Frühjahr 1310 – Frankreich

 
Ohne große Beteiligung lauschte Ghislaine de Montfort der Rechnungslegung ihres Verwalters. Die vergangenen Monate hatten einige Probleme mit sich gebracht. Vom Frühjahrshochwasser waren zwei ihrer Mühlen schwer beschädigt worden, ebenso eine Brücke. Die Reparaturen mussten möglichst bald eingeleitet werden, und sie entschloss sich, einen Teil des Waldes an der Südgrenze ihrer Ländereien jenem Bürger aus Paris abzutreten, der sie schon einige Male darum angegangen hatte. Sollte er dort jagen, warum auch nicht. Ihr stand nicht gerade der Sinn nach solchen Vergnügungen…
Sie sah von der Zahlenreihe auf, die der Verwalter ihr eben gereicht hatte und kämpfte gegen das Gefühl an, einfach aufzuspringen und hinauszulaufen. Alles erschien ihr so banal, unwichtig! Sie machte sich Sorgen um Jocelin. Und des Nachts verfolgte sie oft noch immer Floyrans Gesicht mit den aufgerissenen Augen, kurz bevor er tot vor ihr zusammenbrach. Aber sie durfte nicht beichten, sie durfte niemandem darüber erzählen. Niemandem konnte sie anvertrauen, was sie wirklich bewegte, was ihr wirklich wichtig war! Vor allen Leuten musste sie schauspielern und gute Miene machen – es war ihr manchmal so unerträglich!
„….lasst an die bedürftigen Familien Brot, Käse und Wein verteilen“, hörte sie sich sagen.
Der Verwalter zog ein säuerliches Gesicht, unterließ es aber gottlob, sie darauf hinzuweisen, dass allzu viel Mildtätigkeit die Bauern faul machen würde, sonst einer seiner Lieblingssprüche.
„Gut.“ Ghislaine erhob sich. „Genug für Heute. Die Streitigkeit wegen des Wegezolls mit dem Pastorat von Saint-Laurent sehe ich mir morgen an!“
Nachdem sie den Mann hinausgescheucht hatte, gestattete sie sich einen Seufzer und ließ sich in die Kissen des Lehnstuhls zurücksinken. Eine ganze Weile saß sie reglos so, dann beschloss sie, hinauf in die Kapelle zu gehen. Vor Gott wenigstens brauchte sie nichts zu verbergen. Wenn ihr auch manchmal der alte Kruzifixus mit seinem Königsgewand, der Krone und dem strengen Blick fremd und fern erschien…

„Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, Amen“ sagte Erzbischof Gregor von Rouen und setzte sich. Sein Gesicht war sorgenvoll.
Über eine Woche war bereits vergangen seit jenem Tag, an dem die Große Kommission das Verfahren hätte eröffnen sollen. Doch bisher waren weder Zeugen für, noch gegen den Templerorden erschienen. Und auch die von den Provinzialkommissionen angeforderten Protokolle trafen nur spärlich ein. Vor zwei Tagen war es Erzbischof Gregor endlich gelungen,  zu Meister Jacques und Godefrois de Charny vorzudringen, die man wieder nach Corbeil geschafft hatte. Die Antwort auf die Frage, ob sie für den Orden aussagen wollten, war Erstaunen gewesen: Man hatte sie weder über die Absichten der Kommission, noch die erlassene Vorladung unterrichtet. Empört verlas Erzbischof Gregor selbst ihnen das Edikt: Die beiden Ordensbrüder beteuerten daraufhin ihren Willen, den Tempel zu verteidigen. Gregor von Rouen vereidigte sie und beauftragte den Prévot von Paris, die Gefangenen sofort vor die Kommission zu führen. Dann sandte er seinen persönlichen Notar in Begleitung zweier Bewaffneter, die Verliese der Diözese Paris zu besuchen. Wenn nötig, sollte er die Veröffentlichung der Vorladung gewaltsam durchsetzen. Es schien jedoch, dass auch diese Maßnahme erfolglos bleiben würde. Bis Mittag warteten die Kommissare vergeblich.
Als sich nach der Non noch immer kein Zeuge eingefunden hatte, beschloss Erzbischof Gregor, die Sitzung zu schließen. Da meldete ein Schreiber, der Prévot von Paris sei angekommen.
„Bringt ihn herein!“ befahl Gregor von Rouen.
Mit einer Verbeugung grüßte der Prévot und wies zwei königliche Söldner an, vorzutreten. Sie schleppten einen Gefangenen mit sich.
„Ehrwürdiger Vater, hier habt Ihr den Bruder Godefrois de Charny!“
„Was ist mit dem Ordensmeister?“
„Er ist zu schwach für ein Verhör, Ehrwürdiger Vater!“ Erzbischof Gregor nickte. Solang der Meister noch in der Gewalt König Philipps auf Corbeil war, blieb seine Kommission machtlos.
Nachdem der Prévot mit seinen Söldnern gegangen war, wandte sich Gregor von Rouen an den Zeugen. Im hellen Licht der Bischofskapelle wurde der erbärmliche Zustand des Ordensbruders noch deutlicher als vor zwei Tagen im Kerker von Corbeil. Die blonden Locken, die Godefrois de Charny  einst den Beinamen “le Bel“ eingebracht hatten, waren fast völlig ergraut. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten.
Unbeeindruckt von den missbilligenden Blicken des Bischofs von Mende grüßte Gregor von Rouen den Ordensritter mit der Ehrerbietung, die ihm als fast Gleichrangigem zukam.
„Sire Godefrois, im Namen Seiner Heiligkeit Papst Clemens V., Vikar Christi und Diener der Diener Gottes, frage ich Euch, was habt Ihr zu den Anschuldigungen zu sagen, die gegen den Orden des Tempels von der Inquisition erhoben wurden?“
Der Provinzmeister der Normandie musterte die anwesenden Kommissare und fand seine Befürchtungen bestätigt. Drei königstreue Bischöfe! Sie würden Seiner Majestät jedes Wort hinterbringen, das er sagte! Dann kam eine Verteidigung dem Selbstmord gleich...
„Ich habe bereits den Kardinälen, die uns in Chinon verhörten, alles mitgeteilt“, erklärte er deshalb. „Ich werde keine weitere Aussage machen, es sei denn vor dem Papst.“
„Wollt Ihr den Orden verteidigen, Sire Godefrois?“
„Ich… ich werde nichts weiter sagen! Bringt mich vor den Papst!“
Enttäuscht ließ ihn Erzbischof Gregor abführen. Er konnte sich denken, was Charnys Reaktion verursacht hatte... Aber wie sollte er den Templern Vertrauen zu einer Kommission vermitteln, deren Mitglieder er selbst nicht sicher war?
Ein Windstoß blähte die blaugoldenen Vorhänge, als sich die Tür öffnete.
König Philipp trat dem Besucher entgegen. Es war sein Beichtvater Guillaume Imbert.
„Du hast mich rufen lassen, mein Sohn?“
„Die Gerüchte über Papst Bonifatius dürfen nicht länger geduldet werden. Sie schaden dem Ansehen der Heiligen Kirche“, erklärte Philipp.
Guillaume Imbert nickte. Seit dem vergangenen Jahr waren die Anklagen gegen Clemens‘ Amtsvorgänger wieder aufgeflammt. Bonifatius VIII. habe sich den Papstthron mit Bestechung und Gewalt erobert, er sei ein Häretiker und Sodomit. Was der Inquisitor nicht wusste, war der Anteil König Philipps und seines Siegelbewahrers an diesen Gerüchten. Nachdem die päpstliche Kommission mit solcher Hartnäckigkeit die Verteidiger des Tempels einforderte, hatte Seine Majestät beschlossen, das schon fast erkaltete Eisen des Bonifatiusprozesses erneut ins Feuer zu schieben.
„Seine Heiligkeit Clemens muss...“
Von den Gassen der Stadt herauf klingender Lärm unterbrach König Philipp. „Was ist da los?“
„Die ersten Zeugen der Großen Kommission“, antwortete Guillaume Imbert, der den Zug bereits auf seinem Weg in den Tempel gesehen hatte.
Philipp öffnete das Fenster und blickte hinaus. Ritter, Söldner, Dienstleute und Knappen sammelten sich auf den Mauern und am Tor der Festung, um jene Männer zu sehen, die einst als tapferste Kämpfer der Christenheit gegolten hatten. Die Templer gingen in zwei Reihen, aneinandergekettet und eskortiert von einer Söldnertruppe zu Pferde. Ein beschwerlicher wochenlanger Marsch lag hinter ihnen. Einige hatten die an Steinen und Eis blutig gerissenen Füße mit Lappen umwickelt.
Ein paar Leute bewarfen die Gefangenen mit Dreck, andere sangen Spottlieder. Ab und zu stießen die Söldner einen besonders frechen Straßenjungen zurück. Sie hatten genug von der Eskorte dieses angeblichen Häretikergesindels, das den ganzen Weg über Gebete gesprochen hatte. Der Teufel sollte sie holen, wenn sie noch einmal solch einen Auftrag erledigten! Vor St. Germain-des-Près hielt der Zug. Während der Söldnerkommandant mit dem Klosterpförtner sprach, näherte sich eine alte Frau mit einem Wasserkrug den Gefangenen. Eine bittende Hand streckte sich ihr entgegen, und sie reichte dem Ordensbruder zu trinken. Wütend schlug ihr der zunächst stehende Söldner das Gefäß aus der Hand.
Von den Färbertrögen im Hof waberten beißende Schwaden in die Kammer. Aber es störte Raimond längst nicht mehr. Seine Lumpen, ja er selbst stanken genauso. Er wusste nicht mehr, wie lang er schon in der Gemeinschaft der Färber arbeitete. Stunde um Stunde, Tag um Tag, Woche um Woche reihten sich aneinander. Zuerst hatte er versucht, bei seiner Familie Zuflucht zu finden. Doch seinem älteren Bruder, der unterdessen das Erbe angetreten hatte, war es ratsamer erschienen, ihn mit den Hunden davonjagen zu lassen. Dann, vor ein paar Monaten, hatte Raimond die Arbeit bei den Färbern in Paris gefunden. Sie hatten nicht viel wissen wollen über sein Woher und Wohin. So war er bei ihnen geblieben.
Raimond erhob sich von seinem Strohsack und trat vor die Tür. Ein dürrer Hund schlich vorbei, nebenan schüttete ein Alter Abwasser aus dem Fenster. Ein Menschenauflauf vorne an der Straße zog seine Aufmerksamkeit jetzt auf sich. Die Leute johlten und brüllten. Wieder einmal ein Verurteilter, der zum Galgen geschleppt wurde, vielleicht?
Er zerrte den Strick um seinen Hosenbund fester und setzte sich in Bewegung. Wenig später hatte er sich an einer Hausecke nach vorn gedrängt und konnte in Augenschein nehmen, was den Andrang verursacht hatte…
Seine Augen folgten den Templern, bis sie durch das Tor verschwunden waren. „Die Verteidiger”, dachte er. „Heilige Mutter Gottes, wie lange haben wir darum gekämpft!”
Da traf Raimond ein Knuff in die Seite. „Komm’ mir nicht so nah, du stinkende Ratte!” schimpfte ein Mann. ‘Wir’ hatte er gedacht! ‘Wir’! Nein, er gehörte nicht mehr zu den Templern! Er war nichts als ein stinkender Lumpenhaufen! Plötzlich ekelte er sich vor sich selbst.  

Ein Netz von Schächten und Gängen durchzog Paris unterhalb der Straßen und Häuser. Die Katakomben waren ein übel beleumdeter Ort. Doch für den Mann, der gerade in einem der Kellerlöcher an der Seine verschwand, barg die obere Welt weitaus mehr Gefahren. Mit der Sicherheit eines Menschen, dem die Dunkelheit vertraut ist, tastete er sich die Markierungen an der Mauer entlang. Plötzlich versperrte ihm ein blankes Schwert den Weg.
„Liebreich ist das Antlitz der Heiligen Jungfrau", klang ihm die Parole entgegen.
„Und mächtig ihre Gnade", antwortete der Ankömmling. Das Schwert senkte sich.
„Willkommen, Sire Jocelin!”
Der Posten umarmte seinen Ordensbruder.
Einige Schritt weiter kletterte Jocelin über eine schmale Leiter in einen tiefer gelegenen Schacht, aus dem schwaches Kerzenlicht schimmerte. Kurz darauf stand er in einem geräumigen Saal. Seine Brüder erwarteten ihn. Seit zwei Monaten lebten die Templer aus Fontainebleau in Paris, um bereit zu sein, wenn die päpstliche Kommission ihre Arbeit aufnahm.
„Die ersten Zeugen sind eingetroffen", berichtete Jocelin und hob die kältestarren Hände über das kleine Feuer in der Mitte des Saales. “Sie kommen aus der Provence. Denkt euch, Isnard de Montréal, der Komtur von Carcassonne ist bei ihnen! Damals in Poitiers hat er nicht den Mut aufgebracht, den Orden zu verteidigen, aber jetzt ist er den Weg nach Paris gekommen um Zeugnis abzulegen!”
„Dann konntet Ihr mit ihnen sprechen?” fragte Kaplan Helias. „Wohin sind sie gebracht worden?”
„In die Abtei von Saint Germain. Gott sei Dank ist Vater Gauthier noch Abt. Er hat mir erlaubt, die Brüder zu besuchen. - Aber es geht ihnen nicht gut. Fast alle haben Verletzungen, Erfrierungen und Fieber. Ich habe Vater Gauthier gebeten, sich um sie zu kümmern, um der Liebe Christi willen.”
Die Brüder wussten, was er meinte. Um ihre Finanzen stand es schlecht. Das, was ein paar von ihnen bei Gelegenheitsarbeiten verdienten, reichte kaum, um nicht zu verhungern. Sie hatten ihre Pferde verkauft, fast alle ihre Waffen. An eine Unterstützung ihrer gefangenen Brüder war nicht zu denken.
Der Notar hatte die Lesung der Anklageartikel und der beiden päpstlichen Bullen beendet. Der Bischof von Mende räusperte sich bedeutungsvoll.
„Nun, Sire Jacques, Meister des Ordens vom Tempel“, sagte er gedehnt“, wollt Ihr etwas zur Entlastung besagten Ordens vorbringen?”
Jacques de Molay rieb die schmerzenden Handgelenke, von denen man eben die Ketten abgenommen hatte. Dass der Erzbischof von Rouen nicht anwesend war, erfüllte ihn mit Misstrauen. War es ein Zufall, dass man ihn ausgerechnet heute vorführte? Er holte tief Atem und hob den Kopf.
„Ich will den Orden verteidigen, so gut ich es vermag. Aber ich bin Gefangener des Königs und des Papstes, und unser Orden ist all seiner Güter und Einkünfte beraubt. Ich bitte, mir Beratungen mit meinen Brüdern zu ermöglichen und mir die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, um Advokaten und Notare zu bezahlen!“
„Dies ist ein Verfahren, welches den Heiligen Glauben betrifft. Und wir werden ohne das Geschrei und die Winkelzüge von Advokaten vorgehen!“ stellte der apostolische Notar klar. Ehe Meister Jacques etwas erwidern konnte, fügte der Bischof von Mende hinzu:
„Überlegt es Euch gut, ob Ihr wirklich die Verteidigung auf Euch nehmen wollt, Sire! Schließlich habt Ihr bereits vor dem Inquisitor die Schuld eingestanden, und dann ein zweites Mal vor den Kardinälen in Chinon...“ Er beugte sich über ein Pergament. „...die Verleugnung Christ und der Heiligen Jungfrau, die Verunehrung des Kreuzes bei Eurer Ordensaufnahme, bei den Kapitelsitzungen, die Küsse auf den Nabel und den Mund, die Sodomie!“
Jacques de Molays Gesicht spiegelte Entsetzen wieder. Hastig bekreuzigte er sich dreimal hintereinander. Er hatte in Chinon kein Geständnis abgelegt! Er hatte geleugnet! Und Kardinal Thomas hatte es im Protokoll vermerkt! Oder?!
“Mes Sires...ich... das ist eine Lüge!“ rief er. „Wäret Ihr keine Priester, würde ich anders zu Euch sprechen!“
„Wir sind nicht hier, um eine Forderung zum Turnier entgegenzunehmen, Meister des Tempels!“ erwiderte der Bischof von Mende zynisch.
