Mittwoch 9. Mai 2007
»Du wirst nicht glauben, wer mich gestern angerufen hat«, sagte Cosima aus dem Badezimmer. »Ich sag dir, ich war ganz platt!«
Bodenstein lag im Bett und spielte mit dem Baby, das glucksend nach seinem Finger griff und mit erstaunlicher Kraft festhielt. Es wurde Zeit, dass sie diesen verwickelten Fall lösten, denn er sah seine jüngste Tochter definitiv zu wenig.
»Wer denn?«, fragte er zurück und kitzelte Sophias Bauch. Sie juchzte und strampelte mit den Beinchen.
Cosima erschien in der Tür, nur ein Handtuch um den Körper geschlungen, in der Hand die Zahnbürste.
»Jutta Kaltensee.«
Bodenstein erstarrte. Er hatte Cosima nicht erzählt, dass Jutta Kaltensee ihn in den letzten Tagen mindestens zehnmal angerufen hatte. Zuerst hatte er sich geschmeichelt gefühlt, aber die Gespräche waren für seinen Geschmack zu schnell zu vertraulich geworden. Doch erst, als sie ihn gestern schließlich ganz unverblümt gefragt hatte, ob sie nicht einmal zusammen essen gehen könnten, hatte er begriffen, was sie tatsächlich mit ihren Anrufen bezweckte. Jutta Kaltensee machte ihm eindeutig Avancen, und er wusste nicht, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte.
»Ach ja? Was wollte sie denn?« Bodenstein zwang sich zu einem beiläufigen Tonfall und fuhr fort, mit dem Baby zu spielen.
»Sie sucht Mitarbeiter für ihre neue Imagekampagne.« Cosima ging ins Bad und kehrte im Morgenmantel zurück. »Sie sagte, sie sei auf mich gekommen, als sie dich bei ihrer Mutter getroffen hat.«
»Tatsächlich?« Bodenstein fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, dass Jutta hinter seinem Rücken Informationen über ihn und seine Familie eingeholt hatte. Außerdem war Cosima keine Werbefilmerin, sondern produzierte Dokumentarfilme. Das Argument mit der Imagekampagne war eine Lüge. Aber weshalb tat sie das?
»Wir treffen uns heute Mittag zum Essen, und ich höre mir mal an, was sie will.« Cosima setzte sich auf die Bettkante und cremte ihre Beine ein.
»Das klingt doch gut.« Bodenstein wandte den Kopf und sah seine Frau mit einem Ausdruck völliger Arglosigkeit an. »Lass es dir nur ordentlich bezahlen. Die Kaltensees haben Geld wie Heu.«
»Hast du nichts dagegen?«
Bodenstein wusste nicht genau, was Cosima mit dieser Frage meinte.
»Wieso sollte ich?«, fragte er und nahm sich in derselben Sekunde vor, Jutta Kaltensees Anrufe in Zukunft zu ignorieren. Gleichzeitig dämmerte ihm, wie weit er sich schon auf sie eingelassen hatte. Zu weit. Der bloße Gedanke an die scharfsinnige und aufregend attraktive Frau entfachte Phantasien in ihm, die sich für einen verheirateten Mann nicht gehörten.
»Ihre Familie steht doch im Fokus eurer Ermittlungen«, sagte Cosima.
»Hör dir doch einfach mal an, was sie dir anbietet«, schlug er gegen seinen Willen vor. Ihn beschlich ein unangenehmes Gefühl. Der bisher harmlose Flirt mit Jutta Kaltensee konnte leicht zu einem unkalkulierbaren Risiko werden, und so et was brauchte er überhaupt nicht. Es war Zeit, sie freundlich, aber bestimmt in die Schranken zu weisen. So leid es ihm tat.
Obwohl die Nacht sehr kurz gewesen war, saß Pia am nächsten Morgen schon um Viertel vor sieben an ihrem Schreibtisch. Es war unumgänglich geworden, so bald wie möglich mit Siegbert Kaltensee zu sprechen, so viel war klar. Sie nippte an ihrem Kaffee, starrte auf den Bildschirm und dachte über Ostermanns Bericht und Schlussfolgerungen gestern nach. Sicher, es war denkbar, dass die Geschwister Kaltensee die Morde in Auftrag gegeben hatten. Aber zu viel passte nicht zusammen: Was sollte diese Zahl, die der Mörder an allen drei Tatorten hinterlassen hatte? Weshalb waren die Morde mit einer uralten Waffe und sechzig Jahre alter Munition verübt worden? Ein Auftragsmörder hätte wohl eher eine Waffe mit einem Schalldämpfer benutzt und sich nicht die Mühe gemacht, Anita Frings aus dem Seniorenstift in den Wald zu bugsieren. Hinter den Morden an Goldberg, Schneider und Anita Frings steckte etwas Persönliches, da war sich Pia sicher. Aber wie passte Robert Watkowiak ins Bild? Weshalb hatte seine Freundin sterben müssen? Die Antwort verbarg sich hinter einem Gewirr falscher Fährten und möglicher Tatmotive. Rachsucht war ein starkes Motiv. Thomas Ritter kannte die Familiengeschichte der Kaltensees, er war von Vera zutiefst gedemütigt und verletzt worden.
Und was war mit Elard Kaltensee? Hatte er die drei Freunde seiner Mutter erschossen – oder erschießen lassen –, weil die ihm nichts über seine wahre Herkunft verraten wollten? Er hatte ja zugegeben, dass er sie gehasst und ihnen gegenüber Mordgelüste verspürt hatte. Schließlich gab es noch Marcus Nowak, der eine ganz dubiose Rolle spielte. Sein Firmenwagen war nicht nur zur Tatzeit an Schneiders Haus gesehen worden, er selbst war auch zu der Zeit, als Watkowiak gestorben war, an dem Haus in Königstein gewesen und am Abend von Anita Frings’ Ermordung im Taunusblick. Das konnten keine bloßen Zufälle mehr sein. Für Nowak ging es immerhin auch um viel Geld. Nowak und Elard Kaltensee waren sehr viel besser befreundet, als Kaltensee es ihnen hatte weismachen wollen. Vielleicht hatten sie beide gemeinsam die drei Morde begangen, waren möglicherweise von Watkowiak dabei gesehen worden ... oder war alles falsch, und es steckten doch die Kaltensees hinter allem? Oder jemand ganz anderes? Pia musste sich eingestehen, dass sie sich im Kreis drehte.
Die Tür ging auf, Ostermann und Behnke betraten das Büro. Im selben Augenblick piepte das Faxgerät neben Ostermanns Schreibtisch und begann zu rattern. Er stellte seine Tasche ab, zog die erste Seite heraus und studierte sie.
»Na endlich«, sagte er. »Das Labor hat Ergebnisse.«
»Lass sehen.« Gemeinsam lasen sie die sechs Seiten, die das Kriminallabor geschickt hatte. Bei der Waffe, mit der Anita Frings erschossen worden war, handelte es sich um dieselbe Waffe, aus der die tödlichen Schüsse auf Goldberg und Schneider abgefeuert worden waren. Auch die Munition war dieselbe. Die DNA, die an einem Glas und an mehreren Zigarettenkippen in Schneiders Heimkino gefunden worden waren, gehörte zu einem Mann, dessen Daten im Computer des BKA gespeichert waren. Neben der Leiche von Herrmann Schneider war mittels eines einzelnen Haares eine weibliche, aber unbekannte DNA-Spur festgestellt worden, am Spiegel aus Goldbergs Haus ein deutlicher Fingerabdruck, der leider auch nicht zugeordnet werden konnte. Ostermann loggte sich in die Datenbank ein und stellte fest, dass es sich bei dem Mann, der im Kino in Schneiders Keller gewesen war, um einen Kurt Frenzel handelte, mehrfach vorbestraft wegen Körperverletzung und Fahrerflucht.
»Das Messer, das bei Watkowiak gefunden wurde, war eindeutig die Waffe, mit der Monika Krämer getötet wurde«, sagte Pia. »Seine Fingerabdrücke waren am Griff des Messers. Aber das Sperma in ihrem Mund stammte nicht von Watkowiak, sondern von einem Unbekannten. Die Tat wurde von einem Rechtshänder ausgeführt. Die Spuren in der Wohnung stammen hauptsächlich von Monika Krämer und Robert Watkowiak, außer einigen Fasern unter ihren Fingernägeln, die nicht zugeordnet werden können, und einem Haar, das noch untersucht wird. Das Blut am Hemd von Watkowiak stammte übrigens von Frau Krämer.«
»Das klingt doch alles sehr eindeutig«, sagte Behnke. »Watkowiak hat seine Alte umgelegt. Die war ja auch nervtötend.«
Pia bedachte ihren Kollegen mit einem scharfen Blick.
»Er kann’s nicht gewesen sein«, erinnerte Ostermann ihn. »Wir haben die Bänder der Überwachungskameras aus den Filialen der Taunus-Sparkasse und der Nassauischen Sparkasse, auf denen Watkowiak zu sehen ist, als er die Schecks einlösen wollte. Ich müsste die genaue Uhrzeit nachsehen, aber ich glaube, das war zwischen halb zwölf und zwölf. Monika Krämer starb laut Obduktionsbericht zwischen elf und zwölf Uhr.«
»Ihr glaubt doch wohl nicht diese Profikiller-Scheiße, die sich der Chef ausgedacht hat?«, maulte Behnke. »Welcher Profikiller legt denn so eine dämliche Alte um und wieso?«
»Um den Verdacht auf Watkowiak zu lenken«, erwiderte Pia. »Und derselbe Täter hat auch Watkowiak getötet, ihm die Tatwaffe und das Handy in den Rucksack gesteckt und das blutverschmierte Hemd angezogen.«
In diesem Moment verwarf sie innerlich ihre Nowak-Kaltensee-Theorie. Keinem von beiden traute sie einen brutalen Mord mit vorausgegangener Fellatio zu. Sie hatten es mit zwei Tätern zu tun, so viel stand fest.
»Das könnte so gewesen sein«, räumte Ostermann ein und las die Stelle aus dem Laborbericht über das Hemd vor. Es war falsch zugeknöpft, hatte nicht Watkowiaks Größe und war so neu, dass in einem Ärmel sogar noch eine Nadel steckte, wie bei original verpackten Hemden üblich.
»Wir müssen herausfinden, wo das Hemd gekauft wurde«, ordnete Pia an.
»Ich versuch’s.« Ostermann nickte.
»Ach, da fällt mir was ein.« Behnke suchte in den Papier stapeln auf seinem Schreibtisch und reichte Ostermann ein Blatt. Der warf einen Blick darauf und runzelte die Stirn.
»Wann ist das gekommen?«
»Gestern irgendwann.« Behnke schaltete seinen Computer an. »Ich hab’s ganz vergessen.«
»Was ist das?«, erkundigte Pia sich.
»Das Bewegungsprofil des Handys, das bei Watkowiak im Rucksack war«, erwiderte Ostermann verärgert und wandte sich an seinen Kollegen, für dessen Nachlässigkeiten er sonst immer eine Entschuldigung fand. Diesmal jedoch war er richtig sauer.
»Mensch, Frank«, rief er scharf. »Das ist wichtig, das weißt du doch! Ich warte seit Tagen darauf!«
»Mach doch keine Staatsaffäre daraus!«, entgegnete Behnke heftig. »Hast du etwa noch nie was vergessen?«
»Was einen Fall betrifft – nein! Was ist bloß los mit dir, Mann?«
Statt zu antworten, stand Behnke auf und verließ das Büro.
»Und?«, erkundigte sich Pia, ohne Behnkes Verhalten zu kommentieren. Wenn jetzt endlich auch Ostermann auffiel, dass mit Behnke irgendetwas nicht stimmte, würde er sich vielleicht darum kümmern und die Sache unter Männern klären.
»Das Handy wurde nur ein einziges Mal benutzt, und zwar zum Verschicken dieser SMS an Monika Krämer«, erwiderte Ostermann nach einem gründlichen Studium des Blattes. »Es waren keine Nummern gespeichert.«
»Ist eine Funkzelle angegeben?«, erkundigte Pia sich neu gierig.
