderlich für voll nehmen.“
„Und ich komme auch mit“, fügte Louis an. „Als Euer Knappe!“
Als Tancred den Kerker betrat, strahlte Freude in Komtur Roberts abgemagerten Zügen auf. Der junge Dominikaner war seit Monaten sein einziger Kontakt zur Welt. Eine seltsame Freundschaft war zwischen den beiden Männern gewachsen. Längst überstieg Tancreds Sorge für den Gefangenen den Auftrag Guillaume Imberts.
„Ich habe einen Balsam mitgebracht, Bruder Robert“, sagte er und begann die Verbände von Roberts Füßen zu lösen.
Die Brandwunden heilten schlecht und brachen immer wieder auf. „Lasst, ich kann selbst-“
„Es macht mir nichts aus!“ erwiderte der junge Mönch mit einem Lächeln. Alles, womit er das Los des Gefangenen erleichtern konnte, sah Tancred als Möglichkeit der Buße für die Taten der Inquisition, die er mehr und mehr verabscheute.
„Wie geht es meinen Brüdern?“ Robert wagte die Frage kaum zu stellen.
„Sie sind am Leben.“
„Am Leben...“ Diese beiden Worte hatten eine ganz neue Bedeutung bekommen in den vergangenen Monaten. Leben, das bedeutete in erster Linie ‚überleben‘: die Verletzungen, die Krankheiten, die Feuchtigkeit des Kerkers, den Hunger, den Durst, die Finsternis. Von einem Tag zum anderen.
„Ist Bruder Pietro di Bologna noch bei ihnen?“
„Der Priester? - Ja.“
„Das ist gut. Er kann den Brüdern beistehen und sie stärken. Ich würde so gern selbst zu ihnen sprechen, sie sehen...“
„Ihr könntet schreiben, Sire“, schlug der junge Dominikaner zögernd vor. Komtur Robert blickte ihn an, einen Moment lang dem verlockenden Angebot erliegend. Dann aber sagte er: „Nein, Bruder Tancred. Ich will dich nicht in Gefahr bringen. - Weißt du etwas von Meister Jacques?“
„Nichts Genaues. Ich hörte, dass er und die übrigen Mitglieder des Obersten Kapitels noch in Corbeil gefangen wären, doch niemand darf zu ihnen. Sie werden streng bewacht. König Philipp fürchtet wohl, dass man sie befreien könnte, so wie es mit den Brüdern von Etampes und einigen anderen Orten geschehen ist.“
„Demnach hat man die Flüchtlinge noch immer nicht aufgegriffen?“ fragte Robert voller Hoffnung. Tancred nickte.
„Gott schütze sie! - Hat Papst Clemens die Kommission schon berufen?“
„Nein. Wahrscheinlich will er damit warten, bis das Turnier vorbei ist. Und dann ist auch bald die Heilige Woche...“
„Das Fest des Leidens und Sterbens unseres Herrn. Und wir dürfen die Sakramente nicht empfangen! Die Messe dürfen wir nicht hören! Mit welchem Recht?!“ Komtur Robert strich über das zerschlissene Kreuz seiner Tunika.
„Unser Orden hat gelobt, für Jesus Christus zu kämpfen, für ihn zu sterben, wie er für uns gestorben ist. Wie kann man glauben, dass wir das heilige Kreuz verleugnen und schmähen?“ Seine verzweifelte Stimme brach und er bedeckte das Gesicht mit den Händen. „Warum hilft Gott uns nicht? Uns, seinen Rittern? Warum rettet er uns nicht vor den Verleumdern?“ 

Auf der alten römischen Straße nach Paris herrschte reger Verkehr. Spielleute und Schausteller waren unterwegs, reiche Herren mit stattlichem Gefolge. Inmitten der übermütigen Turnierkämpfer zog eine seltsam anmutende Gruppe der Stadt entgegen: ein Mann in ärmlichen Gewand, ohne Sattel reitend, aber ein Schwert an der Seite, neben dem Pferd ein junger Mann im Bauernkittel mit einer Lanze über der Schulter, und ein blinder Mann im Mönchshabit.
Ein kahlköpfiger Mann fischte eine Münze aus seiner Börse und warf sie Bruder Louis vor die Füße. „Hier, damit sich dein Herr wenigstens etwas Brot kaufen kann, wenn es schon für einen Sattel nicht reicht!“
Ein junger Ritter auf prächtig aufgeputzten Pferd winkte ihnen zu: „He, Ritter Habenichts, wo wollt Ihr denn hin?“ Der Wind blähte die weiten Ärmel seiner Brokattunika. „Etwa zu dem Turnier? Dann gebt Acht, dass Euch das Gewand nicht vorher vom Leibe fällt!“
Der Spott erntete zustimmendes Lachen von den übrigen Reisenden. In diesem Augenblick lenkte ein älterer Ritter sein Pferd nach vorn. „Sire Francis, Ihr habt die Manieren eines Bauerntölpels!“ tadelte er den jungen Ritter. „Ihr wisst nicht, welches Schicksal diesen Mann ins Unglück gestürzt hat, also hütet Euch zu spotten!“ Jocelin musternd ritt er näher. „Ihr scheint mir ein wirklicher Ritter, kein weibischer Feigling, der Angst hat, sein kostbares Gewand im Kampf zu beschmutzen.“ sagte er mit einem Seitenblick auf den jungen Mann, der zornig sein Pferd herumriss und an den Gaffern vorbeigaloppierte. „Wie ist Euer Name?“
„Jocelin ...von Judäa.“
„Von Judäa?! Gott im Himmel, es ist lange her, dass ich einen Poulain getroffen habe! Ich wünsche Euch von Herzen Glück! - Nun muss ich sehen, dass ich Sire Francis einhole. Er macht nur Dummheiten, wenn ich ihm nicht die Zügel anlege!“
Als sie merkten, dass es nichts mehr zu sehen gab, setzten die anderen Reisenden ihren Weg fort. Nur noch manchmal traf ein neugieriger Blick Jocelin und seine Gefährten.
Am Nachmittag erreichten sie Paris. Die meisten Reisenden wandten sich vor der Porte Saint-Denis nach Westen, wo unter den mächtigen Mauern des Temple die Turnierbanner wehten.
Für Jocelin galt es zunächst jedoch, einen Geldverleiher ausfindig zu machen.
Er und seine beiden Ordensbrüder schlugen die Richtung zur Rue du Temple ein. Irgendwo dort, erinnerte sich Jocelin, hatte zumindest vor einigen Jahren ein lombardischer Kaufmann gewohnt.
Im Oktober vergangenen Jahres war Jocelin denselben Weg in die Stadt gekommen, noch ahnungslos über das Unheil, das den Orden ereilt hatte. Es schien eine Ewigkeit her...
Bruder Louis spähte durch ein Tor in den düsteren Hinterhof.
„Wie wollt Ihr hier jemanden finden, Sire Jocelin?“
„Es ist sicher ein Steinhaus. Man sagte, dass er sehr reich sei. Er ist sogar einmal in offenen Streit mit dem Komtur von Paris getreten...“
„He, wen sucht ihr denn?“ kam eine Stimme aus dem Fenster über ihnen.
„Einen lombardischen Kaufmann!“
„Von denen gibt‘s hier keinen mehr! König Philipp hat sie alle zum Teufel gejagt, diese verfluchten Halsabschneider!“
Louis stieß mit dem Fuß in den Straßendreck. „Was jetzt?“
Ohne Geld gab es keinen Sattel, und ohne Sattel kein Turnier!
„Die Juden“, schlug Arnaud vor.
„Ach, die werden nicht mehr viel haben zum Verleihen nach der letzten Sondersteuer!“
„Trotzdem. Wir versuchen es!“
Eine Mauer trennte das Judenviertel von der übrigen Stadt. Noch vor einigen Jahrzehnten hatte es eine blühende Gemeinde beherbergt.
Aber seit den Bedrückungen durch König Philipp und den Überfällen einer Bevölkerung, die einen Schuldigen für ihr Elend suchte, waren viele Juden ausgewandert. Die Häuser standen leer, und Armut zog in die Gassen ein. Nur in den Arkaden eines einzigen Hofes verrieten aufgestapelte Warenballen einen gewissen Reichtum.
Jocelin wies Louis an, bei Arnaud zu warten, und betrat den Hof. Eine Frau zog zwei am Boden spielende Kinder an sich und flüchtete ins Haus, als sie seiner ansichtig wurde.
Kurz darauf trat ein Mann in mittleren Jahren heraus. Sein Gesicht wirkte abweisend, ja feindselig.
„Was willst du?“
„Ich...bin gekommen, um einen Kredit zu erbitten.“
„Ich soll dir etwas leihen? Du siehst nicht aus, als könntest du je einen Pfennig zurückzahlen! O nein!“
Er drehte sich um. Verzweifelt nach Worten suchend packte Jocelin ihn am Arm. „Wartet! Ich bin ein Ritter, ich werde im Turnier kämpfen! Ich brauche das Geld für einen Sattel! Ich werde Euch alles zurückzahlen, darauf gebe ich mein Wort!“
Der Jude befreite sich aus dem Griff. „Was meinst du, wie viele Christen mir schon ihr Wort gegeben haben, und wie viele es hielten? Ich kann nichts für dich tun, selbst wenn ich wollte. Heute Morgen war der Bischof von Cambrai bei mir und verlangte eine ungeheure Summe. Gott sei‘s geklagt, aber ich werde wohl keine Münze wieder sehen! Und mein Geschäft“, er machte eine Bewegung über die Warenballen, „läuft auch nicht besonders. Die Leute sind zu arm!“
„Wisst Ihr denn niemanden, der mir etwas leihen kann?“
„Hier nicht, nein. Aber in Outre-Petite-Pont, bei Sainte-Geneviève soll es einen Verleiher geben, ein Christ, wie man sagt, der sich nicht schert um die Gebote seiner Kirche. Versuch es bei ihm!“
Der triefäugige Wirt beugte sich zu Jocelin und zischte: „Ob ich dir Geld leihe, du Hurensohn? Du weist doch ganz genau, dass die Kirche es verboten hat! Verschwinde!“
Wie um diesen Worten Nachdruck zu verleihen, knurrte ein bösartig aussehender, riesiger Hund hinter der Theke. Jocelin war bereits aus der Schenke, da sagte eine weibliche Stimme: „Du brauchst Geld? Dann komm‘ mit!“
Die Frau führte die Ordensbrüder an den stinkenden Werkstätten der Gerber vorbei in eine weitere düstere Spelunke. Dort wälzten sich zwei Betrunkene im Kampf über den Boden. Ein Fußtritt traf sie in die Seite. „Raus, ihr Schweine!“ brüllte ein breitschultriger Mann, riss die Betrunkenen hoch und beförderte sie mit einem weiteren Tritt vor die Tür.
Dann begrüßte er die Frau mit einem Kuss.
„Wen schleppst du da an, he?“
„Kundschaft für Merot.“
Der Mann zuckte mit den Schultern und schrie in das Halbdunkel der Wirtsstube: „Merot! Merot, zum Teufel, du fauler Sack!“
Eine Holzstiege knarrte, und ein nachlässig gekleideter Mann erschien vor den Ordensbrüdern.
„Du kommst um Geld zu leihen?“ wandte er sich ohne Umschweife an Jocelin. „Wie viel?“
„Genug für einen guten Sattel.“
Merot wog eine Börse in der Hand und nannte eine Summe. „30% Zinsen, wenn du nach einer Woche zahlst, jede Weitere 10% mehr.“
„Das ist Wucher!“ rief Arnaud empört.
„Nun, wenn es dem frommen Bruder nicht passt, behalte ich mein Geld.“ Er entblößte ein schadhaftes Gebiss.
Jocelin starrte auf die Börse. Es war ein ungeheurer Zinssatz! Aber es war die einzige Möglichkeit! Oder sollte er das Turnier aufgeben? Aber... 100 Florins! 100 Florins ihres eigenen Ordens! „Ich akzeptiere.“
Der Wucherer zählte langsam Münze für Münze in Jocelins Hand.
„Du verstehst natürlich, dass ich eine Bürgschaft brauche.“ bemerkte er beiläufig. „Aber ich bin kein Unmensch. Ich verlange nichts, was du nicht hast! Es genügt, wenn einer deiner Begleiter solang bei mir bleibt, bis du zahlst!“
Noch ehe Jocelin etwas erwidern konnte, wurde Louis von zwei Männern gepackt.
„Wir werden ihn sicher verwahren, keine Angst!“
Louis‘ Gesicht verzerrte sich in sprachlosem Entsetzen. Der Gedanke, wieder eingesperrt zu sein, brachte ihn in Panik.
„Ihr könnt ihn nicht hier behalten!“ protestierte Jocelin, doch der Wucherer blieb ungerührt.
Die beiden Männer zogen Louis mit sich fort. Seine Furcht machte sich in einem verzweifelten Schrei Luft: „Bruder Jocelin!“
Die Aufmerksamkeit auch der letzten Wirtshausgäste war erregt. Jocelin meinte von ihren Blicken durchbohrt zu werden. Ihm schwindelte.
Wie aus weiter Ferne hörte er die spöttische Stimme des Wucherers: „Der hat ja mehr Angst, als sollte er in die Hölle! Wir schicken dir ja deinen schwarzberockten Freund!“
Arnaud! Arnaud trug die Mönchskutte! Sie hielten ihn für ‚Bruder Jocelin‘! Mit einem tiefen Atemzug suchte Jocelin dem Zittern seiner Glieder Herr zu werden. Er wagte einen vorsichtigen Blick. Die Gäste lachten. Niemand schien Verdacht geschöpft zu haben. Der Wucherer bedeutete Jocelin und Arnaud zu gehen.
„Und denk daran, je eher du zurückzahlst, desto eher kommt euer Freund zu seiner Beichte!“ rief er ihnen noch hinterher. Sein Lachen, wie das Meckern eines Ziegenbocks, verfolgte sie bis weit auf die Straße.
Die Schausteller gaben eine meisterhafte Darbietung. Klatschen und Jubelschreie brandeten bei jeder grotesken Verrenkung, den Sprüngen und Salti durch die Menge.
In einem weiten Bogen säumten die Zuschauer den Turnierplatz. Selbst auf den Bäumen hockten sie. Es war ein relativ warmer Frühlingstag; nach den letzten Regengüssen rochen die Wiesen und die Erde frisch. Etwas erhöht, im Schatten eines blauen Baldachins, saß König Philipp mit seiner Familie und den engsten Vertrauten. Eine Abteilung Söldner umstand die Tribüne. Seine Majestät war misstrauisch. Da war das Volk, eine brodelnde, unkontrollierbare Masse. Da war der Adel, den die immer strengere Beschneidung seiner Privilegien aufbrachte. Und schließlich - ein Haufen flüchtiger Templer irgendwo in den Wäldern, derer man einfach nicht habhaft wurde!
Ein Fanfarenstoß erklang. Die Köpfe der Menschen wendeten sich zu den bunten Turnierzelten. Dort zeigten sich die ersten Ritter. Prinz Louis, der am Vortag den Ritterschlag erhalten hatte, war bei ihnen, stolz in seiner glänzenden Rüstung, das Lilienbanner an der Lanze. Neben ihm ritt Charles de Valois, der Bruder des Königs. Gräfin Ghislaine de Montfort ließ die Augen über die Wappen auf den Schilden wandern. Der Graf von Etampes, der Graf von Angers... Auch ihr Gemahl war oft an der Seite der Großen Frankreichs in Turniere geritten. Wie hatte er mit seinen Siegen geprahlt! Und dann war er in Courtrai von einem Bauern erschlagen worden wie ein räudiger Hund. Was half ihm nun sein Ruhm? Der König der Könige würde nach anderem fragen...
Ghislaine blickte sich nach ihrem Sohn um, aber Yvo war nirgends zu sehen. Dabei war sie seinetwegen zu dem Turnier gereist, damit er etwas von den ritterlichen Tugenden lerne. Doch im Grunde, was sollte er hier lernen? Was außer Eitelkeit und Hochmut?  Die edlen Ritter, wie sie die Spielleute besangen, gab es wohl nur noch in deren Liedern. Die Gräfin war ärgerlich. Aber sie merkte nicht, wie tief sie in Wahrheit all dieses leere Gepränge verabscheute.
Ein weiterer Fanfarenstoß verkündete das Eintreffen der Herausforderer. An ihrer Spitze ritt ein riesenhafter Mann in schwarzglänzender Rüstung. Er wurde jubelnd begrüßt. Die Ausrufung des Herolds war überflüssig. Jeder kannte Jorge de Fontcalda, oder wurde spätestens jetzt von den Umstehenden aufgeklärt, dass der katalanische Ritter schon an die hundert Turniersiege zu verzeichnen hatte. Den meisten galt es sicher, dass er auch aus diesem Waffengang als Sieger hervorgehen würde. Dem Katalanen folgte ein englischer Baron, die Haare in eine modische Lockentracht gelegt.
Ghislaine de Montfort hielt erneut nach ihrem Sohn Ausschau. Auf der Wiese focht eine Herde Kinder ihr eigenen Turnier. Aber auch dort war Yvo nicht. Ein Raunen unter den Zuschauern lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder zum Kampfplatz.
„Sire Jocelin, Herr von Judäa“, rief der Herold.
Ghislaine de Montfort ertappte sich dabei, wie sie sich reckte um den Ritter sehen zu können, dessen Namen sie noch nie gehört hatte. Seine Rüstung war so schmucklos wie die eines einfachen Söldners. Doch das ungewöhnlichste war der Schild: dort, wo bei den übrigen Rittern prächtige Wappen prangten, zeigte der seinige ein einfach gezeichnetes Marienbild. Der neue Herausforderer lenkte sein Pferd an der Tribüne vorbei, grüßte den König mit einem Senken der Lanze.
Philipps Anblick  brannte in Jocelins Augen. König Philipp hatte den Befehl zur Verhaftung der Templer gegeben! Er war schuld an den drei Gräbern im Wald, schuld, dass Bruder Arnaud betteln musste! Am liebsten hätte Jocelin es laut herausgeschrieen…
„….Ihr reitet nicht unter dem Wappen Eurer Familie? Sehr interessant.“ Philipps Stimme klang sanft und klar, gar nicht wie die eines Monsters.
„Die Meinen sind tot, begraben im Sand von Palästina“, erwiderte er, und soweit er wusste, war dies nicht einmal eine Lüge. „Christus ist mir Vater und Maria Mutter.“
„Ein hoher Anspruch. Haltet Ihr das nicht für etwas hochmütig?“
„Ich halte es für demütiger als unter dem Wappen meiner Familie zu reiten und ihren Ruhm zu mehren anstatt den Ruhm Gottes!“
Etwas weiter hinten unter dem Baldachin klatschte Guillaume de Nogaret süffisant in die Hände. Es war genau die Sorte bigotter Reden, die er besonders liebte! Er würde die Summe des heutigen Preisgeldes verwetten, dass der Kerl mit dem Marienschild noch gestern Abend im Badehaus herumgehurt hatte! Es drängte den Siegelbewahrer, irgendetwas in der Art fallen zu lassen, aber da entließ Seine Majestät den Ritter aus Judäa.
Während Prinz Louis einen leichten Waffengang gegen den jungen Herzog der Bretagne wagte, begutachtete Jocelin noch einmal seinen erworbenen Sattel. Es schien gutes Material zu sein, ordentliche Polsterungen, nicht zu harte Gurte, und er saß gut, aber besser einmal zu oft überprüft, als sich beim Kampf Nachteile einzuhandeln - oder Schlimmeres! Der Ordensbruder klopfte seinem Pferd beruhigend auf die Seite, dann noch ein letzter Blick auf die Hufeisen, dass sich auf dem Weg hierher nichts festgetreten hatte...
Aus einem der anderen Zelte klang das Streiten zweier jugendlicher Stimmen. Offenbar hatten sich die Knappen eines Kämpfers in die Haare bekommen. Das klatschende Geräusch einer Ohrfeige bereitete dem Disput ein Ende, und einen Moment später wetzte ein Junge mit rotem Gesicht an Jocelin vorbei. Der Templer dachte an Louis, den er eigentlich für die Knappendienste mitgenommen hatte, und der jetzt im Keller dieser Kaschemme wahrscheinlich Todesängste ausstand.
„Ich muss siegen, ich muss es schaffen!“ Er schloss die Augen für ein kurzes inbrünstiges Gebet um Beistand der Gottesmutter und des Heiligen Georg.
Ein Krachen ließ ihn sich wieder dem Turnierplatz zuwenden. Prinz Louis saß noch im Sattel, während sich ein Knecht um den am Boden liegenden Herzog der Bretagne bemühte. Irgendwo aus den Zuschauerreihen klang lautes Schluchzen. Aber die Befürchtungen waren schlimmer als die Tatsachen, denn in diesem Augenblick rappelte sich der Gefallene von selbst wieder auf.
Die nächsten Kämpfe waren Jorge de Fontcalda vorbehalten. Mühelos hob er zwei Ritter aus dem Sattel. Tosender Beifall belohnte ihn. Nun galt der Aufruf des Herolds Jocelin.
Ghislaine de Montfort beugte sich vor. Wen würde dieser seltsame Ritter aus Judäa fordern? Sie sah erstaunt, wie sich seine Lanze vor dem Grafen von Baux senkte. Ein Ausruf des Staunens ging durch die Reihen. Die ersten Wetten wurden geschlossen.
„Ein Goldbyzantiner auf Berengar des Baux!“ rief eine Stimme, die Ghislaine de Montfort zu verabscheuen gelernt hatte. Esquieu de Floyran nickte ihr mit einem schmalen Lächeln zu.
„Fünfzig auf Jocelin von Judäa!“ antwortete die Gräfin, allein um ihm zu widersprechen. Im Grunde war es ihr absolut gleichgültig, wer diesen Waffengang gewann. Hauptsache, er endete und sie konnte zurück in die Abgeschiedenheit von La Blanche. Hauptsache, Yvo stellte nicht wieder irgendetwas an… Wo war der Junge bloß?
Berengar des Baux musterte seinen Gegner unwillig. Ein Waffengang mit einem unbekannten armseligen Poulain konnte doch keinen Ruhm bringen! Einen Moment lang erwog er, die Forderung abzulehnen, aber dann senkte er seine Lanze ebenfalls. Sie nahmen ihre Plätze ein, der Herold gab das Zeichen, und sie stürmten los.
Der Graf zielte auf den unteren Teil von Jocelins Schild. Im letzten Augenblick richtete sich der Templer in den Steigbügeln auf, presste den Schild eng an seine Seite und stieß die Lanze vor. Sie traf mit einem dumpfen Geräusch Berengars Brustpanzer und hob ihn aus dem Sattel. Als der Staub sich legte, stand sein Gegner jedoch aufrecht, während ein Knecht sich um sein Reittier bemühte, und hob die Faust zum Zeichen, dass er den Kampf nicht als beendet betrachtete.
Ghislaine de Montfort gestattete sich einen ersten triumphierenden Blick zu Floyran, der nur spöttisch die Lippen verzog. „Noch ist es nicht vorüber, Madame. Des Baux hat noch genügend Zeit, diesen Hänfling aus Outremer Staub fressen zu lassen! Ha, seht Euch das an, ein Mönch als Schwertträger! Wahrscheinlich BADET der auch im Weihwasser!“
Ghislaine folgte Floyrans abschätziger Handbewegung und sah gerade noch, wie tatsächlich ein Mann in schäbiger Mönchskutte dem Ritter sein Schwert reichte. Wirklich, ein seltsamer Kämpfer!
Jocelins Hände schlossen sich fest um den Griff seiner Waffe, und er holte zum ersten Schlag aus, stellte sich vor, nicht gegen Graf Berengar zu fechten, sondern gegen jenen schönen Dämon auf der Tribüne... Der Gedanke ließ ihn mit solcher Wut angreifen, dass sein Gegner zunächst zurückwich. Aber kaum hatte Berengar die Kompetenz seines Gegners erkannt, verteidigte er seine Ehre mit der gleichen Kühnheit. Hiebe prasselten auf die Schilde der Kontrahenten nieder, rissen eine Scharte in das Wappen der Des Baux. Die Zuschauer verfolgten den Kampf gespannt. Ein Schrei erhob sich, als Jocelin den Grafen gegen die Barriere abdrängte. Doch jener zwang seinen Gegner, sich wieder zurückzuziehen, holte mit neuer Kraft aus. Das Schwert des Grafen glitt über Jocelins rechte Beinschiene und hätte ihn fast zu Fall gebracht. Hastig  wich er vor dem erneuten Angriff aus, drehte sich halb und versuchte, Berengar zu entwaffnen. Doch der Graf fing den Hieb ab, sprang zurück und griff von der Seite an. Seine Klinge traf Jocelins Schild, aber ehe er zum zweiten Mal ausholen konnte setzte der Templer ihm das Schwert an die Kehle.
„Ergebt Euch, Sire!“
Berengar des Baux senkte seine Waffe. Durch den Sehschlitz seines Helms sah Jocelin, wie sein Gegner ihn zornig anfunkelte. „Der Teufel hole die Poulains!“ knurrte er. „Hättet ihr so gegen die Sarazenen gekämpft, wurde das Heilige Land noch uns gehören!“
Die Szenerie von der Tribüne aus beobachtend, spuckte Esquieu de Floyran aus und verließ die Zuschauerränge.
Yvo de Montfort wischte die schmutzigen Hände an seiner Tunika ab, die bereits die Spuren der vergangenen Rauferei trug, und sah sich abenteuerlustig um. Die heutigen Turnierkämpfe hatten gerade geendet. Aus dem Lager klang das unvermeidliche Stöhnen und Schreien, dass die Arbeit der Wundärzte begleitete. An der Umzäunung vor den Zelten entdeckte Yvo etwas Neues, Reizvolles: einen einsamen alten Bettler in einer Mönchskutte.
