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Diese Offenbarung traf Tajirika mit einer Wucht, der er nicht ausweichen konnte und die beide so nicht erwartet hatten. Er erinnerte sich an diese Begegnung und wusste, noch bevor der Herr der Krähen es bestätigte, dass der Fremde und der Herr der Krähen dieselbe Person waren. Deshalb also hatte er während der Weissagung und Heilung seines Weiß-Wahns Andeutungen auf eine frühere Begegnung verspürt. Damals hatte er dieses Gefühl als Halluzination abgetan, als Nebenwirkung des Weiß-Wahns. Und nun das! Tajirika hatte nie von toten Sprachen gehört und nahm an, der Herr der Krähen würde über die Sprachen reden, die von den Toten gesprochen werden. Der Zauberer besaß die Geheimnisse der toten Hexenmeister Afrikas, Indiens und der ganzen Welt. Im Angesicht dieser neuerlichen Ungeheuerlichkeit packte ihn ein nie gekanntes Entsetzen. Minutenlang hockte er erstarrt in seiner Ecke, in seinem Kopf jagte ein unheimliches Bild fiebergleich das nächste. Und dennoch schienen ihm diese Offenbarungen ein Licht auf das zu werfen, was ihm ein Geheimnis gewesen war. So stellte es sich ihm jetzt dar.
Dieser Zauberer musste der Ursprung all seiner Schwierigkeiten sein! Er musste den Boden vor seinem Büro mit einem Zauber belegt und damit den Schlangenwahn ausgelöst haben. Die Warteschlangen hatten sich nur ein oder zwei Tage, nachdem er den Fremden vom Gelände der Eldares Modern Construction and Real Estate verjagt hatte, gebildet. Er hatte ihm, Tajirika, die Zunge gelähmt. Er hatte Vinjinia und Nyawĩra verzaubert und sie zu seinen Feinden gemacht. Er hatte überhaupt keine Arbeit gesucht, sondern nach einer Möglichkeit, seiner Bosheit, die in Neid gründete, freien Lauf zu lassen. Und ich, ein Unschuldiger, bin ihm in die Falle gegangen und habe ihm einen Grund geliefert, Vergeltung zu üben. Er hat sogar mein Geld gestohlen.
„Ich habe Ihnen drei Säcke mit Geld gegeben“, sagte Tajirika und hoffte, dass ihn das besänftigte und seinen Zorn milderte.
„Dein Geld riecht nach dem Bösen. Du kannst es wiederhaben. Ich habe es im Grasland vergraben“, antwortete der Herr der Krähen und beschrieb zu Tajirikas ungläubigem Staunen die genaue Stelle.
War er erneut von seinen Feinden ausgeschickt worden? War er um Mitternacht in seine Zelle gebracht worden, um ihn mit Geschichten und der Lüge zu verführen, Geld vergraben zu haben? Er konnte sich nur einen einzigen Feind vorstellen, der dazu den Einfluss und Gelegenheit hatte.
Sikiokuus Worte verfolgten ihn: „Denken Sie genau nach …“, so seine Worte. Und was passiert als Nächstes? Der Herr der Krähen taucht auf unerklärliche Weise in der Zelle auf. Es war der Zauberer, der als Erster seinen Wunsch erkannt hatte, Weißer zu sein. Und jetzt hatte Sikiokuu den Zauberer geschickt, um ihn ein für alle Mal fertigzumachen. Sikiokuu hatte mit Tajirika gespielt, hatte sogar vorhergesagt, auf seine dubiose Art, was geschehen würde. Und mit Sicherheit würde der Zauberer ihm zuallererst die Finger abschneiden. Wahrscheinlich hätte er mich schon in der Nacht umgebracht, wenn ich nicht wach geblieben wäre.
In Zeitlupe kam der Tod in Menschengestalt auf ihn zu, während er weiter bewegungsunfähig in seiner Ecke kauerte. In diesem Augenblick entschied Tajirika, keine weitere Nacht unter demselben Dach in der mörderischen Gegenwart dieses in Indien geschulten Hexenmeisters zu verbringen, der bereits sein Büro und sein Haus mit einem Fluch beladen hatte und ein Problem nach dem anderen auf ihn niedergehen ließ.