»Eschborn und Umgebung.« Ostermann schnaubte. »Ein Radius von ungefähr 3 Kilometern rings um den Sendemast. Hilft uns nicht viel weiter.«
Bodenstein stand vor seinem Schreibtisch und blickte auf die dort ausgebreiteten Tageszeitungen. Hinter ihm lag die erste unerfreuliche Begegnung des Tages mit Kriminaldirektor Nierhoff, der unmissverständlich damit gedroht hatte, eine SoKo einzurichten, sollte Bodenstein nicht sehr bald greifbare Ergebnisse liefern. Der Pressesprecher wurde mit Anrufen bombardiert, nicht nur seitens der Presse: Sogar aus dem Innenministerium hatte es eine offizielle Anfrage nach den Ermittlungsfortschritten gegeben. Die Stimmung im Team war gereizt. In keinem der fünf Mordfälle war auch nur annähernd ein Durchbruch in Sicht. Dass Goldberg, Schneider, Anita Frings und Vera Kaltensee alte Freunde aus Jugendzeiten gewesen waren, half ihnen nicht weiter. Der Mörder hatte an allen drei Tatorten keine erkennbare Spur hinterlassen, ein Täterprofil war unmöglich zu erstellen. Das beste Motiv hatten mittlerweile die Geschwister Kaltensee, aber Bodenstein widerstrebte es, sich Ostermanns Vermutungen anzuschließen.
Er faltete die Zeitungen zusammen, setzte sich hin und stützte seine Stirn in die Hand. Irgendetwas war vor ihren Augen im Gange, etwas, das sie nicht erkannten. Ihm wollte es einfach nicht gelingen, die Morde in einen sinnvollen Zusammenhang zur Familie Kaltensee und deren Umfeld zu bringen. Falls es hier überhaupt etwas in Zusammenhang zu bringen gab. War ihm seine Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen, abhandengekommen? Es klopfte an der Tür, und Pia Kirchhoff trat ein.
»Was gibt’s?«, fragte er und hoffte, dass seine Kollegin ihm Selbstzweifel und Ratlosigkeit nicht anmerken würde.
»Behnke war eben bei Watkowiaks Kumpel Frenzel, dessen DNA wir in Schneiders Haus gefunden haben«, sagte sie. »Er hat Frenzels Handy mitgebracht. Watkowiak hatte ihm am Donnerstag auf die Mailbox gesprochen.«
»Und?«
»Wir wollten es uns jetzt anhören«, sagte Pia. »Übrigens: In dem Haus in der Siesmayerstraße, das Ritter neulich betreten hat, wohnt eine Frau namens Marleen Kaltensee. « Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Was ist los mit Ihnen, Chef?«
Einmal mehr hatte Bodenstein das Gefühl, sie könne ihm direkt ins Gehirn schauen.
»Wir kommen nicht weiter«, entgegnete er. »Zu viele Rätsel, zu viele Unbekannte, zu viele sinnlose Spuren.«
»So ist es doch immer.« Pia setzte sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Wir haben vielen Leuten viele Fragen gestellt und damit Unruhe verbreitet. Die ganze Sache entwickelt jetzt eine eigene Dynamik, auf die wir momentan zwar keinen Einfluss haben, die aber für uns arbeitet. Ich habe das sichere Gefühl, dass sehr bald etwas geschehen wird, was uns auf die richtige Spur bringt.«
»Sie sind wirklich eine Optimistin. Was, wenn Ihre gerühmte Dynamik uns die nächste Leiche beschert? Nierhoff und das Innenministerium machen mir jetzt schon enormen Druck!«
»Was erwarten die denn von uns?« Pia schüttelte den Kopf. »Wir sind doch keine Fernsehkommissare! Jetzt schauen Sie doch nicht so resigniert! Lassen Sie uns nach Frankfurt fahren, zu Ritter und zu Elard Kaltensee. Wir fragen sie nach der verschwundenen Kiste.«
Sie stand wieder auf und blickte ihn ungeduldig an. Ihre Energie wirkte ansteckend. Bodenstein fiel auf, wie unverzichtbar Pia Kirchhoff innerhalb der letzten beiden Jahre für ihn geworden war. Gemeinsam waren sie ein perfektes Team: sie diejenige, die bisweilen waghalsige Vermutungen anstellte und Dinge energisch vorantrieb, er derjenige, der sich korrekt an die Regeln hielt und sie bremste, wenn sie zu emotional wurde.
»Na kommen Sie schon, Chef«, sagte sie nun. »Keine Selbstzweifel jetzt! Wir müssen unserer neuen Vorgesetzten schließlich beweisen, was wir draufhaben!«
Da musste Bodenstein lächeln.
»Stimmt«, sagte er und erhob sich.
»... ruf mich zurück, Mann!«, ertönte die Stimme von Robert Watkowiak aus dem Lautsprecher. Er klang gehetzt. »Die sind hinter mir her. Die Bullen glauben, ich hätte einen umgelegt, und die Gorillas von meiner Stiefmutter haben mir vor Monis Wohnung aufgelauert. Ich verschwind für ’ne Weile von hier. Ich ruf dich noch mal an. «
Es klickte. Ostermann spulte das Band zurück.
»Wann hat Watkowiak auf die Mailbox gesprochen?«, erkundigte sich Bodenstein, der sein Formtief überwunden hatte.
»Am vergangenen Donnerstag um vierzehn Uhr fünfunddreißig«, sagte Ostermann. »Der Anruf kam von einem öffentlichen Fernsprecher in Kelkheim. Wenig später muss er gestorben sein.«
»... die Gorillas von meiner Stiefmutter haben mir vor Monis Wohnung aufgelauert ...«, ertönte wieder die Stimme des toten Robert Watkowiak. Ostermann arbeitete an den Reglern und ließ die Ansage noch einmal ablaufen.
»Lassen Sie’s gut sein«, sagte Bodenstein. »Was gibt es von Nowak?«
»Liegt in seinem Bettchen«, erwiderte Ostermann. »Heute Morgen von acht bis kurz nach zehn waren Oma und Papa da.«
»Nowaks Vater war bei seinem Sohn im Krankenhaus?«, fragte Pia erstaunt. »Zwei Stunden lang?«
»Ja.« Ostermann nickte. »So hat es der Kollege durchgegeben.«
»Okay.« Bodenstein räusperte sich und blickte in die Run de, in der Kriminalrätin Dr. Engel heute fehlte. »Wir sprechen noch einmal mit Vera Kaltensee und mit ihrem Sohn Siegbert. Außerdem will ich Speichelproben von Marcus Nowak, Elard Kaltensee und Thomas Ritter. Letzteren besuchen wir heute auch noch einmal. Und ich will mit Katharina Ehrmann sprechen. Frank, finden Sie heraus, wo wir die Dame antreffen können.«
Behnke nickte kommentarlos.
»Hasse, Sie machen dem Labor Dampf wegen der Lackspuren des Autos, das den Betonkübel vor Nowaks Firma gerammt hat. Ostermann, ich will mehr Informationen über Thomas Ritter haben.«
»Alles heute noch?«, fragte Ostermann.
»Bis heute Nachmittag, wenn’s geht.« Bodenstein erhob sich. »Um fünf Uhr sehen wir uns hier wieder, und dann will ich Ergebnisse haben.«
Eine halbe Stunde später klingelte Pia in der Siesmayerstraße bei Marleen Kaltensee, und nachdem sie ihren Ausweis in die Kamera über der Sprechanlage gehalten hatte, summte der Türöffner. Die Frau, die ihr und Bodenstein wenig später die Wohnungstür öffnete, war ungefähr Mitte dreißig und hatte ein unscheinbares, etwas aufgeschwemmt wirkendes Gesicht mit bläulichen Augenringen. Ihr stämmiger Körperbau mit kurzen Beinen und einem breiten Hinterteil ließ sie dicker wirken, als sie eigentlich war.
»Ich hatte Sie schon viel früher erwartet«, eröffnete sie die Unterhaltung.
»Wieso?«, fragte Pia erstaunt.
»Na ja«, Marleen Kaltensee zuckte mit den Schultern, »die Morde an den Freunden meiner Großmutter und an Robert ...«
»Deswegen sind wir gar nicht da.« Pia ließ den Blick durch die geschmackvoll eingerichtete Wohnung wandern. »Wir haben gestern mit Herrn Dr. Ritter gesprochen. Den kennen Sie ja sicher, oder?«
Zu ihrer Überraschung kicherte die Frau wie ein Teenager und wurde tatsächlich rot.
»Er hat dieses Haus betreten. Eigentlich wollten wir nur von Ihnen wissen, was er von Ihnen wollte«, fuhr Pia leicht irritiert fort.
»Er wohnt hier.« Marleen Kaltensee lehnte sich gegen den Türrahmen. »Wir sind nämlich verheiratet. Ich heiße nicht mehr Kaltensee, sondern Ritter.«
Bodenstein und Pia wechselten einen verblüfften Blick. Ritter hatte gestern im Zusammenhang mit dem Cabrio zwar von seiner Frau gesprochen, aber nicht erwähnt, dass es sich dabei um die Enkelin seiner ehemaligen Chefin handelte.
»Wir sind erst ganz frisch verheiratet«, erläuterte diese nun. »Ich habe mich noch nicht richtig an meinen neuen Namen gewöhnt. Meine Familie weiß auch noch nichts von unserer Hochzeit. Mein Mann will auf einen passenden Moment warten, bis sich die Aufregungen gelegt haben.«
»Sie meinen die Aufregungen um die Morde an den Freunden Ihrer ... Großmutter?«
»Ja, genau. Vera Kaltensee ist meine Oma.«
»Und Sie sind wessen Tochter?«, wollte Pia wissen. »Mein Vater ist Siegbert Kaltensee.«
In diesem Moment fiel Pias Blick auf das engsitzende T-Shirt der jungen Frau, und sie kombinierte richtig.
»Wissen Ihre Eltern, dass Sie in anderen Umständen sind?«
Marleen Ritter wurde zuerst rot, strahlte dann aber stolz, streckte den deutlich sichtbaren Bauch heraus und legte beide Hände darauf. Pia gelang ein Lächeln, obwohl ihr nicht danach zumute war. Noch immer, nach all den Jahren, verspürte sie in der Gegenwart einer glücklichen Schwangeren einen kleinen Stich.
»Nein«, sagte Marleen Ritter. »Wie gesagt, mein Vater hat zurzeit andere Sorgen.«
Jetzt erst schien sie sich auf ihre gute Erziehung zu besinnen.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Danke, nein«, lehnte Bodenstein höflich ab. »Wir wollten eigentlich mit ... Ihrem Mann sprechen. Wissen Sie, wo er sich gerade aufhält?«
»Ich kann Ihnen seine Handynummer und die Adresse der Redaktion geben.«
»Das wäre sehr freundlich.« Pia zückte ihr Notizbuch.
»Ihr Mann hat uns gestern erzählt, dass Ihre Großmutter ihn seinerzeit nach Unstimmigkeiten entlassen hat«, sagte Bodenstein. »Nach achtzehn Jahren.«
»Ja, das ist wahr.« Marleen Ritter nickte bekümmert. »Ich weiß auch nicht genau, was vorgefallen ist. Thomas verliert nie ein schlechtes Wort über Oma. Ich bin ganz sicher, dass sich alles wieder einrenkt, wenn sie erst erfährt, dass wir verheiratet sind und ein Baby erwarten.«
Pia staunte über den naiven Optimismus der Frau. Sie zweifelte sehr daran, dass Vera Kaltensee den Mann, den sie in Schimpf und Schande vom Hof gejagt hatte, wieder mit offenen Armen aufnehmen würde, nur weil er ihre Enkelin geheiratet hatte. Ganz im Gegenteil.
Elard Kaltensee zitterte am ganzen Körper, als er sein Auto Richtung Frankfurt lenkte. Konnte das, was er soeben erfahren hatte, wirklich die Wahrheit sein? Wenn ja – was erwarteten sie von ihm? Was sollte er tun? Immer wieder musste er seine schweißnassen Handflächen an seiner Hose reiben, weil ihm sonst das Lenkrad entglitten wäre. Für einen Augenblick war er versucht, das Auto mit Vollgas direkt gegen einen Betonpfeiler zu lenken, damit alles ein Ende hätte. Aber der Gedanke daran, dass er verkrüppelt überleben könnte, hielt ihn davon ab. Er tastete in der Mittelkonsole seines Autos nach dem vertrauten Döschen, bis ihm einfiel, dass er es vor zwei Tagen voller Euphorie und guter Vorsätze aus dem Fenster geworfen hatte. Wie hatte er nur annehmen können, dass er plötzlich ohne Tavor auskommen könnte? Sein seelisches Gleichgewicht war schon seit Monaten tief erschüttert, jetzt aber fühlte er sich, als ob man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Er wusste selbst nicht, auf welche Erkenntnis er in all den Jahren des halbherzigen Suchens gehofft hatte, aber ganz sicher nicht auf diese.