„Du, lass ihn, er ist blind!“ meinte der rothaarige Bursche neben dem jungen Grafen. „Komm, wir gehen zurück ins Lager! Vielleicht können wir einem der Ritter bei den Pferden helfen!“
„Ach was! Langweilig! Der Kerl hier wird auf seinem einen Auge schärfer sehen als der Jagdfalke meiner Mutter, dass wette ich! Ich kenn‘ diese Ratten doch! Die stellen sich blind, um mehr Almosen einzuheimsen! Oder er ist gar unterwegs, um da was zu klauen, in den Zelten! Gleich wirst du es sehen, eh!“
Yvo rannte auf den Bettler zu, vollführte eine rasche Bewegung vor dessen Gesicht. Bruder Arnaud spürte den Luftzug und streckte den Arm aus.
„He, willst du mich fangen?“ lachte Yvo. „Versuch‘ es doch!“
Der Schmerz der Erniedrigung ließ Arnaud zittern. Er hatte geglaubt, in den Jahrzehnten im Dienst des Ordens Demut erlernt zu haben, aber diese Schmach überstieg fast seine Kraft. Er war ein Ritter, aus einem der angesehensten Geschlechter Frankreichs, Adjutant des Meisters der Templer!
Yvo de Montfort war so in sein grausames Vergnügen vertieft, dass er seine Mutter nicht kommen hörte. Sein Kamerad verdrückte sich eilig, als er das gräfliche Gefolge sah. Ghislaine packte ihren Sohn am Arm.
„Was tust du?!”
„Ich... mache ein bisschen... Spaß.“
“Spaß?!“ wiederholte Ghislaine und versetzte ihrem Sohn eine Ohrfeige.
„Weißt du nicht, dass uns in jedem Armen der Herr Christus selbst begegnet?! - Geh‘ in den Wagen!“
Yvo warf einen Blick auf sein Reitpferd und murrte: „Ich bin doch kein Kind mehr!“
„Aber du benimmst dich wie ein Milchkind ohne Verstand! Geh‘! Oder ich bringe dich morgen in die Abtei von Villefort, das schwöre ich!!!”
Unter dem Grinsen der gräflichen Soldaten trottete Yvo zum Wagen. Ghislaine seufzte. Großer Gott, wie sehr fehlte ihrem Sohn die starke Hand des Vaters! Sie wandte sich wieder dem Bettler zu und erkannte jetzt in seiner Gestalt den seltsamen Begleiter des Ritters aus Judäa. „Verzeih meinem Sohn!“ bat sie und legte ein glänzendes Geldstück in Arnauds Hand. Dann kehrte sie zu ihrem Gefolge zurück. 

Esquieu de Floyran hielt sich abseits von dem Treiben im Festsaal des königlichen Palais. Er war gekränkt, dass Gräfin Ghislaine de Montfort ihn an diesem Abend nicht die mindeste Beachtung geschenkt hatte. Aber noch weit mehr erboste ihn der Verlust von fünfzig Goldbyzantinern. Mit welcher Freude sie dieses gierige Weib in Empfang genommen hatte! Eigentlich wurde es mehr als Zeit, dass ihr jemand diese Flausen der Arroganz austrieb und sie auf den Platz verwies, der einer Frau zustand!
Er kippte einen Becher Wein hinunter. Wer hätte auch gedacht, dass der magere Bursche aus Outremer den Grafen von Baux besiegen würde! ‚ Von Judäa‘, ‚ Jocelin von Judäa‘, was war das für eine Seigneurie? Und wieso ritt er nicht unter seinem Familienwappen? Was sollte der Quatsch mit dem ‚Maria ist meine Mutter’? Entweder der Mann war ein Idiot oder - Irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Und das, genau das würde er herausfinden, schon um die Freude der Gräfin von Montfort über den Sieg dieses Kerls zu dämpfen! Er verließ die Festgesellschaft und das Palais über die nachtdunkle Rue de la Harpe und wandte sich in Richtung der Seine.
Dort lag das Palais “Aux Quinze Anges“, der Wohnsitz des neunzigjährigen Chronisten Jean de Joinville. Floyran ließ den Türklopfer solang gegen das Tor donnern, bis er schlurfende Schritte hörte. Der Diener Joinvilles, kaum jünger als sein Herr, überschüttete den Besucher mit einem Schwall der Entrüstung.
„Mach‘ auf! Ich komme im Namen der Heiligen Inquisition!“
Das kleine Fenster in der Mitte der Tür öffnete sich, und der Diener erging sich in einer erneuten empörten Rede, was denn die Inquisition mit einem so ehrwürdigen und rechtschaffenen Herrn wie Sire Jean zu tun habe, der den heiligen König Louis auf dem Kreuzzug begleitet hatte.
„Alter, hör auf zu quatschen und lass mich rein! Oder ich trete die Tür ein!“
Mit zitternden Händen schob der Diener jetzt die Riegel zurück und zog die Pforte auf. Selbst das dauerte Floyran noch zu lang und er half mit einem kräftigen Stoß nach, der den Bediensteten fast zu Fall brachte. Einen Moment später stand er in der großen, düsteren Eingangshalle des Palais. An den Wänden aufgereihte Schilde, Schwerter und Banner erzählten von der ritterlichen Vergangenheit seines Besitzers. Zwei riesige Leuchter mit dem Jerusalemkreuz verliehen dem Raum eine sakrale Atmosphäre. Und dann trat Jean de Joinville ein. Er stützte sich auf einen Stock, doch schien das mehr Gewohnheit als Notwendigkeit zu sein. Weißes Haar umrahmte sein Gesicht, das zerknittertem Pergament ähnelte. Von den durchscheinenden, knochigen Händen konnte man nicht glauben, dass sie jemals eine Waffe gehalten hatten. Doch trotz aller Zerbrechlichkeit lag eine gewisse Kraft in seiner Gestalt. Er setzte sich in einen der hohen Lehnstühle und sagte: “Es muss ein gewichtiger Grund sein, dass die Heilige Inquisition mich zu dieser Stunde zu sprechen wünscht, da man ja sogar mit der Verhaftung der Templer bis zum Morgen warten konnte!“
„Es ist in der Tat von Bedeutung, Sire“, begann Esquieu de Floyran, aber ein Klopfen von Joinvilles Stock unterbrach ihn.
„Wer seid Ihr? Ich spreche nicht gern mit Namenlosen!“
„Sire Esquieu de Floyran.
„Esquieu de Floyran“, wiederholte der alte Chronist und ließ keinen Zweifel, dass der Träger des Namens seiner Ansicht nach nicht gerade unter die Rechtschaffenden zu zählen sei. „Nun, sprecht!“
„Ihr kennt das Heilige Land, Sire. Ich möchte, dass Ihr mir etwas erzählt über eine Seigneurie von Judäa!“
 Der folgende Morgen des Turniers war der Kunst der Bogenschützen gewidmet. Erst am Nachmittag setzte man die Zweikämpfe fort. Esquieu de Floyran hatte diesmal seinen Platz auf der Tribüne des Königs und seiner Vertrauten nicht eingenommen. Er lehnte an einem Pfosten der Umzäunung und verfolgte ungeduldig, wie vier Ritter gegeneinander antraten. Seine Gedanken fieberten in freudiger Erwartung. Er war im Besitz eines kostbaren Wissens!
„Jocelin von Judäa,” murmelte er vor sich hin und verzog die Lippen zu einem genüsslichen Lächeln. Laut Joinville waren die Herren von Judäa 1282 im Mannesstamm ausgestorben; der Rest ihrer Besitzungen, die nach den Landgewinnen der Sarazenen ohnehin kümmerlich waren, war zwischen zwei reichen Bürgern Akkons und dem Erzbischof von Tyrus aufgeteilt worden. Dieser Kerl mit seinem Marienbild auf dem Schild war ein Betrüger und Scharlatan, womöglich irgendein Knappe, ein Leibeigener, ein Waffenknecht, der seine Ausrüstung zusammen gestohlen hatte! Was für eine Genugtuung würde es sein, wenn er ihn vor den Augen der Gräfin bloßstellen konnte! Hmm… sie würde sicherlich wütend werden und zetern! Und wütend fand er sie besonders begehrenswert!
Wieder war der Ruf des Herolds vom Turnierplatz zu hören: „Sire Francis von Wells fordert Sire Jocelin von Judäa!“
Floyran verschwand eilig zwischen den Zelten.
Das schmucklose weiße Banner des Ritters aus Outremer flatterte am Rande des Lagers. Kein Zelt, nur eine geflickte Plane war dort aufgestellt. Floyran musterte die wenigen Habseligkeiten. Nichts Ungewöhnliches fiel ihm auf. Ein Ledersack zum Aufbewahren der Rüstung, wie ihn hunderte von Rittern benutzten... Essgeschirr aus Holz, eine Karaffe aus Ton… Alles wühlte er durch während der Jubel der Zuschauer ihm einen erneuten Sieg dieses ‚Mariensöhnchens’ verkündete. Nun, die Freude würde ihm schon noch vergehen!
Der letzte Tag des Turniers war angebrochen, der entscheidende Tag. Und ausgerechnet heute regnete es, der Boden war aufgeweicht und bei jedem Huftritt flogen Batzen feuchten Schlammes gegen die einstmals bunten Tücher der Begrenzung. Dem Eifer der Zuschauer tat das Wetter keinen sonderlichen Abbruch. Notfalls konnte man sich ja mit Wein aufwärmen! Nur noch vier Ritter waren übrig: Jorge de Fontcalda, ein Bretone, Charles de Valois und Jocelin. Die Wetten der Zuschauer schraubten sich in schwindelnde Höhen.
Der Bretone fiel vor der Lanze Valois‘. Die Spannung unter den Zuschauern war jetzt fast spürbar. Wer von den beiden verbliebenen Rittern würde die undankbare Aufgabe übernehmen und den Bruder des Königs fordern? Es war Jocelin Judäa. Ohne eine Regung zu zeigen schlug er mit seiner Lanze gegen den Schild Charles de Valois‘. Dieser weigerte sich. Hochmut ließ ihn gegen Jorge de Fontcalda antreten und verlieren: die Lanze des Katalanen verhakte sich in seinem Sattelgurt, zerfetzte ihn und sorgte für einen wenig eleganten Bodenkuss des Königsbruders.
Während ihn die königlichen Knappen vom Platz trugen, ritt Jocelin auf Fontcalda zu. Der Katalane beugte den Kopf zum Zeichen, dass er die Forderung akzeptierte. „Ich habe gesehen, dass Ihr recht gut im Umgang mit Lanze und Schwert seid, Sire Jocelin!“ rief er. „Aber bisher war alles ein Spiel! Jetzt werdet Ihr merken, was ein wirklicher Waffengang ist!“
Der Ordensbruder erwiderte nichts. Reden diente nur der Ablenkung. Er musste sich konzentrieren und diese Konzentration auch an sein Pferd weitergeben, gerade bei diesem ungünstigen Wetter. „Lass mich nicht im Stich, hörst du?“ Das Tier gab ein leises Wiehern von sich, als habe es die Worte verstanden und stampfte mit dem Vorderhuf auf.
Einen Moment später trafen die beiden Kämpfer mit solcher Wucht aufeinander, dass die Lanze Fontcaldas bis zum Schaft zerbarst, dabei Jocelins Schild und Arm nach hinten reißend. Kurz wurde dem Ordensbruder schwarz vor Augen, aber das Geschrei der Zuschauer katapultierte ihn zurück und er blieb im Sattel. Sein Gegner winkte bereits triumphierend in die Ränge, ein paar vereinzelte Buh-Rufe empfangend, die sich rasch zu einem Crescendo steigerten.
„Jocelin, alles in Ordnung?“ klang die besorgte Stimme Arnauds zu ihm. Er nahm den Helm ab, um besser sehen zu können, und begutachtete seinen Schild. Der untere Halteriemen war abgerissen, wie befürchtet. Sein Arm fühlte sich ebenfalls noch etwas taub an. Aber er sah keinen Grund, Arnaud zu beunruhigen.
„Ja“, erwiderte er lediglich. „Betet für mich!“
Das Brüllen, Johlen und Füßestampfen der Zuschauer ebbte ab, als der Herold die Frage stellte, ob der Herr von Judäa willens sei, den Kampf fortzusetzen. Jocelin gab das Zeichen für ‚Ja‘ und lenkte sein Pferd wieder nach vorn. Ein letzter Blick zurück zu seinem Pflegevater, der am Rand der Brüstung niedergekniet war, dann schob er den Helm wieder über den Kopf.
Der Katalane packte die neue Lanze, die sein Knappe ihm reichte, und dann jagten die Gegner zum zweiten Mal gegeneinander. Diesmal jedoch zerschmetterte der Stoß den Schild des Ordensbruders in zwei Teile, und die Wucht des Aufpralls warf Jocelin aus dem Sattel. Er streifte mit der Seite die Barriere, überschlug sich und blieb reglos im Schlamm liegen. Fontcalda breitete die Arme aus und nahm den zögerlich einsetzenden Beifall entgegen.
Jocelin erwachte und nahm noch benommen einen Mann wahr, der sich über ihn beugte. Als jener zurückwich, erkannte er Bruder Arnaud und eine Frau in schwarzer Witwentracht.
“Ich sah, dass sich kein Medikus um Euch kümmerte, und da habe ich Euch einen geschickt", sagte sie gerade.
„Ich danke Euch... Madame“, murmelte Jocelin und sah an sich herunter. Ein Verband umschloss seinen Brustkorb und es bereitete Schmerzen, sich aufzusetzen. „Hoffentlich keine gebrochenen Rippen...“ dachte er. Dann erst wurde ihm klar, was geschehen war. Er hatte verloren! Seine Brüder mussten weiter hungern! Und Louis! Wie sollten sie ihn auslösen? Mit einem Stöhnen lehnte er sich zurück.
„Messire,” hörte er die Frau jetzt sprechen, “verzeiht mir meine Kühnheit. Aber ich hörte, dass Ihr keinem Herrn verpflichtet seid. Ich bitte Euch, in meine Dienste zu treten. Als Lehrer für meinen Sohn. Ich bin Gräfin von Montfort und ich werde  Euch angemessen entlohnen.“
Jocelin sah sie erstaunt an. Er erinnerte sich vage, die Frau auf der Tribüne bei der königlichen Familie gesehen zu haben. Es galt, vorsichtig zu sein...
„Ihr setzt großes Vertrauen in einen mittellosen Fremdling...”
„Ich habe Euch kämpfen sehen, Messire, und ich weiß, dass Ihr ein guter Ritter seid.”
„Ich habe den Kampf verloren.”
„Nun, es kommt nicht darauf an, aus allen Gefechten siegreich hervorzugehen“, entgegnete sie mit einem leichten Lächeln, das Jocelin unwillkürlich Unbehagen bereitete.
„Ein Ritter, der die Heilige Jungfrau zu seiner Mutter erkoren hat, wird doch nicht so grausam sein und sich vor den Nöten einer Witwe verschließen, nehme ich an?“
Jocelin überlegte fieberhaft. In ihren Diensten zu stehen konnte den Ordensbrüdern vielleicht einige wichtige Informationen einbringen... auch das Geld hätten sie bitter nötig...
„Ich... nehme an“, hörte er sich sagen, trotz Arnauds missbilligendem Kopfschütteln.
„Dann seid mir herzlich willkommen, Messire Jocelin! Ihr und...“
„Sire Arnaud, mein... Onkel, Madame.”
Niemand hatte bemerkt, wie ein Mann hinter die Zeltplane gehuscht war. Ein Mann, der begierig die Hand nach Jocelins Schwert ausstreckte. Er zog die Waffe an sich, riss mit vor Erregung zitternden Händen die Klinge aus der Scheide. Und da war, was er gesucht hatte! Nein, es war noch viel besser, als alles, was er gesucht hatte! Kein Wappen, was ihm den rechtmäßigen Besitzer der Waffe genannt hatte, sondern ein Kreuz. Ein kleines eingraviertes Kreuz. Das Ordenskreuz der Templer! Esquieu de Floyran jubelte in tiefer Befriedigung. Ein flüchtiger Templer war er also, der feine Herr von Judäa! Er hatte wohl gedacht zu entkommen... Ha! Wenn er richtig gehört hatte, wollte er bei Gräfin von Montfort unterschlüpfen!  Nun gut, einen besseren Ort hätte er nicht wählen können... Nun würde er ihn haben, und sie dazu... Voller grimmiger Freude sah er Ghislaine nach, als sie davon schritt.
„Was hast du dir dabei gedacht? Dich in ihre Dienste zu begeben? Jocelin!“ meinte Arnaud, als er sich wieder mit seinem Ordensbruder allein wusste. “Wir wissen zuwenig über sie. Das kann uns in große Gefahr bringen. Das Beste wäre, wir verlassen so schnell wie möglich das Lager!”
„Das kann ich nicht. Ich habe mein Wort gegeben. Bedenkt doch, Arnaud, wie sehr Zugang zum Hofe uns von Nutzen sein kann!”
„Dennoch! Es ist nicht gut“, betonte der alte Ordensbruder noch einmal. Aber seine Stimme war nur ein matter Widerschein des Aufschreis in seinem Inneren. „Es ist von Übel! Es ist DAS Übel! Kannst du die Gefahr nicht sehen, bei allen Heiligen Gottes?! Muss man blind sein, um es zu sehen?!“ Doch das auszusprechen wagte er nicht.
Noch in der Nacht ritt Jocelin trotz der höllischen Schmerzen in seiner Seite nach Fontainebleau, um seine Kameraden zu benachrichtigen. Sie vereinbarten, dass er zu festgesetzten Tagen an einen Treffpunkt kommen sollte, um die Neuigkeiten auszutauschen. Bei Morgengrauen war er wieder im Turnierlager.
Wenige Stunden später brachen die zwei Ordensbrüder im Gefolge der Gräfin von Montfort auf. Ihr Sohn hatte vom ersten Augenblick an keinen Zweifel daran gelassen, dass er seinen neuen Lehrer verachtete. Während der ganzen Reise hielt er sich trotzig abseits, sprach kaum ein Wort und reagierte auf keinen Anruf.
„Er war nicht immer so", wandte sich Ghislaine entschuldigend an Jocelin. “Aber seit sein Vater tot ist - o Gott, manchmal habe ich Angst, er wird noch einmal am Galgen enden!”
„Nein, das wird er gewiss nicht, Madame. Ihr werdet sehen, bald könnt Ihr stolz auf Euren Sohn sein", entgegnete Jocelin zuversichtlich. Er wusste, wie man Disziplin lernte - und lehrte.
Der Stein der Burg leuchtet warm in den letzten Sonnenstrahlen, als der gräfliche Hofstaat eintraf. In einer fast anmutigen Bewegung schlängelte sich die Mauer der weiträumigen Anlage den Hügel empor. Das gotische Dach der Kapelle, auf dem höchsten Punkt erbaut, ragte über die Wehrtürme und das Palais hinaus, schien mit seinem goldenen Kreuz den Himmel zu berühren.
„Das himmlische Jerusalem!“
Ghislaine lächelte und legte die Hand auf seinen Arm. „Ihr werdet La Blanche sicher ebenso lieb gewinnen wie ich, wenn Ihr erst eine Weile hier seid, Sire!“
„Ich hoffe nicht.“ dachte er unwillkürlich. Das hier war nicht sein Platz, so verlockend er im Augenblick auch schien.
Anstatt zu den Lektionen zu erscheinen, verschwand Yvo schon am frühen Morgen des folgenden Tages aus der Burg. Am Abend brachte ihn der Kastellan der Stadt zurück. Er war mit einer Horde Straßenjungen beim Stehlen erwischt worden. Auch am nächsten Tag trieb er sich irgendwo herum und kam erst in der Dämmerung zurück. Sich völlig sicher und unangreifbar fühlend wollte er grinsend an Jocelin vorüber. Doch der Ordensbruder war keiner der Dienstleute seiner Mutter, die nicht gewagt hatten, ihren Herrn zu züchtigen. Er packte Yvo am Kragen und schleppte ihn zum Pranger.
„Was erlaubst du dir, du Lumpenbündel? Ich bin ein Adliger, du kannst mich nicht bestrafen wie einen gemeinen Bauern!“
„Ich kann hier keinen Adligen sehen“, entgegnete Jocelin ruhig. „Ich sehe nur einen Dieb. Und die Strafe für Diebe sind zwölf Stockhiebe.“
Yvo schlug um sich und schrie, nun schon mehr ängstlich als wütend: “Ich bin der Graf von Montfort! Ich... ich beschwere mich beim König!“
„Der König lässt Dieben die rechte Hand abhauen.“
Ghislaine sah vom Fenster aus zu, wie Jocelin ihrem Sohn die Hiebe verabreichte. Zuletzt standen ihr ebenso Tränen in den Augen wie Yvo. Als der Junge mit hängendem Kopf im Palais verschwunden war, trat sie zu Jocelin. „Glaubt Ihr, dass es helfen wird?“
„Es ist hart. Aber die Strenge ist notwendig. Jetzt hasst er mich, doch bald wird er merken, dass er im Grunde sich selbst hasst. Morgen wird er zu den Lektionen erscheinen, und er wird sich anstrengen, um mir zu zeigen, wer er ist.“
„Gebe es Gott! - Ihr kennt Euch aus, Sire. Wo habt Ihr das gelernt?“
„Auf Zypern, das meiste. Ich ... ich hatte zwei jüngere Brüder...“
„Wollt Ihr mir die Freude bereiten, und über die Stätten berichten, an denen unser Herr Christus gelebt und gelitten hat, Jocelin? Ich habe mir immer gewünscht, selbst einmal nach Jerusalem zu reisen!”
„Wenn es Euer Wunsch ist. Gern, Madame.“ Eigentlich hätte er sich lieber zurückgezogen. Aber er wollte auch keinen Verdacht erregen.
Jocelin saß lange bei Ghislaine am Kamin und erzählte von Palästina. In diesen Stunden fand zum ersten Mal seit langer Zeit in seiner Seele etwas anderes Raum als das verzweifelte Ringen um Gerechtigkeit für seinen Orden, oder die Frage, wo sie etwas fanden, um ihre Mägen zu füllen.
„...Den ersten Ort, den wir auf unserer Prozession besuchten, war die Kapelle des Heiligen Kreuzes, dort wo die Kaiserin Helena das Kreuz unseres Herrn gefunden hat“, erinnerte er sich an den Besuch in der Grabeskirche von Jerusalem. Er war kaum acht Jahre alt gewesen damals; umso wunderbarer erschien ihm alles im Rückblick. „Überall auf den Stufen entlang der Wände knieten und standen die Pilger, um kleine Kreuzzeichen in den Stein zu ritzen, zum Zeichen, dass sie da waren. Sie erzählten sich, dass wer hier sein Siegel auf diese Weise hinterlassen hat, am Jüngsten Tag nicht zu den Verlorenen gezählt würde. Dann gingen wir wieder hinauf, bis zum Altar über Golgotha und hörten die Messe.“
„Und das Grab Christi? Mein Großvater erzählte mir, dass Tag und Nacht gewaltige Kerzen ringsherum brennen...“
„Ja, das stimmt. Sie waren höher als ich damals. Und die große Kuppel der Kirche ist offen, damit immer die Engel auf und absteigen können zum Grab.“
Das Feuer warf ein unwirkliches Farbenspiel über ihre Gestalt. Sie lächelte und hatte die Augen halb geschlossen Er fühlte sich an das Bild der Heiligen Jungfrau in der Kirche von Provins erinnert - und realisierte einen Moment später das Blasphemische dieses Gedankens. Hastig starrte er zu Boden.
„Verzeiht mir!“ sagte Ghislaine, seine Reaktion missdeutend. „Es muss furchtbar gewesen sein, Eure Heimat zu verlieren. Es tut mir leid, wenn ich Euch diesen Kummer zurückgebracht habe.“
„Nein. Nein, ich... denke gern an die Zeit zurück, bevor -“ Er unterbrach sich, hätte fast gesagt ‚bevor der Orden sich nach Zypern zurückzog‘. „Bevor wir uns nach Zypern retteten.“
„Trotzdem ist Euer Gesicht jetzt zu traurig, als dass ich Euch so gehen lassen könnte. Das bringt Unglück!“ Sie griff nach der Laute, die über dem Kamin hing.
Doch Jocelin erhob sich.
„Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe, Madame. Es ist schon spät und ich habe wieder Schmerzen.”
„Ah, vergebt mir, ich denke nur an mich! Ich werde Euch eine Kräutersalbe auflegen.”
„Nein, danke. Macht Euch keine Umstände. Ich wünsche Euch eine gute Nacht!”
Mit einer leichten Verbeugung war er aus der Tür.
Ghislaine blickte ihm nach. Ein wunderlicher Mann….
Aber es tat so gut, einfach nur einmal wieder zu träumen, wie sie es als Kind getan hatte, oben auf dem Burgturm, wenn ihr Großvater ihr vom Heiligen Land erzählt hatte und aus La Blanche das Himmlische Jerusalem wurde.
Während sie sich für die Nachtruhe vorbereitete, machten sich beiden Templer auf in die Burgkapelle. Es war ein kleines, altes Gemäuer, mit einer Decke, die vom Ruß hunderter Kerzen seit ihrer Erbauung geschwärzt war. Zwei Fenster, an der Ost- und an der Westseite waren mit kostbaren Glasscheiben verschlossen worden, deren Bildprogramm jedoch jetzt im Dunkel nicht zu erkennen war. Der Altar war schlicht mit einem weißen Tuch geschmückt. Das seitlich hängende Ewige Licht, eine bauchige Öllampe, beleuchtete schwach das Kruzifix auf der Mensa und die an der Seite auf einem Pfeiler stehende Jungfrau mit Kind.
„Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“, sagte Bruder Arnaud, bekreuzigte sich und kniete nieder. Jocelin tat es ihm gleich. Dann begannen sie flüsternd die vorgeschriebene Reihe an Vaterunsern zu beten. Die immer gleichen Worte, die sich wie eine imaginäre Perlenschnur aneinanderreihten, waren wie eine Brücke. Für eine Weile schien die wirkliche Welt mit ihrer Grausamkeit und ihrer Finsternis zu verschwimmen und einer lichteren Heimat Platz zu machen.
„Vater unser im Himmel, geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme…“
Gott musste sie doch einfach hören, er konnte nicht vor ihrem Flehen die Ohren verschließen, er KONNTE es nicht!
„Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden… Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben jenen, die gegen uns gesündigt haben! Und erlöse uns von dem Bösen! Amen!“
Am nächsten Morgen widmete Jocelin sich weiter der Ausbildung Yvos. Der Junge war diesmal eifrig bei der Sache, wenn auch nur aus Trotz gegenüber seinem Lehrmeister. Ghislaine sah mit einiger Hoffnung, dass ihr Sohn wohl zumindest einen Waffenstillstand mit Jocelin geschlossen hatte. Einen Waffenstillstand allerdings, den er gewillt war, auszureizen und auf die Probe zu stellen, wie sich in den folgenden Tagen erweisen sollte. Manche Kleinigkeit ließ Jocelin ihm durchgehen, doch gab es eine Grenze, bei deren Überschreiten er den jungen Grafen rigoros heran nahm. Zuweilen sah Ghislaine diese Disziplinierungsmaßnahmen mit gemischten Gefühlen – andererseits hatte ihre eigene mütterliche Nachsicht wohl auch nicht zu Yvos Besten gereicht…
Beinahe jeden Abend saß sie dann mit ihren Gästen zusammen und genoss die Abwechslung ihrer Gesellschaft. Auch wenn sie merkte, dass Jocelins Onkel sie nicht sonderlich  mochte, das war kaum zu übersehen. Aber nun ja, alte Griesgrame gab es überall! Und allein die Anwesenheit ihrer Gäste genügte, ihrem Heim etwas mehr an Leben zu verleihen. Das hatte sie so lange vermisst! 

Das strenge Fastengebot sorgte dafür, dass sich am Karfreitag kaum ein Mensch auf der Straße zeigte. Wen die Pflicht hinaus zwang, der schlurfte mit mürrischem Gesicht einher.
Verwundertes Kopfschütteln begleitete Jocelin, als er im Galopp durch Paris ritt, das von der Gräfin geliehene Geld sorgsam in einem Lederbeutel am Körper verstaut.
Am heutigen Tag waren alle Gasthäuser und Schenken verriegelt. Die Kirche hatte alle Lustbarkeiten untersagt, und die Beamten Seiner Allerchristlichsten Majestät sorgten dafür, dass niemand das Verbot übertrat. So dauerte es eine Weile, bis man Jocelin an der Spelunke des Wucherers öffnete.
„Du kommst zu unrechter Zeit!“ knurrte ihm eine Stimme entgegen. „Heute gibt‘s keinen Wein, und auch keine Weiber!“
„Ich will nur meine Schulden bezahlen.“
Auf diese Worte hin schob sich Merot durch die Tür und musterte ihn prüfend.
„Hat wohl etwas länger gedauert, was, Herr Ritter? Was glaubst du denn, wie lang wir den Kerl hier durchfüttern? Fast eine Woche! Wir sind doch kein Hospiz!“
Er riss den Geldbeutel an sich und zählte zweimal die Münzen nach. Dann wandte er sich in den Schankraum um und befahl, den Gefangenen herauszuführen.
Louis stolperte Jocelin vor die Füße. „O Gott, ich dachte, Ihr holt mich nie hier raus!“
„Verzeiht mir“, bat Jocelin, während er seinen Ordensbruder vor den Schrankraum brachte. „Ich konnte es einfach nicht eher bewerkstelligen...“
Er schwang sich auf den Rücken seines Pferdes, half Louis hinter sich auf, und während sie die Stadt mit ihren alptraumhaften Erinnerungen hinter sich brachten, berichtete er, was geschehen war...
„Das heißt also, Ihr werdet noch einige Zeit auf La Blanche bleiben, Sire Jocelin?“ fragte Louis.
„Solang, bis ich das Geld abgedient habe wenigstens, was sie mir für heute geliehen hat.“
„Ah...ich weiß nicht, ob das gut ist“, brachte Louis zögernd vor. „Auf dieser Burg zusammen mit dieser... Frau. Ihr wisst schon...“
„Die Gräfin von Montfort unterhält gute Beziehungen zum Königshof. Das kann uns nur nützlich sein!“
„Aber die Regel verbietet den Umgang mit Frauen. Es könnte sein, dass... nun, ich habe nicht das Recht, Eure Entschlüsse anzuzweifeln, ich habe Eurer Wahl zugestimmt, ich weiß, aber manche Brüder könnten denken, dass Ihr den Orden verraten wollt...“
„Denkt Ihr das?“
Louis senkte den Kopf. „Unser Komtur sagte immer, die Sünden des Fleisches sind es, die schon so viele vom Weg ins Paradies abgebracht haben. Ehe man es überhaupt bemerkt.“
„Das war recht gesprochen. Wir sind Ordensbrüder, und alles, was uns abhält Gott zu dienen, lässt uns dem Teufel dienen!“ Seltsamerweise hatten die Worte, die er selbst so oft von Arnaud gehört hatte, plötzlich einen faden Beigeschmack, als er sie aussprach. Er fühlte sich veranlasst hinzuzufügen: „Aber das ist auch eine schwere Zeit, und wir müssen günstige Gelegenheiten ergreifen!“
Louis nickte nur. Wenig später trennten sich ihre Wege. Louis schlug die Richtung nach Fontainebleau ein, während Jocelin wieder auf La Blanche zuhielt.

Wieder einmal war nach einem Tadel Yvos Wut mit ihm durchgegangen. Fluchend warf er mit einem Speerstoß die hölzerne Übungspuppe um.
„Nie bin ich Euch gut genug! Leuteschinder! Bettelpack!“ schrie er Jocelin an. „Ich könnte von den besten Rittern des Königs ausgebildet werden!“
„Das wirst du aber nicht, wenn du nicht lernst, dich zu beherrschen!“
„Wenn mein Vater noch hier wäre, würde er Euch vom HOF JAGEN!“
Jocelin griff ihn am Arm. „Dein Vater ist tot. Und du machst ihm Schande.“
Wütend riss der Junge sich los und packte den Speer.
„Nein, genug damit für heute, Yvo.”
„Was ist, seid Ihr schon müde?!”
„Hol’ dein Pferd! Ich will sehen, wie du dich im Sattel hälst!”
„Ha! Jeder weiß, dass ich der beste Reiter in der ganzen Grafschaft bin!”
Der Junge beherrschte sein Pferd tatsächlich meisterhaft. Während sie den steinigen Nordhang hinab galoppierten, nahm er auf seinem Rappen geschickt jedes Hindernis. Jocelin ließ ihm einen Vorsprung und Zeit, seinen Zorn dabei loszuwerden. Erst am Waldrand holte er wieder zu ihm auf.
„Du hattest Recht, du bist ein hervorragender Reiter!” rief er ihm zu.
Yvo zog die Zügel an und drehte sich mit einem triumphierenden Lachen um. Sichtlich mit sich kämpfend fügte er dann hinzu: „Ihr seid aber auch nicht schlecht! Bisher gab’s keinen, der mich hat einholen können. - Sagt, wie viele Sarazenen habt Ihr in die Hölle geschickt?”
„Der Krieg ist kein Turnier, Yvo. Wenn man um sein eigenes Leben kämpft, bleibt keine Zeit, die toten Feinde zu zählen.”
„Mein Vater ist im Krieg gefallen.” Yvos Stimme war leise geworden. „Wenn er noch da wäre… dann…“
„Ich habe auch viele meiner Freunde im Krieg verloren. Es ist furchtbar, ich weiß es.”
In diesem Augenblick zuckte ein Blitz über den Himmel, gleich darauf grollte Donner. Bei ihrem wilden Ritt hatten Jocelin und Yvo nicht bemerkt, wie das Unwetter heraufgezogen war. Wieder blitzte es. Regen setzte ein. Ehe sie das schützende Blätterdach erreicht hatten, waren sie bis auf die Knochen durchnässt.
Jocelin musste an jenen Freitag vor nunmehr sechs Monaten denken, an dem er von Provins aufgebrochen war. Sechs Monate! Und noch immer hatte sich keine Stimme zur Verteidigung des Ordens erhoben!
„Messire Jocelin", fragte Yvo unvermittelt", werdet Ihr mich lehren, wie die Sarazenen kämpfen?”
„Ja. Ja, warum nicht", erwiderte der Ordensbruder noch ganz in Gedanken. Als die ersten Sonnenstrahlen die Wolken durchbrachen und der Regen verebbte, machten sich die beiden durchgefroren auf den Rückweg.
Kaum im Burghof angelangt sprang Yvo ohne einen Gedanken an sein Reittier aus dem Sattel und wetzte in Richtung Küche davon. Auf der Treppe kam ihm seine Mutter entgegen.
„Gütiger Gott! Junge, wie siehst du aus?”
„Wir waren ausreiten.”
Yvo griff nach einem frischen Laib Brot und rutschte nah an das Kaminfeuer.
„Und Sire Jocelin? Wo ist er? Ihm ist doch nichts geschehen?”
„Weiß nicht. Im Stall, denk’ ich“, brachte Yvo zwischen zwei Bissen hervor und schloss genüsslich die Augen, als die Wärme ihn durchdrang.
Ghislaine eilte zu den Stallungen. Jocelin hatte gerade seinem Pferd eine Decke übergeworfen, als sie eintrat.
„Ihr denkt an Euer Pferd, aber nicht an Euch selbst!” Sie nahm ihren Mantel und legte ihn um seine Schultern.” Ihr könnt Euch ja den Tod holen!”
Er wandte sich ihr zu, ein überraschtes Lächeln auf dem Gesicht, über das noch die Regentropfen aus seinem Haar rannen, und Ghislaine fühlte sich plötzlich so verwirrt, dass ihr die Worte fehlten. Mit einer fahrigen Geste tastete sie nach den Haarsträhnen, die ihr in die Stirn hingen. Für Augenblicke, die ihr wie Ewigkeit schienen, sahen sie einander nur an.
„Schickt Yvo zu mir“, brach Jocelin dann die Stille, „er hat zu lernen, dass er sich erst um sein Reittier kümmern muss, bevor er es sich in der Wärme gemütlich macht!“
„Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name...“ Gedämpft klangen die Stimmen Arnauds und Jocelins durch die kleine Kapelle wie jeden Abend, wenn der Rest der Burgbewohner mit Ausnahme der Wachposten längst schlief. Aber diesmal konnte Jocelin sich nicht so auf seine Andacht konzentrieren wie er es gewohnt war.  Immer wieder geisterte Ghislaines Lächeln durch seine Erinnerung; wie sie am Nachmittag nach dem Ausritt mit Yvo zu ihm in den Stall gekommen war. Es war nicht nur eine momentane Unaufmerksamkeit, eine kleine Zerstreuung, wie der Teufel sie dem aufmerksamsten Beter abringen konnte. Nein, ihr Bild hatte eine ganz andere Präsenz, und das gewahr werdend fühlte der junge Ordensbruder mit Verwirrung gepaartes Entsetzen in sich. Er konnte das Gefühl nicht einordnen, und umso mehr schien es ihm von Übel...
Er hob den Kopf und versuchte in dem matten Lichtschein das Wandgemälde über dem Altar zu deuten. Christus in der Glorie, und darunter… eine Stadt mit weißen Zinnen. Das himmlische Jerusalem! Er hörte Ghislaines Stimme: ‚Erzählt mir von der Heiligen Stadt… ist es wahr, dass ihre goldenen Kuppeln das Licht der Sonne überstrahlen?‘
„Jocelin?“
Arnauds Stimme ließ ihn aufschrecken und er merkte, dass er mitten in seinem Gebet verstummt war.
„Ich... ich glaube, ich bin... sehr müde. Verzeiht mir.“
Der alte Templer nickte. Aber die Antwort seines Pflegesohnes stellte ihn keineswegs zufrieden. Jocelin war immer einer jener Brüder gewesen, die noch nach aller Mühsal des Tages, allen Waffenübungen in den Gebetszeiten neue Kraft geschöpft hatten. Er hatte ihn noch nie derart abschweifen hören...
Die folgenden Tage entschuldigte sich Jocelin mit vagen Ausreden vor den gemeinsamen Essen und abendlichen Stunden am Kamin mit Ghislaine. An jenem Abend aber hatte kurz vor Toresschluss ein Franziskaner auf  La Blanche um Obdach erbeten, weil sein Pferd lahmte. Jetzt saß er mit Ghislaine, Arnaud, und Jocelin beim Nachtmahl, und die Ordensbrüder hofften auf neue Nachrichten.
„So. Nach Tours seid Ihr also unterwegs, Bruder", bemerkte Arnaud wie beiläufig.
Der Bettelmönch nickte und stocherte nach einer Gräte.
„Ich muss die Predigt halten zur Eröffnung des Ständetages. Ich hoffe, Euer Schmied bekommt das mit dem Hufeisen wieder hin, so dass ich morgen weiter kann!”
„König Philipp hat die Stände einberufen?” wiederholte Ghislaine überrascht.
„Ja. Er will ihre Meinung einholen, was mit den Brüdern des Templerordens geschehen soll. Ach, ich sage Euch, Messires, zwei Priester aus meinem Konvent waren bei den Verhören voriges Jahr in Paris dabei; es ist wirklich entsetzlich, was sie berichtet haben! Unglaublich, dass sich solche Verbrechen in unserer Mitte abgespielt haben, ohne dass jemand was davon geahnt hat!”
Dankend lehnte er eine weitere Portion Gemüse ab und schob den Teller zurück. „Stellt Euch vor, die Templer lassen ihre Novizen auf das Kreuz unseres guten Herrn Jesus spucken und darauf herumtrampeln! Sie schänden Knaben und sie treiben Hexerei mit teuflischen Götzenbildern! Gott sei gelobt, dass wir einen so guten König haben, der diesen Skandal aufgedeckt hat! Wir müssen viel für ihn beten!”
„Ja, das müssen wir", echote Arnaud.
Der Franziskaner gähnte.
„Ich glaube, ich bin doch recht erschöpft von dem Ritt heute...”
Ghislaine winkte dem Mädchen, das die Speisen aufgetragen hatte: „Zeig’ dem ehrwürdigen Bruder die Kammer, die wir ihm hergerichtet haben!”
„Oh, Madame, Ihr meint es gut mit meinen alten Knochen! Der Herr möge es Euch vergelten!”
Er machte das Segenszeichen über den Anwesenden.
„Madame Gräfin, erlaubt, dass auch wir uns zurückziehen", bat Arnaud, als die Schritte des Bettelmönchs verklungen waren.
„Selbstverständlich, Messires. Ich bin wohl keine gute Gesellschafterin", sagte Ghislaine scherzend. “Morgen werde ich ein paar Spielleute einladen.”
Das Lächeln schwand von ihren Lippen, sobald Jocelin den Saal verlassen hatte. Sie trat ans Fenster und blickte ihm nach, wie er Arnaud über den Hof geleitete. Wie ernst sein Gesicht bei der Erzählung des Franziskaners gewesen war...Und die Tage zuvor... Warum floh er plötzlich ihre Gesellschaft? Hatte sie irgendetwas gesagt, was ihn verletzt haben könnte? Seufzend schloss sie die Fensterläden und rief nach einem Knecht, das Feuer zu löschen.
Jocelin vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe ihrer Kammer war. Dann sagte er leise:
„Wir müssen nach Tours und versuchen, mit den Abgeordneten zu sprechen.”
„Ja. Aber zuvor brauchen wir unbedingt Kontakt zu Meister Jacques. Ohne seine Autorisation ist kein Bruder befugt, etwas zu unternehmen.”
„So weit ich weiß, ist er immer noch in Corbeil.”
Arnaud nickte. „Und Philipp wird ihn bewachen wie seinen Augapfel! Aber es muss einen Weg geben, zu ihm zu gelangen!”
„Morgen ist Sonntag. Da erhält Yvo keinen Unterricht. Ich werde nach Fontainebleau reiten und die Sache mit den Brüdern beraten.“  

Esquieu de Floyran hatte die Messe König Philippe zuliebe besucht. Es war für ihn eine abscheulich frömmelnde Angelegenheit mit einer langweiligen, moralisierenden Predigt gewesen, nur zu einem nütze: ungestörten Gedanken an Ghislaine de Montfort nachhängen zu können. Es war beinahe sechs Wochen her, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte - in Begleitung dieses Templerrenegaten Jocelin ‚von Judäa‘. Diverse Erledigungen bei Hofe und eine leidige Infektion, die ihn für fast einen Monat so gut wie ins Bett zwang, hatten bisher alle Planungen erstickt. Aber nun... nun war es wirklich an der Zeit! Nachdem er sich von einem Höfling genügend Geld für ein aufwendiges Gewand erschlichen hatte, begab er sich also auf die Reise.
Ghislaine war allein, als Esquieu de Floyran kam. Mit leichtem, elegantem Schritt und siegesgewiss lächelnd. “Seid herzlich gegrüßt, Madame!”
„Erklärt Euer Kommen!” befahl sie kühl ohne den Versuch machen zu wollen, die Höflichkeit zu wahren.
„O Madame, wie könnt Ihr fragen? Ihr seid der Grund meines Besuches. Seit dem Turnier habe ich Euch nicht mehr bei Hofe gesehen, und so habe ich mir Sorgen gemacht.”
Großer Gott, sie hatte noch nie einen so schlechten Lügner gehört!
„Ihr seid gütig und ohne Arglist, und das verleitet übelwollende Menschen, Euch auszunutzen, Madame.”
„Ach ja?”
„Madame, Ihr seid zu Unrecht so schroff zu mir. Ich bin Euch ganz ergeben. Und einen verlässlichen Freund könnt Ihr jetzt sehr gut gebrauchen.”
„Ich vermag Euch nicht zu folgen!”
„Ihr wisst doch, dass die Güter von Begünstigern der Templer an die Krone fallen, so will es König Philipp. Ach, wie schade wäre es doch, wenn Ihr diesen herrlichen Besitz verlieren würdet.” Er genoss es zu sehen, wie mehr und mehr die Angst Ghislaine ergriff.  Er kam noch etwas näher und senkte seine Stimme. “Madame, der Mann, dem Ihr Obdach und Speise gewährt in Eurer Großmut - ”
„Sire Jocelin?”
„Hat er Euch erzählt, woher er kommt? Wer er ist?”
„Was wollt Ihr damit sagen, Floyran? Hört auf, wie die Katze um den heißen Brei zu reden!”
„Er ist ein Templer, ein Götzendiener und Verschwörer…”
„Geht, Floyran!”
„…und ich würde euch raten, nicht allein in seiner Nähe zu verweilen.“
„Hinaus!“ Ghislaine mühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. „Ich bin nicht gewillt, die Lügen Euerer Denunziantenzunge anzuhören!”
„Ihr tätet gut daran, etwas freundlicher zu mir zu sein!” Mit einem raschen Griff hatte Floyran sie an sich gerissen. „Wenn ich es will, wandert Ihr noch heute in den Kerker! Was meint Ihr, erwartet Frauen, die mit einem gotteslästerlichen Templer Unzucht treiben?!”
Sie wehrte sich zornig, schrie um Hilfe. Lachend ließ Floyran sie los. Schon stürmten zwei ihrer Waffenknechte in das Gemach, hinter ihnen Jocelin, der den Lärm von seiner Kammer aus gehört hatte.
„Werft diesen Mann hinaus!” rief sie, auf Floyran deutend.
„Denkt an meine Warnung, Madame!” rief er, als einer der Männer ihn am Arm packte. Mit einem Seitenblick maß er Jocelin. „Wir sehen uns wieder, beau frère!”
Der Waffenknecht stieß ihn durch die Tür, sein Kamerad zerrte ihn die Treppe hinunter.
Erst als die Tür zufiel würde Jocelin klar, was der Fremde eben gesagt hatte. Beau frère… Eine plötzliche Kälte kroch in ihm hoch, während er sich langsam zu der Gräfin umwandte. Sie war blass, aber ihr Blick fixierte ihn fest.
„Wer war das?“
„Esquieu de Floyran", erwiderte sie. „Der Mann, der die Templer denunziert hat.” Ihre Worte waren wohl überlegt, und sie ließ ihren Gast dabei keine Sekunde aus den Augen. Ihre rechte Hand ruhte auf einem zierlichen Dolch an ihrer Seite. „Und Ihr, Jocelin, wer seid Ihr?”
Er schwieg.
„Antwortet mir, Sire Jocelin! Ist es wahr, was Floyran sagte, seid Ihr ein Templer?!”
Er antwortete nicht, und dieses Schweigen war beredt genug!
Es ist die Wahrheit! Gütiger Himmel, es ist wahr! Ghislaine fühlte, wie das Entsetzen in ihr Zorn Platz  machte. Sie fühlte sich vom Schicksal verraten und hintergangen. ER hatte sie belogen und hintergangen…
„Ihr braucht keine Furcht zu haben. Wir werden La Blanche sofort verlassen“, hörte sie Jocelin endlich wieder sprechen und ihr den letzten Hoffnungsschimmer entreißen, es könnte doch alles eine Lüge sein.
„Ghislaine, wir sind keine Verbrecher! Wir spucken nicht auf das Kreuz und beten keine Götzen an! Man hat uns verleumdet! Männer wie dieser Floyran! Ihr müsst mir glauben, Ghislaine! Wir sind unschuldig!” Er wusste nicht, warum ihm plötzlich soviel daran lag, dass sie ihm glaubte – aber es war so.
Sie musterte ihn schweigend, nicht fähig, irgendetwas zu tun. Waren das Lügen? Die Lügen und Verlockungen der Dämonen, vor denen Floyran sie gewarnt hatte? Und war das der Weg des Verderbens, der sich vor ihr ausbreitete? Nein. Nein, sie musste Jocelin glauben! Sie musste es ganz einfach, denn sonst, hatte sie das Gefühl, würde die Welt über ihr zusammenstürzen... Er konnte kein Ketzer sein! Sie konnte sich nicht so in ihm getäuscht haben!
„Ich wende mich an den König!“ entschied sie, tief Atem holend. „Er muss davon erfahren!“
„Madame Ghislaine, es war König Philipp, der den Befehl zu unserer Verhaftung gab, und zur Folter meiner Brüder. Er glaubt nicht nur den Verleumdungen, er hat bisher auch alles darangesetzt, dass wir unsere Unschuld nicht beweisen!”
Wie war das möglich? Philipp? Wie konnte Philipp so etwas Abscheuliches tun?! Sie schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte langsam den Kopf.
„Was...was wollt ihr jetzt tun?” fragte sie dann.
„Wir müssen fort von La Blanche, nachdem Floyran von unserer Anwesenheit weiß. Soviel steht fest. Wir werden versuchen, auf dem Ständetag etwas zu erreichen.”
„Auf dem Ständetag...“ Ghislaine versuchte, ihre wirr durcheinander jagenden Gedanken zu ordnen. „Mein Onkel, Erzbischof Gregor.... Er wird sicher zu den Abgesandten gehören! Ich werde ihm schreiben! Er wird Euch anhören!”
„Madame, ich will nicht, dass Ihr Euch meinetwegen in Gefahr begebt!”
Doch sie war schon auf dem Weg, ihr Schreibbesteck und Pergament zu holen.
Als Arnaud von den Geschehnissen erfuhr, war er entsetzt.
„Du hast ihr gesagt, wer wir sind?”
„Ich hatte keine andere Wahl. Andernfalls wäre sie erst recht misstrauisch geworden. Nach Floyrans Andeutungen konnte ich nichts mehr abstreiten! Und wer weiß, was sie dann unternommen hätte.”
„Und wer weiß, was sie jetzt tut? Dieser Brief, den sie dir gesiegelt hat, könnte eine Falle sein und wir laufen in Tours in die Arme der Inquisition.”
„Ich vertraue Gräfin Ghislaine.“
„Du... vertraust ihr?“
Arnauds seltsamer Tonfall bei diesen Worten entging Jocelin. Er hatte schon weiter gesprochen: „Wir gehen so vor, wie ich es gestern mit den Brüdern besprochen habe, mit dem Unterschied, dass wir nicht mehr nach La Blanche zurückkehren. Ich bringe Euch nach Fontainebleau und Ihr brecht sofort mit Louis und Ranulf nach Tours auf. Ich reite nach Corbeil und sehe, ob ich an Meister Jacques herankomme. - Das Geld, was Ghislaine mir gegeben hat, wird mir hoffentlich dabei helfen! - Ich werde am Sonntag bei euch in St. Madeleine  in Tours sein, so Gott will.”
„Wir sollten vorsichtig sein. Floyran könnte ein paar Männer anheuern, um uns abzufangen.”
„Ja.” Jocelin schnallte seinen Schwertgurt um. „Dann wird er nicht mehr davonkommen!”