Der Ordensmeister war nicht fähig zu sprechen. Zu furchtbar, zu hinterhältig war der Verrat, den Kardinal Thomas offensichtlich begangen hatte. Und der Bischof von Mende? Legte auch er bereits die Schlingen, um ihn zu Fall zu bringen? Und Erzbischof Gregor? Hatte auch er gelogen?
Schritte näherten sich. Meister Jacques wendete sich um. Nogaret! Der königliche Siegelbewahrer nahm wie selbstverständlich neben den Kommissaren Platz.
 “Sires... ich... bitte um Bedenkzeit!“
Zuvorkommend gewährte ihm der Kommissionsvorsitzende den Wunsch.
Silbrig kaltes Mondlicht fiel durch das Gitter des Kerkerfensters. Jacques de Molay kniete auf den Steinfliesen, das Gesicht verzweifelt dem fahlen Schimmer entgegengestreckt. Seine Glieder waren starr vor Kälte, aber eine innere Qual jagte Feuer durch seinen Körper. Bedenkzeit war ihm geschenkt worden, doch was gab es zu bedenken? Es gab nichts zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Treue und Verrat, zwischen ewigem Heil und ewiger Schmach...
Es gab keinen Ausweg...
„Wenn ich verteidige, wird man  mich auf den Scheiterhaufen bringen.” Kaum eine Stunde, nachdem die päpstliche Kommission ihn entlassen hatte, waren  einige Männer des Königs zu ihm gekommen, um ihn daran nochmals zu erinnern.
Er wäre bereit, den Tod zu ertragen, ja er hätte ihn sogar begrüßt. Aber dann würde der Orden ohne Führung sein! Die Brüder hatten ihm strengsten Gehorsam geschworen, ohne seinen Dispens durften sie nichts tun! Der Prokurator wäre ohne Legitimation. Sein Tod - und die Inquisition konnte die Templer wie Schafe zur Schlachtbank treiben, genau das, was König Philipp wollte! Doch erhob er seine Stimme jetzt nicht für den Orden, war er keine Hilfe, sondern eine furchtbare Last, die die Brüder ins Verderben zog! Verhängnisvoll genug war sein erstes Geständnis, wenn er jetzt schwieg, wäre es unverzeihlich!
„O barmherziger Gott, erleuchte mich! Herr, in dir sind und von dir kommen alle Gnaden des Heiligen Geistes, erleuchte mich!“ schallte ein verzweifelter Hilfeschrei aus dem einsamen Kerker des Bischofspalais.
Als Jacques de Molay am folgenden Morgen erneut vor die Kommissare gebracht wurde, wusste er, dass er nicht verteidigen würde. Aber er würde auch nicht schweigen! Und war nicht das Bekenntnis des Guten ein ebensolches Zeugnis für die Unschuld des Tempels wie die Verleugnung der Anklagen?
Noch immer führte der Bischof von Mende den Vorsitz. In der gleichen selbstgefälligen, herablassenden Weise wie beim ersten Verhör des Ordensmeisters stellte er die Frage nach der Verteidigung.
„Ich bin ein armer und ungebildeter Mann“, erklärte Jacques de Molay. „Aber ich habe gehört, dass Papst Clemens sich meinen Fall reserviert hat. Führt mich vor den Heiligen Vater, und ich werde ihm sagen, was zur Ehre Christi und der Kirche ist! Ich bitte Euch, tut es bald! Auch ich bin nur ein sterblicher Mensch!”
„Sire Jacques, es ist nicht Aufgabe unserer Kommission, über Einzelpersonen zu richten, Euer Fall geht uns nichts an! - Wollt Ihr etwas bezüglich des Ordens sagen?“
„Ich kenne keinen Orden, in dem die Kirchen reichlicher ausgeschmückt wären als die Kapellen des Tempels. Unsere Priester feiern die Heiligen Geheimnisse in großer Ehrfurcht und Andacht. Die Laien drängten danach, von ihnen die Sakramente zu empfangen, bis der Papst ihnen den Zutritt in unsere Kapellen untersagte, weil die Brüder keine Gemeinschaft mit Sündern haben sollten. Alle Brüder des Tempels
empfangen dreimal im Jahr die Kommunion, so wie die Kirche es vorschreibt. Wir beten das Offizium wie alle Mönche. Und wir beten zwölf Vaterunser, zu Ehren Christi und der Jungfrau Maria, und sechzig Vaterunser für die Lebenden und die Toten. Das ist der Gnadenschatz, der jedem versprochen wird, der in den Tempel eintritt. Wir fasten vom Tag Allerheiligen bis zur Auferstehung des Herrn. Am Karfreitag kommen die Brüder barfuss in die Kapelle und werfen sich nieder vor dem Heiligen Kreuz. Nirgends werden reichlicher Almosen gespendet als in unseren Häusern. Wir haben gelobt für Christus zu leiden und zu sterben, und viele tausend Brüder haben ihr Leben für das Königreich Jerusalem geopfert-“
Eine abrupte Handbewegung des Bischofs von Mende unterbrach die leidenschaftliche Rede des Ordensmeisters.
„All das ist nutzlos, Meister des Tempels, wenn das Fundament des katholischen Glaubens fehlt!“ 

Ein abendlicher Sturm brauste um die Mauern von La Blanche. Im Speisesaal hatte Ghislaine es als zu ungemütlich empfunden, und so aß sie jetzt gemeinsam mit Yvo in ihrer Kammer. Er hatte sie eigentlich schon gegen Morgen besuchen wollen, aber das Wetter hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, und erst in den Abendstunden war er aus Paris eingetroffen. Ghislaine blickte ihren Sohn an. Bei Gott, wo war der Junge mit den zerrissenen Hosen und den zerzausten Haaren hin?! Ein königlicher Knappe mit sorgfältig gekämmtem Haar saß ihr gegenüber. Allerdings verdrückte er sein Essen noch immer mit der atemberaubenden Geschwindigkeit wie früher.
„Seine Majestät hat dich letztens sehr gelobt, Yvo. Du bist ein aufmerksamer, gewandter Kämpfer, sagte er.”  Sie lächelte ihrem Sohn zu, obwohl sie im Grunde eher wünschte, er müsse nie mehr nach Paris zurückkehren und sich an diesem – Gott verzeihe ihr – Ort des Verderbens aufhalten, wo die Luft mit Falschheit und Hinterlist vergiftet war! Aber damit durfte sie Yvo nicht belasten; er war noch ein Kind. Ein Kind, das schon viel zuviel wusste… „Philipp wird dich gewiss in zwei, drei Jahren zum Ritter schlagen…“
„Hm, machte der Junge nur, intensiv an einem Hühnerknochen nagend. Als er ihn bewältigt hatte, fragte er: „Mutter? Wisst Ihr etwas von Sire Jocelin?“
„Ich habe dir gesagt, du sollt seinen Namen nicht erwähnen!“
„Aber niemand ist hier! Die alte Mimi“, er wies in Richtung der Katze, die es sich am Kamin bequem gemacht hatte, „wird nichts ausplaudern…“
„Nein, warum sollte ich etwas von ihm gehört haben, Yvo? Ich habe ihn seit über einem Jahr nicht gesehen.“
„Ein Knappe von Marigny hat heute nämlich erzählt, schon über hundert Templer seien in Paris, um den Orden vor der Kommission zu verteidigen. Und ich dachte…”
„Du solltest dich auf deinen Dienst bei Hofe und deine Ausbildung konzentrieren. Du hast einen großen Namen zu verteidigen, das weißt du“, sagte sie, während sich in ihr nur ein Gedanke festsetzte: Nach Paris. Sie musste nach Paris!
Erzbischof Gregor von Rouen meinte, sich verhört zu haben.
„Meister Jacques ist bereits vorgeführt worden?!”
Er streifte seine Reithandschuhe ab und warf sie achtlos auf die Kommode. „Warum hat man damit nicht gewartet, bis ich zurück bin? Und warum hat man mich nicht benachrichtigt?“
„Seine Majestät überstellte den Meister...“ kam die hilflose Antwort des Notars.
Gregor von Rouen spürte, wie Ärger von ihm Besitz ergriff. Noch von der anstrengenden Reise erschöpft wehrte er dem Gefühl nicht.
„Die Kommission stimmte zunächst dafür, auf Euch zu warten, Ehrwürdiger Vater. Aber der Bischof von Mende wollte den Meister sofort vernehmen.“
„So. Der Bischof von Mende“, wiederholte der Erzbischof.
Er begann zu argwöhnen, dass König Philipp ihn hintergangen hatte. Der Rechtsstreit, wegen dem man ihn nach Rouen gerufen hatte, war eine fadenscheinige Angelegenheit gewesen - doch gut genug, ihn tagelang von der Kommission fernzuhalten. Und der Bischof von Mende, der nur seinen eigenen Vorteil im Auge hatte, war Seiner Majestät ein williges Werkzeug gewesen!
„Bringt mir das Protokoll der Sitzung! - Und sind noch weitere Berichte von den Bischöfen eingegangen?“
Der Notar nickte und entfernte sich eilig. Wenig später beugte sich Erzbischof Gregor über die Aufzeichnungen von Jacques de Molays Verhör.
Der königliche Siegelbewahrer Sire Guillaume de Nogaret wohnte der Vernehmung bei, erklärte das Protokoll. Was hatte ein Laie, noch dazu ein Exkommunizierter, unter den päpstlichen Kommissaren zu suchen?! Ihre Sitzungen sollten unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden! Kein Wunder, dass Jacques de Molay nun doch kein Wort der Verteidigung gesagt hatte. Gregor von Rouen war für einen Augenblick entschlossen, ein erneutes Verhör des Ordensmeisters zu fordern. Dann wurde ihm die Undurchführbarkeit dessen klar. Das kirchliche Recht war fraglos auf seiner Seite, doch es gab genügend Wege, auch ohne einen Rechtsbruch die Vorführung des Gefangenen zu verhindern.
Er widmete sich den Berichten der Bischöfe. Auch sie waren enttäuschend. Der Erzbischof von Lyon betrachtete die Vorladung als unverschämte Einmischung in seine Rechtshoheit und weigerte sich, Zeugen zu überstellen. Er hatte kurzerhand den Legaten der Kommission gefangen gesetzt. Der Bischof von Le Puy äußerte sich ähnlich, und auch der Bischof von Paris beharrte darauf, der Papst habe die Untersuchung über den Templerorden den Provinzialkommissionen anvertraut. Ein Schreiben aus Nimes informierte von der Bereitschaft, die aussagewilligen Templer nach Paris zu schicken, erklärte aber das Unvermögen, sie zu eskortieren. Die Große Kommission möge für sicheres Geleit sorgen. Einmal mehr kam Erzbischof Gregor zu Bewusstsein, wie beschränkt seine Kompetenzen und Mittel waren. Wieder sah er hinaus. Es regnete noch immer, ab und zu von Hagelschauern unterbrochen. Und ebenso unaufhörlich und unhaltbar wie der Regen rann der Kommission die Zeit davon. Der Termin des Konzils rückte näher.
Ghislaine betrat das Gasthaus und schob die Kapuze ihres Reisemantels vom Kopf. Die Luft hier, eine Mischung aus Rauch, Schweiß und Speisegerüchen, drängte ihr nach der winterlichen Kälte auf der Straße wie eine Wand entgegen. Das Gasthaus war gut besucht zu dieser Stunde, umso besser, fand sie, für ein Treffen, wie sie es geplant hatte...
Ein zotteliger Hund strich an ihr vorüber, als sie sich setzte. Aber da sie noch kein Essen hatte, von dem sie ihm einen Brocken hätte zuwerfen können, trollte er sich und suchte an den anderen Tischen sein Glück. Weiter hinten, unter dem radförmigen Leuchter, saßen einige Mitglieder der Metzgergilde und tauschten sich über die beste Mast aus. Ihre lautstarke Diskussion klang bis zu Ghislaine. Ein Flackern der Kerzen auf dem Leuchter sagte ihr, dass die Tür gerade wieder geöffnet worden war. Aber es war nicht die Person, auf die sie wartete!
Ein schlaksiger junger Mann hatte die Schenke betreten, schälte sich jetzt aus seinem schäbigen Pelz und steuerte nach kurzem Zögern auf Ghislaine zu.
„Madame, Ihr seit neu in Paris?“ Ehe sie etwas erwidern konnte, sprudelte er hervor: „Ich kenne die Stadt! Jeden Winkel, alle wundervollen und verschwiegenen Plätze! Ich kann Euch sagen, zu welcher Stunde wo die feierlichsten Messen gesungen werden, in welchen Kirchen die heilsamsten Reliquien zu finden sind! Ich führe Euch, gegen einen nur winzigen, wirklich absolut unerheblichen Obolus! Oder sucht ihr eine Herberge? Oh, ich kenne die besten Häuser! Keine Wanzen, keine Flöhe, sauberes Bettzeug und -“
Er verstummte, als der Schatten eines Mannes auf ihn fiel und hielt es dann für besser, sich eiligst zu verdrücken.
Ghislaine erkannte erleichtert Jean de Saint-Florent. Sie war ihm am Morgen begegnet, aber da hatte sie nur noch Gelegenheit gehabt, rasch diesen Treffpunkt auszumachen. Den ganzen Tag über hatte sie sich gefragt, ob er wirklich kommen würde.
„Nun, was darf ich den Herrschaften bringen?“
Die pausbäckige Wirtin mit dem fest um den Kopf geknoteten Kopftuch musterte die Gräfin und den noch stehenden Ordensbruder erwartungsvoll.
Jean de Saint-Florent wollte ihr mit einem hastigen Kopfschütteln zu verstehen geben, dass er nichts wolle, aber Ghislaine antwortete bereits: „Ich denke, du hast eine ordentliche Fleischsuppe und einen guten Wein im Angebot, Wirtin?“
„Oh ja, Madame, nur vom Feinsten! Selbst der Magistrat lässt sich von uns bekochen!“
„Gut, dann bring uns zwei Portionen!“
Sie nickte eifrig und eilte zurück in die Küche, begleitet vom anzüglichen Pfeifen eines der Gäste.
„Messire, ich bin so froh, Euch zu sehen!“ wandte Ghislaine sich an den Ordensbruder. „Ich bin seit zwei Wochen in der Stadt und habe immer gehofft, einen von den Brüdern zu treffen! Sind... alle in Paris?“
„Ja.“
„Und wie kommt Ihr zurecht?“
Ein mattes Lächeln schimmerte durch seinen wilden Bart. „Vermutlich könnten wir alle eine dicke Suppe und einen warmen Schlafplatz gebrauchen! Aber ich will nicht undankbar gegen Gottes Barmherzigkeit sein! Wir sind frei, keiner von uns ist ernstlich krank - das ist in dieser Zeit mehr, als ... als manch andere haben.“
Die Wirtin hatte zwei Krüge mit gewürztem Wein auf dem Tisch abgestellt. Er zog das Gefäß zu sich heran und schloss die Hände darum, wagte aber nicht zu trinken.
„Und Sire Jocelin? Ihm geht es auch gut?“
Jean nickte und hoffte, nicht genauer werden zu müssen. Einerseits wollte er die Gräfin nicht belügen. Andererseits...
Sollte er von der Verzweiflung erzählen, die sie alle und ihren Komtur manchmal ergriff, von den Bußübungen, die Jocelin sich auferlegte, von den Höllenvisionen Arnauds?
Ghislaine fragte nicht weiter. Sie hatte die Augen halb geschlossen und ihre Wimpern warfen Schatten auf ihre von der Kälte geröteten Wangen. Ahnte sie etwas von dem, was er zurückhielt? Plötzlich griff sie unter ihren Mantel und schob Jean einen Moment später einen kleinen Lederbeutel zu.
„Nehmt das! Mehr habe ich zurzeit nicht bei mir!“
Er fühlte die Form von Münzen unter den Fingern.
„Ich danke Euch, Ghislaine. Alle Engel des Herrn mögen Euch beschützen!“ Nein, er war sicher, dass sie dies bereits taten! Wie konnte ein so schönes, gütiges Geschöpf nicht in der Gnade des Herrn stehen? Jocelin ist ein Narr, schoss es ihm durch den Kopf, und in derselben Sekunde schämte er sich für diesen - und alle ähnlichen Gedanken. Gott mochte ihm verzeihen! Wie konnte er je hoffen, Seine Gnade zu erlangen?! Jetzt trank er doch einen großen Schluck aus dem Krug und genoss die angenehme Wärme, die der Wein in ihm verbreitete.