»Herrgott im Himmel«, stieß er hervor und kämpfte gegen die widerstreitenden Gefühle, die in seinem Innern ohne die Droge beängstigend heftig tobten. Alles war plötzlich unerträglich klar umrissen und schmerzhaft deutlich. Das war das richtige Leben, und er wusste nicht, ob er es überhaupt noch meistern konnte und wollte. Sein Körper und sein Gehirn verlangten nachdrücklich nach der entspannenden Wirkung des Benzodiazepam. Als er versprochen hatte, es sich abzugewöhnen, hoch und heilig, hatte er noch nicht gewusst, was er jetzt wusste. Sein ganzes Leben, seine ganze Existenz und seine Identität eine einzige Lüge! Warum?, hämmerte es schmerzhaft in seinem Kopf, und Elard Kaltensee wünschte sich verzweifelt den Mut, diese Frage der richtigen Person zu stellen. Doch schon der Gedanke daran erfüllte ihn mit der tiefen Sehnsucht, weit wegzulaufen. Jetzt konnte er noch so tun, als wisse er nichts.
Plötzlich leuchteten vor ihm rote Bremslichter auf, und er trat so heftig auf die Bremse, dass das Antiblockiersystem seines schweren Mercedes ratterte. Der Autofahrer hinter ihm hupte wild und scherte gerade noch rechtzeitig auf den Standstreifen aus, um ihm nicht mit voller Wucht in den Kofferraum zu rauschen. Der Schreck brachte Elard Kaltensee wieder zu sich. Nein, so konnte er nicht leben. Und es war ihm auch egal, wenn alle Welt erkannte, welch jämmerlicher Feigling sich hinter der glatten Fassade des weltmännischen Professors verbarg. Ein Rezept hatte er noch in seinem Koffer. Ein, zwei Tabletten, ein paar Gläser Wein würden alles erträglicher machen. Schließlich hatte er sich zu nichts verpflichtet. Das Beste wäre, jetzt ein paar Sachen einzupacken, direkt zum Flughafen zu fahren und nach Amerika zu fliegen. Für ein paar Tage, nein, besser noch für ein paar Wochen. Vielleicht sogar für immer.
»Redakteur eines Lifestyle-Magazins«, wiederholte Pia spöttisch angesichts des hässlichen Flachbaus im Hinterhof eines Möbelabhollagers im Fechenheimer Gewerbegebiet. Bodenstein und sie stiegen die schmutzige Treppe in den obersten Stock hinauf, in dem sich das Büro von Thomas Ritter befand. Ganz sicher hatte Marleen Ritter ihren Gatten noch nie hier besucht, denn spätestens an der Eingangstür dessen, was dieser euphemistisch als »Redaktion« bezeichnet hatte, wären ihr wohl Zweifel gekommen. An der billigen Glastür, die mit fettigen Fingerabdrücken übersät war, prangte ein poppigbuntes Schild mit dem Schriftzug »Weekend«. Die Rezeption bestand aus einem Schreibtisch, je zur Hälfte eingenommen von einer Telefonanlage und einem altertümlichen Monster von Monitor.
»Sie wünschen?« Die Empfangsdame der Weekend sah aus, als habe sie früher selbst einmal für die Titelseiten posiert. Die Schminke täuschte allerdings nicht darüber hinweg, dass dies wohl eine Weile her war. Ungefähr dreißig Jahre.
»Kriminalpolizei«, sagte Pia. »Wo finden wir Thomas Ritter?«
»Letztes Büro auf dem Gang links. Soll ich Sie anmelden?«
»Nicht nötig.« Bodenstein lächelte der Dame freundlich zu. Die Wände des Ganges waren mit gerahmten Titelbildern der Weekend gepflastert, die nackten Tatsachen wurden zwar von unterschiedlichen Mädchen präsentiert, die aber eines gemeinsam hatten: mindestens Körbchengröße Doppel D. Die letzte Tür links war geschlossen. Pia klopfte an und trat ein. Es war Ritter sichtlich peinlich, dass Bodenstein und Pia ihn in dieser Umgebung antrafen. Zwischen der luxuriösen Altbauwohnung im Westend und dem engen verqualmten Büro mit Pornofotos an den Wänden lagen Welten. Allerdings lagen auch Welten zwischen der unscheinbaren Ehefrau, die sein Kind erwartete, und der Frau, die neben ihm stand und deren blutroter Lippenstift Spuren an Ritters Mund hinterlassen hatte. Alles an ihr sah stilvoll und teuer aus, angefangen von der Kleidung über Schmuck und Schuhe bis zur Frisur.
»Ruf mich an«, sagte sie und ergriff ihre Handtasche. Sie streifte Bodenstein und Pia mit einem kurzen, uninteressierten Blick, dann rauschte sie hinaus.
»Ihre Chefin?«, erkundigte Pia sich. Ritter stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und fuhr sich mit allen zehn Fingern durch das Haar. Er wirkte erschöpft und um Jahre gealtert, passend zur Tristesse seiner Umgebung.
»Nein. Was wollen Sie denn noch? Woher wissen Sie überhaupt, dass ich hier bin?« Er griff nach einem Päckchen Zigaretten und zündete sich eine an.
»Ihre Frau war so freundlich, uns die Adresse der Redaktion zu geben.« Ritter reagierte nicht auf Pias Sarkasmus.
»Sie haben Lippenstift im Gesicht«, fügte sie hinzu. »Falls Ihre Frau Sie so zu sehen bekommt, könnte sie falsche Schlüsse ziehen.«
Ritter fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Er zögerte eine Weile mit einer Antwort, aber dann machte er eine resignierte Geste.
»Das war eine Bekannte«, sagte er. »Ich schulde ihr noch Geld.«
»Weiß Ihre Frau davon?«, fragte Pia.
Ritter starrte sie an, beinahe trotzig. »Nein. Das muss sie auch nicht.« Er zog an der Zigarette und ließ den Rauch durch die Nase entweichen. »Ich habe jede Menge zu tun. Was wollen Sie? Ich habe Ihnen doch schon alles gesagt.«
»Ganz im Gegenteil«, erwiderte Pia. »Sie haben uns das meiste verheimlicht.«
Bodenstein hielt sich schweigend im Hintergrund. Ritters Augen wanderten zwischen ihm und Pia hin und her. Gestern hatte er den Fehler gemacht, sie zu unterschätzen. Das würde ihm heute nicht mehr passieren.
»Ach ja?« Er versuchte, gelassen zu wirken, aber das nervöse Flackern in seinen Augen verriet seinen wahren Gemütszustand. »Was denn zum Beispiel?«
»Warum waren Sie am Abend des 25. April bei Herrn Goldberg, einen Tag, bevor er ermordet wurde?«, fragte Pia. »Was haben Sie mit Robert Watkowiak in der Eisdiele besprochen? Und warum hat Vera Kaltensee Sie tatsächlich entlassen?«
Mit einer fahrigen Bewegung drückte Ritter die Kippe aus. Sein Handy, das neben der Tastatur seines Computers lag, schmetterte die ersten Akkorde von Beethovens Neunter, doch er warf nicht einmal einen Blick auf das Display.
»Ach, was soll’s«, sagte er plötzlich. »Ich war bei Goldberg, Schneider und der alten Frings, weil ich mit ihnen reden wollte. Vor zwei Jahren kam ich auf die Idee, eine Biographie über Vera zu schreiben. Sie war zuerst ganz begeistert und diktierte mir stundenlang, was sie über sich lesen wollte. Ich merkte nach ein paar Kapiteln, dass das stinklangweilig werden würde. Zwanzig Sätze über ihre Vergangenheit, mehr nicht. Dabei waren gerade die Vergangenheit, ihre adelige Herkunft, die dramatische Flucht mit einem kleinen Kind, der Verlust ihrer Familie und des Schlosses doch das, was den Leser interessiert, nicht irgendwelche Geschäftsabschlüsse und Wohltätigkeitskram.«
Das Handy, das zwischenzeitlich verstummt war, meldete sich mit einem einzelnen Piepton.
»Aber sie wollte nichts davon wissen. Entweder nach ihren Vorstellungen oder gar nicht. Kompromisslos wie eh und je, der alte Geier.« Ritter schnaubte verächtlich. »Ich redete auf sie ein, schlug ihr vor, aus ihrem Leben einen Roman zu machen. Veras Erlebnisse, alle Verluste, Siege, Höhepunkte und Niederlagen im Leben einer Frau, die Weltgeschichte am eigenen Leib erlebt hatte. Wir gerieten darüber in Streit. Sie verbot mir kategorisch, Nachforschungen anzustellen, sie verbot mir zu schreiben, sie wurde immer misstrauischer. Und dann kam die Sache mit der Kiste dazu. Ich machte den Fehler, Nowak zu verteidigen. Da war es aus.« Ritter seufzte.
»Mir ging es ziemlich mies«, gab er zu. »Ich hatte keine Aussicht mehr auf einen anständigen Job, eine schöne Wohnung, eine Zukunft.«
»Bis Sie Marleen geheiratet haben. Da hatten Sie alles wie der.«
»Was wollen Sie damit andeuten?«, fuhr Ritter auf, aber seine Empörung wirkte nicht echt.
»Dass Sie sich an Marleen herangemacht haben, um sich an Ihrer ehemaligen Chefin zu rächen.«
»Unsinn!«, widersprach er. »Wir haben uns rein zufällig getroffen. Ich habe mich in sie verliebt und sie sich in mich.«
»Warum haben Sie uns dann gestern nicht gesagt, dass Sie die Tochter von Siegbert Kaltensee geheiratet haben?« Pia glaubte ihm kein Wort. Im Vergleich mit der eleganten Dunkelhaarigen von vorhin zog die unscheinbare Marleen eindeutig den Kürzeren.
»Weil ich nicht angenommen habe, dass es eine Rolle spielt«, erwiderte Ritter angriffslustig.
»Ihr Privatleben interessiert uns nicht«, mischte sich Bodenstein vermittelnd ein. »Was war mit Goldberg und Watkowiak?«
»Ich wollte Informationen von ihnen.« Ritter wirkte erleichtert über den Themenwechsel und warf Pia einen feindseligen Blick zu, um sie danach völlig zu ignorieren. »Vor einer Weile trat jemand an mich heran und fragte mich, ob ich nicht doch die Biographie schreiben wolle. Allerdings über das wahre Leben der Vera Kaltensee, mit allen schmutzigen Details. Man bot mir sehr viel Geld, Informationen aus erster Hand und die Aussicht auf – Rache.«
»Wer war das?«, fragte Bodenstein. Ritter schüttelte den Kopf.
»Kann ich nicht sagen«, antwortete er. »Aber das Material, das ich bekam, war erstklassig.«
»Es waren Veras Tagebücher aus den Jahren 1934 bis 1943.« Ritter lächelte grimmig. »Detaillierte Hintergrundinformationen über all das, was Vera unbedingt geheim halten will. Bei der Lektüre bin ich auf jede Menge Unstimmigkeiten gestoßen, aber eins ist mir jetzt klar: Elard kann auf gar keinen Fall Veras Sohn sein. Die Tagebuchschreiberin hatte nämlich bis Dezember 1943 weder einen Verlobten noch einen Verehrer, bis dahin auch noch keinen Geschlechtsverkehr, geschweige denn ein Kind gehabt. Aber ... « Er machte eine wirkungsvolle Pause und blickte Bodenstein an. »Veras älterer Bruder Elard von Zeydlitz-Lauenburg unterhielt eine Liebesbeziehung zu einer jungen Frau namens Vicky, der Tochter des Gutsverwalters Endrikat. Sie brachte im August des Jahres 1942 einen Sohn zur Welt, der auf den Namen Heinrich Arno Elard getauft wurde.«
Bodenstein ließ diese Neuigkeit unkommentiert.