„Jocelin", Arnaud legte seinem Ordensbruder die Hand auf den Arm. „Keinen Hass! Hass ist eine Teufelssaat, und der Anfang des Verderbens!”
„Ich weiß.“ Das waren diese Worte des verehrungswürdigen Bernhard von Clairvaux. Die Essenz ihres Glaubens, ihres Ordens. Zu kämpfen und sterben, auch zu töten, aber nicht aus Hass, sondern aus Liebe: für jene, die es zu beschützen galt.
Worte! „Und die Qualen, den Tod, den Floyran verschuldet hat?!”
„Dennoch, Jocelin. Wir dürfen nicht hassen. Wir müssen beten für unsere Verfolger, so wie unser Herr es uns gelehrt hat. Wer das Schwert aus Hass führt, ist verloren!”
Jocelin erwiderte nichts. Er wollte Arnaud kein Versprechen geben, das er vielleicht nicht im Stande war zu halten.
Wie ein Besessener war Esquieu de Floyran nach Paris geritten, um die Templer auf La Blanche anzuzeigen. Doch auf halbem Wege besann er sich eines anderen. Er konnte sie nicht der Inquisition ausliefern ohne gleichzeitig Ghislaine in Gefahr zu bringen. Das würde jede Hoffnung auf ihre Gunst für immer zunichte machen, ganz abgesehen davon, dass man sie unpraktischerweise vielleicht ebenfalls in einem Kerker verschwinden ließ! Nein, er musste diesen Bastard von Templer allein in seine Gewalt bringen...
Zwei Tage später erschien Floyran wieder vor La Blanche, im weiten orientalischen Gewand eines Juden. Die Torwächter erkannten ihn nicht und ließen den vermeintlichen Gewürzhändler ein. Es war Mittag, und kaum ein Mensch war im Hof der Burg zu sehen.
Aus der Kapelle klang eine helle Stimme. Comtesse Ghislaine sang das Mittagsoffizium. Esquieu lehnte sich an die Mauer des Palais und lauschte eine Weile. O ja, sie war fromm, aber das machte sie nur umso reizvoller! Welche Befriedigung würde es sein, ihr zu zeigen, dass sie nicht anders war als die bemalten Huren...
Unterhalb des Bergfrieds schlug ein Junge mit seinem Holzschwert in verbissenem Eifer auf eine Strohpuppe ein.
„Aha, der junge Graf“, erinnerte sich Floyran und ging auf ihn zu.
„He, Junge, ich suche-“
Yvo drehte sich um und musterte den Besucher von Kopf bis Fuß. „Wie wagst du mit mir zu reden, Ungläubiger?!“
„Vergebt mir, Euer Gnaden!“ sagte Esquieu de Floyran in gespielter Demut und musste sich ein Lachen verkneifen. „Ich suche... einen Ritter aus dem Heiligen Land.“
„Sire Jocelin ist fort!“
„Und wohin ist er gegangen?“
„Was geht‘s dich an, Jude? Er ist eben ganz einfach FORT!“ Yvo brachte mit einem zornigen Hieb die Übungspuppe zu Fall.
Esquieu de Floyrans Augen verengten sich. Zum Teufel, der Templer war ihm entwischt! Nun gut, er würde zurückkommen! Ganz sicher würde er das. Die Fleischeslust würde ihn schon wieder zurücktreiben in die Arme seiner Geliebten! Und dann... dann würde er da sein und ihn erwarten...
Er wollte gehen, doch dann wandte er sich noch einmal um: „Ich habe noch etwas zu bestellen, junger Herr! Grüßt Madame Ghislaine von Sire Esquieu de Floyran. Sie möge sich seiner erinnern! Denn ER hat sie nicht vergessen.“ 

Die Burg von Corbeil ragte über der Stadt auf wie der Stein gewordene Herrschaftswille des Königs. Ein tiefer Graben umgab das aus den Felsen wachsende Bollwerk. Vier Türme krönten die äußere Mauer.
Der Kastellan war ein rotgesichtiger, beständig schwitzender Mann, beherrscht von dem Eifer, keinen Fehler zu begehen. Alles, was von der Normalität abwich, stürzte ihn in hitzige Nervosität. Und was verlangte da dieser junge Mann?
„Bringt mich zu dem Meister der Templer!“
„Bei allen Heiligen!“ ächzte der Kastellan. „In wessen Auftrag kommt Ihr?“
„Ich habe meinen Befehl von einem hohen Herrn, und ebenso hoch wird Eure Belohnung sein!“
Der Kastellan wischte sich den Schweiß von der Stirn und starrte auf die Goldflorins, die der Mann vor ihm auf den Tisch zählte. Ein hoher Herr?! Wer, wenn nicht König Philipp? Der König von England?  Der Papst etwa?
„Seine Majestät hat jeglichen Kontakt zu den Gefangenen untersagt!“
„Seine Majestät wird nichts erfahren.“
Mächtiger als König Philipp?! Heilige Barmherzigkeit, warum musste gerade ihm das passieren?! Und dieses Gold... wie viel mochte es sein?
„Aber wenn die Wache ihren Rundgang macht, wird man uns sehen!”
„So lang wird es nicht dauern.”
Jocelin legte den vorletzten Goldflorin auf den Tisch. Eine Weile herrschte Schweigen, unterbrochen nur vom Seufzen und Ächzen des Kastellans. Schließlich stand er doch auf und bedeutete dem Ordensbruder, ihm zu folgen.
Jacques de Molay und der Provinzmeister der Normandie Godefrois de Charny schraken auf, als die Tür ihres Verlieses entriegelt wurde. Voller Furcht, Überraschung und Misstrauen richteten sich ihre Augen auf dem jungen Mann, den der Kastellan einließ. Betroffen erkannte Jocelin seinen Befehlshaber. Das Gesicht hinter der rußenden Kerze war das eines alten Mannes. Er fiel auf die Knie und küsste die rechte Hand des Meisters.
Jacques de Molay hob ihn auf und umarmte ihn. „Wer seid Ihr, Bruder?“ fragte er bewegt.
„Jocelin aus der Komturei Provins, Sire.”
„Vertraut ihm nicht!” fiel ihm Charny ins Wort. „Es wäre nicht das erste mal, dass sie uns einen falschen Bruder schicken, um uns auszuhorchen!”
Doch Jacques de Molay hatte sich an einen fernen Tag auf Zypern erinnert. „Jocelin, der Pflegesohn von Bruder Arnaud...”
„Ja. Ich komme als Gesandter von den Brüdern, die in Freiheit sind, und bereit, Euch und dem Orden zu dienen!“
Mit einer Hoffnung, die aus der Verzweiflung geboren war, hörte Godefrois de Charny, was Jocelin berichtete. War dieser junge Mann das Zeichen Gottes, um das sie Tag und Nacht flehten?
„Sire Arnaud und ein anderer Bruder sind bereits auf dem Weg nach Tours, um mit den Abgeordneten der Stände zu sprechen. Und hier ist die Petition, die wir einem der geistlichen Abgeordneten geben wollen. Wir bitten Euch um Approbation, wenn Ihr damit einverstanden seid, Messire.”
Jacques de Molay musste das Schreiben dicht vor die Augen halten, um die Buchstaben noch unterscheiden zu können. Dann nickte er langsam. „Ja. Erinnert sie an die Privilegien unseres Ordens! Unser Archiv ist in den Händen König Philipps, aber das hier wird genügen. Bruder Arnaud kennt sich aus...”
Der Meister nahm eine Kerze, tropfte etwas Wachs auf das Pergament und drückte seinen Siegelring unter die Petition.
Eine Faust donnerte gegen die Kerkertür. „Beeilt Euch, zum Teufel!“ drängte der draußen wartende Kastellan.
„So lange ich Gefangener bin und im Kerker, bestelle ich Bruder Arnaud und Euch zu den Prokuratoren des Ordens. Ihr könnt Euch beiordnen, wen Ihr für richtig haltet -“ Jacques de Molay streifte seinen Ring ab und übergab ihn Jocelin. „Nehmt dies als Zeichen, dass ich Euch investiert habe.”
Godefrois de Charny runzelte die Stirn. Waren Arnaud und der junge Bruder aus Provins einer solchen Kompetenz fähig? Nogaret und der Großinquisitor Imbert hatten sie alle überrumpelt und ins Gestrüpp ihrer Gesetzestexte gelockt. Konnte überhaupt noch ein Mensch einen Ausweg finden?!
„Bruder Jocelin, was wisst Ihr von unseren Brüdern in Aragon, in England, im Reich? Sind sie noch in Freiheit?“ fragte Molay.
„Die Brüder in England sind gefangen, obwohl Papst Clemens noch keinen allgemeinen Befehl erlassen hat.”
„Aber König Philipp hat einen langen Arm!” murmelte Godefrois de Charny sarkastisch.
„Aus Aragon und dem Reich haben wir noch nichts gehört", fuhr Jocelin fort.
„Wer weiß, was noch geschehen wird... Ich gebe  Bruder Arnaud und Euch alle Vollmachten, Bruder Jocelin, auch über die Brüder in den anderen Ländern!“
Der Kastellan klopfte erneut.
„Ihr müsst gehen. - Gott schütze Euch!“
Einen Augenblick später waren die Gefangenen wieder allein.

Lauf, lauf, lauf!“
Arme streckten sich  nach ihm aus, Hände versuchten ihn zu packen, aber seine Kinderbeine waren viel zu langsam. Er stolperte, fiel und schrie aus Leibeskräften, obwohl man ihm doch geboten hatte, ruhig zu sein. Er sah, wie die Bewaffneten in das Haus eindrangen, hörte das Krachen und Scheppern zu Boden geworfener und berstender Gefäße.
„Guillaume, komm her! Lauf doch, um Gottes willen!“ Die Stimme klang noch schriller als die zersplitternden Karaffen der Küche. Aber der Junge rührte sich nicht. Er saß im Schlamm des hinter der Viehtränke abführenden Weges und starrte hinunter auf das Haus wie unter einem Zauberbann. Zwei der Soldaten zerrten einen Mann mit sich.
„Großvater! GROSSVATER!!!“ Jetzt rannte der Junge, aber nicht den anderen Flüchtlingen hinterher, sondern abwärts, zurück zum Haus. „Großvater! NEIN! NEIN! NEIN!“
Der alte Mann in der schwarzen Robe drehte sich zu ihm um. Ein verzweifelter Ausdruck kam in seine Züge. Er schrie etwas, aber der Lärm der Bewaffneten ließ die Laute nicht bis hinauf zu dem Kind dringen, das sich im aufgeweichten Erdreich und über sperriges Wurzelwerk zu ihm vorwärts zu kämpfen suchte. Halb stolpernd, halb rutschend den kleinen Hang hinter dem Haus hinab.
Zwei gepanzerte Arme ergriffen den alten Mann und bugsierten ihn in Richtung eines Wagens. Der Junge sah einen weißen Mantel durch das Blattwerk leuchten. Einen weißen Mantel mit einem blutroten Kreuz...
„Guillaume, Guillaume, wach auf!“ Seine Frau rüttelte ihn an den Schultern, und der Siegelbewahrer ließ endlich den Albtraum hinter sich.
„Schon wieder diese alte Geschichte?“ fragte sie, ihre Haare wieder unter die Nachthaube stopfend, während Nogaret aufstand, zu der neben dem Bettalkoven stehenden Waschschüssel trat.
„Ja.“ Er tauchte die Hände und dann das Gesicht ein. „Es wird erst ein Ende nehmen, wenn alles vollbracht ist...“
Seine Frau schüttelte den Kopf. Er hatte ihr weder die ganze Wahrheit über die damaligen Ereignisse erzählt, noch was ihn sonst in dieser Sache bewegte. Es war nichts, was sie etwas anging, was sie verstehen würde... Er griff nach seinen Sachen. Er wollte nicht noch mehr Zeit mit Schlaf vergeuden. Der Ständetag rückte heran. Es gab noch viel zu tun... sehr viel, bis er endlich das erreicht haben würde, was hoffentlich  die Albträume für immer aus seinem Geist verbannte...
Jocelin stand in einer Ecke des Rathausplatzes von Tours. In zwei Tagen würde hier die Hauptversammlung der Stände tagen. Aber schon heute fanden sich die Menschen ein, um sich an zahlreichen Pamphleten zu erhitzen. Ihr Ziel schien es zu sein, die Menge gegen den Papst aufzuwiegeln.
„Clemens, was seid Ihr für ein Hirte?“ ereiferte sich einer der bezahlten Redner. „Ihr sorgt für Eure Familie, verschachert Ämter der Heiligen Kirche an unwürdige Verwandte! Wisst Ihr nicht, dass die Sorge um die Seelen das höchste Gut ist, und Ihr verschleudert es! Wie schlecht tut Ihr den Dienst, den die Christenheit Euch anvertraut hat!“
Das Gebaren des Redners ließ keinen Zweifel, dass für ihn ‚die Christenheit‘ gleichzusetzen war mit dem Allerchristlichsten König Philipp. Und sangen nicht selbst die Kinder Spottverse über den Papst von Königs Gnaden?
„Clemens, Ihr verschleudert nicht nur das Gut der Kirche, Ihr seid auch nachlässig in der Bestrafung der Feinde Christi! Diese Templer sind alle Gotteslästerer und Mörder, wie lang wollt Ihr noch dulden, dass sie unseren Herrn beleidigen? Bedenkt, Clemens, es sind die Lauen, die Gott aus seinem Mund speit! Enttäuscht das Volk nicht länger, das auf Euch hofft! Befreit es von der Geisel der Ketzerei oder -“ Die Stimme schallte weit über den Platz, “oder das Volk wird sich von EUCH befreien!“
Sprechchöre antworteten dem Redner: „Befreit uns! Befreit uns von den Ketzern! Befreit uns von den Ungläubigen!“
Jocelin machte sich auf den Weg durch die schreiende, wild gestikulierende Menge. Papst Clemens würde großen Mut brauchen, wollte er sich dieser fanatischen Flut entgegenstellen...
An der Pforte des Martinsklosters angekommen, läutete er. Der Kopf eines Mönches erschien hinter dem Klausurgitter. „Gelobt sei Jesus Christus!“
„In Ewigkeit, Amen. Ich ersuche um eine Audienz bei dem hochwürdigsten Gregor, Erzbischof von Rouen!“
„Habt Ihr eine Empfehlung des Königs?”
„Ich bin Jocelin von Provins. Sagt Seiner Ehrwürden, ich komme von Gräfin Ghislaine de Montfort. Hier ist eine Nachricht mit ihrem Siegel!”
Der Mönch seufzte, betrachtete den seltsamen Ankömmling, der wie ein Bettler aussah, aber offenbar keiner war und seufzte wieder. Dann öffnete er die Tür und befahl: „Wartet hier im Garten, Sire!“
Gregor von Rouen runzelte nachdenklich die Stirn, als der Mönch ihm berichtete. Gräfin Ghislaine schickte ihn? Er erbrach das Siegel und begann zu lesen. Der Mönch sah, wie die Farbe aus seinen Wangen wich. Es musste eine schlimme Nachricht sein... Der Erzbischof sah durch das winzige Spähloch in der Galeriewand in den Garten hinunter.
„Ist er das?“ Der Mönch bejahte.
„Nun gut.“ Er wandte sich zu dem Mönch um. „Bring ihn in meine Zelle!”
Wenig später verneigte sich Jocelin vor dem Erzbischof.
„Ihr habt den Brief von Gräfin Ghislaine gelesen, Euer Ehrwürden?”
Der Erzbischof nickte.
„Ich danke Euch, dass Ihr bereit seid, mich anzuhören.”
„Dankt mir nicht zu früh. Ich kann nichts für Euch tun.”
„Alles was ich und meine Brüder wollen, ist Gerechtigkeit. In zwei Tagen wird König Philipp die Stände nach einem Urteil befragen, das ihnen  nicht zusteht. Nur der Heilige Vater kann über unseren Orden Gericht halten. Es ist Eure Pflicht, die Freiheit der Kirche zu bewahren.”
„Ihr sprecht von Pflichten und Rechten? Uns sind die Geständnisse Eurer Ordensbrüder vorgelegt worden! Auch das Eures Meisters!”
„Diese Geständnisse sind durch Betrug und Folter erpresst worden!“
„Ich habe nichts als Euer Wort gegen hunderte belastende Protokolle,” entgegnete er.
„Ich und ein weiterer Bruder sind von Meister Jacques autorisiert, für den Orden zu sprechen. Meister Jacques hat widerrufen; die meisten unserer Brüder auch. Und ihre Geständnisse können nicht rechtskräftig sein. Die Brüder sind von einer weltlichen Macht gefangen gesetzt worden und verhört. Das ist gegen die Privilegien, die uns alle Päpste und Bischöfe bestätigt haben! Keiner, der nicht Mitglied des Ordens ist, darf gegen einen Ordensbruder aussagen, aber nur das ist geschehen, ohne dass wir selbst die Namen der Ankläger erfuhren! Niemand darf uns exkommunizieren außer dem Papst, aber vom Tag unserer Verhaftung an hat man uns nicht mehr die Sakramente gereicht!“
Jocelin reichte dem Erzbischof die Petition.
„Wir können dies nicht selbst auf dem Ständetag vorbringen. König Philipp ließe uns sofort verhaften. Daher bitten wir Euch, es zu verlesen. Bei der Wahrheit Gottes, verhelft uns zu unserem Recht.”
Kopfschüttelnd schob Erzbischof Gregor die Pergamentrolle zurück.
„Ich kann es nicht tun.”
„Ehrwürden! Der Ständetag darf die Verfahren nicht approbieren!”
„Leiser, mein Sohn!” wandte sich der Erzbischof an Jocelin. „In diesen Mauern gibt es mehr Leute des Königs als Ihr meint.”
„Dann glaubt Ihr an unsere Unschuld?!”
„Es geht nicht darum, was ich glaube oder nicht. ‘Die Wahrheit Gottes’. Wenn es so einfach wäre! Die Welt ist voller Übel, und zuweilen ist man gezwungen, von zweien das kleinere zu wählen.”
„Ihr wollt zulassen, dass Unschuldige verurteilt werden?”
Der Erzbischof schloss die Augen und lehnte sich zurück.
„Ich rate Euch, verlasst Tours, ehe man auf Euch aufmerksam wird.”
„Aber -!”
Gregor von Rouen ergriff das Glöckchen, um nach dem Mönch zu läuten, der ihm als Bediensteter zugeteilt worden war.
„Geht, habe ich gesagt. Es ist Zeit für mein Offizium.”
Am nächsten Tag lehnte Erzbischof Gregor es ab, ihn noch einmal zu empfangen. Niedergeschlagen verließ Jocelin das Kloster, um sich wie geplant mit seinen Brüdern in St. Madeleine zu treffen.
Zu dieser Stunde drängten sich in der Kollegiatskirche die Bettler und erwarteten die tägliche Almosenverteilung der Kanoniker. Jocelin musste sich durch die Armen drängen, die ihm jammernd die Hände entgegenstreckten, während er nach seinen Kameraden Ausschau hielt. Hatten Arnaud und Louis es überhaupt bis Tours geschafft oder waren sie unterwegs womöglich aufgegriffen worden?
Einer der Bettler packte den Ordensbruder am Arm.
„Ich habe nichts!“ wehrte Jocelin unwirsch ab. „Lass mich los!“
„Eine milde Gabe, Sire, eine milde Gabe!“ schrie der Bettler beharrlich.
Die Stimme ließ Jocelin herumfahren. Aus dem Schatten einer Sackleinenkapuze schenkte ihm Bruder Louis ein kurzes Lächeln. Unauffällig folgte er ihm zu einem der Seitenaltäre, wo er nun auch Arnaud und Ranulf entdeckte. Dem Himmel sei Dank!
„Ich bin erleichtert, euch wohlbehalten hier zu sehen!“
„Wir genauso“, antwortete Louis im Flüsterton. „Es waren ein paar Gerüchte im Umlauf, man hätte einen Anführer der Templer in Paris gehängt. - Und, ist es Euch gelungen, mit Meister Jacques zu sprechen?“
„Ja. Und er hat mich und Euch, Sire Arnaud, zu Prokuratoren des Ordens ernannt, solange er und das Oberste Kapitel in Haft sind.“ Jocelin zeigte den Siegelring des Meisters und überreichte ihn seinem Pflegevater. „Tragt Ihr ihn; Euch kommt er eher zu als mir!“
Arnaud nahm den Ring entgegen. „Ich hoffe, ich werde mich dieses Vertrauens würdig erweisen... Hat man die Gefangenen in Corbeil noch einmal verhört?“
„Bisher offenbar nicht.“
„Hm...Philipp wartet vielleicht auf den Applaus der Stände, bevor er weiter vorrückt! Den wird er wohl auch bekommen, bei all den Privilegien, die er den Abgeordneten der Städte in den letzten Monaten in den gierigen Rachen geworfen hat!“ Einen Moment lang schwiegen die Ordensbrüder, weil sich eine alte Frau vor dem Altar niedergeworfen hatte und die dortigen Reliquien der Heiligen Regula tränenreich um Gewährung irgendeiner Hilfe anflehte.
„Das klingt“, fuhr Jocelin dann fort, als sie endlich wieder allein waren, „...als hättet Ihr hier bei den Ständevertretern ebenso wenig wie ich Erfolg gehabt.“
„Nun, ich habe gestern mit dem Erzbischof von Toulouse gesprochen“, erwiderte Arnaud. „Die Querelen, die er mit den Dominikanern hat sind ja bekannt, und so dachte ich, dass macht ihn vielleicht geneigt, uns zuzuhören. Aber das war ein Irrtum. Und was hat der Erzbischof von Rouen gesagt? Wird er unsere Petition verlesen?“
Jocelin schüttelte den Kopf. „Nein. Alles umsonst! Vielleicht glaubt er mir nicht... oder...“ Er seufzte. „Ich kann es nicht sagen. Er sprach von einem noch größeren Übel, das die Kirche bedrohe.“
„Was könnte größer sein als die Schandtaten die an unserem Orden verübt werden?!“ rief Louis zornig und hätte Aufmerksamkeit erregt, wenn nicht gerade jetzt mit der Almosenverteilung begonnen worden wäre.
„Ich weiß es nicht“, flüsterte Arnaud. „Aber...es muss eine mächtige Waffe sein, mit der der König die Kirche erpresst...“
„Was unternehmen wir jetzt?“
„Auf die Entscheidung des Ständetags warten“, entgegnete Jocelin. „Vielleicht geschieht ein Wunder und Erzbischof Gregor fasst sich ein Herz?“ Er glaubte selbst nicht daran, aber er wollte etwas sagen, um wenigstens seine Brüder aufzumuntern.
Das Wunder geschah nicht.
Die Prälaten gaben ebenso wie die übrigen Abgeordneten des Ständetages ihre Zustimmung zum Vorgehen des Königs und forderten die Todesstrafe für die Templer. Schweigend machten sich die drei Ordensbrüder auf den Rückweg - und wurden vor der Martinspforte beinahe umgerannt, als ihnen in panischer Hast einige Leute entgegen stürzten.
„Die Templer! Die Templer!“ brüllten sie, und im nächsten Augenblick preschten drei Reiter die Straße herauf, in Rüstung, mit geschlossenem Visier, im weißen Ordensmantel. Jocelin drückte sich an die Mauer. Entsetzt sah er, wie die Reiter Fackeln gegen die Klostergebäude schleuderten. Flammen schlugen hoch. „Verräter! Falsche Christen!“ klang eine dumpfe Stimme durch ein Visier. Dann wendeten die Männer ihre Pferde.
„Ich reite ihnen nach! Wartet in St. Madeleine!” rief Jocelin. Einen Augenblick später war er den Fremden auf den Fersen. Sie hatten gute Pferde und verlangten ihnen das letzte ab. Jocelin verfolgte sie bis in die Ebene, doch dann schwenkten sie vom Weg ab, verschwanden über den Fluss im Wald. Jocelin gab auf. Er stieg aus dem Sattel und gewährte seinem Reittier eine Zeit der Erholung. Dann ritt er langsam nach Tours zurück.
Die Gesänge der Vesper klangen durch St. Madeleine, als Jocelin die Pforte öffnete. Ein paar Gläubige, die sich hier zur Andacht eingefunden hatten, drehten sich empört über die Störung um. Jocelin schenkte ihnen keine Beachtung. Hinter dem nördlichen Vierungspfeiler entdeckte er seine Ordensbrüder. Louis blickte ihn fragend an. Jocelin schüttelte den Kopf. „Sie sind in den Forst von Neuilly.“
„Wir müssen sie unbedingt aufhalten. So etwas darf nicht noch einmal passieren!” sagte Bruder Arnaud.
„Ist der Brand gelöscht worden?”
„Ja. Gott sei Dank.”
„Am besten,  wir brechen sofort auf, ehe sie Zeit haben, sich aus dem Staub zu machen!”
„Ja, wenn sie das nicht schon getan haben!”
Jocelin griff Arnaud bei der Hand und strebte gefolgt von Louis dem Portal zu.
Die drei Templer ritten langsam in das Gehölz, aufmerksam auf jeden Laut horchend. Aber lange Zeit klang nur das Schreien eines Eichelhähers zu ihnen. Das Waldgebiet war nicht groß, doch für Menschen, die nicht entdeckt werden wollten, boten sich zweifelsohne genügend Schlupfwinkel. Die fremden Brüder würden Angst haben, genau wie sie selbst in Fontainebleau die Entdeckung fürchteten.
Plötzlich krachte ein Baumstamm auf den Weg nieder. Die Pferde scheuten. Im nächsten Moment sahen sich Jocelin und seine Begleiter von einigen Männern in abgerissenen Kleidern umringt, die ihre Armbrüste schussbereit auf sie hielten.