„Sire Jean, richtet Jocelin aus, dass ich - nein“, unterbrach sie sich selbst. „Sagt ihm nichts! Nicht einmal, dass Ihr mich getroffen habt! Erklärt ihm, dass Ihr das Geld gefunden habt, oder irgendein Unbekannter es Euch zugesteckt hat!“
„Wenn es Euer Wunsch ist, werde ich das so halten, Madame.“
„Versprecht mir nur... Versprecht mir, dass Euer Schwert immer bereit sein wird, Jocelin zu verteidigen!“
„Ich werde ihn verteidigen. Mit meinem Schwert, mit meinem Leben, wenn es sein muss.“ 

Eine steile Treppe führte aus dem Kerker der Stadtwache. Der Hauptmann erwartete Jocelin bereits ungeduldig in der Amtsstube. Angesichts der zerlumpten Gestalt, die nun zu ihm trat, schämte sich der Hauptmann plötzlich des Bestechungsgeldes, das er kassiert hatte für einen kurzen Aufenthalt des Fremden bei den Gefangenen. Er nahm einen großen Schluck aus der Weinkaraffe, um die mitleidige Stimmung zu verscheuchen und öffnete dem Ordensbruder die Hintertür.
Jocelin trat hinaus in die Nacht. Obwohl es schon April war, wehte noch immer ein eisiger Wind. Er wickelte sich in seinen Mantel und bog in die Nachbargasse ein. Die Gestalt, die sich hinter ihm aus der Dunkelheit löste, bemerkte er nicht.
Einen Augenblick später wurde er niedergerissen. Im Mondlicht blitzte eine Dolchklinge auf. Der Templer krallte die Finger in das Gewand des Angreifers, wollte ihn nur Seite drücken. Aber der Mann war stark, und er selbst hatte zuviel gehungert in den letzten Wochen. Die Klinge näherte sich Jocelins Kehle. Seine ganze Kraft sammelnd spannte sich der Ordensbruder, bäumte sich mit einem Ruck auf. Er bekam einen Arm frei und hieb dem Fremden die Faust ins Gesicht. Der eiserne Griff um seine Schultern lockerte sich, die Klinge zuckte zurück und zerfetzte seinen Mantel. Mit einer blitzschnellen Bewegung stieß Jocelin die Waffenhand des Angreifers gegen die Mauer, war auf den Füßen und riss das Schwert  aus der Scheide. Wutschnaubend stürzte der Fremde auf ihn zu, eine Handvoll Straßendreck werfend. Jocelin stolperte, sein Gegner suchte ihn zu entwaffnen, aber es gelang ihm zu parieren und seinerseits anzugreifen. Ein rascher Hieb brachte den Attentäter zu Fall, wie schwer er ihn verletzt hatte, konnte er allerdings nicht erkennen. Zumindest schien er für einen Augenblick nicht fähig, Jocelin nachzusetzen.
Irgendwo aus der Dunkelheit klangen aufgeregte Stimmen und Waffenklirren. Wahrscheinlich war die Stadtwache auf dem Kampf aufmerksam geworden. Jocelin sah sich um. Er musste so schnell wie möglich fort von hier, wollte er keine Verhaftung riskieren. In einem der gegenüberliegenden Häuser erkannte er ein vergittertes Kellerloch. Hastig schob er sein Schwert zurück und rannte die Straße hinauf. Schon war der Fackelschein der Männer zu sehen. Das Gitter war eng, aber gerade breit genug, dass Jocelin sich hindurchzwängen konnte. Durch die Gitterstäbe beobachtete er, wie die Stadtbüttel sich um den verwundeten Fremden bemühten. Dann sahen sie sich kurz um. Offenbar war ihnen die Sache größerer Mühe nicht wert, denn schon bald rückten sie ab.
Der Ordensbruder zog sich mühsam wieder nach oben. Die Hand am Schwert sah er sich sorgfältig um, ehe er den Weg zu den Katakomben einschlug.
Die Nachricht von dem Überfall löste Bestürzung unter seinen Brüdern aus.
„Glaubt Ihr, dass der Stadthauptmann Euch verraten hat?” fragte Jean de Saint-Florent.
„Er wusste nicht, wer ich bin“, entgegnete Jocelin. „Aber es ist nicht unmöglich. Vielleicht hat er Verdacht geschöpft.”
„Eines ist sicher“, warf Arnaud ein, ”er, der Euch überfallen hat, wusste genau, auf wen er wartete! Welcher Räuber würde Lumpengesindel wie uns angreifen? Wir müssen vorsichtiger sein. Ab jetzt werden wir nur noch zu zweit hinausgehen!”
„Vor nichts schrecken unsere Gegner zurück! Vor nichts!“
Zorn wallte in Jocelin auf. Wie vielen Brüdern hatte die Anklage des Königs schon das Leben gekostet, wie viele zu Krüppeln gemacht? Zu Tode gefoltert die einen, betrogen die anderen, und nun hetzte man ihnen, den letzten in Freiheit Verbliebenen auch noch Meuchelmörder hinterher!  Es waren genug Tote, genug Leid! Selbst wenn Papst Clemens dem Orden endlich die Verteidigung gestattete, selbst wenn man ihn freisprach - konnten diese üblen Verleumdungen je wieder getilgt werden? Konnten die Brüder diese Jahre der Verfolgung vergessen, ihren Folterern vergeben? Konnte er es?
Er blickte auf das armselige Bündel Mensch, das hinter den Brüdern in der Wandnische lag. Auf ein Gesicht, das er kannte und das ihm doch ganz fremd war. Louis... Am Morgen hatte ihn Ranulf auf dem Marktplatz gefunden. Er hatte sie nicht erkannt. Keinen von seinen Brüdern hatte er erkannt und auch kein Wort gesprochen. Er musste Furchtbares erlebt haben. Gott allein wusste, wie er überhaupt bis Paris gefunden hatte!
Es war nach Mitternacht, als Guillaume de Nogaret die Schreibfeder aus der Hand legte. In seinem Kamin war die letzte Glut erloschen. Der Siegelbewahrer schloss die Augen. Doch schon bald weckte ihn ein kratzendes Geräusch aus seinem Schlummer. Still wartete er einige Augenblicke. Das Geräusch wiederholte sich. Es klang, als werfe jemand Kiesel gegen das Glas.
Nogaret öffnete das Fenster einen Spalt weit. Unten auf der Straße stand ein Mann in dunkler Kleidung. Er hob die Hand und machte dem Siegelbewahrer ein Zeichen. Nogaret nickte nur. Wenig später stand der Dunkelgekleidete in seiner Kammer.
„Nun?”
„Sire, ich hätte ihn fast erwischt...”
„Fast?!”
„Seht, wie er mich zugerichtet hat!” Der Mann öffnete sein Gewand. Guillaume de Nogaret sah einen Verband über Brust und Schultern.
„Wie lang bist du jetzt schon hinter diesem Templer her?” fragte er ungerührt. “Über ein Jahr! Vielleicht sollte ich mich nach einem besseren Mann umsehen?”
„Gebt mir noch ein paar Männer und ich erledige ihn!”
„Nein.”
Mehr Leute, das bedeutete mehr Mitwisser und mehr Mitwisser ließen die Gefahr größer  werden, dass die Anschläge verraten wurden und misslangen.
„Du wirst ihn allein erledigen, und zwar bald!”
Erzbischof Gregor hatte die Anhörung aller bisher eingetroffenen Verteidiger des Templerordens geplant. Als mehr und mehr Zeugen erschienen, war ihm klar geworden, dass die Kapelle des Bischofspalais sie nicht alle würde fassen können. So hatte er die Anhörung in den Garten verlegt. Doch selbst dieser schien nicht ausreichend. Notare drängten sich nervös durch die Menge der Ordensbrüder in dem beinahe aussichtslosen Bemühen, Namen und Herkunft der Zeugen festzuhalten.
Der Erzbischof verfolgte das Treiben vom Balkon aus. Er gestand sich eine gewisse Befriedigung über den großen Erfolg der endlich durchgesetzten Vorladung ein. Der Bischof von Mende, der gerade neben ihn getreten war, teilte dieses Gefühl nicht.
„Es wäre besser, Ihr würdet noch eine Abteilung königlicher Söldner zu unserem Schutz anfordern!“ sagte er, den Blick zu den wenigen Bewaffneten gewandt, die man auf die Mauer befohlen hatte.
„Haltet Ihr solche Männer für fähig, die Hände gegen uns zu erheben?“ entgegnete Gregor von Rouen und wies auf zwei Ordensbrüder, die einen alten Gefährten stützten.
„Sie wollen nichts anderes als vor Unserer Kommission auszusagen!“
Voller innerer Anspannung und mit brennender Erwartung schritten Jocelin und seine Gefährten dem Bischofspalast zu. Würde man sie heute wirklich anhören? Würde das Leben im Untergrund bald zu Ende sein? Nach all den letzten Monaten, allen Enttäuschungen und falschen Versprechungen konnte er das kaum glauben. Er schob die Hand in den Lederbeutel, den er über der Schulter trug. Seine Finger ertasteten das Ordenskreuz. Heute würden sie zum ersten Mal seit fast drei Jahren wieder öffentlich ihr Habit tragen. Ein beinahe unwirkliches Gefühl!
Die Brüder hatten das Palais erreicht. Sie öffneten ihre Taschen und Bündel. Überrascht sahen die Torwächter, wie aus dem Häuflein zerlumpter Bettler eine Schar Templer wurde.
Mit Windeseile verbreitete sich die Nachricht von der Ankunft Jocelins und seiner Gefährten. Freudig wurden sie begrüßt. Viele der jetzt Verteidigungswilligen verdankten ihren wieder gewonnenen Mut allein den Besuchen der freien Templer.
Jocelin fragte nach Pietro di Bologna. Jetzt, wo die Verteidigung des Ordens Gestalt anzunehmen schien, brauchten Arnaud und er unbedingt die fachkundige Beratung des alten Rechtsgelehrten. In den Monaten zuvor waren alle Versuche, mit ihm und den anderen Gefangenen im Louvre Kontakt aufzunehmen, gescheitert. Endlich konnte einer der Brüder Jocelin und Arnaud zu Pietro di Bologna führen…
„Ihr also seid der berühmte Komtur der freien Templer!” rief  der alte Vertreter des Ordens beim Heiligen Stuhl. “Selbst bis zu uns in den Louvre sind Eure Taten gedrungen!”
„Gott hat uns beigestanden“, erwiderte Arnaud beschwichtigend. „Sicher ist eine ganze Menge übertrieben von dem, was Ihr gehört habt!“
„Nun… Ihr seid mit den Dämonen im Bunde, beispielsweise… Aber ich hörte auch, Meister Jacques habe Euch zu Prokuratoren des Ordens bestellt?”
Jocelin nickte. „Wir haben Vollmachten in allen Ordensprovinzen, alles Notwendige zur Verteidigung zu unternehmen. Aber wir wären sehr dankbar für Eure Hilfe, Vater Pietro!“
„Nun, ich werde Euch gern-“
Ein erstaunter Ruf unterbrach ihn: “Sie bringen Komtur Robert! Seht doch!“
Vor den ungläubigen Augen der Pariser Ordensbrüder führten vier königliche Söldner den Gefangenen durch das Tor, den die meisten unter ihnen längst nicht mehr am Leben geglaubt hatten. Nach der langen Kerkerhaft bereitete es ihm sichtlich Mühe zu gehen. Er hielt die Hand über die Augen, um sie vor dem ungewohnten Sonnenlicht zu schützen. Während ein Notar eilig seinen Namen aufschrieb, lösten die Söldner Roberts Fesseln. Augenblicke später war er von seinen Brüdern umringt.
128 Vorwürfe enthielt die neue Anklageschrift gegen die Templer. Die Kommissare hatten sie auf der Grundlage bisher geleisteter Geständnisse ausformuliert. Bereits während der Verlesung auf Latein waren immer wieder empörte Rufe aus den Reihen der Verteidiger laut geworden. Als die Kommissare ansetzten, die einzelnen Punkte auf Französisch zu erläutern, brach die Entrüstung los.
„Genug! Genug! Wir wollen nichts weiter hören! Alles sind Lügen!“
Der Bischof von Mende zischte, er habe gleich gewusst, dass es zum Tumult kommen würde, und es sei die Schuld Erzbischof Gregors, wenn sie alle ihr Leben verlören.
Unbeeindruckt wandte sich jener an die Templer: „Es ist die Absicht unserer Kommission - beruhigt Euch! - Es ist unsere Absicht, getreu den Anweisungen Seiner Heiligkeit Papst Clemens vorzugehen, was den Prozess gegen Euren Orden betrifft. Wir werden anhören, was Ihr zur Verteidigung vorzubringen habt. Aber es ist Uns unmöglich, Euch alle einzeln in dieser Angelegenheit zu vernehmen! Wir sind deshalb bereit, Vertreter anzunehmen, die Ihr ernennt, für Euch und den Orden zu sprechen!“
„Was soll das? Wir sind gekommen, um den Tempel zu verteidigen, mit eigenen Worten, mit dem eigenen Leben!“ schrie ein Bruder. Andere fielen ein, fragten, ob man sie aufs Neue betrügen wolle.
„Wir wollen widerrufen! Wie kann ein anderer an unserer Stelle widerrufen?!“
„Ruhe! Ruhe, oder wir führen Euch zurück in die Kerker!“ brüllte der Hauptmann der bischöflichen Garde.
„Höret!“ Erzbischof Gregor hob beschwörend die Arme. „Die Rekonziliarisierten, die widerrufen wollen, stehen nicht in der Befugnis Unserer Kommission! Sie sollen vor den Kommissionen ihrer Diözesen widerrufen, vor denen sie gestanden haben!“
„Vor denen wir gefoltert worden sind?!“ Das war Isnard de Montreal. „Ich habe schon zwei Brüder auf dem Scheiterhaufen brennen sehen; wenn Ihr uns zurückschickt, werden wir sterben!“
Gregor von Rouen erblickte Jocelin unter den Templern, und die Warnung des apostolischen Notars missachtend drängte sich der Erzbischof durch den Tumult. Er griff Jocelin am Arm und zog ihn zur Seite. “Bruder, wenn diese Männer Euch gehorchen, dann haltet sie zurück, im Namen Gottes! Wir können nicht alle Verteidiger anhören, sagt ihnen das! Wir können es nicht! Ihr müsst Sprecher ernennen, oder die Verteidigung wird überhaupt nicht gehört, versteht Ihr?“
„Ehrwürdiger Vater, Ihr wisst nicht, was Ihr fordert! Meine Brüder haben zuviel erlitten!”
„Wählt Eure Sprecher!“ wiederholte Gregor von Rouen eindringlich. „Wir geben Euch zwei Stunden Zeit zur Beratung, nutzt sie!“
Ohne eine Erwiderung abzuwarten kehrte der Erzbischof um. Vom Balkon aus ließ er den Beschluss zur Bedenkzeit verkünden. Die Notare nahmen ihn ins Protokoll auf, dann zogen sich die Kommissare zurück. Jocelin versuchte, seine unruhigen und enttäuschten Ordensbrüder zu beschwichtigen.
„Wir alle sind bereit zur Verteidigung, aber wenn Sprecher die einzige Möglichkeit sind, unsere Stimme für unsere Unschuld zu erheben, müssen wir Sprecher stellen! Es ist unsere Pflicht, den Tempel von den falschen Anschuldigungen zu reinigen!“
„Sire Jocelin, wir haben so viel erduldet auf dem Weg nach Paris! Wir haben nur durchgehalten in der Hoffnung, hier aussagen zu können!“
„Niemand ist umsonst gekommen! Die Notare haben Eure Namen als Verteidiger in die Listen eingetragen. - Bei Gott, ich weiß, wie Euch zumute ist! Ich habe ebenso wie Ihr gewünscht, dass allen das Zeugnis zur Wahrheit gestattet werde! Doch gebt Eure Verteidigung nicht auf, weil uns dies verweigert wird!“
„Aber wie können wir irgendjemanden ernennen ohne die Zustimmung unserer Komture und des Meisters?“ wandten mehrere Brüder ein.