»Und weiter?«, fragte er nur. Ritter war über die ausbleibende Begeisterung merklich enttäuscht.
»Die Tagebücher wurden von einer Linkshänderin geschrieben. Vera ist Rechtshänderin«, schloss er knapp. »Und das ist der Beweis.«
»Der Beweis wofür?«, wollte Bodenstein wissen.
»Der Beweis dafür, dass Vera in Wirklichkeit nicht die ist, für die sie sich ausgibt!« Ritter hielt es nicht länger auf seinem Stuhl. »Genau wie Goldberg, Schneider und die Frings! Die vier haben irgendein düsteres Geheimnis geteilt, und ich wollte herausfinden, welches!«
»Deswegen waren Sie bei Goldberg?«, fragte Pia skeptisch. »Haben Sie wirklich gedacht, er würde Ihnen bereitwillig alles erzählen, worüber er mehr als sechzig Jahre geschwiegen hat?«
Ritter achtete nicht auf ihren Einwand.
»Ich war in Polen und habe dort recherchiert. Leider gibt es keine Zeitzeugen mehr, die man fragen könnte. Dann war ich bei Schneider und auch bei Anita – immer dasselbe!«
Er verzog angeekelt das Gesicht.
»Sie haben sich alle drei dumm gestellt, diese selbstgerechten, überheblichen alten Nazis mit ihren Kameradschaftsabenden und den ewiggestrigen Sprüchen! Ich konnte sie schon früher nicht leiden, keinen von ihnen.«
»Und als die drei Ihnen nicht geholfen haben, da haben Sie sie erschossen«, sagte Pia.
»Genau. Mit der Kalaschnikow, die ich immer dabeihabe. Nehmen Sie mich fest«, forderte Ritter sie patzig auf. Er wandte sich an Bodenstein. »Wieso hätte ich die drei umbringen sollen? Sie waren uralt, die Zeit hätte das schon für mich erledigt.«
»Und Robert Watkowiak? Was wollten Sie von dem?«
»Informationen. Ich habe ihn dafür bezahlt, dass er mir mehr über Vera erzählt, außerdem konnte ich ihm sagen, wer in Wirklichkeit sein Vater war.«
»Woher wussten Sie das denn?«, fragte Pia.
»Ich weiß eine Menge«, erwiderte Ritter herablassend. »Dass Robert der uneheliche Sohn von Eugen Kaltensee war, ist ein Märchen. Roberts Mutter war ein siebzehnjähriges polnisches Dienstmädchen auf dem Mühlenhof. Siegbert hatte sich an ihr vergriffen, bis die Ärmste schwanger wurde. Seine Eltern haben ihn sofort auf eine Uni nach Amerika geschickt und sie gezwungen, im Keller heimlich zu entbinden. Danach verschwand sie auf Nimmerwiedersehen. Ich nehme an, dass sie sie abgemurkst und irgendwo auf dem Grundstück verscharrt haben.«
Ritter sprach immer schneller, seine Augen glänzten wie im Fieber. Bodenstein und Pia hörten schweigend zu.
»Vera hätte Robert als Säugling zur Adoption freigeben können, aber sie ließ ihn gerne darunter leiden, dass er ein bedauerlicher Fehltritt war. Gleichzeitig hat sie es genossen, wie er sie bewundert und angebetet hat! Sie war schon immer überheblich und hält sich für unantastbar. Deshalb hat sie auch die Kisten mit dem ganzen brisanten Inhalt nie vernichtet. Pech für sie, dass Elard ausgerechnet dicke Freundschaft mit einem Restaurator geschlossen hatte und auf die Idee kam, die Mühle umbauen zu lassen.«
Ritters Stimme klang hasserfüllt, und Pia wurde erst jetzt das ganze Ausmaß seiner Rachsucht und Bitterkeit bewusst.
Er lachte boshaft. »Ach ja, und Vera hat Robert auf dem Gewissen. Als Marleen sich nämlich ausgerechnet in Robert – ihren Halbbruder – verliebte, war natürlich Holland in Not! Marleen war erst vierzehn und Robert schon Mitte zwanzig. Nach dem Unfall, bei dem Marleen ihr Bein verlor, flog Robert vom Mühlenhof. Kurz darauf begann seine kriminelle Karriere.«
»Ihre Frau hat ein Bein verloren?«, fragte Pia nach und erinnerte sich daran, dass Marleen Ritter tatsächlich ihr linkes Bein beim Laufen nachgezogen hatte.
»Ja. Wie gesagt.«
Eine ganze Weile war es in dem kleinen Büro ganz still, abgesehen vom Surren des Computers. Pia wechselte einen raschen Blick mit Bodenstein, dem wie üblich nicht anzusehen war, was er dachte. Wenn Ritters Informationen auch nur ansatzweise der Wahrheit entsprachen, dann waren sie tatsächlich Sprengstoff. Hatte Watkowiak sterben müssen, weil er von Ritter die Wahrheit über seine Herkunft erfahren und Vera Kaltensee damit konfrontiert hatte?
»Wird das auch ein Kapitel in Ihrem Buch werden?«, erkundigte sich Pia. »Das hört sich für mich nämlich ziemlich riskant an. «
Ritter zögerte mit einer Antwort, dann zuckte er die Schultern.
»Das ist es auch«, sagte er, ohne sie anzusehen. »Aber ich brauche das Geld.«
»Was sagt Ihre Frau dazu, dass Sie so etwas über ihre Familie und ihren Vater schreiben? Das wird ihr doch kaum gefallen.«
Ritter presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.
»Zwischen den Kaltensees und mir herrscht Krieg«, erwiderte er pathetisch. »Und in jedem Krieg gibt es Opfer.«
»Familie Kaltensee wird sich das nicht so einfach gefallen lassen.«
»Sie haben ihre Truppen schon gegen mich in Stellung gebracht«, Ritter lächelte gezwungen. »Es gibt eine einstweilige Verfügung. Und eine Unterlassungsklage gegen mich und den Verlag. Außerdem hat mich Siegbert massiv bedroht. Er sagte, dass ich keine Freude mehr an irgendwelchen Tantiemen haben würde, sollte ich meine lügnerischen Behauptungen jemals publik machen.«
»Geben Sie uns die Tagebücher«, forderte Bodenstein ihn auf.
»Sie sind nicht hier. Außerdem sind diese Tagebücher meine Lebensversicherung. Die einzige, die ich habe.«
»Hoffentlich irren Sie sich da nicht.« Pia zog ein Röhrchen aus der Tasche. »Gegen eine Speichelprobe haben Sie sicherlich nichts einzuwenden, oder?«
»Nein, habe ich nicht.« Ritter steckte die Hände in die Gesäßtaschen seiner Jeans und musterte Pia abfällig. »Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wozu das gut sein soll.«
»Damit wir Ihre Leiche schneller identifizieren können«, entgegnete Pia kalt. »Ich fürchte nämlich, Sie unterschätzen die Gefahr, in die Sie sich begeben haben.«
Das Funkeln in Ritters Augen wurde feindselig. Er nahm Pia das Wattestäbchen aus der Hand, öffnete den Mund und fuhr mit dem Stäbchen über die Innenseite seiner Mundschleimhaut.
»Danke.« Pia nahm das Teststäbchen und verschloss die Probe ordnungsgemäß. »Morgen schicken wir unsere Kollegen bei Ihnen vorbei, die Tagebücher abholen. Und falls Sie sich in irgendeiner Weise bedroht fühlen, rufen Sie mich an. Meine Karte haben Sie ja.«
»Ich weiß nicht, ob ich Ritter das alles glaube«, sagte Pia, als sie den Parkplatz überquerten. »Der Mann ist hochgradig rachsüchtig. Sogar seine Ehe ist pure Rache.«
Plötzlich fiel ihr etwas ein, und sie blieb abrupt stehen. »Was ist?«, fragte Bodenstein.
»Diese Frau in seinem Büro«, sagte Pia und versuchte, sich an ihre Unterhaltung mit Christina Nowak zu erinnern. »Schön, dunkelhaarig, elegant – das könnte dieselbe Frau gewesen sein, mit der Nowak sich in Königstein vor dem Haus getroffen hat!«
»Tatsächlich.« Bodenstein nickte. »Sie kam mir auch irgendwie bekannt vor. Ich komme nur nicht darauf, woher.« Er reichte Pia den Autoschlüssel.
»Ich bin sofort wieder da.«
Er ging zurück in das Gebäude und lief die Treppen hinauf in den obersten Stock. Vor der Tür wartete er einen Moment, bis er nicht mehr wie ein Walross schnaufte, dann klingelte er. Die Empfangsdame klapperte erstaunt mit den künstlichen Wimpern, als sie ihn erblickte.
»Wissen Sie, wer die Frau war, die vorhin bei Herrn Dr. Ritter war?«, fragte er. Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß, legte den Kopf schief und rieb Zeigefinger und Daumen der rechten Hand.
»Kann schon sein.«
Bodenstein verstand. Er zückte seine Brieftasche und holte einen Zwanzigeuroschein heraus. Die Frau zog eine verächtliche Grimasse, die erst ein Fünfziger in ein Lächeln verwandelte.
»Katharina ... « Sie schnappte den Schein und hielt weiterhin die Hand hin. Bodenstein seufzte und reichte ihr auch noch den Zwanziger. Sie ließ beide Geldscheine im Schaft ihres Stiefels verschwinden.
»Ehrmann. « Sie beugte sich vor und senkte verschwörerisch die Stimme. »Aus der Schweiz. Wohnt irgendwo im Taunus, wenn sie in Deutschland ist. Fährt einen schwarzen 5er mit Züricher Kennzeichen. Und falls Sie jemanden kennen, der eine tüchtige Sekretärin sucht, denken Sie an mich. Ich hab den Laden hier nämlich echt satt.«
»Ich hör mich mal um.« Bodenstein, der das für einen Witz hielt, zwinkerte ihr zu und steckte seine Visitenkarte in die Tastatur ihres Computers. »Schicken Sie mir eine E-Mail. Mit Lebenslauf und Zeugnissen.«
Bodenstein ging eilig durch die Reihen abgestellter Autos, während er sein Handy auf inzwischen eingegangene Nachrichten prüfte. Beinahe wäre er dabei gegen einen schwarzen Kastenwagen geprallt. Pia tippte gerade eine SMS, als Bodenstein zu seinem BMW zurückkehrte.
»Miriam soll mal überprüfen, ob das stimmt, was Ritter uns gerade erzählt hat«, erklärte sie und gurtete sich an. »Vielleicht existieren noch Kirchenbücher von 1942.«
Bodenstein startete den Motor.
»Die Frau, die vorhin bei Ritter war, war Katharina Ehrmann«, sagte er.
»Ach? Etwa die mit den vier Prozent Stimmanteilen? « Pia war erstaunt. »Was hat die denn mit Ritter zu tun?«
»Fragen Sie mich was Leichteres.« Bodenstein manövrierte den BMW aus der Parklücke und drückte am Multifunktionslenkrad auf die Rückruftaste des Telefons. Wenig später meldete sich Ostermann.
»Chef, hier ist die Hölle los«, tönte seine Stimme aus dem Lautsprecher. »Nierhoff und die Neue planen eine SoKo Rentner und eine SoKo Monika.«
Bodenstein, der etwas Ähnliches schon viel früher erwartet hatte, blieb gelassen. Er warf einen Blick auf die Uhr. Halb zwei. Von der Hanauer Landstraße brauchte er um diese Uhrzeit ungefähr dreißig Minuten, wenn er den Weg über den Riederwald und den Alleenring nahm.
»Wir treffen uns in einer halben Stunde im Zaika in Liederbach zur Lagebesprechung. Das komplette K11«, sagte er zu Ostermann. »Bestellen Sie mir Carpaccio und Chicken Curry, wenn Sie vor mir da sein sollten.«
»Und mir eine Pizza!«, rief Pia vom Beifahrersitz aus. »Mit extra Thunfisch und Sardellen«, ergänzte Ostermann. »Geht klar. Bis gleich.«
Eine ganze Weile fuhren sie schweigend, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Bodenstein dachte an den Vorwurf, den ihm sein früherer Chef in Frankfurt früher häufig gemacht hatte. Er sei unflexibel und kein Teamplayer, hatte Oberkommissar Menzel behauptet, gerne vor versammelter Mannschaft. Zweifellos hatte er damit recht gehabt. Bodenstein hasste es, unnötig Zeit mit Lagebesprechungen, Kompetenzstreitigkeiten und albernen Machtdemonstrationen zu vergeuden. Nicht zuletzt deshalb war er gerne nach Hofheim gewechselt, in eine mit fünf Leuten überschaubare Abteilung. Nach wie vor war er der Meinung, dass viele Köche den Brei nur zu gründlich verderben konnten.