„Ihr seid mutig, allein in dieser Gegend zu reisen,” sagte ein dunkeläugiger Mann. „Was wollt ihr hier?”
„Wir sind auf der Suche nach einigen Dienern Gottes,” erwiderte Jocelin vorsichtig. Er war sich sicher, dass die gesuchten Ordensbrüder um sie standen. Räuber pflegten nicht so lang zu warten, ehe sie einen Mann um sein Hab und Gut erleichterten...
„In den Wäldern? Sucht lieber in den Kathedralen und Klöstern!”
„Ja, da findet ihr eine Menge Diener Gottes!” Ohne ihre Waffen zu senken warfen die Männer nun einen fragenden Blick zu einer großen Gestalt, die eben im Schatten des Blätterdaches aufgetaucht war. 
Ein Paar dunkler Augen richtete sich auf Jocelin, Louis und Arnaud.
Sie warteten.
„Wer seid ihr? - Antwortet, wenn euch euer Leben lieb ist!”
Jocelin öffnete den Mund zu einem Gebet, das dem Ordensgründer Hugo de Payens zugeschriebenen wurde. Jeder Templer musste es kennen - und für Fremde würde es nur ein Gebet sein:
„Herr, mache uns tapfer im Kampf und in allen Widrigkeiten, tüchtig zu allem guten Werk...“
In den dunklen Augen des Fremden blitzte es auf. Die Worte schienen ihm nicht neu, zumindest das war klar zu erkennen.
„...und rüste und aus mit der Kraft des Glaubens“, vollendete der Fremde schließlich langsam und trat vor auf die Straße. Er trug einen braunen Umhang und hatte dunkles, bis über die Schultern fallendes Haar.
„Ihr seid Brüder? Und in Freiheit?“
„Mit Gottes Hilfe, ja!“ entgegnete Arnaud.
Ein Raunen ging durch die Umstehenden.
Der Dunkeläugige gab den anderen ein Zeichen, ihre Waffen zurückzustecken. „Steigt ab! Wenn ihr lügt und Leute des Königs seid werdet ihr den nächsten Tag nicht mehr sehen!” Dann wandte er sich an zwei seiner Gefolgsmänner: „Verbindet ihnen die Augen und bringt sie in unser Lager.”
Als man Jocelin die Binde wieder abnahm, befand er sich auf einer Lichtung. Mehrere einfache Windschirme aus Reisig spannten sich über einigen Männern.
Die Überraschung überwältigte Jocelin. „Arnaud, hier sind mindestens 15 Brüder!“
„Wir sind 22. Einige sind unterwegs.“
„Woher kommt ihr?“
„Aus der Auvergne die meisten. Wir haben so viele befreit, wie möglich war. Und ihr? Seid ihr allein?“
Arnauds Antwort ließ ihn einen Freudenruf ausstoßen.
„Also sind noch mehr in Freiheit! Bei Gott, ich wusste es! Was habt ihr in Tours gemacht?”
„Wir haben versucht, Erzbischof Gregor von Rouen zu gewinnen, sich für uns einzusetzen.”
„O ja. Das haben wir auch versucht!” entgegnete der fremde Ordensbruder bitter.
„Ich will hoffen, dass wir den verräterischen Prälaten wenigstens eine Lektion erteilt haben, die sie so schnell nicht vergessen! Sie sollen schon auf Erden etwas von dem Höllenfeuer kosten, das ihnen bereitet ist!”
Jocelin verstand gut, was seinen Mitbruder bewegte. Hatte er nicht selbst  gewünscht, Esquieu de Floyran den Dolch ins Herz zu stoßen? Und doch hatte Arnaud Recht. Sie durften dem Hass keinen Raum geben.
„Ihr hättet das nicht tun dürfen! Das ist Wasser auf die Mühlen unserer Gegner!“
Mit einem Mal schlug die Stimmung um.
„Was wollt Ihr uns befehlen Bruder? Ihr kommt hierher, und glaubt, Ihr könnt uns sagen, was wir tun sollen?“
„Es geht nicht um mich! Es geht um den Orden!“ entgegnete Jocelin. „Wir sind zu unrecht angeklagt! Wollt Ihr den Orden mit Unrecht verteidigen?!“
„Unrecht! Ich sage Euch was! Ich bin ein Sünder, ich habe gespielt und Krieg geführt gegen das Gebot der Kirche, ich habe den Diakon umgebracht, der für meinen Onkel spionierte! Ich bin zu den Templern gegangen, um meine Seele zu retten! Und dafür hat man mich zum Verbrecher erklärt! Dafür, dass ich den Verbrechen entsagen wollte! - Ich kämpfe für den Orden, und ich kämpfe mit allen Waffen, weil er das einzige ist, woran ich noch glaube!“
Unter den anderen erhob sich zustimmendes Gemurmel.
„Ich kann nicht zulassen, dass Ihr den Namen des Ordens auf diese Weise befleckt!“
„Dann versucht mich daran zu hindern!“
Er zog sein Schwert und trat kampfbereit auf Jocelin zu. Einige andere folgten seinem Beispiel.
Jocelin hob beschwichtigend die Hände.
„Legt die Waffen nieder! Wir sind von Meister Jacques als Prokuratoren bestellt. Bruder Arnaud trägt das Ordenssiegel, seht!”
„Meister Jacques? Er hat uns auch verraten!” Aber er merkte, wie die eben noch feste Gefolgschaft seiner Brüder ins Wanken geriet.  Sie alle hatten einen heiligen Eid geschworen, ihrem Meister zu gehorchen. Sich gegen die Anmaßungen eines Bruders zu wehren war eine Sache, den Befehlen der vom Meister eingesetzten Prokuratoren zu widersprechen eine andere. Ein Schwert nach dem anderen wurde auf den Boden geworfen. Mit zusammen gepressten Lippen starrte der Dunkeläugige auf Arnaud und Jocelin. Dann ging er wortlos ging er an ihnen vorüber und verschwand im Wald. Die anderen Brüder sahen ihm unschlüssig hinterher.
„Ich hole ihn zurück“, beschloss Jocelin, und Arnaud nickte. Die ganze Christenheit hatte sich gegen die Templer verschworen, Feindschaften untereinander durften sie sich nicht leisten!
Er fand seinen Mitbruder auf einer nahen Lichtung, sich auf sein Schwert stützend und vor sich hin starrend. Als er Jocelin bemerkte, wandte er sich um. „Habt Ihr meine Strafe festgesetzt, Sire Prokurator?“
„Wir haben keine Gewalt, Euch zu bestrafen. -  Ich möchte Euch bitten, schließt Euch uns an! Ihr wollt für den Orden kämpfen, und das wollen wir auch. Wir brauchen Euch!“
Der Fremde sah auf die Hand, die Jocelin ihm entgegenstreckte. Zögerte.
„Wie nennt man Euch, Bruder?”
„Jean. Jean de Saint-Florent.”
„Für den Tempel, Bruder Jean! Wir brauchen Euch und die anderen! Kommt mit uns!“
„Für den Tempel.” Er schlug ein.  

Das Antlitz des Königs war so unbeweglich wie die steinernen Statuen am Portal der Kathedrale, auf die er blickte. Philipp wartete. Am Tag zuvor hatte Papst Clemens die Mitglieder seiner Untersuchungskommission berufen, trotz der Entscheidung der Prälaten auf dem Ständetag.
Den Meister und die übrigen Würdenträger wollte er selbst verhören. Und fünf Kardinäle hatten den Auftrag erhalten, sich mit Templern aus allen Teilen Frankreichs zu befassen. Stephanus war darunter, der ehemalige Siegelbewahrer des Königs, und die Brüder Landulf und Petrus Colonna, die sich ebenfalls dem französischen Hof verpflichtet wussten. Doch wieweit würde ihre Loyalität reichen?
Könige vergingen, die heilige Mutter Kirche blieb...
Kaum war ihm das Dekret des Papstes mitgeteilt worden, hatte Philipp Nogaret zu Verhandlungen zu Clemens geschickt. Und nun wartete seine Majestät.
Papst Clemens hatte einen kühnen Zug getan, aber das Spiel war noch keinesfalls entschieden! Plötzlich kam Bewegung in die Pferde. Seine Majestät sah, wie Guillaume de Nogaret die Stufen der Kirche hinunter schritt. Aus seiner Haltung war nichts abzulesen, aber Philipp wusste, dass er nicht kommen würde, ohne erreicht zu haben, was er wollte.
Wenig später stand der Siegelbewahrer vor ihm. Mit einer leichten Verbeugung reichte er Philipp eine Pergamentrolle.
„Es ist die Kopie einer päpstlichen Verfügung, Euer Majestät.“
Ohne eine Regung zu zeigen las der König die nochmalige Beschwerde Clemens‘ V., dass man ihn vor der Verhaftung der Templer einfach übergangen habe, dass der Großinquisitor ihn auch danach über nichts informiert habe. Der Papst benutzte scharfe Worte, doch dies war nur die Wut eines schon geschlagenen und gefangenen Löwen. Denn am Ende des Erlasses prangte deutlich das Ergebnis der Verhandlungen: „Da Wir wissen, dass du mit gutem Willen gehandelt hast, geliebter Bruder“, schrieb Clemens an Inquisitor Imbert“, verleihen Wir dir und deinen Brüdern, und allen, die im Amt des Heiligen Offiziums tätig sind, alle früheren Rechte und Privilegien im Kampf gegen die Häresie...”
Philipp fühlte Wärme durch seine Glieder strömen. Die Suspension der Inquisition war aufgehoben! „Kehren wir nach Paris zurück, Guillaume!“
 Unlustig warf Ghislaine ihre Stickerei zur Seite und stieg die Treppe zum Hof hinab. Dort schlug Yvo in verbissenem Eifer auf eine Strohpuppe ein. Er war noch immer wütend auf Jocelin. Aber wenigstens brachte ihn der Zorn dazu, fleißig zu üben. Und er trieb sich nicht mehr herum und stahl...
Hufschläge hallten von den Mauern wider. Ghislaine sah einen Reiter im blauen, liliengeschmückten Wams und mit dem königlichen Banner durch das Tor kommen. Diensteifrig eilte ihm ein Knecht entgegen. Der Ankömmling übergab ihm das Banner und stieg ab.
„Ich bringe eine Botschaft Seiner Majestät für die Gräfin von Montfort!”
Ghislaine erschrak. „Sie haben Jocelin… und jetzt holen sie mich…“ war ihr erster Gedanke.
Doch der Bote näherte sich mit einer höflichen Verbeugung.
„Madame, ich entbiete Euch die herzlichsten Grüße unseres Königs. Seine Majestät hofft, dass Ihr Euch bei guter Gesundheit befindet.”
Ihre Furcht machte es ihr schwer, den Gruß zu erwidern.
„Ich bin gesandt, Euch im Namen Seiner Majestät einzuladen zur Vermählung von Prinz Philipp...”
Eine Hochzeit! Guter Gott, es ist nur eine Hochzeit!
Sie wandte sich nach den Mägden um, die gerade die Gemüsekörbe entluden und klatschte in die Hände. „Kommt her! - Geht zu Odette und bestellt ihr, sie soll ein reichliches Mahl für unseren Gast herrichten, der eine so freudige Nachricht gebracht hat!”
Dabei war das Letzte, wonach es sie verlangte, ein fröhliches Brautpaar, Lachen, Tanz und Spielleute. Aber eine Einladung des Königs war ein Befehl.
Der Duft der Blumengirlanden erfüllte die gesamte Kathedrale. Kerzenlicht leuchtete auf Brokat- und Seidengewändern, brach sich in kostbaren Schmuckstücken. Adlige und Bürger hatten ihr Möglichstes gegeben, sich herauszuputzen. Einer hatte versucht, den anderen zu übertreffen an diesem Festtag.
Das königliche Paar stand unter einem gestickten Baldachin im Chor. Hoch aufgeschossen der junge Prinz Philipp. Schon jetzt war abzusehen, dass er die viel gerühmte Schönheit seines Vaters nie sein Eigen nennen würde. Er schielte etwas, was ihm einen verschlagenen Ausdruck gab. Die stupsnasige Braut neben ihm wirkte in ihrem schweren Samtkleid wie eine zum Patronatsfest geschmückte Heiligenfigur. Gräfin Ghislaine sah, wie nervös das Mädchen war. Ihr selbst war es nicht anders gegangen, damals, als man sie vor den Traualtar befahl. Sie entsann sich an diesen Tag, als sei er gestern gewesen. Der Graf von Montfort, den sie nur einmal gesehen hatte, zehn Jahre älter als sie, mit einer lauten, dröhnenden Stimme. Die Blumen, das festliche Bankett und schließlich ihre plötzliche Angst, als ihr Gemahl sie ins Brautgemach trug. Ihre Amme hatte sie längst in die Pflichten einer Ehefrau eingeführt gehabt, und dennoch war sie nicht auf das vorbereitet gewesen, was kam. Ihre erste Vereinigung war qualvoll für sie gewesen… In den folgenden Jahren hatte sie sich mit ihm abgefunden, weil ihr keine andere Wahl blieb, und sie hatte für jeden längeren Kriegszug gedankt, der ihren Gemahl für Monate von ihr fernhielt.
Für einen Augenblick geisterte die Frage in ihr, wie es mit Jocelin hätte sein können. Sie stellte sich vor, wie seine Hände das Brauthemd von ihren Schultern streiften, sanft und langsam, nicht mit der hungrigen Hast, die der Graf von Montfort damals an den Tag gelegt hatte... Mit einem heftigen Kopfschütteln versuchte sie, den Gedanken loszuwerden. Dabei umklammerte sie so fest ihren Rosenkranz, dass die Schnur zerriss und die Perlen mit einem leisen Klirren auf den Steinfußboden rollten.
„Was bist du doch für eine dumme Gans!“ schalt sie sich im Stillen und presste die Lippen zusammen. „Du weißt nicht einmal, ob er auch nur das geringste Interesse an dir hat! Und wenn es so ist, solltest beten, dass es so bleibt! Er ist ein Mönch und du hast kein Anrecht auf ihn!“
„Kein Anrecht!!!“
„Madame Ghislaine?“
Sie schrak zusammen und merkte erst jetzt, dass sie die letzten Worte laut gemurmelt hatte.
„Ist Euch nicht wohl?“ Ihre Zofe blickte sie besorgt an. „Ihr seht sehr blass aus...“
„Alles in Ordnung. Nur etwas viel... Weihrauch...“
Der Bischof von Paris sprach den Segen über die Brautleute. Unter den Jubelrufen der Versammelten schritt das Paar nun das Kirchenschiff hinunter. Kinder streuten Blumen unter ihre Füße. Draußen vor der Kirche wartete ein dicht gedrängtes Spalier armer Bürger und Bauern. Begierig hefteten sie die Augen auf die Pracht, die ihrem Alltag so fremd war und die aus einer anderen Welt zu stammen schien. Auf dem Kirchplatz waren für den König, das Brautpaar und die übrigen Angehörigen der königlichen Familie prächtig aufgezäumte Reittiere bereitgehalten worden. Zu Pferde legten sie den Weg zum Louvre zurück, immer begleitet von Klatschen, Hochrufen und Blumen.
Im Louvre angelangt begab sich die Festgesellschaft in den weiten, luftigen Saal, der erst unter König Philipp fertig gestellt worden war. Während die ersten Speisen aufgetragen wurden, postierte sich eine spanische Gauklertruppe in der Mitte des Saales. Der Sänger begann mit einer Preishymne auf den König. Ohne eine Regung zu zeigen lauschte Seine Majestät dem Lob seiner Weisheit, Freigiebigkeit und Tapferkeit. Es war ein schuldiger Tribut, den der Sänger entrichtete. Jeder der Gäste wusste, dass er in der nächsten Schenke ebenso  inbrünstig ein Spottlied auf Philipp zum Besten geben würde.
„Madame!”
Ghislaine hob den Kopf. Der spanische Sänger hatte sich ihr zugeneigt. „Ich sehe, unser Lied hat Euer Herz berührt. Ah, welche Wohltat für einen Künstler - aber Eure Augen inspirieren mich zu einem anderen Gesang! Einem Lied vom Blau des Meeres...”
Früher hatte sie Gefallen gefunden an den Balladen der Gaukler und den Darbietungen kühner Jongleure. Diesmal aber war ihr all dies zuwider. Nur um lästigen Fragen aus dem Weg zu gehen reihte sie sich nach dem Essen schließlich unter die Pavane-Tänzer ein. Hier war es, dass sie sich plötzlich Esquieu de Floyrans lächelndem Gesicht gegenüber sah.
„Madame Ghislaine, wie schön, Euch zu sehen!”
Sie wollte den Reigen verlassen, doch schon hatte er ihre Hand ergriffen.
„Wusstet Ihr, dass die Templer von Paris in diesen Mauern gefangen sind?” rief er ihr zu, während sie die Seiten wechselten. Sehr reizvoll, wenn man bedenkt, dass wir über ihren Köpfen tanzen, nicht wahr?”
Ghislaine verwechselte die Schritte. Plötzlich war ihr Floyran ganz nah.
„Keine Angst, Euer Geliebter ist nicht darunter,” wisperte er ihr ins Ohr.
Angewidert stieß sie ihn zurück.
„NOCH nicht,” fügte Floyran maliziös hinzu, verbeugte sich und übernahm die nächste Partnerin.
Nach Mitternacht zerstreuten sich die Gäste in Hof und Garten. Ghislaine beeilte sich, in ihr Gemach zu kommen, denn sie fürchtete die Nachstellungen Esquieu de Floyrans. Erst als sie die Tür hinter sich verriegelt hatte, fühlte sie sich in Sicherheit. Müde öffnete sie das Fenster und beugte sich in die frische Nachtluft hinaus. In einiger Entfernung floss die Seine. Schwankende Lichter kündeten von vereinzelten Booten.
„In zwei Tagen bin ich wieder auf La Blanche“, sagte Ghislaine sich. „Gott sei Dank.“ 

Der Rückweg der Schar Brüder von Tours war ohne Zwischenfälle verlaufen. Bis jetzt. Plötzlich waren die königlichen Söldner aufgetaucht und hatten die Templer in ein heftiges Handgemenge verwickelt. Waren sie verraten worden oder war es ein böser Zufall? Es blieb ihnen keine Zeit, darüber zu rätseln.
Jocelin schlug seinem Pferd die Sporen in die Seite und holte zu Jean de Saint-Florent auf.
„Wir müssen uns teilen!“ rief er ihm zu. „Nehmt den Weg über Baugy!”
Zunächst hatten die Templer den Eindruck, das Manöver gelinge. Jean schwenkte mit einer Gruppe hinter der Wegbiegung ab, und die königlichen Ritter hefteten sich an seine Fersen. Einige Söldner  preschten Jocelins Gefährten nach. Die Kluft zwischen ihnen und den Ordensbrüdern wuchs rasch. Plötzlich aber klangen die Pferdehufe wieder ganz nah, der Feind hatte ihnen den Weg abgeschnitten! Jocelin sah den Kommandanten und zwei Söldner vor sich über die Hecke setzen. Armbrüste klackten. Schon surrten die ersten Pfeile. Und einen Augenblick später sank Bruder Arnaud getroffen zusammen. Tot oder nur verletzt?!
„In den Wald!“ schrie Jocelin.
Dicht gefolgt von den Söldnern trieben die Templer ihre Pferde ins Unterholz. Zweige schlugen den Flüchtenden ins Gesicht, Dornenranken zerfetzten ihre Gewänder. Irgendwann schluckte das Dickicht die Stimmen der Verfolger. An einem kleinen Bach verhielten die Ordensbrüder. Ihre Pferde zitterten vor Erschöpfung, und ihnen selbst ging es nicht anders. Jocelin schob die Kapuze seines Kettenhemdes zurück und strich durch die schweißverklebten Haare.
Sie haben unsere Spur verloren“, hörte er Louis sagen und schüttelte müde den Kopf. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie uns haben.“ Er half, Arnaud aus dem Sattel zu heben. Vorsichtig betteten ihn die Brüder auf den Waldboden. Der alte Ordensbruder war am Leben, aber die Verwundung konnte gefährlich werden. Der Pfeil war oberhalb der Rippen in den Rücken gedrungen. Arnaud bewegte die Lippen, aber nur ein schwaches „Jocelin?“ war zu verstehen.
„Ich bin hier. Haltet durch!“
„Jocelin... wenn ich ... sterbe...“
„Ihr dürft Euch nicht zu sehr anstrengen! Ruht Euch aus! Zu  sprechen werden wir später noch Zeit haben!“
„Nein... Jocelin... du musst etwas... wissen...“ Aber er hatte keine Kraft mehr, weiter zu sprechen. Sein Kopf sank zur Seite.
„Wie steht es um ihn?“
„Nicht gut“, antwortete Jocelin, den Blick von der Verwundung seines Pflegevaters lösend und zu Louis aufblickend „Aber hier kann ich nichts für ihn tun.“
„Dann los nach Fontainebleau! Ehe die ganze Gegend voll von den Leuten des Königs ist!“
„Unmöglich. So weit kann er nicht mehr reiten! Ich warte bis Einbruch der Nacht, dann bringe ich ihn nach La Blanche, das ist der nächste Weg.“ An den Mienen der anderen sah er, dass sie diese Entscheidung nicht gerade befürworteten, aber er würgte jeden Einspruch mit einem kategorischen “Louis, Ihr reitet mit den anderen nach Fontainebleau! SOFORT!” ab.
 Es war zur zweiten Nachtwache, als Jocelin auf La Blanche zuhielt, seinen bewusstlosen Pflegevater vor sich im Sattel. „Wer da?“ schrie ihm der Wächter über die Zinnen zu.
„Zwei arme Pilger. Wir haben keinen Platz mehr in der Herberge gefunden.“
Der Wächter runzelte die Stirn. Die Straßen waren voll von falschen Pilgern, die einem mitleidigen Wirt die Kehle durchschnitten! Und die beiden Gestalten in ihren schäbigen Umhängen machten keinen Vertrauen erweckenden Eindruck.
„He, ihr da, wartet!“ rief er hinab, dann trat er in den Turm und stieß den dösenden Waffenknecht an.
„Zwei Fremde bitten um Quartier. Lauf zu Madame Ghislaine und frag nach ihren Anweisungen!“
Schlaftrunken stolperte der junge Mann über die Stufen zum Hof.
Vor der Kammer der Gräfin schlief ihre Zofe. Sie schreckte mit einem Kreischen hoch, als der Waffenknecht sie an der Schulter rüttelte. „Heilige Jungfrau-“
„Irgendwelches Gesindel ist vor dem Tor und bittet um Obdach! Hol‘ die Herrin!“ Ächzend und schnaufend schlurfte die Zofe zur Tür.
Wenig später eilte Ghislaine dem Waffenknecht nach.
„Ich würde sie nicht einlassen, Madame Gräfin, wenn Ihr mir erlaubt, das zu sagen“, empfing sie der Wächter. „Seht, die führen gewiss nichts Gutes im Schilde!“
„Nein, lass die Zugbrücke herunter! Ich kümmere mich um die beiden!“
Der Torwächter seufzte. Madame Ghislaine würde in ihrer Güte dem Teufel selber Obdach gewähren! Kopfschüttelnd schaute er zu, wie sie den Fremden entgegenlief.
Erkennend, wer da um Gastrecht ersuchte, griff sie erschrocken in die Zügel des Pferdes.
„Jocelin!“
„Leise!“ warnte er. „Es soll niemand wissen, dass ich hier bin! Bringt uns an einen Ort, wo wir ungestört sind, Madame!”
Ihr Blick glitt über den zusammengesunkenen Körper vor ihm auf dem Sattel. Sie nickte. Dann huschte sie zum Palais, stieß eine Tür auf und verschwand in der Dunkelheit. Es dauerte eine Weile, ehe es ihren klammen Händen gelang, eine Kerze anzuzünden. Schließlich winkte sie.
„Was ist passiert?“
„Söldner. Sie erwischten uns kurz vor der Abzweigung nach Paris. - Holt mir noch ein paar Kerzen,  heißes Wasser und etwas zum Verbinden!”
Ghislaine rannte zur Küche. Sie dankte Gott, dass die Knechte den Ofen schon angeheizt hatten. Hastig schob sie Holz nach und hing einen Wasserkessel über das Feuer. Aus einer Truhe suchte sie die frische Tischwäsche und zerriss sie in lange Streifen. Sie hatte Angst, dass irgendjemand sie überraschen könnte, oder Jocelin entdecken... Und doch war sie so glücklich, ihn wieder zu sehen, dass sie fürchtete, man könne ihr diese Freude ansehen.
Wenig später kniete sie neben dem Ordensbruder.
„Ihr müsst mir helfen, Ghislaine, bitte! Haltet ihn fest!“
Jocelin tastete nach der eingedrungenen Pfeilspitze und machte einen tiefen Schnitt entlang des Schaftes. Der Verletzte stöhnte und bäumte sich auf.
„Festhalten, Ghislaine!” stieß Jocelin zwischen den Zähnen hervor. Er bekam die Pfeilspitze zu fassen, riss sie aus dem Fleisch.
Ghislaine schluckte heftig, als sie das Blut über seine Hände spritzen sah und bemühte sich, ihre aufsteigende Übelkeit unter Kontrolle zu bringen.
Rasch presste er einen Wergballen auf die Wunde und knotete einen Leinenstreifen darüber. Mit noch zitternden Händen reichte Ghislaine ihm die restlichen Binden zu.
„Ihr seid eine tapfere Frau... Ich bitte Euch um Vergebung für die Unannehmlichkeiten. Aber Bruder Arnaud brauchte dringend Hilfe. Er hätte es nicht mehr bis zu unserem Lager geschafft.”