„Mich und Bruder Arnaud hat Meister Jacques zu Prokuratoren des Tempels erklärt. Viele von Euch kennen mich. Wir haben auch die Vollmacht erhalten, uns weitere Brüder zur Seite zu stellen. Jene, die Ihr aussucht, werden wir approbieren.“
Viel zu kurz waren die zwei Stunden, um alle Fragen zu klären, alle Zweifel zu beruhigen, alle Schwierigkeiten zu erwägen. Ja, die meisten Brüder kannten Jocelin, sie vertrauten ihm, aber dennoch zögerten sie, die eigene Verteidigung anderen zu übergeben. Sie fürchteten die Inquisition und die Leute des Königs, denen es leicht sein würde, einige Sprecher zum Schweigen zu bringen, viel leichter als 500 Ordensbrüder…
Als die Mitglieder der Großen Kommission ihre Stühle auf dem Balkon wieder einnahmen, hatten sich die Templer  auf vorläufig sechs Brüder geeinigt, die sie vertreten sollten: Jocelin, Arnaud, Kaplan Helias von den freien Templern und Pietro di Bologna und Komtur Robert von den Gefangenen aus dem Louvre. Die Brüder aus den südlichen Provinzen ernannten Isnard de Montreal.
„Wir werden die Brüder anhören, die Ihr zu Sprechern erwählt habt oder noch erwählen werdet“, versprach Erzbischof Gregor. „Sie sollen frei sein, sich mit Euch zu beraten, vor Gericht zu erscheinen und alle gesetzlichen Mittel zur Verteidigung zu gebrauchen. Während der Dauer des Prozesses werden sie im Bischofspalast wohnen. Wir werden die Verhandlung am Dienstag fortsetzen. Bis dahin entscheidet Euch, Brüder, wen Ihr des Weiteren zu Euren Sprechern bestimmen wollt! Wir werden Euch Notare schicken, um ihre Namen aufzunehmen und was Ihr sonst vorzubringen habt!“
Erst spät kehrten Jocelin und seine Brüder in die Katakomben zurück, wo Guy, der bei dem kranken Louis geblieben war, auf sie wartete.
„Nun, wie steht es, Messires?” fragte er aufgeregt.
„Erzbischof Gregor gestattet uns, Sprecher zu wählen, die den Orden verteidigen sollen. Das Zeugnis der einzelnen Brüder wird aber nicht aufgenommen.”
„Und können wir widerrufen?” fragte einer der Brüder aus Provins.
„Die Gesuche auf Widerruf hat die Kommission abgelehnt. Aber wir werden weiter versuchen, sie durchzubringen.”
In diesem Moment bemerkte einer von ihnen Louis. Langsam, zögernd kam er näher. Aus seinem Antlitz war die stumpfe Gleichgültigkeit verschwunden. Gespannt blickten seine weit geöffneten Augen. Keinen der Brüder schienen sie wahrzunehmen, einzig und allein den Ordensmantel, den Jocelin neben sich gelegt hatte.
Das rote Kreuz leuchtete im Kerzenschein.
Dann sank Louis auf die Knie und vergrub weinend sein Gesicht in den Falten des Ordensmantels.
„Louis, Louis, alles ist gut…“ sagte Jocelin bewegt. Er legte die Hand auf den Kopf seines Mitbruders und spürte dessen Zittern.
„Ich musste es mit ansehen!“ stieß Louis hervor. „Ich musste sehen, wie sie sie zu Tode folterten - o Gott, o Gott!“
Trotz des Entsetzens erweckten diese Worte Hoffnung in Jocelin. Louis sprach, endlich!
„Ihr seid in Sicherheit, mon frère. Niemand wird Euch mehr etwas antun...“
Louis blickte auf, ergriff Jocelins Hände, umklammerte sie. Langsam begann er zu begreifen, dass die Ordensbrüder um ihn keine Trugbilder waren, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. Menschen, die er kannte.
„Bruder Jocelin... Raoul... Wo bin ich?”
„In Paris. In den Katakomben von Paris.”
Louis sah an sich herab, schien erst jetzt zu bemerken, dass er keine Fesseln mehr trug.
„Ich bin frei? Wie... wie bin ich hier hergekommen?”
„Wir haben Euch auf dem Marktplatz gefunden, hier in Paris.”
„Ich kann mich an nichts mehr erinnern... welches Jahr haben wir?”
„1310, Mai.”
„1310? Der Bischof von Winchester hat mich verhaftet - vor über einem Jahr!”
„Kommt, Louis!” Jocelin half seinem Ordensbruder auf. „Ihr müsst etwas essen. Und die guten Neuigkeiten hören!”
Die Notare der Großen Kommission brauchten zwei Tage, um die Entscheidungen sämtlicher in Paris gefangen gehaltener Brüder einzuholen. Die meisten Templer schlossen sich den bereits ernannten Sprechern an, nur einige weigerten sich weiterhin, Vertreter zu bestimmen und hofften auf eine persönliche Verteidigung. Zuletzt bestätigte Jocelin in einer feierlichen Urkunde alle Erwählten als seine Adherenten.
König Philipp gefielen die Nachrichten überhaupt nicht, die er über die Arbeit der Kommission erhielt.
„Die Prokuratoren haben bereits Verteidigungsschriften eingereicht, die nicht ohne Wirkung geblieben sind.” berichtete Guillaume de Nogaret. “Einige Kommissare äußerten sich öffentlich entrüstet über die bisherige Behandlung der Ordensbrüder. Erzbischof Gregor soll erklärt haben, der ganze Prozess müsse neu eröffnet werden.” Er reichte König Philipp die Abschriften einiger der Verteidigungsschriften.
‘Folgendes soll die Kommission beachten’ las Seine Majestät die Einrede eines Bruders namens Isnard de Montreal.’ Der Orden des Tempels hatte Bischöfe unter seinen Brüdern, die von allen geachtet wurden. Viele Kleriker und Mönche sind aus anderen Orden in den Tempel übergetreten; sie hätten das nicht getan, wäre ein Verdacht gewesen, dass wir Häretiker seien. Auch haben wir vor unserer Gefangennahme nie etwas von solchen Vorwürfen gehört. Wir sind unschuldig, und unser Orden ist unschuldig! Wir haben keines der Verbrechen begangen, die uns zur Last gelegt werden! Wenn ich anders ausgesagt habe vor dem Inquisitor, habe ich gelogen! Und auch vor dem Heiligen Vater in Poitiers! Hiermit widerrufe ich alles, was ich jemals gegen den Orden des Tempels gestanden habe!’
Und eine andere: ‘Der Orden des Tempels ist rein und unschuldig. Wer anderes behauptet, ist ein Ungläubiger und Häretiker, dies schwöre ich, Pietro di Bologna, feierlich. Sämtliche Anklagen sind von Lügnern und Feinden des Ordens fabriziert worden.’
Philipp hob irritiert die Brauen. Was erlaubten sich diese Ketzer, Sodomiter, Verbrecher?! Er nahm ein anderes der Pergamente auf.
‘Ich habe gehört, Meister Jacques, der Visitator von Frankreich und die Provinzmeister des Poitou und der Normandie weigerten sich, den Orden zu verteidigen. Ich bitte Euch, verehrte Herren Kommissare, sorgt dafür, dass sie dem Zugriff des Königs entzogen werden, und dem Nogarets und aller Leute Seiner Majestät! Wir wissen, dass diese Brüder die Verteidigung unseres Ordens nicht wagen, weil sie beständig mit dem Tod bedroht werden! Solang sie in der Hand des Königs sind, werden auch ihre falschen Bekenntnisse bestehen bleiben. Sind sie aus ihr befreit, werden sie sich unserer Verteidigung anschließen...’
„Sieh an, der Komtur Robert von Paris", dachte der König und ließ das Pergament sinken. „Er ist noch genauso stolz und unverschämt wie vor drei Jahren!”
Zweifellos. Enguerrand de Marigny hatte Recht. Der Erzbischofsthron von Sens brauchte dringend einen neuen Inhaber.
Mit einer Handbewegung entließ er seinen Siegelbewahrer und begab sich zu seinem Schreibpult. Er wollte Papst Clemens selbst schreiben, damit jener merkte, wie bedeutungsvoll die Angelegenheit war.
„...Heiliger Vater, als Euer demütiger Sohn, der um das Seelenheil seines Volkes besorgt ist, bitten Wir Euch, lasst die Erzdiözese Sens nicht länger verweist! Lasst die Braut nicht länger trauern und nach ihrem Bräutigam flehen! Erhört das Wehklagen der Gläubigen, die den Angriffen des Bösen ausgesetzt sind wie eine Herde ohne Hirt! Wir bitten Euch, verweigert Eure Zustimmung nicht länger dem Mann, den Gott in seiner barmherzigen Vorsehung bereitet hat, und den Wir Euch als Überbringer dieses Briefes senden! Fürchtet nicht die geringe Zahl der Jahre Unseres Bischofs Philipp, denn was ihm an Erfahrung noch fehlt, wird er durch die Liebe ausgleichen...“
Liebe, o ja! Wahrscheinlich ließ er eine Handvoll Bastarde in Cambrai zurück... Es war nicht leicht, etwas Positives über Philipp de Marigny zu schreiben!
„Leiht Euer Ohr nicht den Neidern“, fuhr Seine Majestät deshalb fort, “den Verleumdern, die Eure Schande und das Verderben der Kirche suchen! Stellt Euch Ihnen vielmehr entgegen und übergebt Philipp de Marigny so bald als möglich das Pallium!“
Erzbischof Gregor besiegelte sorgfältig die Kopien aller bisher eingegangenen Prozesseinreden. Ungeheure Verbrechen schrieen ihm von den Pergamenten entgegen. Da waren Menschen getäuscht, betrogen, verraten worden, zu Tode gefoltert! Wahrhaftig, es stimmte, was Sire Jocelin damals in Poitiers zu ihm gesagt hatte...
„Euer Ehrwürden!”
Die Tür des Saales war aufgestoßen worden. Erzbischof Gregor sah Jocelin eintreten, neben ihm ein zweiter Ordensbruder, an dessen Namen er sich nicht mehr erinnerte. Er blutete aus einer provisorisch verbundenen Armverletzung. Dann erschienen zwei bischöfliche Ritter, einen Gefangenen mit sich führend.
„Euer Ehrwürden, man hat einen Anschlag gegen uns geführt“, berichtete Jocelin. “Hätte sich Bruder Isnard nicht vor mich geworfen, wäre ich nicht mehr am Leben.”
Erzbischof Gregor überlief es kalt. Ein Anschlag auf die Prokuratoren! Aber war das nicht die logische Konsequenz der Schandtaten, von denen die Prozesseinreden berichteten? Er winkte einen der Notare zu sich: “Bring den Bruder zu einem Medikus!” Dann wandte er sich an Jocelin.
„Wie ist es geschehen?”
„Er hat schon einmal versucht, mich zu ermorden, vor ein paar Wochen. Diesmal lauerte er uns auf an der Rue des Poissons, oberhalb der Treppe. Er wartete, bis Bruder Isnard und ich einige Schritt hinter unserer Begleitung waren und sprang von einer der Arkaden auf uns herunter.”
Der Erzbischof von Rouen befahl, den Attentäter vorzuführen. Lange ruhte sein Blick auf dem hünenhaften Mann mit den klobigen Händen. Wenigstens war es keiner seiner Dienstleute!
„Wer hat dich beauftragt?”
Der Fremde blieb stumm.
„Rede! Du weißt, dass gegen jeden, der die Arbeit dieser Kommission behindert, die Exkommunikation verhängt ist!”
Der Fremde starrte auf den Boden.
Gregor von Rouen sog hörbar die Luft durch die Nase. Er verabscheute, was er nun anordnen musste, aber es blieb ihm keine andere Wahl.
„Übergebt ihn den Folterknechten! Ich will wissen, wer ihn angestiftet hat!”
„Zu Befehl, Euer Eminenz.”
„Ihr seht, dass die Feinde unseres Ordens kein Recht anerkennen, sondern mit allen Mitteln nach unserer Vernichtung trachten“, ergriff Jocelin wieder das Wort, nachdem der Gefangene abgeführt war. „Wir haben keinen Schutz außer dem des Heiligen Vaters! Darum bitte ich Euch, erlaubt den Brüdern, die es wünschen, vor Euch zu widerrufen!”
„Bruder Jocelin, dazu habe ich keine rechtliche Befugnis. Es tut mir leid. Die Anweisung des Papstes verbietet Unserer Kommission, den Fall der einzelnen Zeugen zu untersuchen. Wir dürfen nur über den Orden als Gesamtheit inquirieren. - Ich gebe Euch und den anderen Prokuratoren eine größere Eskorte. Mehr kann ich nicht tun.”
Er stand auf und verließ beinahe hastig den Sitzungssaal.
Am nächsten Morgen erfuhr Erzbischof Gregor vom Tod des Attentäters. Jemand hatte ihn in der Nacht erdrosselt, ehe er eine Aussage machen konnte. Natürlich wollte niemand etwas Verdächtiges gesehen haben. Der Erzbischof stellte die Kerkerwächter unter Arrest, aber es war ihm klar, dass er diese Sache nicht würde weiter verfolgen können. Andernfalls wäre vielleicht er selbst sehr bald das nächste Opfer eines Attentates. - Guter Gott, was geschah hier? Welche teuflische Macht war hier am Werk?!
Im Bischofspalais lief dem Erzbischof Gräfin Ghislaine entgegen. Angst zeichnete ihr Gesicht. „Ich habe gehört, dass die Prokuratoren überfallen wurden! Einer der Brüder soll verletzt sein!” rief sie aufgeregt.
Erzbischof Gregor ergriff die Hände seiner Nichte. „Du solltest deine Besorgnis nicht so offen äußern, mein Kind“, warnte er. „Sire Jocelin geht es gut. Er ist es doch, um den es dir hauptsächlich geht. Und der andere Bruder ist in der Obhut meines Medikus.”
Ghislaine schlug ein Kreuz. “Gott sein Dank! Ich habe schon geglaubt -” Der Gedanke war zu furchtbar, ihn auszusprechen.
Erzbischof Gregor legte die Hand auf ihren Kopf. Er zögerte, ob er tatsächlich aussprechen sollte, was ihm gerade durch den Kopf ging. Andererseits hatte er eine priesterliche Verpflichtung, für das Seelenheil der ihm Anvertrauten zu sorgen. Seine Nichte war ihm mehr als alle anderen anvertraut. Und er beobachtete nun schon seit beinahe zwei Jahren, wie sie sich gefährlich in die Nähe des Verderbens bewegte…
„Ghislaine, du solltest dir diesen Mann aus dem Kopf schlagen. Gänzlich und für immer“, begann er entschieden, ihren leisen Protest, ihre Sorge habe damit nichts zu tun, überhörend. „Wenn die Verteidigung des Ordens Erfolg hat – und auf nichts anderes arbeiten ich und Jocelin und die anderen Prokuratoren hin – wird der Papst sie freisprechen und restituieren. Und selbst wenn nicht - Er ist ein Mönch mit den heiligen Gelübden, und er wird es bleiben. Bis zu seinem Tod. Und jeder andere Gedanke ist Frevel.“
„Aber… aber wie soll ich…“
„Bete, und kämpfe gegen das Lächeln des Versuchers an. Das ist alles, was ich dir sagen kann.“
Mit diesen Worten Verlies er sie, um die heutige Sitzung der Kommission vorzubereiten. Täglich trafen neue Aktenberge aus diversen Bistümern der ganzen Christenheit ein; es war eine kaum zu bewältigende Arbeit.
Ghislaine machte sich auf den Weg in die Kapelle, setzte wie betäubt mechanisch einen Fuß vor den anderen. Die schmale Treppe nach oben, die Tür aufstoßen, eintreten – es kam ihr vor, als würde sie eine fremde Person beobachten. Die Stimme ihres Onkels hallte noch immer in ihr nach, jagte sie geradezu. Mit unerbittlicher Gewalt wurde ihr klar, dass Erzbischof Gregor Recht hatte! Und dass all ihr Tun, all IHRE Gebete für den Erfolg seiner Anstrengungen Jocelin weiter von ihr entfernten. Aber… sollte sie deshalb lieber darum flehen, dass sie KEINEN Erfolg hatten, dass der Papst den Orden endgültig verdammte?! Ghislaine fiel vor der Statue der Heiligen Jungfrau auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. Es gelang ihr nicht, die Tränen zurückzuhalten. Und es gelang ihr nicht, irgendein Wort des Flehens an die himmlischen Mächte zu richten. Worum sollte sie auch bitten? Jocelins Glück oder das ihre? Es waren zwei Welten, die ein unüberwindlicher Abgrund trennte.