»Werden Sie sich auf zwei SoKos einlassen?«, fragte Pia in diesem Augenblick. Bodenstein warf ihr einen raschen Blick zu.
»Kommt drauf an unter wessen Leitung«, erwiderte er. »Es ist aber auch alles völlig verfahren. Um was geht es hier eigentlich wirklich?«
»Um die Morde an drei alten Menschen, einer jungen Frau und einem Mann«, überlegte Pia laut.
Bodenstein trat in der Höhe der Berger Straße auf die Bremse und ließ eine Gruppe junger Leute über den Zebrastreifen gehen.
»Wir stellen die falschen Fragen«, sagte er und überlegte, was Katharina Ehrmann mit Ritter zu tun haben mochte. Zwischen den beiden lief etwas, das war klar. Vielleicht kannte sie ihn von früher, als er noch für Vera Kaltensee gearbeitet hatte.
»Ob sie noch mit Jutta Kaltensee befreundet ist?«, fragte Bodenstein. Pia verstand sofort, von wem er sprach.
»Wieso ist das wichtig?«
»Woher hat Ritter die Information über Robert Watkowiaks leiblichen Vater? Das ist garantiert ein Familiengeheimnis, von dem nur sehr wenige wissen.«
»Wie soll dann Katharina Ehrmann davon wissen?«
»Sie war immerhin so vertraut mit der Familie, dass Eugen Kaltensee ihr Firmenanteile übereignet hat.«
»Besuchen wir eben Vera Kaltensee noch einmal«, schlug Pia vor. »Fragen wir sie, was in der Kiste war und weshalb sie uns wegen Watkowiak angelogen hat. Was haben wir zu verlieren?«
Bodenstein schwieg, dann schüttelte er den Kopf.
»Wir müssen sehr vorsichtig sein«, sagte er. »Auch wenn Sie Ritter nicht leiden können, will ich keine sechste Leiche riskieren, nur weil wir unüberlegte Fragen gestellt haben. Sie hatten nicht ganz unrecht damit, dass Ritter sich auf dünnem Eis bewegt.«
»Der Typ hält sich für nicht weniger unantastbar als Vera Kaltensee«, entgegnete Pia heftig. »Der ist blind vor Rachsucht, und ihm ist jedes Mittel recht, um der Familie Kaltensee an den Karren zu fahren. So ein Widerling. Der betrügt seine schwangere Frau mit dieser Katharina Ehrmann. Hundertprozentig.«
»Das glaube ich auch«, räumte Bodenstein ein. »Trotzdem, als Leiche nützt er uns wenig.«
Der größte Ansturm zur Mittagszeit war schon vorbei, als Pia und Bodenstein im Zaika eintrafen, und bis auf ein paar Geschäftsleute hatte sich das Restaurant schon wieder geleert. Die Mitarbeiter des K11 hatten sich um einen der größeren Tische in einer Ecke des mediterran gestalteten Gastraumes versammelt und waren bereits beim Essen. Nur Behnke saß mit säuerlicher Miene daneben und nippte an einem Wasser.
»Ich hab auch ein paar gute Nachrichten, Chef«, begann Ostermann, als sie am Tisch Platz genommen hatten. »Zu dem DNA-Profil, das jeweils an einem Haar bei den Leichen von Monika Krämer und Watkowiak festgestellt wurde, hat der Computer einen Spur-Spur-Treffer ausgespuckt. Bei der Aufarbeitung alter Fälle haben unsere Kollegen vom BKA Spuren ausgewertet und gespeichert. Derjenige hatte irgendetwas mit einem bisher ungeklärten Mord in Dessau am 17. Oktober 1990 und einer gefährlichen Körperverletzung in Halle am 24. März 1991 zu tun.«
Pia bemerkte Behnkes hungrigen Blick. Wieso hatte er sich nichts zu essen bestellt?
»Noch was?« Bodenstein griff nach der Pfeffermühle und würzte das Carpaccio nach.
»Ja. Ich habe was über Watkowiaks Hemd herausgefunden«, fuhr Ostermann fort. »Die Hemden dieser Marke werden in Manufaktur und ausschließlich für einen Herrenausstatter in der Schillerstraße in Frankfurt hergestellt. Die Geschäftsführerin war sehr kooperativ und hat mir Rechnungskopien zur Verfügung gestellt. Weiße Hemden in Größe 41 wurden zwischen dem 1. März und dem 5. Mai genau vierundzwanzigmal verkauft. Unter anderem ... « Er machte eine wirkungsvolle Pause, um sich die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden zu sichern. »... kaufte eine Anja Moormann auf Rechnung von Vera Kaltensee am 26. April fünf weiße Hemden in Größe 41.«
Bodenstein hörte auf zu kauen und richtete sich auf.
»Na, die soll sie uns jetzt mal zeigen.« Pia schob Behnke ihren Teller hin. »Nimm nur. Ich kann nicht mehr.«
»Danke«, murmelte dieser und verputzte die übrige halbe Pizza in weniger als sechzig Sekunden, als habe er seit Tagen nichts mehr gegessen.
»Was war bei den Nachbarn von Goldberg und Schneider?« Bodenstein sah Behnke an, der mit vollen Backen kaute.
»Ich habe dem Mann, der das Auto gesehen hat, drei verschiedene Logos gezeigt«, erwiderte Behnke. »Er hat nicht eine Sekunde gezögert und auf das von Nowak gezeigt. Außerdem hat er die Uhrzeit präzisiert. Er ist um zehn vor eins mit dem Hund rausgegangen, nachdem irgendein Film auf ARTE vorbei war. Um zehn nach eins ist er zurückgekommen, da war das Auto weg und das Tor der Einfahrt zu.«
»Nowak wurde um Viertel vor zwölf von den Kollegen in Kelkheim angehalten«, sagte Pia. »Er kann locker danach nach Eppenhain gefahren sein.«
Bodensteins Handy klingelte. Er warf einen Blick aufs Display und entschuldigte sich für eine Minute.
»Wenn wir morgen immer noch nicht weiter sind, haben wir zwanzig Kollegen am Hals.« Ostermann lehnte sich zurück. »Da habe ich überhaupt keinen Bock drauf.«
»Das hat keiner von uns«, antwortete Behnke. »Aber wir können den Täter ja nicht herbeizaubern.«
»Wir haben aber jetzt mehr Anhaltspunkte und können konkretere Fragen stellen.« Pia beobachtete durch die großen Fenster ihren Chef, der mit dem Handy am Ohr auf dem Parkplatz hin und her ging. Mit wem sprach er wohl? Normalerweise verließ er zum Telefonieren nie den Raum. »Und wissen wir mehr über das Messer, mit dem Monika Krämer getötet wurde?«
»Ach ja.« Ostermann schob seinen Teller weg und suchte in den mitgebrachten Unterlagen, bis er eine der verschließbaren farbigen Plastikmappen gefunden hatte, die ein wichtiger Bestandteil seines Ablagesystems waren. So salopp er mit Pferdeschwanz, Nickelbrille und lässiger Kleidung auch wirken mochte, war Ostermann doch ein ausgesprochen strukturierter Mensch.
»Bei der Mordwaffe handelt es sich um ein Emerson Karambit Fixed Blade mit einem Skelettgriff, nachgebildetes indonesisches Design, ein taktisches Kampfmesser zur Selbstverteidigung. Emerson ist ein amerikanischer Hersteller, das Messer ist aber in verschiedenen Internetshops bestellbar und in dieser Ausführung seit 200 auf dem Markt. Es hatte eine Seriennummer, die herausgefeilt wurde.«
»Damit scheidet Watkowiak als Täter völlig aus«, sagte Pia. »Ich fürchte, der Chef hat recht mit dem Profikiller.«
»Womit habe ich recht?« Bodenstein kehrte an den Tisch zurück und machte sich über den Rest seines nur noch lauwarmen Chicken Curry her. Ostermann wiederholte die Info über das Messer.
»Okay.« Bodenstein wischte sich den Mund an der Serviette ab und blickte ernst in die Gesichter seiner Mitarbeiter. »Hört mir zu. Ich erwarte von euch ab sofort hundert Prozent mehr Einsatz! Wir haben von Nierhoff einen Tag Galgenfrist bekommen. Bisher haben wir mehr oder weniger im Trüben gefischt, aber jetzt gibt es ein paar konkrete Spuren, die ...«
Wieder klingelte sein Handy. Diesmal nahm er das Gespräch entgegen und lauschte einen Moment. Seine Miene verfinsterte sich.
»Nowak ist aus dem Krankenhaus verschwunden«, teilte er der Runde mit.
»Er sollte heute Nachmittag noch mal operiert werden«, sagte Hasse. »Vielleicht hat er Schiss gekriegt und sich aus dem Staub gemacht.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Bodenstein.
»Wir haben ihm heute Morgen eine Speichelprobe abgenommen. «
»Hatte er Besuch, als ihr bei ihm wart?«, erkundigte sich Pia.
»Ja«, nickte Kathrin Fachinger. »Seine Oma und sein Vater waren da.«
Pia wunderte sich erneut, dass Nowaks Vater seinen Sohn im Krankenhaus besucht haben sollte.
»So ein Großer, Kräftiger mit Schnauzbart?«, erkundigte sie sich.
»Nein.« Kathrin Fachinger schüttelte verunsichert den Kopf. »Er hatte keinen Schnauzbart, eher einen Dreitagebart. Und graue Haare, bisschen länger ...«
»Na, klasse.« Bodenstein schob ruckartig seinen Stuhl zurück und sprang auf. »Das war Elard Kaltensee! Wann wollten Sie mir das mitteilen?«
»Das konnte ich doch nicht wissen!«, verteidigte sich Kathrin Fachinger. »Hätte ich mir seinen Ausweis zeigen lassen sollen?«
Bodenstein sagte nichts, aber sein Blick sprach Bände. Er legte Ostermann einen Fünfzigeuroschein hin.
»Bezahlen Sie für uns mit«, sagte er und zog sein Jackett an. »Jemand fährt auf den Mühlenhof und lässt sich von der Haushälterin die fünf Hemden zeigen. Dann will ich wissen, wann, wo und von wem dieses Messer gekauft wurde, mit dem Monika Krämer getötet wurde. Und alles über die Pleite von Nowaks Vater vor acht Jahren und ob tatsächlich ein Zusammenhang mit der Familie Kaltensee bestand. Findet Vera Kaltensee. Sollte sie in irgendeinem Krankenhaus sein, postiert zwei Beamte vor ihrem Zimmer, die protokollieren, von wem sie Besuch bekommt. Außerdem beobachten wir rund um die Uhr den Mühlenhof. Ach ja: Katharina Ehrmann geborene Schmunck wohnt irgendwo im Taunus und besitzt möglicherweise die Schweizer Staatsbürgerschaft. Alles klar?«
»Ja, spitze.« Sogar Ostermann, der normalerweise nie murrte, war alles andere als begeistert über das Pensum, das ihm aufgebrummt worden war. »Wie viel Zeit haben wir?«
»Zwei Stunden«, erwiderte Bodenstein, ohne zu lächeln. »Aber nur, wenn eine Stunde nicht reicht.«
Er war schon fast zur Tür hinaus, als ihm noch etwas ein fiel.
»Was ist mit dem Durchsuchungsbeschluss für Nowaks Firma?«
»Kriegen wir heute«, antwortete Ostermann. »Samt Haftbefehl.«
»Gut. Das Foto von Nowak geht an die Presse und sollte heute noch im Fernsehen gezeigt werden. Geben Sie keine Information, weshalb wir ihn suchen, denken Sie sich etwas aus. Dass er dringend irgendwelche Medikamente braucht oder so etwas.«
»Wer hat vorhin angerufen?«, erkundigte sich Pia, als sie im Auto saßen. Bodenstein überlegte kurz, ob er es seiner Kollegin sagen sollte.