„Nein, nein, es ist nicht schlimm,” entgegnete sie mit einem matten Lächeln, zog ihren Umhang aus und breitete ihn über den Verwundeten. „Habt Ihr mit Erzbischof Gregor sprechen können?”
„Ja. Aber er konnte uns nicht helfen. - Oder wollte es nicht. Wie alle. Aber ... wir haben noch mehr Brüder getroffen, die der Verhaftung voriges Jahr entronnen sind. Sie haben sich uns angeschlossen. Wenigstens etwas, das die Reise nach Tours gebracht hat.“

Widerwillig öffnete Floyran die Tür. Aber als er den Besucher erkannte, schob er ihn eilig ins Haus. Es war einer der Männer von La Blanche, die er gekauft hatte.
„Jocelin von Judäa ist wieder da“, sagte er.
„Bist du sicher?“
„Ja, Sire. Er kam diese Nacht. Mit noch einem. Ich habe sie genau gesehen. - Was ist mit meiner Belohnung, Sire?“
Er streckte Esquieu de Floyran herausfordernd die Hand entgegen. Der lachte.
„Sire, ich habe ein Pferd zuschanden geritten, um Euch die Nachricht zu bringen!“
„Was interessiert mich dein verdammter Gaul!“ Floyran packte den Mann am Gewand. „Ich bezahle dich, wenn der Templer vor dem Inquisitor steht!“ zischte er. „Und hüte dich, ihn zu warnen, das sag‘ ich dir! Du weißt, was mit denen geschieht, die den Templern helfen!“
Esquieu de Floyran machte eine bezeichnende Handbewegung. „Ein Wort an König Philipp genügt, und du hängst! - Verschwinde!“
Die Neuigkeit von Jocelins Anwesenheit auf La Blanche versetzte Esquieu de Floyran in einen Zustand freudiger Erwartung. Er befahl die übrigen seiner Angeheuerten zu sich.
„Holt eure Waffen und macht die Pferde bereit!”
„Gehen wir auf die Jagd, Sire?“
„Oh ja...“ erwiderte Floyran und strich lächelnd über die Klinge seines Schwertes.
Während seine Männer in den Stall hinuntergingen, schnallte er den Schwertgurt um die Hüften, schob einen Dolch unter das Hemd und einen weiteren in den linken Stiefel.
Wenig später war er mit seinen Kumpanen unterwegs. Je näher er den Besitzungen der Gräfin von Montfort kam, desto häufiger begegneten ihm königliche Söldner. Offenbar hatten sie bisher keinen Erfolg gehabt, dachte er schadenfroh.
„He, Messire, woher kommt ihr?” rief ihm einer der Männer zu.
„Aus Paris.”
„Habt Ihr irgendwelche verdächtigen Leute gesehen? Wir sind auf der Suche nach einem Haufen flüchtiger Templer.”
Floyran tat, als überlege er. Dann wies er in die Richtung der Seine.
„Auf einem Floß habe ich ein paar Männer gesehen. Gut möglich, dass sie es waren.”
„Danke, Messire!” Der Söldner gab seinen Leuten den Befehl, ihm zum Fluss zu folgen.
Floyran nickte selbstgefällig. Auf keinen Fall sollten ihm die Söldner irgendwie in die Quere kommen! Er brauchte freie Hand!
Im Burghof herrschte die Betriebsamkeit der Morgenstunden, und so merkte Ghislaine nicht, wie ihr ein Mann folgte. Hinter dem Taubenturm griff er nach ihrem Arm. Sie drehte sich um und blickte in ein knochiges Gesicht mit wildem Bart. Der Mann drückte ihr ein klein zusammengefaltetes Pergament in die Hand. Bevor sie ein Wort sagen konnte, war er wieder durch das Tor verschwunden. Verwirrt schlug sie das Pergament auf - und kehrte mit nur mühsam gezügelten Schritten zu den beiden Ordensbrüdern zurück.
Jocelin las zweimal die ungelenken Zeilen.
„Wir haben eine Botschaft von Papst Clemens. Kommt zum Kreuz von Jalouses.“
„Wie sah der Mann aus, der Euch das gegeben hat, Madame?“
„Groß, ziemlich verwahrlost, mit blondem Bart. Er trug einen ledernen Waffenrock.“
Nachdenklich betrachtete Jocelin den seltsamen Brief. Die Beschreibung konnte auf Bruder Raoul aus Provins passen. Aber wie sollte er an eine Botschaft von Papst Clemens gekommen sein? Und vor allem, woher sollte er wissen, dass ER hier war? Louis hatte vermutlich gerade erst ihren Schlupfwinkel in Fontainebleau erreicht. Und einer der anderen Brüder aus Jean de Saint-Florents Gefolgschaft? Wer von ihnen konnte überhaupt schreiben? Und warum hatte er ihm die Nachricht nicht selbst überbracht, anstatt die verräterischen Worte dem Pergament anzuvertrauen? War ihm irgendeiner der Söldner gefolgt? Doch weshalb sollte er sich die Mühe machen, eine Nachricht zu fälschen, anstatt seine Truppe zu alarmieren? Nichts passte zusammen! Aber wenn es wirklich eine Nachricht von seinen Ordensbrüdern war, würden sie glauben, ihm sei etwas zugestoßen, wenn er nicht erschiene...
So entschloss sich Jocelin letztlich, auf das Treffen einzugehen, obwohl er sich große Sorgen um Arnaud machte. Nur kurz hatte sein Pflegevater das Bewusstsein wiedererlangt, hatte versucht zu sprechen, aber ehe es ihm möglich gewesen war, Worte zu finden, hatte die Ohnmacht ihn wieder mit sich gerissen. Solange er denken konnte, war Arnaud stets derjenige gewesen, der ihn beschützt und beschirmt hatte; er hatte ihn ausgebildet, ihm alles gelehrt, was er wusste. Den alten Ordensritter nun so hilflos daliegen zu sehen, gab ihm ein Gefühl der Ohnmacht, und der Gedanke, dass ihn königliche Söldner dahin gebracht hatten, ließ Zorn in ihm aufschlagen.
Die Kapuze tief in das Gesicht ziehend wandte sich Jocelin von Arnaud ab.
„Ihr werdet also gehen?“ fragte Ghislaine. „Und was geschieht, wenn … Euch etwas zustößt?“
‚Wenn es eine Falle der Inquisition ist’ – das kam ihr nicht über die Lippen. Es war ihr geradezu, als würde sie damit das Böse herbeirufen!
„Ich muss gehen. Ich bitte Euch nur … sorgt für Sire Arnaud. Sobald es ihm besser geht, gebt ihm Euer schnellstes Pferd und empfehlt ihn Gottes Gnade!“
Sie nickte, und er verließ die kleine Kammer mit eiligen Schritten.
Ghislaine blickte ihm mit sehr gemischten Gefühlen nach. Sie konnte nicht genau beschreiben, was ihr Angst machte, aber irgendetwas stimmte nicht... Für einen Augenblick erwog sie, ihm hinterher zu laufen und ihn aufzuhalten. Aber nein, das war kindisch! Und... es hätte zu viel Aufsehen erregt. Sie umklammerte das Kreuz um ihren Hals und ihre Lippen begannen ein lautloses Gebet zu formen...
Schon bald erreichte Jocelin das Wegkreuz, das die Abzweigung der alten Straße nach Poitiers markierte. Hier war er letzte Nacht abgebogen. Plötzlich bewegte sich der dunkle Schatten am Stamm des Kreuzes, und der Ordensbruder erkannte einen Mann im Gewand der Aussätzigen.
„Helft mir! Ach, helft mir doch!“ krächzte er.
Jocelin stieg aus dem Sattel, trat auf ihn zu.
„Ah, Sire, helft mir!“ Der Mann streckte ihm seinen verbundenen Arm entgegen. Als der Templer sich zu ihm beugte, schnellte er nach vorn. Blitzschnell hatte er den Hals des Ordensbruders umklammert. Jocelin versuchte sich von ihm zu befreien, da stieß ihm ein zweiter Mann das Knie in den Rücken. Ein harter Griff riss seine Arme nach hinten. In unerreichbarer Ferne klirrte sein Schwert auf den Stein. Lederriemen schnürten seine Handgelenke zusammen. Dann lockerte sich der Griff um Jocelins Hals. Er wurde gepackt und auf die Füße gezogen. Seine Augen tasteten sich über ein Paar schwarzer Stiefel und einen roten Mantel zu einem lächelnden Raubvogelgesicht.
„Floyran!!!“  
„Es freut mich, dass Ihr meiner Einladung gefolgt seid, beau frère!”
Er holte aus und schlug ihm ins Gesicht.
„Wenn er zu fliehen versucht, gebt ihm eins über den Kopf!” wandte er sich an seine Männer. Aber seid vorsichtig, vergesst nicht, dass der Inquisitor auch noch seinen Spaß mit ihm haben will!“
Hilflos musste Jocelin mit ansehen, wie Esquieu de Floyran sein Schwert aufhob, sich auf den Rücken seines Pferdes schwang und sich Richtung La Blanche in Galopp setzte.
Selbstsicher ritt er kurz darauf in den Burghof, stieß den Knecht nieder, der ihn aufhalten wollte und schritt ins Palais hinauf.
Die Zofe sah empört von ihrer Näharbeit auf, als er in Ghislaines Gemach marschierte.
„Was erlaubt Ihr Euch?!“ rief die Gräfin zornig und sprang auf.
„Schickt das Weib raus!” fuhr er sie lediglich an und deutete auf die Zofe.
Ghislaine nickte ihr zu. „Geh, Jeanette!”
Floyran schlug die Tür hinter ihr zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.
„So, und jetzt werdet Ihr mich anhören, Madame, wenn Euch etwas an Eurem kleinen Templer liegt!“ Er warf ihr das Schwert vor die Füße und sie erkannte Jocelins Waffe.
“Was habt Ihr mit ihm gemacht?“
„Noch ist ihm nichts geschehen, Madame Ghislaine. Es liegt an Euch, ob ich ihn der Inquisition ausliefere!“
„Wo ist er jetzt?“
„Bei meinen Männern am Wegkreuz.“
Ihr war, als hörte sie eine Fremde sprechen: “Wie viel Gold wollt Ihr?“
„Gold?“ Esquieu lachte. „Ich will Euch!“
„Ihr seid ja verrückt!  König Philipp würde einer solchen Verbindung niemals zustimmen!“
„O doch, das wird er…“ erwiderte er in Gedanken. „Wenn ich ihm den Anführer der flüchtigen Templer präsentiere. Erst werde ich zusehen, wie sie ihn langsam über dem Feuer rösten… und dann werde ich mich mit dir vergnügen…“
„Woher weiß ich, dass ich Euch vertrauen kann? Das... Sire Jocelin überhaupt noch am Leben ist?“
Esqieu de Floyran ließ seine Hand über Ghislaines Nacken gleiten. „Ich bin ein Edelmann. Ihr habt mein Wort. Sobald Ihr meine Frau seid, schenke ich dem Templer seine erbärmliche Freiheit. Aber überlegt nicht zu lang. Meine Männer könnten sonst den Drang verspüren, ihre Pflicht gegenüber der Kirche zu tun. Und in diesem Fall werdet Ihr den Templer nie wiedersehen. - Jetzt lasst mir etwas Wein bringen. Das Warten auf dem Weg hat mich sehr durstig gemacht!”  Er ließ sich auf einer Bank nieder und zog seine Handschuhe aus. „Ach ja, und Ihr könntet schon mal nach einem Geistlichen schicken…“
Ghislaine kämpfte gegen ihr Zittern an, während sie Esquieu de Floyrans Weinpokal nachfüllte.
„Ihr seid eine vorzügliche Gastgeberin, Madame. Wir werden einen glänzenden Hof halten in Paris!“
Sie wich seinen glühenden schwarzen Augen aus. Noch nie waren ihr die Fabelwesen auf den Gobelins ringsum so bedrohlich erschienen. Krallenbewehrte Pranken, gefletschte Zähne, selbst die Blumenranken bildeten ein Gewirr von Dornen. Die Wandteppiche erzählten die Geschichte der Gralssucher. Eine Prinzessin war zu sehen, die mit ängstlich erhobenen Händen den Kampf zweier Ritter beobachtete. Einen von ihnen hatte der Künstler schwarz dargestellt, den anderen weiß.
Ghislaine musste an Jocelins Ritt in das Turnier denken. Ihre Hände umklammerten den Fuß der Weinkaraffe. Sie kannte den Ausgang des Streites auf dem Gobelin. Der weiße Kämpfer siegte, weil ihm die anderen Gralsritter zu Hilfe kamen.
Die anderen Gralsritter? Die Templer von Fontainebleau!
„Sire Floyran, erlaubt Ihr, dass ich mich für einen Augenblick entferne?” fragte sie, bemüht, ihrer Stimme einen leichten Klang zu geben.
„Ja. Aber versucht keine Finte! Denkt immer an Euren kleinen Templer draußen am Wegkreuz!”
Ghislaine rannte zur Kammer ihrer Zofe.
„Ist Yvo schon von der Jagd zurück, Jeanette?”
„Ja - Madame, was -”
„Ich habe keine Zeit, es dir zu erklären! Lauf’ und hol’ Yvo!”
Ein paar Minuten später stand ihr Sohn vor ihr, barfuss und mit halb offenem Hemd, weil er sich gerade hatte waschen wollen. „Was ist los?“
„Yvo, hör mir zu! Mein Junge...“ Himmel, wo sollte sie anfangen?! Es blieb so wenig Zeit!
„Mutter? Was ist passiert?“
„Es geht um... um Sire Jocelin. Er braucht unsere Hilfe, deine Hilfe...“
„Sire Jocelin?“ Yvo verzog das Gesicht. Er hatte es seinem Lehrmeister immer noch nicht verziehen, dass dieser ganz einfach bei Nacht und Nebel verschwunden war. „Warum sollte der MEINE Hilfe brauchen? Für ihn war ich doch nur ein Faulpelz und Nichtskönner!“
Ghislaine fasste ihren Sohn an den Schultern und blickte ihn verzweifelt, beschwörend an. „Du bist beinahe erwachsen, Yvo. Ich werde dir etwas sehr wichtiges sagen. Etwas, was du nicht weitererzählen darfst, um unser aller Leben willen nicht! Versprichst du mir das und wirst du mir helfen?“
Jetzt nickte der Junge, bemerkend, dass es wohl wirklich um eine große Sache ging.
„Gut. Du weißt, dass die Templer im Königreich verhaftet wurden, nicht wahr?“
„Ja, natürlich! Wegen -“
„Hör mir zu, Yvo! Bitte!“ Sie zog ihren Sohn nahe zu sich, so dass kein eventueller Lauscher an der Tür ihre hastig geflüsterten Worte verstehen konnte...
Es hat sehr lang gedauert, Madame Ghislaine“, Das einfallende Sonnenlicht spaltete Floyrans Gestalt, während er durch den Saal spazierte.
War da ein Hauch von Misstrauen in seiner Stimme? Bei Gott, wenn er jetzt aus dem Fenster blickte, würde er Yvo mit Jocelins Schwert durch das Burgtor galoppierten sehen!
Er nahm ihr Gesicht in die Hände und kam ihr ganz nah.
„Ihr seid die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Es war eine Schande, Euch jahrelang in diese schwarzen Gewänder einzuschließen. Damit ist jetzt Schluss!” Er löste den schwarzen Schleier und schob ihre Haube zurück.
In den Falten des Kleides ballte Ghislaine die Hände zur Faust. Ihr Herz schlug zum Zerspringen. Aber sie musste ihn so lange wie möglich auf La Blanche festhalten! So lange wie möglich! Darum ertrug sie seine gierigen Finger, als sie die Verschnürung ihres Kleides aufrissen. Sie schrie nicht, als er sie niederdrückte und sich über sie warf.

„Er ist ein Rekonziliarisierter! Ich  denke nicht daran, mit ihm aus einer Schüssel zu essen!” schrie Bruder Raimond und funkelte den ihm gegenübersitzenden Ordensbruder, einer der damals aus Provins Geretteten zornig an. „Er ist ein verdammter Verräter! Es ist schlimm genug, dass er und seinesgleichen hier mit uns leben müssen!”
„Ihr habt kein recht, so mit Euren Brüdern zu sprechen!” rief Jean de Saint-Florent.
„Gott weiß, wie sie uns gezwungen haben, zu gestehen!” verteidigte sich Kaplan Helias. „Ich lag Wochen in einem Graben, an Händen und Füßen gefesselt!”
„Andere von uns hat man auch gefoltert, und sie haben trotzdem nicht gestanden! Ich war auch im Kerker! Trotzdem habe ich den Orden nicht erfundener Verbrechen angeklagt!”
„Ihr seid auch eher befreit worden!”
„Willst du nun auch noch Komtur Jocelin die Schuld an deiner Feigheit geben, Verräter?!” Raimond war aufgesprungen. Er packte den zurückweichenden Ordensbruder am Gewand, ließ ihn aber dann mit einem knurrenden Geräusch los.
Jean runzelte die Stirn. Der junge Mann hatte eine Disziplinierung bitter nötig... Es war nicht das erste Mal, dass es Streit gab, und Raimond war immer vorne an.
Plötzlich verbreitete sich Aufregung im Schlupfwinkel der Ordensbrüder. Einer der Späher, die im Wald patrouillierten, war zurück - und nicht allein! Er hielt das Reittier eines verunsichert blickenden Jungen am Zügel.
„Er schlich draußen herum. Er sagt, er sei Yvo de Montfort und wolle zu den Templern. Was machen wir mit ihm?“
„Ich will -“
„Du hälst den Mund, Bürschchen!“ Nach dem Zusammenstoß mit den königlichen Söldnern gestern war man in allerhöchster Alarmbereitschaft.
„Laufen lassen ist zu gefährlich, er könnte uns verraten“, meinte einer der Brüder und betrachtete den Jungen argwöhnisch.
„Ich habe das Schwert! Das Schwert von Sire Jocelin!“ rief Yvo jetzt und streckte mit beiden Händen die Waffe nach vorn. „Meine Mutter schickt mich, von La Blanche!“
Jean de Saint-Florent nahm die Waffe entgegen. Das war Jocelins Klinge ... oder, zumindest ein Schwert des Ordens, wie das eingravierte Signum deutlich machte.
„Von La Blanche… soso.”
„Mutter sagt, man habe ihn in einen Hinterhalt gelockt! Ich sollte zu Euch reiten und Hilfe holen! Wieso glaubt Ihr mir nicht?!“
„Wenn er die Wahrheit sagt…sollten wir uns beeilen“, murmelte Ranulf.
„Und wenn er lügt?“
Jean gebot den Stimmen mit einer Handbewegung Einhalt. Seine Entscheidung war gefallen. „Wenn wir nicht riskieren wollen, dass Sire Jocelin im Kerker des Königs landet – und das will ICH nicht, beim Blut Christi! – sollten wir uns schleunigst auf den Weg machen! Wer Angst hat, kann sich hier verkriechen, wer mich begleiten will – holt eure Waffen!“
Näher und näher rückte das steinerne Wegkreuz. Floyran lächelte stolz und siegessicher. Ghislaine zog unwillkürlich die Zügel an. Sie fühlte sich erschöpft, gedemütigt, beschmutzt.
Nun vermochte sie bereits die verwitterte Christusgestalt auf dem Kreuz zu erkennen. Ihr stummes Gebet war ein verzweifelter Aufschrei, den Floyrans Stimme durchbohrte wie ein Schwert.
„Folgt mir, Madame Ghislaine! Ihr sollt sehen, dass ich Euch nicht belogen habe!” Er lenkte sein Pferd in den Wald und schob das Gestrüpp auseinander.
Ihr Blick fiel auf Jocelin. Er hing einige Fußbreit über dem Boden an einem Ast, geknebelt und gefesselt. Als er sie gewahrte, spannte sich sein Körper im vergeblichen Versuch, sich zu befreien.
„Floyran, Lasst ihn herunter!“
„Aber das wäre doch sehr unklug von mir, Madame, ihm jetzt Gelegenheit zur Flucht zu geben! Ihr könntet es Euch noch anders überlegen... Wenn der Priester den Segen über uns gesprochen hat, schicke ich einen meiner Leute. - Nur keine Angst, Madame, er wird es schon überleben! Die Templer sind zähe Burschen!“
Er weidete sich an dem Schmerz und der Angst der beiden Menschen in seiner Gewalt. Sein Genuss bahnte sich in einem Grinsen den Weg nach draußen.
„Nun, edler Bruder,” begann er langsam, dabei um Jocelin herum wandernd. “Ihr seht, wohin die niedrigen Begierden führen... Aber - Euer Geschmack war nicht schlecht, das gebe ich zu.” Seine Augen glitten über Ghislaine und dann wieder zurück zu seinem Gefangenen. „Die Sarazenen würden ein Vermögen zahlen für diesen Leib... ah, und so willig… Ich könnte Euch in allen Einzelheiten...“
Floyrans Rede endete in einem schrillen Kreischen.
Zwischen seinen Fußspitzen federte ein Pfeil in der Erde. Er stolperte zurück, riss das Schwert aus der Scheide. Sein hastiger Blick umfasste ein halbes Dutzend Männer, die aus dem Unterholz traten. Er fuhr herum, sah gerade noch, wie seine beiden Söldner sich davonmachten. „Ihr feigen Schweine!“ brüllte er, außer sich vor Wut, die in nackte Angst umschlug.
„Weg mit dem Schwert!“ forderte eine Stimme. Vom Gesicht des Sprechers waren nur die dunklen Augen zu erkennen.
Esquieu schleuderte ihm die Waffe vor die Füße. Noch in der Bewegung nahm er die Gräfin wahr, die Jocelin zu erreichen suchte. Seinen Dolch packen und sie an sich reißen waren eins. Ghislaine schrie auf, als sie die Klinge an ihrer Kehle spürte.
„Nun sieht es etwas anders aus, nicht wahr?“ Floyran lachte krampfhaft. „Macht bloß eine Bewegung und sie ist tot!“
Die Frau eng an seine Seite gepresst, zog er sich Schritt für Schritt zu seinem Pferd zurück.
Jocelins und Ghislaines Blick kreuzten sich, ein Moment voller Qual und Schmerz, der sich wie ein glühendes Brandeisen in sie senkte. Ihre zitternde rechte Hand fühlte den Silberbeschlag des Dolches an ihrem Gürtel.
Floyran schob sie gegen den Sattel. „Hoch mit dir, du Schlampe!“
In dieser Sekunde handelte Ghislaine, ohne noch zu denken. Sie umklammerte die zierliche Waffe, ihr Arm fuhr herum und sie stieß zu. Floyrans Augen weiteten sich in ungläubigem Entsetzen. Er öffnete den Mund, aber statt Worte quoll nur Blut über seine Lippen. Sein Griff lockerte sich, und einen Moment später sackte er vor ihr zusammen. Ghislaine wich zurück, geschockt. Erst jetzt begriff sie wirklich, was sie getan hatte. Mit einiger Mühe drehte sie den Kopf zu Jocelin, Halt und Hoffnung suchend und trotzdem halb Abscheu in seinen Zügen erwartend.
Einer der Brüder war gerade dabei, ihn los zu binden. Kaum war er frei, eilte er zu ihr. Als Ghislaine seine Hände auf den Schultern fühlte, hatte sie plötzlich keine Kraft mehr, sich aufrecht zu halten. Alles drehte sich um sie.
„Ghislaine… Ghislaine, was hat er Euch angetan?!” Jocelin grub die Hände in ihr windzerzaustes Haar und starrte auf den zusammen gekrümmten Leichnam Floyrans.
„Wichtig ist…“ flüsterte sie heiser, um ihre Fassung kämpfend, “wichtig ist nur, dass Ihr lebt … in Freiheit seid, …und die Welt von diesem Teufel befreit...”
Sie löste sich von Jocelin und wandte sich an die anderen Ordensbrüder. “Wo ist mein Sohn?“
„Hinten bei unseren Pferden.” entgegnete Bruder Jean.
„Yvo?” fragte Jocelin erstaunt. „Yvo ist hier?”
„Er war es, der Eure Brüder geholt hat.”
Großer Gott! Jetzt hatte er auch den Jungen mit hineingezogen! Und Ghislaine war  um seinetwillen zur Mörderin geworden! Er wusste mit einem Mal nicht mehr, ob er Floyran oder sich selbst mehr hasste.
Jean de Saint-Florent berührte seinen Arm, und er schrak zusammen. „Wir sollten sehen, dass wir hier fortkommen! Wer weiß, ob Floyrans Männer nicht mit Verstärkung auftauchen!“
„Ja. Ihr habt recht!“
Eine knappe halbe Stunde später sahen sie wieder die weißen Mauern von La Blanche durch die Bäume schimmern.  Wie unschuldig... Das ‚Himmlische Jerusalem‘...
Jocelin wies seine Ordensbrüder an, im Schutz des Waldes zu warten, bis er mit Arnaud zurückkehrte. Diesmal wollte er offen in die Burg einreiten. Kannten ihn nicht die Meisten von Ghislaines Dienstleuten noch als den Ritter aus Outremer, Lehrer des jungen Grafen? Es würde nichts besonderes sein, ihn jetzt wieder an Yvos Seite zu sehen...
Zunächst achtete in der Tat niemand von den Dienstleuten auf sie. Doch auf einmal klang ein Ruf, alle anderen Stimmen übertönend: „Dort ist der Templer!“
Und dutzende Augenpaare folgten einem ausgestreckten Arm und blieben an Jocelin haften.