Als sie sich mit schmerzenden Gliedern erhob, klang bereits das Mittagsläuten durch die Mauern der Kapelle. Sie strebte dem Ausgang zu – und sah sich unvermittelt Jocelin gegenüber. Für einen Moment war sie nicht sicher, ob sie ein Trugbild narrte, oder er es tatsächlich war. Er stand unbeweglich, starrte sie genauso ungläubig wie eine Erscheinung an.
Es war der Augenblick, vor dem er sich all die Monate gefürchtet hatte!
„Ghislaine…“ flüsterte er mit belegter Stimme. „Ihr solltet nicht… nicht hier sein…“ Er berührte zögernd ihr Gesicht, auf dem noch die Spuren der Tränen zu sehen waren.
Ihre Hand schnellte nach oben. Mit einer raschen Bewegung umschloss sie die seine. „Ich bin hier, um für Euch zu beten. Jocelin, wenn … das alles vorbei ist, wenn Ihr zurück seid, auf Eurer Komturei…“ Sie schüttelte den Kopf und suchte nach einem neuen Anfang. „Behaltet mich im Gedenken!“
„Das werde ich tun. Bis ans Ende meines Lebens, Ghislaine.“
Sie ließ ihn los, zog stattdessen ihr Schmuckkreuz vom Hals und schlang die Kette um Jocelins Handgelenk. „Es ist ein Splitter vom Wahren Kreuz darin. Es soll Euch Segen bringen!“ Dann lief sie an ihm vorbei ohne ein weiteres Wort, hinaus aus der Kapelle.
Er blickte ihr nach und wiederholte tonlos: „Bis ans Ende meines Lebens…“ 

Prächtig war der Einzug des neuen Erzbischofs in seine Stadt. In einer endlos scheinenden Prozession von Mönchen und Chorherren mit ihren Heiligenfahnen, Priestern und Diakonen, Akolythen mit großen Kerzen, ritt Philipp de Marigny zur Kathedrale von Sens.
Er trug ein Gewand, das dem Papst würdig gewesen wäre. Fünfzig Gardisten folgten ihm, alle in purpurfarbene Mäntel mit dem Wappen der Marignys gekleidet. Zwei eigens hiermit beauftragte Diener warfen Münzen unter die jubelnde Volksmenge.
Philipp hatte beeindrucken wollen, und das war ihm gelungen. Seine erste feierliche Messe in der festlich geschmückten Kathedrale stand dem Einzug in nichts nach. Altem Brauch gemäß sollte der neue Erzbischof anschließend seine Suffragane und das Kathedralkapitel empfangen. Doch Philipp de Marigny stand nicht der Sinn danach. „Eure altehrwürdige Tradition interessiert mich nicht!“ erklärte er kurz und ließ sich mit einem Seufzer in den Lehnstuhl fallen. „Ich bin vier Tage von Avignon geritten!“
„Aber, Ehrwürdigster Vater, die Bischöfe erwarten Euch-“ wandte der Kammerdiener vorsichtig ein.
„Ich bin der Erzbischof, und spreche mit meinen Suffraganen, wenn ich es will!“ Philipp de Marigny nahm die rote Kappe von seiner Tonsur. „Ich sage Euch, was Ihr für mich tun könnt: bringt mir ein Weib!“
Der Kammerdiener starrte ihn mit offenem Mund an.
„Nun, was ist? Schließlich musste ich all meine Freuden in Cambrai verlassen, um hier die Herde Christi zu weiden! Also geht! Es wird sich doch wohl ein Mädchen finden, das den neuen Erzbischof begrüßen will!“
„Mes frères“, Jocelins Stimme klang düster durch das unterirdische Gewölbe der Katakomben, “die Kommission hat Euer Ersuchen auf Widerruf endgültig abgewiesen, nun, da Sens einen neuen Metropoliten hat.“
„Marigny!“ stieß ein Servient hervor, dem die Gerüchte über den ehemaligen Bischof von Cambrai gut bekannt waren. „Den hat nur eines für dieses Amt empfohlen: das Kriechen vor dem König!“
„Aber er kann uns doch nichts anhaben“, warf ein anderer halb fragend ein. „Wir sind doch alle als Zeugen der Großen Kommission eingetragen! Da stehen wir doch unter ihrem Schutz!“
Jocelin erwiderte nichts. Philipp de Marigny hatte bisher nichts Eiligeres zu tun gehabt, als seine eigene Provinzialkommission von Sens nach Paris zu verlegen. Er residierte im Louvre, und das allein war genug, Misstrauen zu wecken. Auf die Unterstützung des Königs bauend schien er bereit, seine Ansprüche kompromisslos durchzusetzen.
„Ich werde trotzdem widerrufen“, brach Kaplan Helias das Schweigen. „Morgen melde ich mich vor Erzbischof Philipp.”
Die anderen Rekonziliarisierten schlossen sich ihm an. Jocelin hatte erwartet, dass sie so entscheiden würden, aber nun fühlte er Beklemmung in sich aufsteigen. Wenn doch nur endlich erlaubt würde, dass seine Brüder vor der Großen Kommission, vor Erzbischof Gregor, widerriefen! Aber noch waren nach kirchlichem Recht die Provinzialkommissionen für die einzelnen Brüder zuständig. Die bürokratischen Hürden oder die Angst der einzelnen Kommissionsmitglieder, zu sehr mit dem König aneinander zu geraten, schienen unüberwindbar!
Die Kommissionsmitglieder waren vollständig versammelt an diesem Morgen.
„Verehrte Herren Kommissare, wir haben Euch die Beweise vorgelegt, dass die Anklagen gegen unseren Orden nichts als Lügen sind.” begann Bruder Arnaud. „Ihr wisst, dass die Templer immer treue Söhne der Heiligen Kirche waren, und dass sie es auch jetzt noch sind! Ich bitte Euch, veranlasst, dass die Brüder wieder die Heilige Messe hören dürfen, die Sakramente erhalten und --“
Die Pforte der Kapelle wurde aufgerissen. Atemlos stürzte ein Notar zu den Kommissaren.
„Er …will… sie… sie verbrennen!“
„Mann, erkläre dich!” fuhr Mathäus de Napoli auf.
„Die Templer! 55! Erzbischof Philipp!”
„Was?!“ Voller Entsetzen packte Jocelin den Notar am Arm. „Philipp von Sens?!“
„Die Scheiterhaufen sind schon aufgerichtet!”
Pietro di Bologna klammerte sich schreckensstarr an die Zeugenschranke.
„Meine Brüder...“ flüsterte Jocelin. Gestern waren Kaplan Helias und so viele andere aus Provins zu Erzbischof Philipp gezogen, um zu widerrufen! Er sprang auf, rannte zur Pforte. „Bringt mein Pferd!“
„Jocelin! Um Gottes willen, was habt Ihr vor?“
Aber Jocelin hörte weder die Rufe seiner Ordensbrüder, noch der Kommissare.
„Mein Pferd! Beeilt Euch! - Aus dem Weg!”
Mit einer heftigen Bewegung befreite er sich aus dem Griff des Komturs von Carcassonne und schwang sich in den Sattel.
Es war schnell gegangen.
Manche der Templer vermochten noch immer nicht zu fassen, was das Urteil des Erzbischofs bedeutete. Gebannt blickten sie auf die 27 Holzpfähle, um die Knechte immer neue Reisigbündel anhäuften. Kaplan Helias hob den Arm, schlug drei große Kreuze über die Köpfe der auf ihr Ende Wartenden.
„Kostbar ist in den Augen des Herrn das Sterben seiner Heiligen, denkt daran, Brüder!“
„Vorwärts, los!“ befahlen die Söldner und stießen nach denen, die nicht schnell genug waren. Ein junger Bruder aus Paris brach weinend zusammen. Ein anderer Templer zog ihn hoch, ehe der Söldner an der Seite ihn packen konnte.
„Kommt, habt Mut!“ sprach er ihm zu. „Ihr wolltet widerrufen; Euer Tod wird der lauteste Widerruf sein!“
Der Kaplan stimmte den Totenhymnus an, und die anderen fielen ein, lauter und kräftiger, je näher sie ihrem Richtplatz kamen.
Erzbischof Philipp wandte sich zu dem hinter ihm auf der Tribüne sitzenden Siegelbewahrer um.
„Nun, mein lieber Guillaume, ist dies ein Schauspiel nach Eurem Geschmack?“
Nogaret ließ den Blick von der Tribüne über die Volksmenge wandern, die sich an den Balustraden drängte. Hinrichtungen waren immer eine willkommene Abwechslung... Henkersknechte hatten begonnen, die Templer an die Pfähle zu binden, immer zu zweien, “weil sie die widerliche Sünde getrieben haben“, lautete der Befehl des Erzbischofs.
„Passt auf, dass Euch der Wind den Rauch der Feuer nicht ins Gesicht bläst!“ erwiderte Guillaume de Nogaret beißend. Dieser Tag hätte sein Triumph sein sollen! Der Tag, an dem er der gepeinigten Seele seines Großvaters endlich den Frieden bescherte! Er hätte die Verteidigung der Templer vernichten sollen! Aber er hatte versagt! Nun war ihm nur noch vergönnt, sich am Triumph eines anderen zu weiden!
„Oh, Ihr missgönnt mir die kleine Freude, Messire Guillaume?! Ihr seid ein verknöcherter Spielverderber....”
„Hört!“ brummte Nogaret nur.
Der Gesang der Ordensbrüder schallte bis hinauf zur Tribüne. Erzbischof Philipp winkte dem Henker. „Bring‘ sie zum Schweigen! Mach‘ gefälligst schnell!“
Bald züngelten die ersten Flammen durch die Reisigbündel. Kaplan Helias spürte das Zittern des jungen Bruders, den man mit ihm an den Pfahl gebunden hatte.
„Bald ist es vorüber...“ suchte er ihn zu bestärken. „Noch einige Schmerzen, und Ihr werdet die ewige Freude haben...“
Der Qualm wurde dichter, dörrte die Kehlen aus. Keuchend sprach Helias weiter: “Bald wird der Tod uns befreien... der Tod, unser Lohn... Christus wird uns vergelten... was wir für ihn... erleiden!“
In diesem Moment teilte ein Windstoß den Rauchvorhang. Helias sah die Menge der Zuschauer und schrie mit letzter Kraft: “Wir sterben unschuldig! Gott ist unser Zeuge!“
Jocelin trieb sein Pferd durch die erschrocken zurückweichenden Menschen. Seine Augen erfassten die aufschlagenden Flammen, die gierig nach ihren Opfern griffen, sie einhüllten und verzehrten. Und er erkannte einige der Gesichter in der Feuerglut.
Wie die Flammen der Scheiterhaufen loderte Hass in Jocelin auf, verzehrender, wilder Hass, der alle anderen Gefühle und Gedanken in ihm auslöschte, der alle Barrieren und allen Verstand zermalmte.
„Marigny!“ schrie er und spornte sein Pferd zu einem kühnen Sprung über die Balustrade an. “Marigny, Nogaret, ihr Mörder! Ich bringe euch um! Heute landet ihr in der HÖLLE!!!“
Er stürzte sich auf die Leute des Königs ohne einen Gedanken an sein eigenes Leben. Heute, bei seinen Brüdern wollte er sterben - und Erzbischof Philipp mit ihm! Wie ein Besessener kämpfte er gegen die Mauer aus Schwertern und Lanzen, die ihn von der Tribüne trennte. Er achtete nicht auf die Wunden, die er empfing. Sein Pferd brach unter ihm zusammen. Ein Hieb traf ihn am Kopf, Blut lief ihm über das Gesicht. Halb blind focht er weiter. Fast hatte er die Tribüne erreicht, von der Philipp de Marigny und Nogaret längst geflohen waren. Er stach einen Gegner nieder, dann streckte ihn ein Lanzenstoß zu Boden. Er spürte die Hitze der Flammen über sich und verlor das Bewusstsein.
Die Hinrichtung der Templer löste einen Aufruhr in Paris aus. Steine und fauliges Gemüse flogen, Stadtbüttel wurden angegriffen, und allenthalben klangen spitzzüngige Spottverse auf den König und diverse Mitglieder des Hofes. Der Bote der Großen Kommission war froh, als er nach seinem Ausflug in den Louvre, wo Marigny derzeit logierte, das Bischofspalais wieder erreichte. Gregor von Rouen hatte die Wachen am Tor und in der Kapelle, wo die Kommissare und die restlichen Prokuratoren voller Unruhe die Ereignisse abwarteten, verstärken lassen. Gespannt erhob sich der Erzbischof beim Eintritt seines Kundschafters. Der Mann verneigte sich, während Bewaffnete die Pforte wieder verriegelten.
„Die Templer sind verbrannt worden, Ehrwürdiger Vater“, berichtete er sichtlich bestürzt von dem Geschehenen.
„Mit welchem Recht?“ rief Pietro di Bologna anklagend. Erzbischof Gregor gebot ihm Zurückhaltung und wandte sich selbst an seinen Boten.
„Wie begründet Seine Ehrwürden Philipp diesen Gewaltakt, der auf unerhörte Weise in Unsere Kommission eingreift?“
„Diese Templer hätten ihre Verbrechen und die des Ordens erst gestanden, und sich dann zur Verteidigung gemeldet, also seien sie als rückfällige Ketzer zu betrachten“, wiederholte der Bote die Argumentation des Erzbischofs. „Der Papst habe ihm die Gewalt gegeben, über die einzelnen Personen des Ordens, die seiner Metropolie angehören, das Urteil zu sprechen gemäß dem kanonischen Recht. Und das kanonische Recht sieht für Rückfällige den Feuertod vor.“
„Und die Prokuratoren? Was ist mit den anderen Prokuratoren? Wo ist Komtur Jocelin?“
„Beruhigt Euch, Brüder, beruhigt Euch!“ bat Erzbischof Gregor. „Heute kann ich nichts mehr unternehmen, wir müssen bis morgen warten.“
Mit einem Seufzer drückte er sein Siegel unter den letzten Protokollvermerk des Tages.
Keiner der Anwesenden würde wohl in der folgenden Nacht ein Auge schließen...
Die Verbrennung der Zeugen war weit mehr als eine grausame Tat Philipp de Marignys. Sie
stellte die Verteidigung des Ordens in Frage und gefährdete damit das monatelange Bemühen der Großen Kommission. Letztlich war sie ein Angriff des Königs auf den Papst, doch dies sagte Gregor von Rouen allein zu sich selbst.
Am Morgen las er die hastigste Messe seines Lebens. Dann diktierte er zwei Protestbriefe
an Philipp von Sens und den Papst, bevor er sich in den Sitzungssaal begab. Dort stellte er fest, dass sich die anderen Prälaten mit eilig erfundenen Ausreden beurlaubt hatten.
Nur die verbliebenen Prokuratoren der Templer waren anwesend. „Ehrwürdigster Vater, Bruder Arnaud und ich, wir haben entschieden, unsere Verteidigung fortzuführen“, begann Pietro di Bologna. Er sah bleich und übernächtig aus, aber sehr entschlossen. „Ich bitte Euch, dass wir Gelegenheit erhalten-“
In diesem Moment meldete sich ein Bote des Erzbischofs von Sens im Palais. Wenig später überreichte er ein versiegeltes Schreiben.
„Das feierliche Siegel!“ dachte Erzbischof Gregor und zerbrach das Abbild des Doppelkreuzes von Sens. „Dieser eitle Jüngling!“ Während er las, wuchs seine Empörung.
Philipp de Marigny ging mit keinem Wort auf seinen Protestbrief ein, ja nicht einmal die angedrohte Exkommunikation schien ihn zu beeindrucken! Er wagte es sogar, eine neue Forderung auszusprechen!
Gregor von Rouen zitierte laut: “Da Wir das Verfahren gegen die einzelnen Personen des Templerordens ohne weiteres Säumen voranbringen wollen, wie es Unsere Pflicht ist, verlangen Wir die sofortige Überstellung des Bruders Pietro di Bologna zum Verhör.”
Der Erzbischof von Rouen wusste, was das hieß. Pietro di Bologna hatte gestanden und dann widerrufen... Er war einer der wichtigsten Verteidiger...