»Jutta Kaltensee«, antwortete er schließlich. »Sie hat mir angeblich etwas Wichtiges zu sagen und will mich heute Abend treffen.«
»Hat sie gesagt, um was es geht?«, fragte Pia.
Bodenstein sah starr geradeaus und ging vom Gas, als er das Ortsschild von Hofheim passierte. Bisher hatte er Cosima noch nicht erreicht, um sie zu fragen, wie ihr Mittagessen mit Jutta Kaltensee verlaufen war. Was für ein Spiel spielte diese Frau? Er fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, mit ihr allein zu sein. Allerdings musste er ihr dringend ein paar Fragen stellen. Über Katharina Ehrmann. Und über Dr. Ritter. Bodenstein verwarf den Gedanken, Pia um ihre Begleitung zu bitten. Er würde schon selbst mit Jutta fertig werden.
»Kuckuck!«, rief Pia in diesem Moment, und er zuckte zusammen.
»Wie bitte?«, fragte er irritiert. Er bemerkte den eigen artigen Blick seiner Kollegin, hatte aber ihre Frage nicht mitbekommen.
»Entschuldigung. Ich war in Gedanken. Jutta und Siegbert Kaltensee haben mir Theater vorgespielt, an dem Abend, an dem ich auf dem Mühlenhof mit ihnen gesprochen habe.«
»Wieso sollten sie das tun?« Pia war erstaunt.
»Vielleicht, um mich von dem abzulenken, was Elard vor her gesagt hatte.«
»Und was war das?«
»Ja, was, was, was! Ich weiß es eben nicht mehr genau!«, stieß Bodenstein ungewohnt heftig hervor und ärgerte sich gleichzeitig über sich selbst. Er war nicht hundertprozentig bei der Sache. Und hätte er nicht in den letzten Tagen immer wieder mit Jutta Kaltensee telefoniert, so würde er sich jetzt besser an jenes Gespräch auf dem Mühlenhof erinnern. »Es ging um Anita Frings. Elard Kaltensee hatte mir gesagt, dass seine Mutter um halb acht über deren Verschwinden informiert wurde und gegen zehn über ihren Tod.«
»Das haben Sie mir gar nicht erzählt«, sagte Pia mit deutlichem Vorwurf in der Stimme.
»Doch! Das habe ich!«
»Nein, haben Sie nicht! Das bedeutet nämlich, dass Vera Kaltensee genug Zeit hatte, ihre Leute in den Taunusblick zu schicken, um das Zimmer von Anita Frings auszuräumen!«
»Ich hab’s Ihnen erzählt«, beharrte Bodenstein. »Ganz sicher.«
Pia schwieg daraufhin und überlegte angestrengt, ob das stimmte.
Am Krankenhaus stellte Bodenstein das Auto im Wendehammer ab, ohne sich um die Proteste des jungen Mannes an der Information zu kümmern. Der Beamte, der Nowak überwachen sollte, gestand mit belämmerter Miene ein, dass er sich zweimal hatte übertölpeln lassen. Vor ungefähr einer Stunde sei ein Arzt aufgetaucht und habe Nowak zu einer Untersuchung abgeholt. Eine der Stationsschwestern hatte ihm sogar noch dabei geholfen, das Bett in den Aufzug zu schieben. Da ihm der Arzt versichert hatte, Nowak sei in etwa zwanzig Minuten vom Röntgen zurück, hatte der Beamte sich wieder auf den Stuhl neben der Zimmertür gesetzt.
»Die Anweisung, ihn nicht aus den Augen zu lassen, war doch wohl eindeutig«, sagte Bodenstein eisig. »Ihre Bequemlichkeit wird für Sie Konsequenzen haben, das kann ich Ihnen versprechen!«
»Was war mit dem Besuch heute Morgen?«, wollte Pia wissen. »Wie sind Sie darauf gekommen, dass der Mann Nowaks Vater war?«
»Die Oma hat gesagt, er wäre ihr Sohn«, antwortete der Beamte mürrisch. »Damit war das für mich klar.«
Die Stationsärztin, die Pia von ihrem ersten Besuch kannte, kam den Flur entlanggelaufen und teilte Bodenstein und Pia besorgt mit, dass Nowak ernsthaft in Gefahr sei, denn außer dem Trümmerbruch an der Hand habe er durch einen Messerstich eine Leberverletzung erlitten, mit der nicht zu spaßen sei.
Leider waren die Angaben des Beamten, der auf Nowak hatte aufpassen sollen, nicht besonders hilfreich.
»Der Arzt hatte so eine Haube auf und grüne Klamotten an«, sagte er lahm.
»Herrje! Wie sah er aus? Alt, jung, dick, dünn, Glatze, Vollbart – irgendetwas muss Ihnen doch aufgefallen sein!« Bodenstein war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Genau einen solchen Fehler hatte er vermeiden wollen, erst recht, seit Dr. Nicola Engel nur zu begierig auf sein Versagen zu lauern schien.
»Er war so vierzig oder fünfzig, würde ich schätzen«, erinnerte sich der Beamte endlich. »Außerdem hatte er, glaube ich, eine Brille.«
»Vierzig? Fünfzig? Oder sechzig? Vielleicht war es auch eine Frau?«, fragte Bodenstein sarkastisch. Sie standen in der Eingangshalle des Krankenhauses, wo inzwischen die Bereitschaftspolizei eingetroffen war. Vor den Aufzügen gab der Einsatzleiter seinen Beamten Anweisungen. Funkgeräte rauschten, neugierige Patienten drängten sich zwischen die Polizisten, die sich nun formierten, um Stockwerk um Stockwerk nach dem verschwundenen Marcus Nowak abzusuchen. Die Streife, die Pia bei Nowak zu Hause vorbeigeschickt hatte, meldete sich und teilte mit, dass er dort nie eingetroffen sei.
»Ihr bleibt vor dem Firmentor stehen und meldet euch kurz vor Schichtende, damit wir die Ablösung schicken können«, wies Pia den Kollegen an.
Bodensteins Handy klingelte. Man hatte das leere Krankenbett in einem Untersuchungsraum im Erdgeschoss direkt neben einem Notausgang gefunden. Die letzte Hoffnung, dass sich Nowak noch irgendwo im Gebäude aufhalten könnte, war hinüber: Blutspuren führten aus dem Raum, den Flur entlang bis hinaus ins Freie.
»Das war’s dann wohl.« Resigniert wandte sich Bodenstein an Pia. »Kommen Sie, wir fahren zu Siegbert Kaltensee.«
Elard Kaltensee war ein glänzender Theoretiker, aber kein Mann der Tat. Zeit seines Lebens hatte er sich vor Entscheidungen gedrückt und sie anderen Menschen in seinem Umfeld überlassen, doch diesmal hatte die Situation sein sofortiges Handeln erfordert. So schwer es ihm gefallen war, seinen Plan in die Tat umzusetzen: Es ging nicht länger mehr nur um ihn, doch nur er konnte diese Sache ein für alle Mal zu Ende bringen. Mit dreiundsechzig Jahren – nein, vierundsechzig, verbesserte er sich in Gedanken – hatte er endlich den Mut gefunden, die Dinge in die Hand zu nehmen. Er hatte die vermaledeite Kiste aus seiner Wohnung geschafft, das Kunsthaus vorübergehend geschlossen, alle Mitarbeiter nach Hause geschickt, online die Flüge gebucht und gepackt. Und eigenartigerweise ging es ihm plötzlich besser als je zuvor, auch ohne Tabletten. Er fühlte sich um Jahre verjüngt, entschlossen und tatkräftig. Elard Kaltensee lächelte. Vielleicht war es sein Vorteil, dass sie ihn alle für einen Feigling hielten, ihm traute niemand etwas Derartiges zu. Mal abgesehen von dieser Polizistin, aber auch sie hatte sich auf eine falsche Fährte locken lassen. Vor dem Tor des Mühlenhofs stand ein Streifenwagen, aber nicht einmal dieses unerwartete Hindernis konnte ihn erschüttern. Wenn er Glück hatte, kannte die Polizei die Zufahrt zum Hof über Lorsbach durchs Fischbachtal nicht, und er konnte ungesehen ins Haus gelangen. Eine Begegnung mit der Polizei pro Tag reichte ihm voll und ganz, außerdem würde ihn das Blut auf dem Beifahrersitz unweigerlich in Erklärungsnot bringen. Er horchte auf und drehte das Radio lauter. »... bittet die Polizei um Ihre Mithilfe. Seit dem Nachmittag wird der vierunddreißigjährige Marcus Nowak vermisst. Er ist aus dem Krankenhaus in Hofheim verschwunden und dringend auf lebensnotwendige Medikamente angewiesen ...« Elard Kaltensee schaltete das Radio ab und lächelte zufrieden. Sollten sie getrost suchen. Er wusste, wo Nowak war. So schnell würde ihn niemand finden, dafür hatte er gesorgt.
Die Konzernzentrale der KMF befand sich in direkter Nähe zum Finanzamt am Hofheimer Nordring. Bodenstein hatte es vorgezogen, sich nicht bei Siegbert Kaltensee anzukündigen, und präsentierte dem Pförtner kommentarlos seinen Ausweis. Ein Mann in dunkler Uniform starrte ausdruckslos ins Auto und ließ den Schlagbaum hoch.
»Ich wette ein Monatsgehalt, dass wir da drüben die Leute finden, die Nowak überfallen haben«, bemerkte Pia und wies auf ein unscheinbares Gebäude mit dem diskreten Firmenschild » K-Secure«. Auf dem eingezäunten Parkplatz daneben parkten mehrere schwarze VW-Busse und Mercedes-Transporter mit verdunkelten Scheiben. Bodenstein verlangsamte die Fahrt, und Pia las auf einigen Fahrzeugen die Werbeaufschrift »K-Secure – Objekt-, Werk- und Personenschutz, Geld- und Werttransporte«. Die Kratzer vom Betonblumenkübel vor Auguste Nowaks Haus waren sicher längst repariert worden, aber sie waren auf der richtigen Spur. Das Kriminallabor hatte die Lackspuren eindeutig einem Produkt aus dem Hause Mercedes-Benz zugeordnet.
Die Sekretärin von Siegbert Kaltensee, die problemlos bei Germany’s Next Topmodel in die letzte Runde gekommen wäre, kündigte ihnen eine längere Wartezeit an – der Chef sei in einer wichtigen Geschäftsbesprechung mit Kunden aus Übersee. Pia erwiderte ihren herablassenden Blick mit einem Lächeln und fragte sich, wie jemand den ganzen langen Tag mit solchen Absätzen herumlaufen konnte.
Siegbert Kaltensee ließ seine Überseekunden offenbar sitzen und erschien innerhalb von drei Minuten.
»Wir haben gehört, dass Sie einige Veränderungen planen, was die Firma anbelangt«, sagte Bodenstein, nachdem die Sekretärin Kaffee und Mineralwasser serviert hatte. »Sie wollen angeblich verkaufen, was Sie bisher nicht konnten, da einige der Anteilsinhaber ihre Sperrminorität ausgeübt haben.«
»Ich weiß nicht, woher Sie diese Informationen haben«, entgegnete Siegbert Kaltensee gelassen. »Außerdem ist die Angelegenheit etwas komplexer, als es wohl dargestellt wurde.«
»Aber es stimmt doch, dass Sie für Ihr Vorhaben keine Mehrheit hatten?«
Siegbert Kaltensee lächelte und stützte die Ellbogen auf die Schreibtischplatte. »Worauf wollen Sie hinaus? Doch nicht etwa darauf, dass ich Goldberg, Schneider und Anita Frings habe umbringen lassen, um als Geschäftsführer der KMF an ihre Anteile zu gelangen?«
Bodenstein lächelte ebenfalls. »Jetzt sind Sie es, der die Sache ein wenig vereinfacht ausgedrückt hat. Aber in diese Richtung zielte meine Frage.«
»Tatsächlich haben wir vor einigen Monaten die Firma von einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft bewerten lassen«, sagte Siegbert Kaltensee. »Natürlich gibt es immer wieder Investoren, die Appetit auf eine gesunde, gut aufgestellte Firma haben, die auch noch Weltmarktführer auf ihrem Gebiet ist und einige hundert Patente besitzt. Die Bewertung fand allerdings nicht aus dem Grund statt, weil wir verkaufen wollen, sondern weil wir in naher Zukunft einen Börsengang planen. Die KMF soll völlig umstrukturiert werden, um sich den Erfordernissen des Marktes anzupassen.«
Er lehnte sich zurück.