„Wer hat dir das gesagt?“ fuhr Ghislaine den Sprecher an, ehe die plötzliche Stille zu einem verräterischen Schweigen wurde. Über ihr eben noch blasses Gesicht hatte sich zornige Röte gebreitet.
„Sire Esquieu de Floyran, der Bote seiner Majestät!“ Der Mann stemmte die Arme in die Hüften. Wenn Floyran ihn nicht bezahlen wollte, würde er eben auf eigene Weise für seine Belohnung sorgen! Der Bischof, der Papst, vor allem aber König Philipp boten gewiss reichlich Gold für jenen Mann auf dem Pferd neben der Gräfin!
„Sire Esquieu war kein königlicher Bote!“ entgegnete Ghislaine, hoffend, dass ihre Worte fest genug klangen, obwohl sie am ganzen Körper zitterte. „Und Sire Jocelin ist kein Templer! Wie kommst du nur auf solch einen haarsträubenden Unsinn?! Du solltest nicht mehr so lange im Wirtshaus hocken!“ Gedämpftes Kichern kam von irgendwo aus ihren Leuten.
„Genug jetzt! Macht euch wieder an die Arbeit! Los, Schluss mit dem Maulaffen feilhalten!“
Gefolgt von Jocelin und Yvo schritt Ghislaine die Treppe zum Palais hinauf. In ihren Gemächern angelangt lehnte sie sich mit einem erleichterten Seufzer gegen die Wand. Mit einiger Mühe widerstand sie dem Drang, ihrer Erschöpfung nachzugeben und sich einfach auf die Fensterbank fallen zu lassen.  Heilige Muttergottes, was hatte sie getan?! Nein, nicht darüber nachdenken, befahl sie sich. Nicht jetzt! Es gab noch so vieles zu erledigen! Ihr Blick streifte Yvo. Der Junge durfte nie davon erfahren, nie!
„Yvo?“
„Ja, Mutter?“
„Geh‘ hinunter und sage dem Küchenmeister, er solle das Nachtmahl herrichten. Und wenn dich jemand nach Sire Jocelin fragt, erzähle, dass er mir nur einen Brief von Erzbischof Gregor von Rouen gebracht hat, und heute noch weiter reitet!“
Yvo nickte hastig und wollte zur Tür, aber Jocelin hielt ihn zurück. „Was du heute getan hast, davor wären viele Männer zurückgeschreckt. Ich danke dir, und ich werde es dir nie vergessen. Aber du darfst keinem von dem erzählen, was du gesehen hast, was hier geschehen ist! Nicht einmal deinem besten Freund. Niemandem, verstehst du?”
Yvos Traum von langen Heldenerzählungen vor seinen Freunden schmolz dahin. „Ich kann schweigen!” entgegnete er fast trotzig. „Was denkt Ihr? Das ich ein Milchkind bin?“
„Ein einziges Wort, Yvo, kann dir oder deiner Mutter den Kerker einbringen... oder Schlimmeres!”
„Ich werde schweigen! Ich schwöre es!”
Jocelin klopfte ihm stumm auf die Schulter und hatte ein elendes Gefühl dabei. Der Junge war sich nicht im Mindesten im Klaren darüber, was dieses Schlimmere bedeutete! Aber vielleicht war das gut so… Er wollte noch etwas sagen, aber seine Mutter scheuchte ihn mit einem neuerlichen „Nun geh schon!“ hinaus.
Dann beugte sie sich über eine große, mit Kupferbeschlägen verzierte Truhe, die unter dem Fenster stand. Der Duft von Lavendel verbreitete sich im Raum, als sie den Deckel hob. Vor Jocelins erstaunten Augen nahm sie zwei Hemden heraus, ein fein gearbeitetes Lederwams und einen dunkelgrünen Mantel mit sizilianischen Stickereien. Die Sachen hatten ihrem Gemahl gehört. Was sollten sie jetzt noch länger hier liegen und auf den Mottenfraß warten?!
„Zieht das an, Sire Jocelin. So werdet Ihr den Söldnern weniger verdächtig erscheinen!”
„Danke...Ah, das ist das Gewand eines Fürsten!” Seine Finger glitten über den weichen Stoff; er hatte noch nie derart kostbare Kleidung besessen…
“Ghislaine, wie soll ich Euch das je vergelten?“ Es ging ihm nicht um dieses Gewand, um das Geld, das sie ihm gegeben hatte damals für die Reise nach Tours. Aber der Gedanke, dass Floyran seine gierigen Finger an sie gelegt hatte, machte ihn geradezu rasend. Er streckte die Hand nach ihr aus, aber sie wich zurück.
“Ich gehe Euch noch etwas Proviant einpacken“, versprach sie. „Wir treffen uns unten in der Kammer bei Bruder Arnaud!“
Jocelin schob den Arm unter Arnauds Kopf und versuchte, ihm etwas von der Brühe einzuflößen, die Ghislaine eben gebracht hatte.
„Ich könnte zum Kloster schicken, dass man einige stärkende Mittel bereitet,” erbot sich die Gräfin, aber Jocelin schüttelte den Kopf.
„Es sind schon genug Leute, die von unserer Anwesenheit auf La Blanche wissen und Verdacht schöpfen können. Die königlichen Söldner sind noch überall; sie wissen, dass sie einen von uns verwundet haben. Ein unbedachter Hinweis kann sie leicht auf unsere Spur bringen! Und Floyrans Kumpane! Nein, wir müssen noch heute wieder fort!”
„Aber glaubt Ihr, dass er schon in der Lage ist zu reiten? Jocelin, wartet wenigstens noch einen Tag! So leicht wird man nicht wagen, La Blanche zu durchsuchen!” Vorhin hatte sie sich fast gefürchtet, mit ihm allein zu sein, aber in diesem Moment hätte sie alles darum gegeben, ihn wenigstens noch ein paar Stunden hier zu behalten.
„Nein, es ist zu gefährlich! Ich will nicht, dass Ihr oder einer Eurer Leute in den Kerker geschleppt werdet!“
Vorsichtig hob er Arnaud in den Sattel seines Pferdes, stieg dann hinter ihm auf und nahm den Proviantbeutel entgegen, den Ghislaine ihm hinhielt.
Es widerstrebte ihm, sie so zurückzulassen, nichts für ihre Sicherheit tun zu können, sondern sich im Gegenteil davon machen zu müssen wie ein feiger kleiner Dieb! Er suchte nach Worten, fand aber keine, und schließlich war es Ghislaine, die die Stille brach: „Ich werde jeden Tag beten, Euch gesund wieder zu sehen!“
„Ihr solltet …vielmehr beten, dass sich unsere Wege nie mehr kreuzen, Madame. Ich habe Euch genug Angst und Leid gebracht! Ich werde ... Buße tun, für alles!“ Jocelin griff die Zügel seines Pferdes und lenkte das Tier zum Tor. Ohne sich noch einmal umzuwenden, verließ er die Burg. 

Arnaud lag halb aufgerichtet auf seinem Lager am Eingang der Höhle und wandte sich Jocelin zu, der sich soeben neben ihm niedergelassen hatte. Dem alten Ordensbruder ging es allmählich besser, auch wenn er noch immer recht schwach war. Aber zum Glück hatte sich die Wunde nicht entzündet.
„Nun, hast du das Pergament und das Schreibzeug, Jocelin?“
„Ja. Hat ein halbes Vermögen gekostet, aber ich habe es. - Arnaud, damals, als Ihr verwundet wurdet, wolltet Ihr mir etwas erzählen. Etwas, was Euch offenbar sehr wichtig war! Ihr sagtet, bevor Ihr sterbt, müsse ich es wissen!“
Arnaud schüttelte den Kopf. „Ich kann mich nicht mehr erinnern, was mir da durch den Kopf gegangen ist. Ich war ja nicht recht bei mir. … Bruder Guy sagte mir, dass Floyran tot sei?“
„Ja. Ist er.“
„Hast du es getan?“
„Nein. Ghislaine. Ghislaine hat ihm den Dolch ins Herz gestoßen. Aber ich wünschte, ich hätte es getan! Jeder andere, nur nicht SIE! “
Arnauds Hand legte sich auf seinen Arm. „Du bist voller Aufruhr, voller Feuer, voller Hass. Das ist nicht gut, Jocelin.“
„Und? Warum sollte ich es NICHT sein?! Dieser Verfluchte hat uns so viel Leid, so viel Tod gebracht! Er war es, der mit den falschen Anschuldigungen beim König vorstellig wurde! Und… und er hat Ghislaine vergewaltigt! Diese widerliche Ratte!“
„Ghislaine…“ wiederholte Arnaud langsam und ließ die Hand vom Arm seines Ordensbruders sinken. Seine Gedanken schienen abzuschweifen, doch dann sagte er: „Das gleiche Feuer und die gleichen Leidenschaften haben deinen Vater zugrunde gerichtet, Jocelin. Ich will nicht, dass du seinem Weg folgst.“
„Mein Vater? Ihr habt mir erzählt, er starb bei einem Angriff der Sarazenen. Damals bei der Belagerung von Akkon…“
„Ja… Aber vorher… töteten ihn seine Leidenschaften. Ich kannte ihn gut, und ich habe gesehen, wie sie ihn zerstörten.“
„Warum habt Ihr ihn dann nicht davon abgehalten?“ Jocelin war in so gereizter Stimmung, dass die Worte wie eine Anklage klangen.
„Weil er zu sehr damit beschäftigt war, auf sich selbst zu hören, um irgendetwas anderes wahrzunehmen.“ Er seufzte und wechselte das Thema, ehe sein junger Ordensbruder eine weitere Frage stellen konnte: „Bist du bereit zu schreiben? Ich diktiere dir die päpstlichen Privilegien in chronologischer Reihenfolge. Ich hoffe, ich werde keines vergessen!“
Schon wenige Tage später stellten die neuen Nachrichten, die die Templer erreichten, die mühevolle Arbeit Jocelins und Arnauds in Frage, eine Verteidigungsschrift aufzusetzen. Papst Clemens hatte die Suspension der Inquisition aufgehoben, vor nunmehr zwei Wochen schon.
Der Heilige Vater hatte sie verraten! Er hatte die Templer im Stich gelassen! Was nützte da die Berufung einer Kommission, die er so laut verkündet hatte! Was nützte das wahrheitsbeflissenste und rechtschaffenste Gremium, wenn die Zeugen nicht die Wahrheit sagen konnten! Und der Erlass des Papstes verdammte alle Brüder, die ihre ersten erpressten Geständnisse widerrufen hatten, zu neuer Folter oder Tod! Wer würde unter dieser Bedrohung noch bereit sein zur Verteidigung?  Dafür hatten sie Monate gewartet! Für diesen VERRAT!
„Wir schicken unsere Petition dennoch an den Papst und werden ihn bitten, auch die Verteidigung anzuhören”, sagte Jocelin, doch im Stillen verlachte er sich selbst. Briefe, Petitionen, wozu? In Tours hatten sie ihnen nichts genutzt, und jetzt?!
„Die Leute des Königs werden aus allen Gefängnissen Zeugen für die päpstliche Kommission auswählen. Wir können davon ausgehen, dass König Philipp die Absicht hat, jede Verteidigung zu ersticken. Seine Leute werden die schwächsten der Gefangenen aussuchen, jene, die irgendeinen Groll gegen den Orden hegen, die jeden Widerstand aufgegeben haben, die das Meiste gestanden!”
„Wir müssen einen Weg finden, ihnen Mut zu machen, trotz allem“, ergriff Arnaud das Wort. „Unsere Aussagen wird niemand zu Protokoll nehmen, solange die Verteidigung nicht ordnungsgemäß eingefordert ist und jeder als Zeuge auftreten kann. - Für den 25. Juni sind die Zeugen nach Poitiers vorgeladen... Es bleibt uns nicht viel Zeit. Das Beste ist, das sich gleich morgen einige von uns auf den Weg nach Poitiers machen, um die Lage in Augenschein zu nehmen und auf die Zeugen zu warten.”
Echte Reue war ein Werk des Heiligen Geistes, nicht des Inquisitors. Deshalb empfand Guillaume Imbert auch keinen Stolz, als er in den Kerker hinunter schritt. Es war nicht sein, sondern der Sieg Gottes über den Teufel... Am Morgen hatte man ihm gemeldet, dass Komtur Robert von Paris ihn sprechen wollte. Endlich, nach neun langen Monaten! Doch noch während ihm der Waffenknecht die Zellentür aufsperrte, merkte Imbert, dass er sich geirrt hatte. Der Gefangene warf sich ihm nicht um Vergebung flehend vor die Füße. Er stand aufrecht, einen entschlossenen Ausdruck im Gesicht. Anstellte seiner zerfetzten Tunika trug er ein grobes braunes Hemd, aber über den Schultern lag der Ordensmantel.
Inquisitor Imbert durchbohrte dieses offensichtliche Zeichen der Unbußfertigkeit mit einem vernichtenden Blick. Irgendjemand musste ihm den Mantel eines toten oder rekonziliarisierten Bruders gebracht haben! Er würde herausfinden, wer es gewesen war!
„Ich habe gehört, dass Papst Clemens eine Kommission zur Untersuchung über meinen Orden eingesetzt hat“, begann Komtur Robert. „Ich bitte, vor dieser Kommission aussagen zu dürfen.“
„Ihr wollt ein Geständnis ablegen?“ fragte Imbert, obwohl er die Antwort bereits kannte.
„Ich entbiete mich zur Verteidigung des Ordens gemäß den kanonischen Gesetzen!“
„Einem verstockten Ketzer, wie Ihr es seid, kann die Anhörung vor dem Heiligen Vater nicht gestattet werden!“ entgegnete der Inquisitor schneidend und wandte sich zum Gehen.
„Bei der Barmherzigkeit Gottes, bringt mich vor den Papst!“ schrie Robert ihm nach, aber nur Schweigen antwortete ihm. Der Gefangene hob die Augen zu dem Bild des Gekreuzigten, das er in Stunden der Angst und der Hoffnungslosigkeit in den Stein geritzt hatte.
„Du, o Herr, kennst die Wahrheit!“ flüsterte er. „Offenbare sie! Verteidige unseren Orden, Deinen Orden, Herr!“
Es war zu ungewohnter Stunde, dass der Schüssel im Schloss der Kerkertür knirschte. Verwundert erkannte Komtur Robert die vom Fackelschein umrissene Gestalt Tancreds. Der junge Mönch ergriff seine Hände und flüsterte hastig: „Man schickt mich zurück in mein Kloster. Morgen früh muss ich fort.“
„Warum?“ fragte Robert in der schrecklichen Gewissheit, den letzten Freund zu verlieren.
„Weil ich Euch den Ordensmantel gebracht habe.“
Robert wollte Tancred umarmen, aber der junge Mönch stöhnte auf, kaum dass er ihn berührt hatte.
„Imbert hat mich auspeitschen lassen.“
„Was ist das für ein Mensch? Möge Gott ihn strafen!“
Der junge Dominikaner lächelte durch aufsteigende Tränen.
„Jetzt sind wir Brüder, Sire Robert. Brüder im Leid. Ich werde für Euch und den Tempel beten! Das kann Imbert nicht verhindern, und wenn er mich bis ans Ende der Welt schickt! Und die Macht des Gebetes ist groß!“
Stumm standen sich die beiden Männer noch einen Augenblick gegenüber, ehe Tancred den Kerker des Louvre für immer verließ.  

„Der Mund des Gerechten sinnt über die Weisheit nach, und seine Zunge spricht gemäß dem Recht, das Gesetz Gottes ist in seinem Herzen“, schallte der Introitus durch das Gewölbe der Kathedrale von Poitiers.
Eine Wolke von Weihrauch hüllte Papst Clemens und die ihm assistierenden Priester ein. Das farbenprächtige Mosaik der Chorfenster ließ ein überirdisches Licht auf die goldenen Altargeräte und die Gewänder der Priester fallen.
„Kyrie eleison, Kyrie eleison, Kyrie eleison...“ Der Papst stieg hinauf zum Altar.
König Philipp, der der Messe von einer Seitenloge aus beiwohnte, streifte mit eiskaltem Blick die Gestalt des Vikars Christi. Clemens wirkte müde. So müde…
Jocelin und Arnaud hatten sich unter die festliche Menge der Gläubigen gemischt. Beim vorsichtigen Umsehen hatte Jocelin die nach Poitiers entsandten Brüder entdeckt.
Die Berichte, die sie  später unter einem Brückenbogen über die Reise gaben, klangen wenig erfreulich.
„72 Brüder hat der König bis jetzt nach Poitiers bringen lassen. Viele Komture sind darunter. Die meisten aus den südlichen Provinzen, in denen die Inquisition die meiste Übung hat.”
„Und sie sind übel zugerichtet,” fiel ein anderer Bruder ein, der der Überführung eines Gefangenentransportes beigewohnt hatte. „Sie sind so sehr gefoltert worden, dass sie wohl kaum ein Wort der Verteidigung wagen werden! Zumal sie immer noch von den Leuten des Königs bewacht werden!”
„Sogar aus dem Orden Ausgestoßene haben die Leute des Königs ausgewählt! Wie kann man sie als Zeugen in dieser Angelegenheit anhören?!“
„Wo hat man sie untergebracht?” wollte Jocelin wissen.
„In den Verliesen des Bischofspalais die meisten, die anderen im Amtshaus des Herzogs.”
„Streng bewacht, nehme ich an.”
„Allerdings. Niemand hat Zugang zu ihnen außer den Beichtvätern, die das Dominikanerkloster schickt.”
Jocelin nickte nachdenklich. Die Beichtväter hatten also Zugang. Damit ließ sich vielleicht etwas machen.
„Wisst Ihr etwas von Meister Jacques?” fragte er weiter.
„Nur Gerüchte. Man soll sie in die königliche Burg von Chinon gebracht haben. Es heißt, sie seien zu krank für die Weiterreise.”
„Zu sehr gefoltert würde es wohl eher treffen.”
„Euren Brief haben wir vor gut einer Woche in der päpstlichen Kanzlei abgegeben, Sire Arnaud. Aber wenn er Clemens je erreicht hat, so verweigert er eine Antwort. Täglich war einer von uns im Kloster, wo er residiert. Clemens empfängt niemanden.”
„Ich versuche es selbst noch einmal. – Außerdem wäre es gut, wenn wir einen der Unsrigen in die Kanzlei einschmuggeln könnten. Es werden sicherlich noch Kopisten gesucht.“
Einer der Brüder bestätigte Arnauds Vermutung. Er hatte die entsprechenden Anschläge an den Kirchentüren und am Marktplatz gesehen.
„Ich melde mich. „ Die Worte kamen von Helias, dem ehemaligen Kaplan von Provins, der vor vier Monaten hatte gerettet werden können. Geständig und rekonziliarisiert, aber mit dem Willen, dieses Versagen wieder gut zu machen.
Noch am selben Tag ließ sich Bruder Arnaud in das Kloster führen, in dem Papst Clemens residierte. Der Aufenthalt des Heiligen Vaters hatte den Konvent in einen Bienenschwarm verwandelt. Notare liefen durch die Gänge, Geistliche aller Rangstufen, Franziskaner, Dominikaner, Cölestiner, Cistercienser und Johanniter bevölkerten den Gästeflügel des Klosters. Eine große Anzahl von Laien belagerte täglich den Audienzsaal, auf Begünstigungen wartend, die Entscheidung eines alten Streites hoffend, oder einfach, um die Botschaften irgendwelcher Barone zu überbringen. Manche vertrieben sich die Zeit, einem mitgeführten Spielmann zu lauschen, andere rechneten verzweifelt die Kosten ihres Aufenthalts aus, immer gereizter den päpstlichen Kammerherrn um Audienz angehend.
Arnaud trug die Mönchskutte, die man Jocelin einst in St. Germain-des-Prés gegeben hatte. Bereitwillig ließen die Bittsteller den blinden Mann mit der Aura eines heiligen Asketen den Vortritt, sei es auch nur um zu sehen, ob ihm Audienz gewährt würde.
„Seine Heiligkeit ist krank, das habe ich Euch heute schon einmal gesagt!” wehrte der päpstliche Kammerherr gerade erneut einen ungeduldigen Adligen ab. „Nein, Ihr könnt nicht zu ihm, unter gar keinen Umständen! Der Heilige Vater wird heute und morgen niemanden mehr empfangen!“
Der Mann drehte sich wutschnaubend um und eilte mit großen Schritten an Bruder Arnaud vorbei. Mit dem Blick eines Beamten, der es mehr als leid war, beständige Bitten hören zu müssen, starrte der Kammerherr nun auf den Ordensbruder.
„Und was wollt Ihr noch? Ihr habt es doch gehört. Keine Audienzen mehr heute und morgen.”
„Es handelt sich um das Verfahren, das in drei Tagen beginnen soll.”
„Ach, jeder, der hier kommt, hat angeblich etwas zu dem Prozess zu sagen! Wenn ich jeden zu seiner Heiligkeit vorlassen würde-”
„Gebt mir nur einen Augenblick! Clemens soll selbst entscheiden, ob er mich anhören will!”
„Nein. Keine Audienzen!” Mit diesem endgültigen Wort verließ der Kammerherr den Saal.
Arnaud tastete sich mit seinem Stock bis zu einer der Bänke in der Galerie und setzte sich. Er überlegte, ob es Zweck hätte, sich mit den Mitgliedern der Kommission in Verbindung zu setzen. Aber Thomas von Santa Sabina war Dominikaner, und wohl kaum geneigt, etwas zu tun, was die Inquisition und seinen Orden in schlechtes Licht rücken würde... Petrus und Landulf Colonna verdankten ihr Amt dem Kampf König Philipps gegen ihren Feind, den früheren Papst Bonifatius. Sie waren vielleicht versucht, dieser Dankbarkeit deutlichen Ausdruck zu verleihen. Stephan de Suisy hatte lange Zeit das Amt des königlichen Siegelbewahrers versehen... Berengar Fredoli hatte sich schon bei der Inquisition im Languedoc durch besondere Härte hervorgetan...
Eine laute Stimme störte Arnaud in seinen Gedanken. Sie gehörte einem Johanniterbruder, der sich neben ihn gesetzt hatte.
„Keine Audienzen! Wir geben alles, um diese verdammte Insel zu erobern, und Seine Heiligkeit hat nicht einmal Zeit für eine Audienz! Nur eines hört man beständig: die Templer und Papst Bonifatius!”
Bruder Arnaud horchte auf. Die Auseinandersetzung König Philipps mit Papst Bonifatius und die Gefangennahme des Vikars Christi vor fünf Jahren durch Nogaret hatten damals die Gemüter heftig bewegt.
„Bonifatius?” wiederholte er, als habe er keine Ahnung, wovon sein Gegenüber sprach.
„Ja. Man munkelt, der König drohe Clemens mit einer förmlichen Anklage gegen seinen Vorgänger!” erwiderte der Johanniter.
„Eine Anklage gegen den Papst?”
„Man erzählt sich ganz furchtbare Dinge.” Nun senkte der Johanniter seine Stimme. „Häresie, Verschwörung, Götzendienst! Genau das gleiche, was man jetzt den Templern vorwirft. Ich sage nicht, was ich darüber denke, aber...! Ein Prozess gegen einen Papst, vielleicht seine Verurteilung, wisst Ihr, was das bedeuten würde?!”
Arnaud bekreuzigte sich. „Und Ihr sagt, der König droht Clemens damit?”
„Man hört Gerüchte. - Ah, ich muss gehen. Gebe Gott, dass wir morgen endlich vorgelassen werden, Bruder!”
Der alte Templer blieb allein zurück.
Ein Prozess gegen Papst Bonifatius! Das war also das zweite, die Kirche bedrohende Übel gewesen, von dem Erzbischof Gregor damals in Tours gesprochen hatte! König Philipp drohte Clemens mit einer Anklage von Papst Bonifatius, wenn ihm der Papst im Falle der Templer nicht willfährig genug war! Arnauds Hände schlossen sich fest um seinen Stock, als könne der ihm Halt geben.
Das Dominikanerkloster befand sich außerhalb der Mauern von Poitiers. Der schmale, baumgesäumte Weg zum Stadttor führte an einer Viehtränke vorbei. Dort lagen Jocelin, Guy und zwei weitere Brüder im Hinterhalt. Ihre Gedanken weilten noch bei den Nachrichten, die Arnaud mitgebracht hatte. Wenn König Philipp den Papst wirklich erpresste, dann würde Clemens dem Orden vielleicht niemals zu Hilfe kommen können und wollen. Dann waren die Templer gezwungen, ihr Recht vielleicht auch gegen den Papst einzufordern. Umso wichtiger würde es sein, dass die nach Poitiers gebrachten Zeugen für die Wahrheit einstanden.
Jocelin spähte durch das Blattwerk. Zwei Dominikaner hatten die Klosterpforte verlassen. Den Rosenkranz betend kamen sie näher. Jocelin und Louis ließen ihnen einige Schritt Vorsprung, stürzten aus ihrem Versteck und ergriffen die Mönche.
„Keine Angst, es geschieht euch nichts,” versprach Jocelin, während er seinem Gefangenen einen Knebel in den Mund stopfte. „Zieht eure Kutten aus!”
Der Jüngere der beiden Dominikaner wehrte sich so heftig, dass Louis  ihn niederschlagen musste. Eilig kleideten sich die beiden Ordensbrüder um. Ihre Gefangenen in der Obhut von Guy zurücklassend machten sie sich auf den Weg zur Stadt.
Der Amtmann des Bischofs, der die Abgesandten der Dominikaner an den vergangenen Tagen in Empfang genommen hatte, verhielt sich misstrauisch beim Anblick der unbekannten Gesichter.