Er sah den Templer an und merkte, dass auch jener sich über die Bedeutung der Forderung im Klaren war. Erzbischof Gregor gab dem Schreiber ein Zeichen, das Diktat aufzunehmen und begann: „Wir... haben Verständnis für die Bemühungen Seiner Ehrwürden Philipp…“
Heilige Muttergottes, nein! Er hatte nicht das MINDESTE Verständnis! Aber es galt den matten Schein zu wahren, um sich nicht selbst um Kopf und Kragen zu bringen! „Aber Bruder Pietro di Bologna ist unentbehrlich für die Arbeit Unserer Kommission. Wir bitten daher, bis auf weiteres von seiner Vernehmung abzusehen...”
Mit deutlichen Missfallen wartete Marignys Bote die Ausfertigung des Antwortbriefes ab. Er hatte fest angenommen, dass der Zeuge sofort überstellt werde. Mit einem knappen Gruß stolzierte er schließlich hinaus.
„O Jesus Christus!“ murmelte Pietro di Bologna, als die Kapellenpforte wieder geschlossen war. „Ich habe geahnt, dass Philipp de Marigny sich noch nicht zufrieden geben wird, aber dass es so bald schon geschieht...“
Unvermittelt stand Erzbischof Gregor auf und trat hinunter zu den Ordensbrüdern.
„Ich spreche jetzt nicht als Vorsitzender der Kommission zu Euch“, sagte er an Pietro di Bologna gewandt. „Stünde es in meiner Macht, ließe ich Euch niemals an Marigny übergeben, glaubt mir. Aber das Recht ist auf seiner Seite. Wenn er darauf besteht, Euch zu vernehmen, kann ich ihn nicht daran hindern. Und alle Schutzbriefe, die ich Euch ausstelle, werden ihm nichts gelten. Es tut mir leid.“
Isnard de Montreal und Pietro di Bologna wollten wenigstens ihre Ordensbrüder in den Gefängnissen aufsuchen, aber Erzbischof Gregor hielt es für ratsamer, dass die Templer das Palais nicht verließen. Und so vergingen weitere quälende Stunden im Ungewissen um Jocelins Schicksal. Gegen Mittag erreichte die Wartenden eine schreckliche Nachricht:
„Erzbischof Philipp lässt es überall verkünden: Der Komtur der freien Templer sei tot.“
Bruder Arnaud öffnete den Mund zu einem tonlosen Schrei. „Wie ist es geschehen?“ brachte er mühsam hervor.
„Er verübte einen Anschlag auf Erzbischof de Marigny, heißt es, und dabei sei er getötet worden. Aber die Leute sagen, ein Söldner habe ihm die Lanze in den Rücken gestoßen, als er schon am Boden lag. Der Erzbischof  befahl, seinen Leichnam sofort ins Feuer zu werfen.“
Arnaud fiel auf die Knie. „Meine Schuld… meine Schuld…“ murmelte er nur immer wieder, „…ich habe ihn auf dem Weg des Todes geführt… ich …“
In diesem Augenblick hasste Gregor von Rouen seine Aufgabe als Vorsitzender der Kommission, und er empfand das Bedürfnis, in ein weit abgeschiedenes Kloster zu fliehen. Doch keine Mauer der Welt würde die Erinnerung an diese Ereignisse von ihm fernhalten können!
„Was ist mit den Brüdern Helias von Provins und Robert von Paris?“ zwang er sich den Boten zu fragen. Den Komtur von Paris zumindest hätte Philipp unmöglich dem Feuertod überantworten können, schließlich war er kein rückfälliger Ketzer! Aber möglicherweise war derlei diffizile Logik dem neuen Erzbischof von Sens fremd...
„Helias von Provins ist verbrannt worden. Was mit Robert von Paris ist, weiß ich nicht.”
„Sie waren die vom Heiligen Stuhl zugelassenen Prokuratoren!“ Dies bedeutete quasi das Todesurteil für seine Kommission! Lastendes Schweigen senkte sich auf die Versammelten.
Plötzlich trat Isnard de Montreal vor Erzbischof Gregor.
“Ehrwürdiger Vater, ich lege mein Amt als Vertreter der Verteidigung nieder“, erklärte er.
„Heißt das, dass Ihr zu Eurem früheren belastenden Geständnis zurückkehrt?”
Isnard de Montreal schlug die Hände vors Gesicht. “Messire, ich sage, was ich nicht will!“ schluchzte er. „Ihr kennt die Wahrheit! Ich habe so große Angst vor dem Feuertod; ich würde alles bekennen, wenn sie mir damit drohen! Ich würde bekennen, dass ich Christus ermordet habe!“ Er legte seinen Ordensmantel ab, den er erst seit seinem Widerruf wieder getragen hatte und drehte sich zu seinen Brüdern um. „Vergebt mir! Ich bin ein erbärmlicher Sünder! Betet für mich!“
„Ehrwürdiger Vater, ich bitte um Zeit, damit wir uns beraten können!“ ergriff Pietro di Bologna das Wort. Erzbischof Gregor gewährte ihm den Wunsch. Unter diesen Umständen war an eine geordnete Verhandlung ohnehin nicht zu denken.
Schnell pflanzte sich die Unglücksbotschaft der Hinrichtungen und von Jocelins Tod in den Gefängnissen von Paris fort und hinterließ überall Entsetzen, Angst und Verwirrung, auch unter den freien Templern in den Katakomben.
Jean de Saint-Florent marschierte seit einer halben Stunde zornbrütend auf und ab.
„Verdammt, warum war ich nicht an seiner Seite, so wie immer?” murmelte er immer wieder. „Warum bin ich ihm nicht nachgeritten? Ich hätte nicht zugelassen, dass sie ihn umbringen!” Ghislaines Gesicht stand ihm vor Augen, das Versprechen, das er ihr gegeben hatte, der Schwur, Jocelin zu schützen! Und was hatte er getan? „Ich war nicht da! Ich war nicht da, um ihm zu helfen!!!“
„Ihr hättet nichts tun können“, entgegnete ein Bruder, einer der alten Gefährten aus der Auvergne, ruhig. „Ich habe gehört, Sire Jocelin sei ganz allein gegen die königlichen Söldner geritten. Er muss gewusst haben, dass er den Tod herausforderte... und vielleicht wollte er das ja auch.“
„Diese feigen Hunde! Von hinten mit der Lanze zuzustoßen!“
Verwundert sah der Ordensbruder, wie Jean den Ledersack mit seiner Rüstung griff.
„Wohin wollt Ihr, Bruder Jean? Ihr habt keine Erlaubnis, uns zu verlassen!“
Er lächelte düster. „Zum Teufel damit! Noch haben wir keinen neuen Komtur, oder? - Ich verbiete, dass mir jemand folgt!“
Und es machte auch niemand den Versuch, ihn aufzuhalten. Viel zu sehr saß allen der Schock in den Gliedern.
Philipp de Marigny warf den Brief Erzbischof Gregors geringschätzig zur Seite.
„Das heißt also“, sagte er gedehnt und blickte in die Runde seiner Provinzialkommission, “das heißt, Seine Ehrwürden Gregor von Rouen leisten einem offenen Ketzer Beihilfe, sich dem Verhör zu entziehen. Ich finde, wir sollten den Heiligen Vater nicht in Unkenntnis über diesen Akt der Treulosigkeit lassen!“
Keiner der Suffraganbischöfe widersprach, obwohl vor allem dem Bischof von Paris starke Bedenken über das Vorgehen seines Metropoliten kamen. Doch schließlich ging es nicht an, dass eine vom Papst bestellte Sonderkommission in die alten verbrieften Rechte der Erzbischöfe und Bischöfe eingriff, um was auch immer es sich dabei handeln mochte! Noch während die Mitglieder seiner Kommission eine zweite, etwas schärfer gefasste Bitte um Überstellung des Zeugen Pietro di Bologna mit ihrem Siegel versahen, beschloss Philipp de Marigny, es dabei nicht bewenden zu lassen. Er hatte Seiner Majestät zugesagt, die Verteidigung der Templer zum Schweigen zu bringen, und zwar so schnell und gründlich wie möglich!
Eine Handvoll Münzen wechselte den Besitzer, dann huschten die vier Männer an den Wachposten des bischöflichen Palais vorbei. Augenblicke später stürzten sie in eine kleine Kammer. Pietro di Bologna schrak aus dem Schlaf auf. Ehe er schreien konnte, stopften sie ihm einen Knebel in den Mund.
Er fühlte die Spitze eines Dolches gegen seine Rippen drücken, und eine Stimme zischte ihm zu: “Lauf!”
Er stolperte vorwärts. Sein Herz hämmerte in der Brust.
„Das ist das Ende“, dachte er nur. „Das ist das Ende.“ Die vier Männer schleppten ihn durch einen schmalen Gang an dem stinkenden Abfallgraben vorbei, und durch eine kleine Pforte hinab zum Fluss. Dunst lag über dem Wasser. Irgendwo in der Ferne klangen Ruderschläge. Pietro di Bologna hörte, wie die Männer sich etwas zuflüsterten. Plötzlich wurde er herumgerissen, an den Rand der Kaimauer gestoßen. Nur kurz blitzte die Dolchklinge auf.
Aufregung herrschte unter den wenigen an diesem Morgen versammelten Kommissaren. Der Templer Pietro di Bologna war nicht zum Verhandlungstermin erschienen, und – weit schlimmer – er war überhaupt nicht aufzufinden!
„Er war heute morgen nicht in seiner Kammer“, hatte einer der Waffenknechte zum Rapport gegeben.
„Was soll das heißen?“ fragte Erzbischof Gregor. „Wohin hat man ihn dann gebracht?“
„Ich weiß nicht. Er ist - verschwunden.“
„Vielleicht ist er geflohen?“ schlug der apostolische Notar etwas gelangweilt vor, der sich an diesem Morgen gerade einmal wieder zur Anwesenheit bereit gefunden hatte.
„Nein, das kann ich einfach nicht glauben. Noch gestern Abend habe ich mit ihm gesprochen. Er hat gesagt, nur der Tod könne ihn von der Verteidigung abhalten! Er war entschlossen, bis zum letzten zu kämpfen!“
Gregor von Rouen wurde schlagartig klar, was das hieß. Man hatte seinen Zeugen entführt! Oder ermordet! Unter der Rechtshoheit SEINER Kommission! Die einen wurden verbrannt, die anderen von einem Meuchelmörder beseitigt! Heilige Muttergottes!!!  Und wann… würde die Reihe an IHM selbst sein? Gregor von Rouen seufzte resigniert.
„Das Verfahren ist vertagt!“ erklärte er.
Er beschloss, sich zu Ghislaine zu begeben. Wenn sie von Jocelins Tod erfuhr, sollte es nicht durch das Triumphgeschrei Marignys oder die Gerüchte sein.
„Es ist erledigt.“ flüsterte der Mann hinter dem Gitter des Beichtstuhls.
„Ego te absolvo a peccatis tuis, in nomine Patris, et Filii et Spiritui Sancti“, sagte der Priester auf der anderen Seite. Es war Philipp de Marigny. Hastig schob er ein Beutelchen durch das Gitter.
„Das ist der Rest deines Lohnes. Gehe in Frieden, mein Sohn!“
So, Pietro di Bologna war also tot. Nun würde es sich zeigen, ob die Templer noch irgendetwas zu unternehmen wagten! Jetzt war es Zeit für ein wenig Erholung von den Amtsgeschäften... Doch die schien ihm nicht vergönnt, wie er missmutig feststellte, als er den Beichtstuhl Verlies und sich Nogaret gegenüber fand.
„Die Leute bezeichnen die Templer als Märtyrer, wisst Ihr das? Sie haben die Asche von den Scheiterhaufen gesammelt, um sie als Reliquien zu verehren!“
„Die Inquisition wird ihnen das bald austreiben. Lasst sie nur, Sire Guillaume“, antwortete der Erzbischof, demonstrativ mit den Quasten seiner Stola spielend. “Wieso langweilt Ihr mich mit diesen Geschichten? Den Templern ist ein Schlag versetzt, den sie so rasch sicher nicht vergessen! Zumal sie glauben, dass ihr Anführer tot ist...“
Nogaret neigte den Kopf, als habe er sich verhört. Hielt der Erzbischof ihn zum Narren? „Was heißt ‚sie glauben‘? Ist er denn nicht tot?“
„Wo denkt Ihr hin, mein lieber Guillaume! Ich werde doch nicht ein so wertvolles Leben auslöschen!“
„Aber ich habe doch mit eigenen Augen gesehen, wie er in die Flammen gestoßen wurde!“
Philipp de Marigny lachte. “Ihr seid zu leichtgläubig! Das war ein toter Söldner, dem man den Ordensmantel umgehängt hatte! O nein, der Komtur der freien Templer liegt im Verlies!“
„Dann übergebt Ihr ihn dem König?“
„Ich weiß, wie viel Seiner Majestät an ihm liegt. Aber nun… Ihr kennt doch die Gesetze. Er ist Gefangener der Kirche.“
„Was wollt Ihr damit sagen?“
„Dass ich eine kleine Summe für meinen Gefangenen haben möchte!“ erklärte der Erzbischof. “Ihr habt ja keine Ahnung, was Sens unsere Familie gekostet hat!“
Guillaume de Nogaret konnte kaum fassen, dass der blässliche Mann mit dem mädchenhaften Lächeln vor ihm zu so etwas fähig war. “Philipp, doch nur aufgrund des Königs sitzt Ihr auf dem Erzbischofsstuhl!“
Marigny zuckte mit den Schultern. “Seine Majestät zahlt für den Templer, oder er bleibt, wo er ist. - Ich könnte ihn natürlich auch selbst befragen lassen, fällt mir dabei ein... oder ihn an den Papst überstellen…”
„Ihr solltet daran denken, dass auch der Thron eines Erzbischofs nicht für die Ewigkeit gegründet ist!”
„Oho, mein lieber Guillaume, Ihr wollt doch nicht etwa ein Attentat auf mich verüben, wie auf Papst Bonifatius?” Marigny lehnte sich zurück, gähnte und fuhr dann wie beiläufig fort: “Ich frage mich, was Seine Majestät dazu sagen würde, dass der Großvater seines geschätzten Siegelbewahrers der üblen Häresie der Katharer anhing und als Ketzer verbrannt worden ist.”
„Woher-” stieß Nogaret hervor und biss sich auf die Lippen, als er merkte, dass er schon zuviel gesagt hatte.
Philipp de Marigny lächelte.
„Woher ich das weiß? Nun, sagen wir, der Heilige Geist hat es mir zugeflüstert.”
Guillaume de Nogaret überlief es kalt und zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass genau das, was seinen Aufstieg am Hofe des Königs herbeigeführt hatte, auch seinen Untergang herbeiführen konnte: die Bigotterie Seiner Majestät. Der König hatte einen Mann gebraucht, der ihm bei der Vernichtung der Templer half, einen skrupellosen, bedingungslos ergebenen Mann, der sich vor schmutzigen Händen nicht scheute und der es ihm ermöglichte, seinen Heiligenschein zu wahren. Aber wenn das Werk getan war, oder wenn er versagte...
Erzbischof de Marigny lächelte noch immer.
„Es scheint Euch nicht ganz wohl zu sein, Messire Guillaume.” sagte er nun in unschuldigstem Ton. „Vielleicht geht Ihr Euch ein wenig ausruhen?”
Nogaret musste sich zu einer Antwort überwinden.
„Ihr habt Recht. Die Pilze heute Mittag waren etwas schwer.”
„Dann wünsche ich Euch gute Besserung. Lebt wohl, Messire Guillaume. Meinen Segen kann ich Euch ja leider nicht erteilen. Eure Exkommunikation, Ihr versteht?”
Der Siegelbewahrer presste die Lippen zusammen, verneigte sich kurz und schritt zur Kirchenpforte. 

Jocelin erwachte von der eisigen Kälte, die ihn umfing. Einen Atemzug später spürte er auch die Schmerzen im Bein, im Kopf, den Armen. Seine Wange berührte feuchten Stein. „Ich lebe“, dachte er.
Nur mit Mühe gelang es ihm, dass linke Auge einen Spalt weit zu öffnen. Er hob den Kopf. Rasende Schmerzen durchfuhren ihn. Ihm wurde übel, und er verlor erneut das Bewusstsein. Der Klang einer Stimme rief ihn zurück.
„Sire Jocelin?“
Er versuchte, sich aufzurichten und merkte, dass er in Ketten lag. Gefangen! Eine Hand fasste vorsichtig unter seinen Kopf.