»Ich werde im Herbst sechzig. Niemand aus der Familie zeigt Interesse an der Firma, deshalb muss ich früher oder später das Ruder einem Fremden überlassen. Spätestens dann möchte ich die Familie aus der Firma herausnehmen. Sicher wissen Sie über die testamentarische Verfügung meines Vaters Bescheid. Mit Ablauf des Jahres verliert sie an Gültigkeit, dann können wir endlich die Betriebsform der Firma verändern. Aus der GmbH soll eine Aktiengesellschaft werden, und das innerhalb der nächsten zwei Jahre. Niemand von uns wird für seine Anteile Millionen kassieren. Natürlich habe ich alle Anteilseigner persönlich und ausführlich über diese Pläne informiert, selbstverständlich auch die Herren Goldberg und Schneider und Frau Frings.«
Siegbert Kaltensee lächelte wieder.
»Darum ging es übrigens auch bei dem Gespräch letzte Woche im Hause meiner Mutter, als Sie wegen Robert zu uns gekommen sind.«
Das klang alles schlüssig. Das Mordmotiv von Siegbert und Jutta Kaltensee, das weder Bodenstein noch Pia für wirklich relevant gehalten hatten, löste sich damit in Luft auf.
»Kennen Sie Katharina Ehrmann?«, fragte sie.
»Natürlich.« Siegbert Kaltensee nickte. »Katharina und meine Schwester Jutta sind eng befreundet.«
»Weshalb hat Frau Ehrmann von Ihrem Vater damals Firmenanteile erhalten?«
»Das entzieht sich meiner Kenntnis. Katharina ist quasi auf dem Mühlenhof aufgewachsen. Ich nehme an, mein Vater wollte damit meine Mutter ärgern.«
»Wussten Sie, dass Katharina Ehrmann ein Verhältnis mit Dr. Ritter, dem ehemaligen Assistenten Ihrer Mutter, hat?«
Eine steile Unmutsfalte erschien zwischen Kaltensees Augenbrauen.
»Nein, das ist mir nicht bekannt«, räumte er ein. »Es ist mir auch ziemlich egal, was dieser Mann tut. Er hat einen schlechten Charakter. Leider hat meine Mutter viel zu lange nicht erkannt, dass er immer versucht hat, sie gegen die Familie aufzubringen.«
»Er schreibt an einer Biographie über Ihre Mutter.«
»Er hat daran geschrieben«, korrigierte Kaltensee kühl. »Unsere Anwälte haben ihm das untersagt. Außerdem hat er sich bei Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses vertraglich verpflichtet, über alle Familieninterna Stillschweigen zu bewahren.«
»Was passiert, wenn er dagegen verstößt?«, fragte Pia neu gierig.
»Die Konsequenzen werden für ihn ausgesprochen unangenehm sein.«
»Was haben Sie eigentlich gegen eine Biographie Ihrer Mutter einzuwenden?«, erkundigte sich Bodenstein. »Sie ist eine bemerkenswerte Frau mit einer großartigen Lebensleistung.«
»Wir haben überhaupt nichts dagegen einzuwenden«, antwortete Kaltensee. »Aber meine Mutter möchte sich ihren Biographen selbst aussuchen. Ritter hat sich allerhand abstruses Zeug aus den Fingern gesogen, einzig, um sich für vermeintlich erlittenes Unrecht an meiner Mutter zu rächen.«
»Zum Beispiel, dass Goldberg und Schneider früher Nazis waren und mit einer falschen Identität gelebt haben?«, fragte Pia.
Wieder lächelte Siegbert Kaltensee unverbindlich. »In den Lebensläufen zahlreicher erfolgreicher Unternehmer aus der Nachkriegszeit werden Sie Verbindungen zum Naziregime finden«, entgegnete er. »Auch mein Vater hatte zweifellos vom Krieg profitiert, schließlich war seine Firma ein Rüstungsbetrieb. Darum geht es nicht.«
»Worum dann?«, fragte Bodenstein.
»Ritter stellt wilde Spekulationen an, die den Straftatbestand der Verleumdung und der üblen Nachrede erfüllen.«
»Wie können Sie das wissen?«, erkundigte sich Pia Siegbert Kaltensee zuckte die Achseln und schwieg.
»Uns ist zu Ohren gekommen, dass man damals Ihren Bruder Elard verdächtigte, Ihren Vater die Treppe hinuntergestoßen zu haben. Schreibt Ritter auch darüber etwas in seinem Buch?«
»Ritter schreibt kein Buch«, entgegnete Siegbert Kaltensee. »Davon abgesehen glaube ich bis heute, dass Elard es war. Er konnte meinen Vater nie leiden. Dass er Firmenanteile bekommen hat, ist der blanke Hohn.«
Seine glatte Fassade der Selbstsicherheit zeigte erste Risse. Woher rührte seine offensichtliche Abneigung gegen den älteren Halbbruder? War es Eifersucht auf dessen Aussehen und seinen Erfolg bei Frauen, oder steckte mehr dahinter?
»Genaugenommen gehört Elard nicht mal zur Familie. Trotzdem profitiert er seit Jahrzehnten wie selbstverständlich von meiner Arbeit, die in seinen Augen nur eine verachtenswerte, sinnentleerte Jagd nach dem schnöden Mammon ist.« Er lachte gallig. »Ich würde meinen hochgeistigen, feinsinnigen Bruder gerne mal ohne Geld erleben, mittellos und auf sich selbst gestellt! Der Herr Kunstprofessor ist nämlich kein besonders lebenstüchtiger Mensch.«
»So ähnlich wie Robert Watkowiak?«, fragte Pia. »Berührt Sie sein Tod eigentlich gar nicht?«
Siegbert Kaltensee hob die Augenbrauen und fand zu seiner gelassenen Haltung zurück.
»Wenn ich ehrlich bin, nein. Ich habe mich oft genug dafür geschämt, dass er mein Halbbruder war. Meine Mutter war lange zu nachsichtig mit ihm.«
»Vielleicht, weil er ihr Enkelsohn war«, bemerkte Bodenstein beiläufig.
»Wie bitte?« Kaltensee richtete sich auf.
»Uns ist in den letzten Tagen so einiges zu Ohren gekommen«, erwiderte Bodenstein. »Unter anderem, dass in Wirklichkeit Sie der Vater von Watkowiak waren. Seine Mutter sei ein Dienstmädchen Ihrer Eltern gewesen. Nachdem Ihre Eltern von diesem nicht standesgemäßen Verhältnis Wind bekamen, wurden Sie nach Amerika geschickt, und Ihr Vater hat den Fauxpas auf sich genommen.«
Siegbert Kaltensee verschlug diese Behauptung buchstäblich die Sprache. Er fuhr sich mit der Hand nervös über die Glatze.
»Mein Gott«, murmelte er und erhob sich. »Ich hatte tat sächlich eine Affäre mit dem Dienstmädchen meiner Eltern. Sie hieß Danuta, war ein paar Jahre älter als ich und sehr hübsch.«
Er ging in seinem Büro hin und her.
»Mir war es ernst mit ihr, wie das so ist, wenn man sechzehn ist. Meine Eltern waren natürlich nicht begeistert und schickten mich nach Amerika, damit ich auf andere Gedanken käme.«
Unvermittelt blieb er stehen.
»Als ich nach acht Jahren mit Universitätsabschluss, Frau und Tochter zurückkam, hatte ich Danuta ganz vergessen.«
Er trat an das Fenster und starrte hinaus. Dachte er an all die Zurückweisungen und Versäumnisse, die seinen angeblichen Halbbruder erst in die Kriminalität und dann in den Tod getrieben hatten?
»Wie geht es übrigens Ihrer Mutter?«, wechselte Bodenstein das Thema. »Und wo ist sie? Wir müssen nämlich dringend mit ihr sprechen.«
Siegbert Kaltensee wandte sich um und nahm mit bleichem Gesicht wieder hinter dem Schreibtisch Platz. Geistesabwesend malte er mit einem Kugelschreiber Figuren auf einen Schreibblock.
»Sie ist derzeit nicht ansprechbar«, sagte er leise. »Die Ereignisse der letzten Tage haben sie sehr mitgenommen. Die Morde, die Robert begangen hat, und zuletzt die Nachricht von seinem Selbstmord, das war einfach zu viel für sie.«
»Watkowiak hat die Morde nicht begangen«, erwiderte Bodenstein. »Und sein Tod war auch kein Selbstmord. Bei der Obduktion wurde zweifelsfrei festgestellt, dass er durch Fremdeinwirkung gestorben ist.«
»Durch Fremdeinwirkung?«, fragte Kaltensee ungläubig. Die Hand, mit der er den Kugelschreiber hielt, zitterte leicht. »Aber wer ... und warum? Wer sollte Robert denn ermorden wollen?«
»Das fragen wir uns auch. Wir haben bei ihm die Waffe gefunden, mit der seine Freundin zuvor getötet wurde, aber er war nicht ihr Mörder.«
In das Schweigen klingelte das Telefon auf dem Schreibtisch. Siegbert Kaltensee hob ab, verbat sich barsch jegliche Störung und legte wieder auf.
»Können Sie sich vorstellen, wer die drei Freunde Ihrer Mutter umgebracht hat und was die Zahl 16145 bedeuten könnte?«
»Diese Zahl sagt mir nichts«, erwiderte Kaltensee und dachte kurz nach. »Ich will niemanden zu Unrecht verdächtigen, aber ich weiß von Goldberg, dass Elard ihn in den letzten Wochen massiv unter Druck gesetzt hat. Mein Bruder wollte nicht akzeptieren, dass Goldberg nichts über seine Vergangenheit wusste, schon gar nicht über seinen leiblichen Vater. Und auch Ritter hatte Goldberg wiederholt besucht. Ihm traue ich drei Morde ohne weiteres zu.«
Pia hatte es nur selten erlebt, dass jemand so deutlich einen Mordverdacht äußerte. Sah Siegbert Kaltensee seine Chance, den beiden Männern, mit denen er jahrelang um die Gunst seiner Mutter rivalisiert hatte und die er aus tiefstem Herzen verabscheute, eins auszuwischen? Was würde geschehen, wenn Kaltensee erfuhr, dass Ritter nicht nur sein Schwiegersohn war, sondern auch der Vater seines Enkelkindes sein würde?
»Goldberg, Schneider und Frings sind mit einer Weltkriegswaffe und alter Munition erschossen worden. Woher sollte Ritter die haben?«, wandte sie nun ein. Kaltensee musterte sie eindringlich.
»Sie haben doch sicher auch die Geschichte von der verschwundenen Kiste gehört«, sagte er. »Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, was sie wohl enthalten hat. Was, wenn es Hinterlassenschaften meines Vaters waren? Er war Mitglied der NSDAP und außerdem bei der Wehrmacht gewesen. Vielleicht hat Ritter die Kiste mit seiner Waffe unterschlagen.«
»Wie denn das? Er durfte doch seit diesem Vorfall den Mühlenhof gar nicht mehr betreten«, warf Pia ein. Siegbert Kaltensee ließ sich nicht verunsichern.
»Ritter schert sich nicht um Verbote«, sagte er nur. »Wusste Ihre Mutter, was in der Kiste war?«
»Davon gehe ich aus. Sie sagt aber nichts. Und wenn meine Mutter etwas nicht sagen will, dann tut sie es nicht.« Kaltensee lachte gehässig. »Schauen Sie sich nur meinen Bruder an, der seit sechzig Jahren verzweifelt auf der Suche nach seinem Erzeuger ist.«
»Gut.« Bodenstein lächelte und erhob sich. »Danke, dass Sie uns Ihre Zeit geopfert haben. Ach, nur noch eine Frage: Auf wessen Anweisung haben die Leute von Ihrem Werkschutz Marcus Nowak gefoltert und zusammengeschlagen?«
»Wie bitte?« Kaltensee schüttelte irritiert den Kopf. »Wen?«
»Marcus Nowak. Der Restaurator, der damals den Umbau der Mühle vorgenommen hat.«
Kaltensee runzelte nachdenklich die Stirn, dann schien es ihm einzufallen.