„Wo sind Bruder Nikolaus und Bruder Thomas?”
„Bruder Thomas hat heute bei unserem Prior zu tun. Und Bruder Nikolaus geht es nicht wohl.”
Der Amtmann nickte.
„Dann hat es ihn gestern doch übler erwischt! Aber Ihr braucht keine Angst zu haben, dass das noch einmal passiert! Wir haben die Gefangenen in Ketten legen lassen!”
Er griff nach den Schlüsseln und schlurfte zur Treppe.
Kurz darauf standen die Templer ihren unglücklichen Ordensbrüdern gegenüber. Jocelin  bekreuzigte sich und hob die Stimme zu einer eindringlichen Ermahnung:
„Bekennt all Euere Sünden, denn unser Herr Jesus Christus ist barmherzig. Er, der die Heilige Maria Magdalena errettet hat, die doch von sieben Dämonen besessen war, er wird auch euch barmherzig sein...”
Als er den Amtmann des Bischofs außer Hörweite wähnte, verstummte Jocelin. Er und Louis schlugen ihre Kapuzen zurück. Erstaunt sahen die Gefangenen, dass die beiden “Beichtväter” nicht die Tonsur der Priestermönche trugen.
„Ihr seid keine Dominikaner! Was soll das?” fragte eine ängstliche Stimme.
Jocelin trat näher zu den Gefangenen.
„Wir sind Brüder des Tempels wie ihr auch“, sagte er leise. Doch seine Antwort zerstreute die furchtsamen Bedenken der anderen nicht. Sie alle hatten den Orden mit falschen Geständnissen belastet und sich von ihm losgesagt! Waren diese Fremden hier, um sie zum Schweigen zu bringen?!
„Was wollt ihr von uns? Wer schickt euch?”
„Niemand hat uns geschickt. Wir sind ein paar dutzend Brüder in Freiheit. Seit über einem Jahr versuchen wir, ein gerechtes Verfahren durchzusetzen. Darum sind wir heute auch hier: um euch zu bitten, bei eurer Anhörung den Orden zu verteidigen!”
„Verteidigen? Das können wir nicht!” rief ein hellhaariger Ordensritter von der gegenüberliegenden Seite. „Man hat uns verpflichtet, unsere früheren Geständnisse zu wiederholen! Wenn wir es nicht tun, schicken sie uns auf den Scheiterhaufen! Und ich habe schon zwei meiner Brüder brennen sehen!”
Jocelin wandte sich dem Mann zu. „Wer seid Ihr?”
„Isnard...Isnard de Montreal, Komtur von Carcassonne...”
„Ich kann mir vorstellen, was Ihr durchgemacht habt, Bruder. Aber Ihr müsst dennoch die Wahrheit sagen, ich bitte Euch!”
„Sie haben mich wochenlang hungern lassen...” murmelte der Gefangene mit gebrochener Stimme. ”Ich wusste gar nicht mehr, was ich sagte, als sie mich verhörten...”
Jocelin legte beruhigend die Arme um den weinenden Mann.
„Wir würden ja widerrufen, Jesus der Sohn der Jungfrau ist mein Zeuge! Wenn wir nur in Freiheit wären!” sagte ein anderer Bruder. „Aber so?” Er hob zur Bekräftigung seiner Worte die gefesselten Hände.
„Verteidigt unseren Orden, im Namen Christi! Das Schicksal des Tempels kann von eurer Verteidigung abhängen! Die Bischöfe und der Papst sollen die Wahrheit aus Eurem Mund hören!”
„Soll doch Meister Jacques den Orden verteidigen! Aber er hat uns befohlen zu gestehen! Wie sollen wir denn noch wissen, was zu tun ist?!”
Ohne ihrer Brüder sicher zu sein verließen Jocelin und Louis den Kerker.
„Nun, habt Ihr’s ihnen recht eingebläut?” empfing sie der bischöfliche Amtmann leutselig. Seine Art widerte Jocelin an.
„Die Gefangenen sind in einem schlechten Zustand,” sagte er um äußere Gleichmut bemüht. ”Nehmt ihnen die Ketten wieder ab und sorgt für besseres Essen!”
Der Amtmann zog überrascht die Brauen hoch. Derlei Mitgefühl war er von den Dominikanern nicht gewohnt. Dann zuckte er mit den Schultern. „Wenn Ihr’s für richtig haltet...
Mich geht‘s nichts an. - In der Küche haben wir wieder ein feines Süppchen für Euch herrichten lassen, wie jeden Tag. Lasst es Euch schmecken, ehrwürdige Brüder!”
Es war die erste warme Mahlzeit seit Tagen. Aber der Gedanke an ihre gefangenen Brüder nahm ihnen den Appetit.
Als nächstes suchten Jocelin und Louis das herzogliche Palais auf. Aber dort sah es nicht besser aus. Die Brüder im Kerker waren fast alle krank und derart eingeschüchtert, dass ein Widerruf  ihrer Geständnisse nicht zu erwarten war. Die ehemaligen Templer, die sich freiwillig als Zeugen gemeldet hatten, waren in einem der oberen Gemächer des Palais untergebracht worden. Doch sie empfingen die beiden Ordensbrüder mit einer sarkastischen Abfuhr.
„Ich soll den Orden verteidigen, der mich ausgestoßen hat?!” rief einer der Männer. „Ausgestoßen wegen vier Florins, die ich bei mir hatte! Wenn ich nicht geflohen wäre, dann säße ich heute noch im Kerker und würde langsam verfaulen! Oh nein!”
„Aber Ihr wisst, dass diese Anklagen gegen den Orden Verleumdungen sind!”
„Ich-” erwiderte ein Mann in speckigem Lederwams, “ich weiß nur, wie man  mich behandelt hat, ehe ich nackt aus der Komturei getrieben wurde! Schert Euch zum Teufel, mitsamt Eurem Orden!”
„Gehen wir,” sagte Louis und griff den Arm seines Ordensbruders. „Hört die Vesperglocken!”
Tatsächlich läutete es bereits. Sie mussten sich beeilen, wollten sie vor den Hirten an der Viehtränke sein.
„Bitte, überlegt es Euch,” wandte sich Jocelin noch einmal an die Ehemaligen. „Sagt die Wahrheit, um Gottes Willen und seines Gerichts!”
Dann verließen sie das herzogliche Palais. Durch die engen Gassen des jüdischen Viertels strebten sie dem Südtor zu.
Als sie die Viehtränke erreichten, war schon das Blöken der Schafherde zu hören. Jocelin pfiff zweimal den als Signal verabredeten Vogelruf. Blattwerk raschelte und Bruder Guys Kopf tauchte auf.
„Ah, Messires, da seid Ihr ja endlich! Ich dachte schon, es ist etwas geschehen und ich muss die ehrwürdigen Brüder nackt in ihr Kloster zurückschicken!”
„Nun, gottlob nicht!” rief Louis und zog die Kutte über den Kopf. „Aber jetzt rasch!”
Guy löste die Fesseln der beiden Dominikaner. Mit zornrotem Gesicht packte der Ältere seinen Habit.
„Ihr werdet exkommuniziert! Alle!” schrie er.
Jocelin griff nach den Zügeln seines Pferdes.
„Spart Euch die Mühe, Vater,” sagte er, selbst überrascht von dem schneidenden Hohn in seiner Stimme.
„Ihr missachtet die Schlüsselgewalt der Kirche!” erboste sich der Dominikaner. „Ihr werdet in der Hölle brennen!”
Die ersten Schafe sammelten sich um die Tränke. Jocelin zog Bruder Guy hinter sich in den Sattel. Auch Louis saß schon auf seinem Pferd. Mit  einem Satz waren die Reiter auf dem Weg und galoppierten Richtung Wald.
„Haltet sie auf! Haltet diese Männer auf!” brüllte der ältere Dominikaner den Hirten zu. „Haltet sie, oder ich bringe euch vor den Inquisitor!”
Doch längst waren die Ordensbrüder außer Reichweite.
Voller Sorge ließ Guillaume de Nogaret das herzogliche Palais hinter sich. Der Vikar des Herzogs hatte ihm vertraulich mitgeteilt, was er von den bei ihm inhaftierten ehemaligen Templern erfahren hatte: der Komtur der freien Templer war in der Stadt. Und nicht nur das, offenbar ging dieser widerliche Bastard in den Verliesen ein- und aus. Was die Gefangenen betraf, so bereiteten sie Guillaume de Nogaret kein Kopfzerbrechen. Seine Leute würden sich noch einmal eingehend mit ihnen befassen. Das würde ihnen die Gedanken an eine eventuelle Verteidigung rasch austreiben. Aber dieses Komturs der freien Templer musste er habhaft werden! Auf eine gewisse Weise faszinierte den Siegelbewahrer die Persönlichkeit des unbekannten Ordensbruders. Der Beschreibung nach war es derselbe, der rings um Paris schon seit über einem Jahr für Unruhe sorgte. Wenn es stimmte, was er vor der Abreise in Paris gehört hatte, war auch Floyran von den Templern umgebracht worden... Damit hatten ihm die verfluchten Ordensbrüder auch noch einen guten Dienst erwiesen! 

Die Mitglieder der päpstlichen Kommission und ihre Notare nahmen im Kapitelsaal der Abtei  Platz. Kardinal Thomas, der Dominikaner, bedachte Berengar Fredoli mit einem lauernden Blick. Es hieß, der ehemalige Erzbischof von Bordeaux trüge die Hauptverantwortung, dass ihre Sitzung bis heute vertagt worden war... Geheimverhandlungen mit dem Papst hatte es angeblich gegeben...
Zwei königliche Gardisten brachten den  Zeugen, einen etwa vierzigjährigen Ordensbruder, herein. Als er näher kam, merkten die Kommissare, dass er stark hinkte. Berengar Fredoli ordnete an, einen Stuhl für den Zeugen zu bringen. Dann nahm er die Vereidigung vor. Über einem Evangeliar schwor der Zeuge, die volle Wahrheit zu sagen, was seine eigene Person, die anderen Brüder und den gesamten Orden betreffe.
Kardinal Berengar hatte beschlossen, dem Zeugen nicht einfach sein bereits abgelegtes Geständnis zur Bestätigung vorzulesen wie es eigentlich geplant gewesen war. Er würde ihn nach allen Anklageartikeln erneut befragen.
„Wie ist Euer Name, und in welchem Ordenshaus habt Ihr gedient?”
„Isnard de Montreal. Ich bin... war Komtur von Carcassonne,” antwortete er zögernd und ließ den Blick über die Kommissare schweifen. Sollte er seine Geständnisse widerrufen wie jener Komtur Jocelin es wollte?
Berengar Fredoli öffnete das Pergament, das sein Notar ihm gereicht hatte. Es war das Protokoll des ersten Verhörs des Zeugen.
„Wer hat Euch aufgenommen, Bruder?” fragte er.
Isnard de Montreal erbleichte. Ihm war gesagt worden, er solle nur mit einfachem Ja antworten, um seine früheren Aussagen zu bestätigen. Was sollte das nun? Stellte man ihm eine Falle?
„Bruder Ponce, der Provinzmeister der Provence.” erwiderte er zögernd.
„Hier in Eurer ersten Aussage nennt Ihr noch einige Brüder als Anwesende.”
„Ein Priester  war noch dabei.”
„Wie war der Name dieses Priesters?”
„Ich weiß nicht... es war ein Spanier... er ist bald darauf gestorben.” Wieder wanderten die Augen des Zeugen unruhig durch den Saal.
„Wie seid Ihr aufgenommen worden?” fuhr der Kardinal mit dem Verhör fort.
„Ich habe vor dem Altar gekniet und Keuschheit, Armut und Gehorsam gelobt.” Heilige Mutter Gottes, wenn er sich doch nur erinnern könnte, was er damals gestanden hatte!
„Und nach Eurer Profess?”
„Ich wurde eingekleidet. Man gab mir den weißen Mantel und ich küsste das Kreuz...”
Kardinal Berengar sah in das vor ihm liegende Protokoll. In seiner ersten Aussage hatte der Zeuge bekannt, auf das Kreuz des Ordensmantels gespuckt und dabei Christus verleugnet zu haben. „Was geschah, nachdem Ihr das Kreuz geküsst hattet?”
„Ich… ich wurde in eine Kammer geführt. Dort holte der Meister ein Bild aus einem Schrein... ein kleines goldenes Bild...
mit zwei Gesichtern...”
Berengar Fredoli senkte den Blick auf das Protokoll. Wahrhaftig, einige Monate zuvor hatte der Zeuge von einem großen, schwarzen hässlichen Götzenbild gesprochen!
„Auf dem Bild waren also zwei Gesichter. War es ein Heiligenbild?”
„Ich weiß nicht... ich glaube nicht... ich erinnere mich nicht. Es war so dunkel, ich konnte nichts Genaues sehen...”
„Ein goldenes Bild also. Und was verlangte der Meister dann von Euch?”
„Ich sollte es anbeten und küssen... und Christus verleugnen.”
Kardinal Berengar musste an den Brief denken, den Papst Clemens ihm gezeigt hatte. Jener Brief, der von Folterung und Erpressung der  Zeugen berichtete, und der angeblich von in Freiheit befindlichen Templern verfasst worden war. Sollte wahr sein, was sie angeklagt hatten? Zu Beginn des Verhörs hatte Kardinal Berengar die zweite Zeugenbefragung für unnötigen Zeitaufwand gehalten. Nun kamen ihm Zweifel. Entweder der Zeuge hatte bei seiner ersten Aussage gelogen, oder er log jetzt - oder er log überhaupt.
„Bruder Isnard, seid Ihr gefoltert worden vor Eurer Aussage?”
„Ja. Sehr!” Der Ordensbruder zeigte auf sein Bein und hob dann die linke Hand, an der drei Finger fehlten. Die Kommissare waren betroffen. Aber Berengar Fredoli wusste, dass die auch noch so deutlichen Spuren der Folter keinen Beweis für die Unwahrheit der gestandenen Dinge darstellten. Das Inquisitionsrecht verlangte eine genaue Antwort des Zeugen.
„Bruder Isnard, ich frage Euch eingedenk des Eides, den Ihr vor uns geleistet habt, waren diese Folterungen der Grund für Euer Geständnis vor dem Inquisitor?”
Nun schwieg der Ordensbruder erschrocken. Er war mehrmals gemahnt worden, die Folter auf keinen Fall zu erwähnen. Was würde man nun mit ihm machen?!
„Ich habe... nicht wegen der Folter gestanden.” stammelte er nach einer Weile. „Sires, ich... ich bin nur ein armer Mann.” Schluchzend fiel er auf die Knie. „Glaubt mir! O Gott, glaubt mir, ich habe nur gestanden, weil es die Wahrheit war!”
Kardinal Berengar befahl, das Häufchen Elend zu entlassen.
Fünf Tage lang führte die Kommission ihre Untersuchung fort. Und Kaplan Helias, der Bruder aus Provins, kopierte Stunde um Stunde die Geständnisse seiner Brüder für das offizielle Register. Das Wissen um das Leid hinter diesen kalten Worten quälte ihn. Wenn er den Abend zu seinen Brüdern zurückkehrte, war er fast krank. Jocelin wollte ihn schließlich des übernommenen Amtes entbinden, doch da weigerte er sich. Einmal war er von den Inquisitoren besiegt worden. Nicht wieder!
Als die Kommission ihre Untersuchung beendet hatte, hatten Kardinal Berengars Zweifel auch die übrigen Kommissionsmitglieder erfasst. Die Aussagen, die sie gesammelt hatten, waren teilweise von einer haarsträubenden Unglaubwürdigkeit. Das einheitliche Bild einer Ketzerei, wie Berengar Fredoli sie gewohnt war zu verfolgen, existierte nicht! Aber alle Zeugen hatten unter Eid ausgesagt, ohne jeglichen Zwang.
Würden sie bei der öffentlichen Anhörung vor dem Papst erklären, bei ihren Geständnissen bleiben zu wollen? Dann musste Clemens sie als reuige Bekenner ihrer Schuld von der Exkommunikation lösen - und ein Verfahren gegen ihren Orden einleiten.
Die öffentliche Vorführung der Zeugen fand auf dem Kathedralplatz statt. König Philipp hatte es so gewünscht, damit möglichst viel Volk dem unwürdigen Schauspiel beiwohnen konnte. Seine Majestät saß zu Füßen des päpstlichen Thrones im Portal der Kathedrale. Jeder sollte sehen, dass er ein treuer Sohn der Kirche war! Unterhalb der Treppe hatten die Mitglieder der Kardinalskommission ihre Richterstühle eingenommen. Ihnen gegenüber, umschlossen von einem Halbkreis königlicher Gardisten, standen die gefangenen Templer. Die meisten von ihnen trugen kein Ordensgewand mehr, zum Zeichen, dass sie die Schuld ihres Ordens anerkannt und sich von ihm losgesagt hatten.
Noch einmal las ein Notar die gegen den Tempel erhobenen Anklagen vor und fasste die Geständnisse zusammen.
Unter den Arkaden des bischöflichen Palais verfolgten Jocelin und seine Gefährten das Geschehen. Stumm beteten sie um Kraft für ihre gefangenen Brüder.
Kardinal Berengar stellte die entscheidenden Fragen an die Zeugen: „Seid Ihr durch Druck, Versprechungen, Bestechung, Geschenke oder Furcht zu Euren Aussagen gebracht worden?“
„Nein, wir haben um der Wahrheit willen gestanden.“
Einer nach dem anderen knieten die Zeugen vor dem Papst nieder.
„Vergebt uns, Heiliger Vater! Vergebt uns unsere Schuld!”
Jocelin schloss ihn ohnmächtiger Verzweiflung die Augen.
Nur eine Handvoll Templer stand noch aufrecht vor der Kommission. Louis erkannte den ehemaligen Komtur von Carcassonne.
„Nun, habt Ihr noch etwas zu sagen?” klang die kühle, klare Stimme König Philipps über den Platz, und sein eisiger Blick bohrte sich in die Gesichter der Zeugen.
Komtur Isnard de Montreal schüttelte den Kopf, dann bekreuzigte er sich und kniete ebenfalls nieder.
„Habt keine Furcht,” wandte sich nun Papst Clemens an die Ordensbrüder. „Die Kirche ist gnädig und barmherzig. Wenn ihr noch etwas verschwiegen habt, dann bekennt es jetzt, und man wird euch gnädig sein.”
„Vergebt uns,” war die einzige Antwort, die er erhielt.
„Kommt, Messires. Hier haben wir nichts mehr verloren,” sagte Jocelin enttäuscht und lenkte sein Pferd die Straße hinauf. Er konnte weder den Anblick der knienden Brüder noch des Papstes länger ertragen. Selbst das Licht und die Wärme der Sonne waren im plötzlich widerwärtig. Wie konnte es sein, dass der Himmel sich nicht verdunkelte und der Zorn Gottes sich nicht über die Welt ergoss?
Die Nacht brach herein. Seit Tagesbeginn warteten die Templer auf die Entscheidung des Papstes. Arnaud und Jocelin waren in der Stadt und hatten ein letztes verzweifeltes Bittgesuch um Anhörung weiterer Zeugen überbracht.
„Papst Clemens muss den Orden freisprechen”, sagte Kaplan Helias zum wiederholten Mal. “Er kann nicht glauben, dass diese Geständnisse der Wahrheit entsprechen! Nicht zwei von denen, die ich kopiert habe, stimmten überein! Niemand würde doch einer häretischen Lehre anhängen, die er selbst nicht kennt! Das ist widersinnig! Nein, selbst wenn keiner der Zeugen widerrufen hat, Clemens muss uns freisprechen!”
Auch Bruder Louis war dieser Meinung. Er lehnte sich an einen Baumstamm zurück, und während der Gesang der Vögel langsam in der Dunkelheit verebbte, war er sich mit einem Mal des baldigen Endes ihrer Verfolgung sicher. Vielleicht speisten Arnaud und Jocelin ja schon mit Papst Clemens, und deshalb dauerte es so lang. Ja gewiss, dass würde es sein! Ah, in ein paar Tagen könnten sie alle wieder in ihre Ordenshäuser einziehen, die Glocke würde sie zum Gebet und zu Tisch rufen wie stets...
„Sie kommen!”
Der Ruf des Postens riss Louis aus seinem schönen Traum. Erwartungsvoll sprang er auf. Pferdehufe waren zu hören, dann schälten sich die Gestalten der Reiter aus der Nacht.
Ihre Mienen zerschlugen Louis’ Hoffnungen, noch ehe ein Wort gefallen war.
„Clemens hat Euch nicht angehört,” murmelte er.
Jocelin stieg aus dem Sattel. „Er hat uns das hier übergeben lassen,” sagte er und hob eine Pergamentrolle. Mit dem Dolch durchtrennte er das Siegelband und trat ans Feuer.
Die Brüder scharten sich enger um ihn, und er begann laut die Entscheidungen des Papstes zu lesen:
„....da es scheint, dass die den Templern zur Last gelegten Verbrechen wahr sind, befehlen Wir Euch, Erzbischöfen, Bischöfen und Äbten, die Untersuchung gegen die Personen dieses Ordens einzuleiten, gemäß den kanonischen Bestimmungen... zum Ruhm und zur Verherrlichung des Glaubens...Wir ordnen an, dass Ihr Euch einige geeignete Personen in dieser Untersuchung zur Seite stellt, die Wir bestimmen werden... Hütet Euch jedoch, Euch in das Verfahren über den Gesamtorden einzumischen, welches Wir Uns vorbehalten... Wir reservieren Uns auch in jeglicher Beziehung den Prozess gegen den Meister des Tempels und die übrigen Würdenträger...”
„Kein Freispruch,” rief Kaplan Helias bitter.
„Und der Papst lässt uns auch nicht verteidigen,” setzte ein anderer Bruder hinzu.
Jocelin senkte die Augen noch einmal auf den schrecklichen Satz: ‚Es scheint, dass die Verbrechen wahr sind...‘ Wie konnte Clemens das nur glauben? Wie, bei Gott?
„Aber er gewährt uns einen Prozess nach den Normen des kirchlichen Rechts“, wandte Arnaud ein. „Das ist viel, nach allem, was der Heilige Vater hat geschehen lassen - Gott vergebe mir -, aber ob es den Orden rettet, hängt allein davon ab, wieweit sich Clemens und die Bischöfe von dem Griff König Philipps befreien können. Und das, fürchte ich, wird nicht allzu weit sein!“
„Seine Majestät will unsere Verurteilung. Er wird nicht eher ruhen, bis er sie erreicht hat!”
Jocelin griff nach dem Wasserschlauch, den Kaplan Helias ihm reichte und trank durstig.
„Aber - nicht alle Herrscher werden an die Schuld des Ordens glauben.” suchte Louis sich selbst Mut zu machen. „Der König von Portugal beispielsweise ist ein großer Freund des Tempels, das weiß man. Oder auch Jayme von Aragon...”
„Wenn Papst Clemens befiehlt, unsere Brüder gefangen zunehmen, wird nach dem Glauben von König Jayme oder König Diniz niemand mehr fragen. Und ganz besonders nicht König Philipp, der dem Papst vielleicht gern seinen Arm gegen die Begünstiger der Templer leiht“, erwiderte Jocelin. ”Wie weit, glaubt Ihr, wird König Diniz mit seiner Freundschaft gehen? Wird er zulassen, exkommuniziert und seiner Krone beraubt zu werden?”
Er ließ sich neben die Feuerstelle fallen, müde und ausgelaugt.
„Was ist mit Meister Jacques?” fragte einer der Brüder. „Hat er denn auch erneut gestanden?”
„Ich weiß es nicht. Über ihn und die anderen Würdenträger steht in der päpstlichen Verfügung nichts.”
„Werdet Ihr versuchen, zu ihm zu gelangen, Sire Jocelin?”
„Nach dem, was wir hier in Poitiers unternommen haben, ist das wahrscheinlich genau das, was König Philipp erwartet.”
Arnaud nickte. „Philipps Leute werden auf Chinon sitzen und auf uns warten. Jetzt zu Meister Jacques zu gehen, wäre der sicherste Weg in den Kerker.”
„Was tun wir dann?”
„Meister Jacques hat Bruder Jocelin und mich zu Prokuratoren bestellt. Wir können selbständig handeln, ohne neue Befehle des Meisters oder des Kapitels, auch außerhalb Frankreichs... Papst Clemens hat ein Verfahren gemäß dem Kirchenrecht angeordnet und Bischöfe als Untersuchungskommissare eingesetzt. Sie sind es, an die wir uns in erster Linie wenden müssen. Wir müssen die Verteidigung organisieren. König Philipps großer Trumpf war bisher die Isolierung unserer Brüder, von Meister Jacques, von ihren Komturen. Philipp hat einen gegen den anderen ausgespielt.”
Kaplan Helias stimmte zu. Im Kerker von Provins waren Aufrufe zum Bekenntnis zirkuliert, von dem niemand wusste, ob sie echt oder gefälscht waren, die Inquisitoren hatten von Geständnissen und Anzeigen gesprochen, die vielleicht von Grund auf erlogen gewesen waren.
„...wir müssen dafür sorgen, dass die Mittel für einen ordnungsgemäßen Prozess zur Verfügung stehen.”
„Das heißt, dass unsere Brüder dort, wo sie noch in Freiheit sind, so schnell wie möglich so viel wie möglich des Ordensbesitzes verkaufen müssen,” überlegte Jocelin. „Haben wir Vollmacht, so etwas zu befehlen, Arnaud?”
„Unter diesen Umständen, ja. Wir haben keine andere Wahl.“
Ja, sie hatten keine Wahl.