„Wer...?“ krächzte Jocelin.
„Komtur Robert von Paris.“
Er tauchte den   Zipfel seines Mantels in die Wasserschale und tupfte über das blutverklebte Gesicht seines Ordensbruders.
„Wo sind wir?“
„Im Verlies des Bischofspalais.“
Mit dem wiederkehrenden Bewusstsein kam Jocelin die Erinnerung an das, was geschehen war. Die Scheiterhaufen, der Kampf... Und ihn hatten sie am Leben gelassen... Warum? Warum? Im selben Augenblick, da die Frage in ihm auftauchte, kannte Jocelin die Antwort. Bevor er zugrunde ging, sollte er reden! Solange noch ein Funken Leben in ihm war, würden die Folterknechte ihn peinigen! Er stieß einen verzweifelten Schrei aus und warf sich gegen die Mauer.
„Mon frère, was tut Ihr?!“
Komtur Robert packte ihn an den Schultern.
„Ich will sterben! Helft mir doch!“ Ihm schwindelte. Erschöpft sank er zusammen. Er tastete nach dem Kreuz um seinen Hals, Ghislaines Kreuz, um es abzureißen, aber dazu fehlte ihm die Kraft.
„Ihr habt Schmerzen und wisst nicht, was Ihr sagt!“ meinte Robert erschrocken und schlug seinen Mantel um Jocelin.
„Doch... tötet mich! Tut mir diesen letzten Dienst als Bruder! Ich habe... nichts mehr... zu erwarten!“
„Schweigt, schweigt!“ Behutsam bettete ihn Robert in seinen Schoß. „Ihr sündigt gegen Gott!“
„Gott?“ flüsterte Jocelin kaum hörbar, aber Komtur Robert vernahm die ganze Qual seines Ordensbruders in diesem Wort.
„Gott ist TOT! Gekreuzigt vor Jahrhunderten! Und jetzt... regiert der SATAN!“
Eilig hatte sich Marigny in die für ihn hergerichteten Gemächer des Louvre begeben. Er wollte sich noch umkleiden. Bereits zweimal war der Erzbischof in den vergangenen Tagen bei einer jungen Schustersfrau gewesen. Sie war ein äußerst lebenshungriges und geldgieriges Geschöpf, und es hatte ihn nicht viel Kunstfertigkeit gekostet, sie zu seiner Mätresse zu machen. Er zog Reithosen aus feinen, weichen Leder an, dann ein Wams mit weiten Ärmeln nach der neuesten Mode. Ein schwarzes Samtbarett vervollständigte das weltliche Gewand. Prüfend betrachtete er sich im Spiegel. Gewiss, die Aufmachung würde ihr gefallen. Zuletzt bediente er sich noch aus dem kleinen Parfümflacon, das er sich aus Konstantinopel hatte mitbringen lassen. Die Frau  hatte ihm mehrmals geklagt, wie sehr sie den Ledergeruch ihres Mannes hasste!
Die Glocken von Notre Dame läuteten die neunte Stunde. Der Schuster würde also noch einige Zeit in seiner Werkstatt zu tun haben.
An seinem Ziel angelangt empfing Philipp de Marigny die kleine Dienstmagd, die einzige Mitwisserin.
„Die Herrin ist noch auf dem Markt“,  erklärte sie. „Soll ich Euch schon in ihre Kammer bringen?“
Etwas ungehalten willigte der Erzbischof ein und folgte der Magd über die Außentreppe in den hinteren Teil des Hauses. Die Kammer lag im obersten Stockwerk. Ein kleines Fenster gab den Blick auf die dahinter liegende Stadtmauer frei. Seufzend sah sich Marigny in der kargen Einrichtung um, während die Holzschuhe der Magd wieder nach unten klapperten. Er müsste unbedingt versuchen, seine Mätresse das nächste Mal in den Louvre kommen zu lassen.
Endlich öffnete sich die Tür.
Philipp de Marigny drehte sich lächelnd um - doch nicht seine Geliebte war eingetreten. Ein großer Mann mit dunklen Augen stand vor ihm. Ihr Ehemann?! Nein, sicher nicht, er trug ein Schwert! Himmel, er hob die Waffe gegen ihn! Marigny wich zurück.
„Ich bin der Erzbischof von Sens!“
„Ich weiß“, sagte der Bewaffnete, einen weiteren Schritt näher kommend. Dabei schlug er seinen Reisemantel über die Schulter. Entsetzt starrte Philipp de Marigny auf eine weiße Tunika mit rotem Kreuz.
„Keine Angst, ich werde Euch nicht umbringen, obwohl Ihr es verdient hättet...“
Marigny stieß mit dem Rücken gegen die Wand.
„...ich werde Euch nur von einem Teil befreien, das Ihr nicht für Euren priesterlichen Dienst benötigt!“
Mit einem geschickten Schwertstreich durchtrennte der Templer die Verschnürung von Marignys Reithose. Der Erzbischof kreischte.
„Schreit ruhig, es wird Euch niemand hören! Der Schuster ist mit seiner Frau vor dem Stadtrichter, um sie des Ehebruchs anzuklagen, und die Magd habe ich losgeschickt, Eure Diener zu holen!“
„Tut mir nichts, um Gottes Willen! Ich... ich bezahle Euch! Zweihundert Tournois! Dreihundert, was Ihr wollt!“
„Euer verfluchtes Gold erweckt meine Brüder nicht wieder zum Leben! Eigentlich solltet Ihr mir doch dankbar sein, Ehrwürdiger Vater! Ich bewahre Euch vor noch mehr Sünden!“ Er packte Philipp de Marigny und warf ihn zu Boden.
Die Ordensbrüder hatten beschlossen, sich nach Fontainebleau zurückzuziehen. Sie waren gerade dabei, die Spuren ihres Aufenthaltes in den Katakomben zu verwischen, als sich aus dem Dunkel der Schächte ein Mann näherte. Einen Augenblick später erkannten die Templer ihren Ordensbruder Jean de Saint-Florent. 
„Wo wart Ihr?” klangen ihm aufgeregte Stimmen entgegen. „Sagt doch, wo kommt Ihr her?”
Der Angesprochene wehrte die Fragen mit einer Handbewegung ab. Zwei Tage hatte er nur für seine Rache gelebt. Nun, da sie vollzogen war, erschien sie ihm wertlos.
Arnaud hörte, dass der Vermisste zurückgekehrt war. Und irgendetwas hatte Bruder Jean getan... Der alte Templer stellte fest, dass es ihm ganz gleichgültig war. Alles war ihm gleichgültig. Er fühlte sich völlig leer, so als habe Jocelins Tod jegliches Empfinden in ihm ausgelöscht. Die eine Hälfte von ihm war damals gestorben, die andere jetzt. Was zurückgeblieben war, war nur noch ein Schatten Es kostete ihn Mühe, die Lethargie abzuschütteln und die einzelnen Grüppchen einzuteilen, in denen sich die Brüder  auf den Weg machen sollten.
Der Erzbischof hatte zwei grauenvolle Tage hinter sich. Er war überzeugt, dass die Qualen der Hölle nicht schlimmer sein konnten. Weinend hatte er in einem Augenblick nach seinem Kaplan verlangt, und im nächsten voller Zorn seine Ärzte angeschrieen, sie seien unfähige Trottel. Beinahe noch mehr als unter den körperlichen Schmerzen litt er unter der Vorstellung, ganz Paris tuschele bereits über sein Unglück. Enguerrand de Marigny, den ein Diener des Erzbischofs geholt hatte, saß am Bett seines Bruders.
„Philipp, du wirst es überstehen!“ antwortete er auf das erneute Flehen, schnellstens den Priester mit den Sterbesakramenten kommen zu lassen. „Du wirst wieder gesund!“
„Gesund?! Ich werde niemals mehr gesund!“ rief Philipp de Marigny mit Tränen der Wut. „Ach, diese verdammten Templer sollen alle verrecken! VERRECKEN SOLLEN SIE!!! Wenn ich könnte, würde ich jeden einzelnen von ihnen persönlich zu Tode foltern!!!“
Der Ordensbruder in seinem Verlies fiel ihm ein, und seine Gedanken krallten sich geradezu wollüstig an der Vorstellung diverser Martern fest, denen er ihn unterwerfen wollte.
Ein dezentes Hüsteln. Die Tür war geöffnet worden. „Ehrwürdiger Vater?“ fragte der Kammerdiener vorsichtig.
„Nicht diesen Titel! Ich kann ihn nicht hören!“
„Seine Majestät ist hier.“
„Ich kann niemanden empfangen!“
Doch der König war bereits eingetreten. „Lasst uns allein!“ befahl er den Anwesenden.
Dann neigte er den Kopf zu einem Gruß vor Philipp de Marigny. „Ich erfuhr von Eurem... Unfall. Ich möchte Euch mein aufrichtiges Mitleid aussprechen!“
Der Erzbischof antwortete mit einem gequälten Stöhnen. Er konnte sich denken, dass nicht Nächstenliebe den König zu diesem Besuch veranlasst hatte. Und richtig!
„Ich komme wegen des Templers.“
„Ihr wollt meine Lage ausnutzen!“ dachte Marigny erbost und erwiderte: “Der Templer ist Gefangener der Kirche.“
„Wie geht es ihm?“
„Wie es IHM geht?!“ hätte der Erzbischof beinahe herausgeschrieen. Sein Befinden interessierte den König nicht, aber das Wohlergehen eines verfluchten Gefangenen!
„Er liegt in Ketten, bei Wasser und Brot, wie es das Recht für hartnäckige Ketzer vorsieht.“
„Ich hörte, er sei verwundet. Kümmert sich ein Arzt um ihn?“
„Was wollt Ihr, Sire? Bei allem Respekt, wollt Ihr, dass ich ihn vielleicht in mein Bett tragen lasse?!“
„Dieser Templer ist von außerordentlicher Wichtigkeit für die Krone!“
„Ich bin an das kanonische Recht gebunden, und ich kann -“
König Philipp stützte sich auf das Bett und beugte sich dicht zu dem blassen Gesicht des Erzbischofs.
„Seine Majestät verfügt über nicht genügend Gold, um seine Söldner rechtzeitig zu entlohnen. Aber sein Finanzminister hat die Mittel, sich ein prächtiges Schloss bauen zu lassen! Und die Mittel, seinem Bruder das Erzbistum Sens zu kaufen! Wie kommt das? Es gibt Leute bei Hofe, die sich diese Frage stellen!“
„Nogaret“, dachte der Erzbischof. Das war die Handschrift Nogarets! Dieser dreimal verfluchte Sprössling eines Ketzers hatte ihn angeschwärzt! Nun, dafür würde er bezahlen! Einen besonders widerwärtigen Tod würde er ihm bereiten!
„Wenn ich Euren Bruder wegen Diebstahls an der Staatskasse verhaften lasse, hier, an Eurem Bett, wie würde Euch das gefallen, Ehrwürdiger Vater?“ fuhr der König fort. Seine Stimme war leise und bedrohlich geworden. Und Marigny erkannte, dass dieser besondere Gegner eine Spur zu groß für ihn war, um ihn herauszufordern.
„Gut! Gut, Ihr könnt den verdammten Ketzerbastard haben!!!“
Der König nahm wieder seine gewohnte elegante Haltung ein. „Ihr seid ein einsichtiger Mann, Philipp. Ihr werdet dem Land noch große Dienste erweisen.”
Nachlässig goss der Wächter neues Wasser in die Schalen. Jocelin zog seine heran und trank gierig. Durch den Blutverlust der vergangenen Tage fühlte er sich ausgetrocknet.
Die Schmerzen hatten nachgelassen, und auch die Schwellung seines Gesichts war zurückgegangen, so dass er die Augen wieder öffnen konnte. Doch seine Verzweiflung war nicht geringer geworden. Vielmehr schien sie mit jeder Stunde zu wachsen, wie ein alles verschlingendes Untier ihn aufzuzehren.
Er kroch von der Tür zurück. Eine Welle der Bitterkeit durchflutete ihn, als er sah, wie Komtur Robert sich bekreuzigte und die Hände zum Gebet faltete.
„Wie könnt Ihr noch beten? Wie könnt Ihr noch glauben? Gott hört uns nicht!“
„O doch, er hört uns, und er ist bei uns mit seiner Liebe -“
„Ha! Wo war Euer Gott der Liebe auf den 27 Scheiterhaufen? Hat Gott vielleicht seine Hand ausgestreckt, um die Brüder aus den Flammen zu reißen?“ Jocelins Stimme zitterte vor Erregung. „Ja, ich habe auch gebetet, und gehofft, und gekämpft, ich habe vertraut, dass der Allmächtige das Unrecht nicht siegen lassen kann! Aber er tut es! Wie soll ich an diesen Gott noch glauben, ihn lieben? Wenn er das zulässt, ist er ein grausamer Gott, oder er ist ohne Macht!”
Er verstummte und lehnte stöhnend den Kopf an die kalte Mauer. Das Leben widerte ihn an. Er verabscheute die Sehnsucht nach jedem Tropfen Wasser, nach dem harten Brot, das der Wächter ihnen hinwarf, Dingen, die seine Qual doch nur verlängerten.
„Ich habe gesehen, wie unsere Brüder gestorben sind. Sie haben gesungen, mitten im Feuer!“ Robert hockte sich neben ihn. „Sie waren schon im Frieden Gottes! ‚Die Augen der Welt sehen sie sterben, doch sie sind im Frieden, und die Schmerzen des Todes berühren sie nicht‘, steht es nicht schon so in der Schrift? Der Herr war an ihrer Seite, er hat sie verherrlicht in diesem Tod! - Bruder Jocelin, ich war so verzweifelt wie Ihr. Ich meinte, Gott hätte uns verlassen, weil er keine Antwort gab auf mein Schreien - bis ich begriff, dass er seine Antwort bereits gesprochen hatte...“
Er wendete den Kopf zu dem winzigen Fenster mit dem Kreuz aus Eisenstäben.
„Seht doch das Kreuz, Bruder Jocelin! Das ist die Antwort, die Gott zu uns gesprochen hat, gesprochen in seinem Ewigen Wort, in Jesus Christus! Er ist von einem ungerechten Richter zu einem ungerechten Tod verurteilt worden, Söldner haben  ihn gegeißelt und angespuckt und ans Kreuz geschlagen. Versteht Ihr? Wir erleiden, was Christus erlitten hat! Wir tragen Sein Kreuz, nicht mehr nur auf unserem Gewand! Es ist die Vollendung aller unserer Opfer, die wir im Kampf für den Herrn gebracht haben! Lange habe ich es nicht wirklich verstanden, aber als ich unsere Brüder auf dem Scheiterhaufen sterben sah, da wusste ich, was das Gelübde der Templer bedeutet: ‚Calicem salutaris accipiam‘. Ich will den Kelch des Heiles annehmen, den der Herr mir reicht. Es ist der Kelch des Leides, den  Christus selbst getrunken hat! Er reicht ihn uns, damit wir ein vollkommenes Opfer sind... Was wir erleiden ist keine Strafe, es ist eine große Gnade! Der Herr gibt uns Anteil am Kreuz seiner Erniedrigung und Verachtung, aber wenn wir mit ihm leiden, werden wir auch mit ihm verherrlicht werden! Das hat Er uns zugesagt!“
Jocelin nahm das Leuchten in den Augen seines Ordensbruders wahr.
„Der Kelch… des Heiles…“ wiederholte er ohne zu merken, dass ihm Tränen über die Wangen liefen.
Ihm war, als ob das Leuchten auch ihn durchstrahlte. Und mit der Erkenntnis des Lichtes kam die Erkenntnis der Finsternis.
„Ich habe so schwer gesündigt... ich habe aus Hass getötet, ich habe sogar Gott gehasst… Glaubt Ihr, dass Er mir jemals vergeben wird?“
„Christus hat am Kreuz seinen Mördern verziehen! Ich bin kein Priester, ich darf Euch nicht lossprechen, Bruder. Aber ich bin gewiss, dass Gott Euch bereits vergeben hat!“
Robert griff nach seiner Trinkschale. „Nehmt noch mein Wasser! Ihr müsst zu Kräften kommen! Euer Kreuzweg ist noch nicht zu Ende...“ 

„Vater Gregor?“
Überrascht sah Ghislaine von ihrem Gebetbuch auf, als ihr die Zofe den Ankömmling meldete. Sie hatte Paris vor einer Woche so hastig verlassen, dass sie ihrem Onkel nicht einmal Lebwohl gesagt hatte. Dass er hier war, bedeutete, dass es Neuigkeiten geben musste! Sie lief dem Gast entgegen. „Vater Gregor! Bei all Euren Pflichten opfert Ihr Zeit, um zu mir nach La Blanche zu kommen…”
Sie kniete nieder und küsste den Ring des Erzbischofs. Er hob sie auf und hielt sie einen Augenblick lang fest, als sei sie noch ein kleines Mädchen.