»Ach, der«, sagte er. »Mit seinem Vater hatten wir seinerzeit große Probleme. Seine schlampige Arbeit beim Bau des Verwaltungsgebäudes hat uns viel Geld gekostet. Aber was soll unser Werkschutz bei seinem Sohn gewollt haben?«
»Das würde uns auch interessieren«, sagte Bodenstein. »Haben Sie etwas dagegen, wenn sich unsere Kriminaltechniker Ihre Fahrzeuge anschauen?«
»Nein«, erwiderte Kaltensee, ohne zu zögern und ein bisschen amüsiert. »Ich rufe Herrn Améry an, den Geschäftsführer von K-Secure. Er wird Ihnen zur Verfügung stehen.«
Henri Améry war Mitte dreißig, ein gutaussehender südländischer Typ, schlank und braungebrannt, das kurzgeschnittene schwarze Haar nach hinten gekämmt. Er trug ein weißes Hemd, einen dunklen Anzug und italienische Schuhe und hätte gut und gerne Börsenmakler, Anwalt oder Banker sein können. Mit einem zuvorkommenden Lächeln überreichte er Bodenstein eine Liste seiner Mitarbeiter, vierunddreißig an der Zahl inklusive ihm selbst, und beantwortete anstandslos alle Fragen. Seit anderthalb Jahren war er Chef der K-Secure. Den Namen Nowak hatte er nie gehört und schien ehrlich überrascht, als er von einem angeblichen Geheimeinsatz seiner Leute erfuhr. Gegen eine Untersuchung der Fahrzeuge hatte er nichts einzuwenden und legte gleich eine zweite Liste vor, auf denen alle Firmenfahrzeuge mit Kennzeichen, Typ, Tag der ersten Zulassung und Kilometerstand aufgeführt waren. Während Bodenstein noch mit ihm sprach, meldete sich Miriam auf Pias Handy. Sie war auf dem Weg nach Doba, dem ehemaligen Doben, zu dessen Amtsbereich das Dorf Lauenburg und das Gut gehört hatten.
»Ich treffe mich morgen früh mit einem Mann, der bis 1945 auf dem Gut der Zeydlitz-Lauenburgs als polnischer Zwangsarbeiter gearbeitet hat«, berichtete sie. »Die Archivarin kennt ihn. Er lebt in einem Altersheim in Wegorzewo.«
»Das hört sich gut an.« Pia sah ihren Chef aus dem Büro der K-Secure kommen. »Achte auf die Namen Endrikat und Oskar, denk dran!«
»Klar, mach ich«, erwiderte Miriam. »Bis später.«
»Und?«, erkundigte sich Bodenstein, als Pia das Handy zu geklappt hatte. »Was halten Sie von Siegbert Kaltensee und diesem Améry?«
»Siegbert hasst seinen Bruder und Ritter«, analysierte Pia. »Sie waren in seinen Augen Konkurrenten um die Gunst seiner Mutter. Hat Ihre Schwiegermutter nicht gesagt, Vera habe ihren Assistenten geradezu vergöttert? Und Elard wohnt sogar auf dem Mühlenhof, sieht Klassen besser aus als Siegbert und hatte zumindest früher ein amouröses Abenteuer nach dem anderen.«
»Hm.« Bodenstein nickte nachdenklich. »Und dieser Améry?«
»Hübsches Bürschchen, etwas zu glatt für meinen Geschmack«, urteilte Pia. »Ein bisschen sehr hilfsbereit außerdem. Wahrscheinlich steht das Auto, mit dem seine Leute bei Nowak waren, überhaupt nicht auf der Liste. Die Untersuchung können wir dem Steuerzahler ersparen.«
Im Kommissariat erwartete sie Ostermann mit jeder Menge Neuigkeiten: Vera Kaltensee lag weder in Hofheim noch in Bad Soden im Krankenhaus. Von Nowak gab es keine Spur; immerhin war der Durchsuchungsbeschluss endlich da. Vor dem Tor des Mühlenhofs und vor Nowaks Firma waren Streifenwagen postiert worden. Die Hemden, die Behnke sich von Frau Moormann hatte zeigen lassen, gehörten Elard Kaltensee. Behnke war mittlerweile in Frankfurt auf der Suche nach dem Professor, doch das Kunsthaus war noch immer geschlossen. Ostermann hatte über Finanzamt, Einwohnermeldeamt und POLAS herausgefunden, dass Katharina Ehrmann, früher Schmunck, geboren am 19. 7. 1964 in Königstein, deutsche Staatsbürgerin mit ständigem Wohnsitz in Zürich/Schweiz, als zweiten Wohnsitz eine Adresse in Königstein angegeben hatte. Sie war selbständige Verlegerin, einkommenssteuerpflichtig in der Schweiz, hatte keine Vorstrafen.
Bodenstein hatte Ostermann schweigend zugehört. Er warf einen Blick auf die Uhr. Gleich Viertel nach sechs. Um halb acht wartete Jutta Kaltensee im Gasthaus Rote Mühle in der Nähe von Kelkheim auf ihn.
»Verlegerin«, wiederholte er. »War sie es vielleicht, die Ritter mit dem Schreiben der Biographie beauftragt hat?«
»Werde ich überprüfen.« Ostermann machte sich eine Notiz.
»Und geben Sie eine Fahndung raus«, fügte Bodenstein hinzu. »Nach Professor Elard Kaltensee und seinem Auto.«
Er bemerkte Pias zufriedenen Gesichtsausdruck. Offenbar hatte sie mit ihrem Verdacht richtiggelegen.
»Morgen früh um sechs Uhr durchsuchen wir Nowaks Firma und Wohnung. Organisieren Sie das, Frau Kirchhoff. Ich will mindestens zwanzig Leute dabeihaben, das übliche Team.«
Pia nickte. Das Telefon klingelte, Bodenstein nahm ab. Behnke hatte den Hausmeister des Kunsthauses aufgetrieben. Dieser hatte Elard Kaltensee am Mittag geholfen, eine Kiste und zwei Reisetaschen ins Auto zu laden.
»Außerdem habe ich erfahren, dass der Professor noch ein Büro an der Universität hat«, schloss Behnke. »Im Campus Westend. Da fahre ich jetzt hin.«
»Was für ein Auto fährt er?« Bodenstein drückte auf die Lautsprechertaste, damit Ostermann mithören konnte.
»Moment.« Behnke sprach mit jemandem, dann wieder in sein Telefon. »Einen schwarzen S-Klasse Mercedes, Kennzeichen MTK-EK 222.«
»Danke. Halten Sie Ostermann und Frau Kirchhoff auf dem Laufenden. Falls Sie Kaltensee antreffen, nehmen Sie ihn fest und bringen ihn hierher«, sagte Bodenstein. »Ich will heute noch mit ihm sprechen.«
»Trotzdem Fahndung?«, erkundigte sich Ostermann, als Bodenstein aufgelegt hatte.
»Natürlich«, antwortete dieser und wandte sich zum Gehen. »Und dass mir von euch heute keiner Feierabend macht, ohne sich telefonisch abzumelden.«
Thomas Ritter blickte erschöpft auf die fertige Rohfassung des Manuskripts. Nach vierzehn Stunden und zwei Schachteln Marlboro, nur unterbrochen von den Kripoleuten und Katharina, hatte er es geschafft. Dreihundertneunzig Seiten schmutzige Wahrheit über die Familie Kaltensee und ihre vertuschten Verbrechen! Dieses Buch war purer Sprengstoff, es würde Vera das Genick brechen, ja sie vielleicht sogar ins Gefängnis bringen. Er fühlte sich völlig ausgelaugt und gleichzeitig so aufgekratzt, als hätte er Kokain geschnupft. Nachdem er die Datei abgespeichert hatte, brannte er sie aus einem Impuls heraus zusätzlich auf eine CD-ROM. Er kramte in seiner Aktentasche nach einer kleinen Audiokassette und steckte diese mit der CD-ROM in einen wattierten Umschlag, den er mit Eddingstift adressierte. Eine Sicherheitsmaßnahme für den Fall, dass sie ihn wieder bedrohen würden. Thomas Ritter schaltete sein Laptop ab, klemmte es sich unter den Arm und stand auf.
»Auf Nimmerwiedersehen, du Dreckbüro«, murmelte er und warf keinen Blick zurück, als er hinausging. Nichts wie nach Hause und unter die Dusche! Katharina erwartete ihn zwar heute Abend noch, aber vielleicht konnte er das verschieben. Er hatte keine Lust mehr, über das Manuskript zu sprechen, über Verkaufschancen, Marketingstrategien und seine Schulden. Und noch weniger hatte er Lust auf Sex mit ihr. Zu seiner eigenen Überraschung freute er sich ehrlich auf Marleen. Er hatte ihr vor Wochen einen schönen Abend zu zweit versprochen, ein gemütliches Essen in einem netten Restaurant, danach einen Absacker in einer Bar und eine ausführliche Liebesnacht.
»Du grinst ja so zufrieden«, bemerkte Empfangsdame Sina, als er an ihrem Tisch vorbeiging. »Was ist los?«
»Ich freue mich auf meinen Feierabend«, erwiderte Ritter. Plötzlich hatte er eine Idee. Er reichte ihr den wattierten Um schlag. »Sei ein Schatz, und heb den für mich auf.«
»Klar doch. Mach ich.« Sina steckte den Umschlag in ihre gefälschte Louis-Vuitton-Tasche und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Viel Spaß beim Feierabend ...«
Es klingelte an der Tür.
»Na, endlich.« Sie drückte auf den Türöffner. »Das wird wohl der Kurier mit den Andrucken sein. Der hat sich ja heute Zeit gelassen.«
Ritter zwinkerte zurück und trat zur Seite, um den Fahrradkurier vorbeizulassen. Doch statt des erwarteten Boten trat ein bärtiger Mann in dunklem Anzug ein. Er blieb vor Ritter stehen und musterte ihn kurz.
»Sind Sie Dr. Thomas Ritter?«, fragte er.
»Wer will das wissen?«, entgegnete Ritter misstrauisch. »Falls Sie es sind, habe ich ein Päckchen für Sie«, antwortete der Bärtige. »Von einer Frau Ehrmann. Soll ich Ihnen aber nur persönlich übergeben.«
»Aha. « Ritter war skeptisch. Allerdings war Katharina immer für eine Überraschung gut. Sie brachte es fertig und schickte ihm irgendein Sexspielzeug, als Einstimmung auf den von ihr geplanten Abend. »Und wo ist das Päckchen?«
»Wenn Sie einen Moment warten, hol ich’s gerade. Ich hab es noch im Auto.«
»Nein, lassen Sie nur. Ich bin sowieso auf dem Weg nach unten«, Ritter winkte Sina grüßend zu und folgte dem Mann ins Treppenhaus. Er war froh, das Büro heute bei Tageslicht zu verlassen. Auch wenn er es sich nur ungern eingestand, der Lieferwagen auf dem Parkplatz und die blöde Bemerkung dieser unsympathischen blonden Kripotante hatten ihm Angst eingejagt. Aber jetzt würde er das Manuskript in die Verantwortlichkeit des Verlages übergeben, und wenn es erst einmal gedruckt war, konnten sie sich ihre Drohungen in den Hintern stecken. Ritter nickte dem Mann zu, als der ihm höflich die Tür aufhielt. Plötzlich spürte er einen Stich seitlich im Hals.
»Au!«, stieß er hervor und ließ die Tasche mit dem Laptop fallen. Ritter spürte, wie seine Beine unter ihm nachgaben, als seien sie aus Gummi. Ein schwarzer Lieferwagen stoppte direkt vor ihm, aus der Seitentür sprangen zwei Männer heraus und ergriffen seine Arme. Unsanft wurde er in das Innere des Transporters gestoßen, die Seitentür krachte wieder zu, und es war stockdunkel. Dann ging die Innenbeleuchtung des Transporters an, aber es wollte ihm nicht gelingen, den Kopf zu heben. Speichel tropfte aus seinem Mundwinkel, alles verschwamm vor seinen Augen, und in seinem Inneren öffneten sich die Schleusen der Angst. Dann verlor er das Bewusstsein.