Seine Strategie war, dem Tod zu entwischen, seine Taktik würde sein, den Herrn der Krähen in ein Gespräch zu verwickeln, bis er sich einen Plan zurechtgelegt hat. Die Klarheit von Strategie und Taktik beruhigten ihn ein wenig trotz des Durcheinanders von Gedanken und Bildern in seinem Kopf, und die Worte, die er jetzt hervorbrachte, ließen keinerlei Furcht oder Angst erkennen.
„Ich habe es nicht böse gemeint. Ich versichere Ihnen, dieser Test war nichts weiter als ein Scherz unter Männern. Ehrlich, ich hatte geglaubt, Sie würden mit mir darüber lachen. Ich wollte Ihnen die Last, keinen Job zu bekommen, erträglicher machen.“
„Glaubst du nicht, du solltest dir das besser vorher überlegen? Derartiger Humor kann tödliche Folgen haben.“
Tödliche Folgen? Jetzt hat er sein wahres Gesicht gezeigt. Zaubermacht und Staatsmacht haben sich gegen mich verbündet. Was für eine gewaltige Verbindung! Seit tausend Jahren spricht dieser Zauberer schon mit den Toten. Er hat alle Handbücher der Hexerei gelesen, aus dem alten Indien, dem antiken Griechenland bis in die Gegenwart. Ob ich nun im Gefängnis bin oder nicht, vor dem allwissenden Auge, der alles durchdringenden Macht des Herrn der Krähen, gibt es kein Entrinnen. Ich stecke furchtbar in der Klemme.
Seine Lage war hoffnungslos. Er war niedergeschlagen. Dann jedoch kam ein Lichtstrahl: Wenn der Herr der Krähen wirklich alles sehen konnte, was er zu sehen wünschte, unabhängig davon, wo er sich gerade befand, warum hatte sich Sikiokuu die Mühe gemacht, ihn ins Gefängnis zu schicken? Der Herr der Krähen brauchte Tajirika nur in seinem Spiegel einzufangen, die Schatten auszukratzen und er war erledigt. Sikiokuu will nicht, dass ich jetzt schon sterbe, dachte Tajirika und schöpfte neue Hoffnung. Sikiokuu will krampfhaft einen Handel mit mir schließen. Er will mich lebend, wenn ich mich aber weigere zu tun, was er will, oder es nicht liefern kann … Aber warum sollte ich mich dem, was er verlangt, verweigern, wo ich noch nicht einmal weiß, was er will?
Tajirika glaubte tatsächlich, einen Lichtstrahl am Horizont entdeckt zu haben. In Sikiokuus Händen war er sicherer als unter dem durchdringenden Blick des Herrn der Krähen. Sikiokuu war mehr nach seinem Geschmack; sie sprachen dieselbe Sprache, die Sprache von Täuschung und Winkelzügen. Er, Tajirika, würde sich beugen, er würde knien, kriechen, alles tun, um Sikiokuus Gnade zu erlangen. Außerdem war es leichter, Sikiokuu zu betrügen als den Herrn der Krähen. Tajirika würde Geschichten erfinden und die Schuld am Ausbruch des Schlangenwahns anderen zuschieben. Warum nicht seiner Frau? Ja, er würde alles Vinjinia in die Schuhe schieben. Das ist genial, dachte er und fühlte sich großartig. Auf diese Art könnte er drei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Sich an Vinjinia rächen, weil sie sich mit den tanzenden Frauen gezeigt und es sich ohne Zweifel hatte gut gehen lassen, während er verschwunden war; sich vor dem drohenden Unheil retten, das der Herr der Krähen im Schilde führte; und vor allen Dingen verhindern, seine Daumen und sein Leben zu verlieren.