„Ghislaine. Ich habe dir… etwas mitzuteilen. Es ist besser, wir gehen an einen Ort, an dem wir ungestört sind.“ Leicht beunruhigt nickte sie und wies dem Erzbischof den Weg in die Kapelle.
Gregor von Rouen schloss die Tür hinter sich. Noch nie hatte es ihm solche Mühe bereitet, die rechten Worte zu finden.
„Ghislaine, Gottes Entschlüsse sind weise und gerecht. Wir dürfen niemals an ihnen zweifeln. Manchmal scheinen sich grausame Dinge zu ereignen.“ begann er. “Es gab einen Kampf in der Stadt, während der Hinrichtung der Templer. Jocelin... ist gefallen.“
Ghislaines Augen wurden groß. „Was?“ fragte sie mit schwankender Stimme. Es dauerte einen Moment, bevor sie wirklich den Sinn seiner Worte erfassen konnte. “Tot?”
“Sie haben ihn nicht mehr foltern können, er hat nicht gelitten.“
Sie stützte sich gegen die Mauer und schloss die Augen. „O Gott…. o mein Gott... Ich… hab ihn so geliebt…“
„Ich weiß. Es tut mir leid, dass ich dir diese Nachricht bringen musste.“
„Er soll... ein würdiges Begräbnis bekommen, Vater, wenigstens das! Ich bitte Marigny, mir seinen Leichnam zu geben...“
Gregor von Rouen sammelte Kraft, um zu sprechen. Er hätte Ghislaine diese Einzelheiten gern erspart. „Erzbischof Philipp hat ihn verbrennen lassen.“
„Ich will fort, fort!“ flüsterte sie. „Ich kann das alles hier nicht mehr ertragen!“
Erzbischof Gregor legte die Arme um seine Nichte und lauschte dem Krächzen der Raben, die draußen vorbei flogen. Die Natur selbst hatte ein Totenkonzert angestimmt; das Ende von Allem schien ihm so nah, greifbar nah. War es möglich, dass sie tatsächlich das Finale aller Zeiten erlebten und Zeugen des Untergangs der Welt wurden? Wenn ja, fragte sich Gregor von Rouen, wer von ihnen würde dann zum Tisch Christi geladen werden?
Abenddämmerung senkte sich über das königliche Palais auf der Ile de la Cité.
„Euer Majestät, der Templer ist hier“,  hatte man soeben Seiner Majestät mitgeteilt. „Richtet ihn ordentlich her“, wies Philipp an. „Er soll merken, dass ich ihm nicht übel gesonnen bin! Und dann bringt ihn in mein privates Gemach! Achtet darauf, dass niemand ihn sieht!“
Eine knappe Stunde später wurde Jocelin vor den König geführt.
„Wie ich sehe, tragt Ihr noch immer dieses verabscheuungswürdige Gewand“, kommentierte Philipp emotionslos, während seine Hand mit dem königlichen Ring über die Tischplatte strich.
Jocelin dachte an Arnaud, Komtur Robert, an all seine Brüder, von denen er nicht einmal wusste, ob sie noch am Leben waren, und betete um Kraft. „Es ist das Gewand des Ordens, in dem ich meine Profess geleistet habe. Ich halte ihm die Treue.“
Der König nahm die Antwort hin, ohne eine Regung zu zeigen. „Kommt näher", befahl er. Jocelin trat in den Lichtkreis des Kronleuchters.
„Es gibt nicht viele Männer, die wagen würden, was Ihr gewagt habt. Sich dem Papst und dem König entgegenzustellen...”
„Ich habe nur gekämpft, dass meinen Brüdern ein Recht zuteil wird, das nicht einmal einem Verbrecher verweigert wird! Wir sind keine Häretiker!”
Der König hob die Hand. „Ruhig, mein junger Bruder“, sagte er als wolle er einen seiner Jagdhunde beruhigen. ”Ich weiß, dass Euer Orden unschuldig ist. Und ich verlange kein Bekenntnis der Ketzerei von Euch.”
Jocelin wankte vor Schwäche und Entsetzen. Endlich hatte er aus Philipps eigenem Mund gehört, was er und seine Brüder immer geargwöhnt hatten. Der König wusste, dass die Templer schuldlos waren! Und trotzdem, trotzdem -!
„Alles, was ich will, sind die Namen Eurer Helfer!”
Als Jocelin schwieg, fuhr Philipp fort:
„Bedenkt, Ihr habt mir zu verdanken, dass Ihr frei von Ketten seid, gebadet und rasiert, dass ein Arzt Euch versorgt hat. Mir liegt nichts an Eurem Leid oder Eurem Tod. Mir läge im Grunde nicht einmal etwas an Eurem Orden, wenn er sich nicht als ein so bornierter, rückwärtsgewandter Stolperstein für die Zukunft dieses Königreiches erwiesen hätte…”
Philipp erhob sich. Der weite Königsmantel bauschte sich in reichen Falten um seine Füße. „Ihr könnt reden - und leben, oder schweigen - und leiden. Ihr wisst, wie die Inquisition mit Euren Brüdern verfahren ist. Hofft nicht, dass der Papst sich für Euch verwendet, oder dass Eure Brüder Euch befreien. Sie halten Euch für tot. Ich kann Euch foltern lassen, dass Ihr wirklich wünschen werdet, lieber tot zu sein, aber ich werde zu verhindern wissen, dass Ihr sterbt! Ich kann Euch aber auch begnadigen, Euch einen Posten als Kastellan und eine Pension geben. Ihr könnt wählen, Templer!“
Als der Ordensbruder weiterhin schwieg, griff König Philipp nach der Glocke, um den Bewaffneten zu läuten.
„Ihr werdet reden“, sagte er. „Und wenn nicht heute, dann in einer Woche oder in einen Monat…“
Und dann würde es endlich Zeit sein, die letzten freien Templer und ihre Unterstützer zur Strecke zu bringen! Wenn diese Brut mit der Wurzel ausgerissen und vertilgt war, würde er sich endlich wieder den Dingen seines Königreichs widmen können, die schon so lange seiner Sorge harrten!
Erzbischof Gregor war zurückgekehrt nach Paris und hatte sich in die Kapelle des Bischofspalastes begeben, an den Ort, an dem die Kommissare über Monate hinweg versucht hatten, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Nachdenklich, fast wehmütig glitt seine Hand über die sorgfältig versiegelten Reinschriften der Protokolle. Wie verheißungsvoll hatte vor knapp vier Wochen die Verhandlung begonnen! Es hatte geschienen, als ob nichts mehr den Beweis der Unschuld beeinträchtigen könne! Über 500 Entlastungszeugen! Und nun hatte Philipp de Marigny alles zunichte gemacht! Gregor von Rouen ließ den Blick über die Statuen an den Pfeilern der Kapelle wandern. Ihre Konturen begannen in der einbrechenden Nacht zu verschwimmen.
Obwohl er sich dagegen wehrte, tauchten immer wieder Erinnerungen an Jocelin aus der Dunkelheit auf.
„Weil Ihr im Ruf steht, die Wahrheit und Gerechtigkeit Gottes mehr zu lieben als das Ansehen bei den Menschen, hatte Jocelin damals in Poitiers zu ihm gesagt. Bis an sein Lebensende würde er diese Worte nicht vergessen! Die Wahrheit ... liebte er die Wahrheit? Er hatte das früher immer von sich geglaubt... Warum ließ er dann zu, dass sie unterdrückt wurde? Mit gespreizten Fingern blieb seine Hand auf den Protokollen  liegen, als müsse er sie schützen. Ja, dort stand die Wahrheit! Philipp de Marigny mochte die Prokuratoren umbringen, aber nicht ihre Worte! Nicht den Beweis ihrer Unschuld! Entschlossen stand Erzbischof Gregor auf, zündete ein paar Kerzen an und begab sich in die Sakristei.
Er öffnete die Truhe mit dem Altargerät und räumte sie aus. Der Herr würde ihm verzeihen, dass die heiligen Gefäße für kurze Zeit ohne Schutz blieben. Die Wahrheit war ebenso heilig! Er schleppte die Truhe in die Kapelle und schichtete sorgfältig die Protokollreinschriften hinein. Dann eilte er hinaus, nach seinem Kammerdiener rufend. Keuchend kam der alte Mann die Treppe hinab gerannt, im Glauben, ein Unglück sei geschehen.
„Lasst meine Sachen zusammenpacken und die Pferde satteln!” befahl Erzbischof Gregor.
„Jetzt, um diese Stunde?“ fragte der Diener ungläubig.
„Ja, sofort! Wir reisen nach Avignon zum Heiligen Vater!”
Das Wegkreuz von Fontainebleau schälte sich aus dem Morgendunst. Die ganze Nacht über waren die Brüder gewandert, um bei Tagesanbruch im Schutz ihres alten Verstecks zu sein. Jean de Saint-Florent und Ranulf gingen voraus in Richtung der verborgenen Höhle. Denn wer konnte sagen, ob sich nicht unterdessen Zigeuner oder Räubergesindel hier eingenistet hatten?! Ein paar Zweige der Büsche waren abgeknickt, vor noch nicht allzu langer Zeit; die Bruchstellen waren noch frisch. Ein Tier oder -?
Plötzlich war es Ranulf, als habe er etwas gehört. Geduckt schlich er die wenigen Schritte, bis sich die Steinwände zum Kessel weiteten. Sein vorsichtiger Blick erfasste einen barfüßigen, in Lumpen gekleideten Mann.
„Unsere Höhle ist entdeckt!“ flüsterte er seinem Begleiter zu. „Was jetzt?“
Bruder Jean pirschte sich an seine Seite und sah ebenfalls auf den Eindringling. Da löste sich ein großer Kiesel aus der Wand, an die Ranulf sich lehnte. Der Aufschlag schien überlaut. Erschrocken erstarrten die beiden Ordensbrüder. Der zerlumpte Fremde fuhr herum, stürzte sich auf das verräterische Geräusch. Bruder Jean zog sein Schwert, holte aus - und verhielt so abrupt wie der Fremde. Überrascht starrten sich drei Augenpaare an. Ranulf fand als erster die Sprache wieder.
„Großer Gott! Sire Raimond!“ rief er. „Was macht Ihr denn hier?“
„Ich habe auf Euch gewartet.“ Der ehemalige Ordensritter strich seine langen Haarsträhnen hinter die Ohren.
„Wie lang seid Ihr schon hier?“
„Eine Woche, vielleicht. Ich war in Paris, zuvor. Ich wollte vor der Kommission aussagen. Es hieß ja, dass jeder gehört werden soll... Ich habe die Hinrichtung gesehen… Und... wie sie Komtur Jocelin ins Feuer gestoßen habe. Da bin ich davongerannt. Ich wusste nicht, wo ich hinsollte - außer nach Fontainebleau. Ich habe gehofft, dass Ihr zurückkommt…“
„Nun, das sind wir!“
Bruder Jean klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter; vergangene Querelen aufzuwärmen war jetzt wirklich nicht der Zeitpunkt! „Ranulf, gib den anderen Bescheid! Der verlorene Sohn ist zurück!“
Schon lastete sommerliche Hitze über der Provence. Der Wind trieb eine feuchte, schwere Luft durch Avignon. Unter gewöhnlichen Umständen wäre Papst Clemens in diesen Wochen in kühlere Gefilde des nördlichen Frankreich umgezogen. Doch er wollte eine allzu große Nähe zu König Philipp um jeden Preis vermeiden. Der Preis, das war seine sich mit jedem Tag verschlechternde Gesundheit. Krämpfe und Übelkeit plagten ihn, und er hatte das Gefühl, dass sein Inneres sich langsam auflöste wie ein Lehmklumpen in Wasser. Er sehnte sich nach Ruhe, doch selbst in den Stunden, da er ohne Schmerzen war, raubten ihm Botschaften den Frieden. Am Morgen hatte man ihm wieder eine solche Nachricht überbracht. Es handelte sich um einen Brief des Großkomturs der rheinischen Templerprovinz. Er beklagte sich bitter über die Hinrichtung so vieler Ordensbrüder durch den Erzbischof von Sens.
Sie seien als Märtyrer gestorben, und dass sie unschuldig waren, sei allein damit bereits erwiesen, dass- so erzähle man sich - ihre Ordensmäntel nicht verbrannten. Der Großkomtur weigerte sich, vor der Mainzer Kommission zu erscheinen, da offenbar nichts anderes das Ziel dieses Prozesses sei, als den Orden in niederträchtiger und unrechter Weise zu vernichten. Er appellierte an den Papst, und sollte Clemens nicht in der Lage sein, Recht zu schaffen, an seinen Nachfolger auf dem Stuhl Petri.
Der Heilige Vater erhob sich aus dem gepolsterten Lehnstuhl, in dem er den größten Teil des Tages zubrachte und rief nach seinem Kammerdiener. Im Grunde hielt er sich für nicht fähig, eine Audienz zu gewähren. Aber Gregor von Rouen war ein besonderer Gast...
„Ich ersuche Euch, Clemens, ruft Philipp de Marigny zur Ordnung, oder Eure Kommission kann ihre Ermittlungen nicht fortführen! Marigny lässt meine Zeugen, die offiziellen Prokuratoren des Ordens, verbrennen und ermorden!“ begann der Erzbischof nach einer formlosen Begrüßung.
„Philipp von Sens... Von Seiner Ehrwürden liegt mir auch ein Schreiben vor, in welchem Ihr der Begünstigung der Häresie angeklagt werdet.“
„Das ist lächerlich!“ rief Gregor von Rouen empört. „Alles, worum ich mich bemühe, ist, das der Kommission anvertraute Verfahren ordnungsgemäß durchzuführen!“
Papst Clemens merkte, wie sich ein neuerlicher Krampf in seinem Magen zusammenballte und öffnete das alabasterne Medizindöschen. Während er etwas von dem Pulver in die kleine Wasserkaraffe neben sich schüttete, erwiderte er:
„Die Maßnahmen Philipps von Sens halten sich korrekt an das kanonische Recht. Ihr habt keinerlei Beweise, dass der Erzbischof von Sens auch nur etwas mit dem Verschwinden des Zeugen Di Bologna zu tun hat, geschweige denn, dass er ihn ermorden ließ. Im Gegenteil: am Morgen, nachdem er angeblich seine Ermordung veranlasst hatte, forderte Erzbischof Philipp erneut eine Überstellung des Zeugen! Ich kann ihn nicht zur Rechenschaft ziehen!“
„Dann gebt mir größere Vollmachten! Mir und Eurer Kommission! Heiliger Vater, ich habe Euch die Protokolle mitgebracht, und sie sagen es deutlich, wie es deutlicher nicht sein könnte: Der Templerorden ist unschuldig! Ihr werdet zu dem gleichen Schluss kommen, wenn Ihr sie lest! Wir müssen dem Orden jede Unterstützung geben, derer wir fähig sind!“
„Ich habe Euch alle Vollmachten gegeben, Gregor.“
Der Erzbischof von Rouen schüttelte enttäuscht den Kopf. „Was ist unser Recht wert, wenn es nur dem Unrecht zum Sieg verhilft?“ dachte er, während er sich zur Tür wandte, mit einem Male die Müdigkeit und die von der langen Reise schmerzenden Glieder überdeutlich spürend.
Im November nahm die päpstliche Untersuchungskommission ihre Arbeit wieder auf. Sechs Monate verhörte sie die noch aussagewilligen in Paris anwesenden Templer. Ein Teil der Ordensbrüder brachte den Mut auf, die persönliche Unschuld zu beteuern und auch den Orden wenigstens nicht zu belasten. Andere wiederholten frühere Geständnisse oder die Bekenntnisformeln, die man ihnen vorlegte. Als die Kommission das Verfahren im Juni 1311 schloss, bewiesen die unstimmigen, unglaubwürdigen Geständnisse die Unschuld des Ordens ebenso wie ein Jahr zuvor die Verteidigung.