Bald hatten sich alle Mutmaßungen, Sikiokuu würde eine Gefahr für ihn darstellen, in Luft aufgelöst. Der Herr der Krähen war die unmittelbarste Bedrohung für seine Seele und seinen Körper und Sikiokuu der Einzige, der ihn retten konnte. Tajirika konnte es sich nicht leisten, die Nacht abzuwarten. Er musste sofort aus dem Bannkreis der Hexerei fliehen und Schutz beim Staat suchen. Aber was sollte er unternehmen, ohne sich den Zorn seines gerissenen Racheengels zuzuziehen? Er spürte, dass er nichts tun konnte, saß völlig verzweifelt da und wartete auf den Tod. Er bedauerte es, Vinjinia nicht gründlich durchprügeln zu können, und während er daran dachte, fiel ihm ein, dass sie regelmäßig in die Kirche ging und betete, und er begann, selbst Gebete zu murmeln, die ihn vor dem Tod retten sollten. Seine Gebete wurden fast unmittelbar erhört, jedoch auf eine Weise, die er sich so nicht hatte vorstellen können oder gar erwartet hätte.
Genau in diesem Moment öffneten zwei Wärter die Tür. Sie kamen, um den Toilettenkübel zu holen, den sie seit sieben Tagen nicht geleert hatten. Tajirika handelte mit dem rücksichtslosen Instinkt des Selbsterhaltungstriebs. Bevor die Wärter zum Kübel gelangen konnten, war Tajirika bereits aus seiner Ecke zum Kübel gesprungen und hatte ihn gepackt. Er drohte, sie mit sieben Tagen Scheiße und Urin zu übergießen, wenn sie sich auch nur einen Zentimeter bewegten. Sie blieben wie angenagelt stehen, und Tajirika wankte um sie herum, bis er sich zwischen ihnen und der Tür befand.
Auch der Herr der Krähen war überrascht und dachte, Tajirika müsse verrückt geworden sein. In der Tat, Tajirika hatte während ihres Gespräches alles andere als kluge Dinge von sich gegeben. Die wochenlange Einzelhaft und die Folter haben ihren Tribut gefordert, dachte er. Aber als Tajirika zu sprechen begann und dem Herrn der Krähen klar wurde, was sich abspielte, war ihm nach Lachen zumute. Doch er beherrschte sich, denn es war besser, unbeteiligter Beobachter der Vorgänge zu bleiben.
„Hört her“, rief Tajirika den Aufsehern zu. „Bringt mich von diesem Hexenmeister weg. Bringt mich zu Silver Sikiokuu, dem Staatsminister im Büro des Herrschers. Legt mir Handschellen an. Oder gebt sie mir, und ich lege sie mir selbst an, damit ihr seht, dass ich nicht versuche, aus gesetzmäßigem Arrest zu fliehen. Wenn ihr nicht macht, was ich euch sage, oder ich das geringste Zeichen von Widerstand entdecke, gieße ich euch den gesamten Inhalt dieses Kübels über die Köpfe. Ich habe in den letzten drei Tagen Blut geschissen und gepisst. Ich habe das tödliche Virus.“
Durch die Erwähnung des verheerenden Virus rochen die Wärter plötzlich den eigenen Tod und flehten Tajirika an. Sie versicherten, nichts gegen ihn zu haben, sie würden ihn völlig verstehen und seine Qual nachempfinden, auch sie würden nie im Traum darauf verfallen, mit einem Hexenmeister unter einem Dach zu schlafen. Er sehe also, sie und er stünden auf derselben Seite und sie würden ihn hinbringen, wohin auch immer er wolle. Sie warfen ihm Handschellen zu, und er legte sie sich um die Handgelenke. Sie boten ihm an, den Kübel zu tragen, aber er lehnte ab. Es sei seine eigene Scheiße, seine Waffe, sagte er zur Erleichterung der Aufseher, die froh waren, dass ihnen der Kontakt mit seiner tödlichen, virusverseuchten Waffe erspart blieb, es aber gleichzeitig mit der Angst zu tun bekamen, weil sie diesem verrückt gewordenen Häftling gnadenlos ausgeliefert waren. Von ihnen eskortiert, befahl er ihnen, die Tür doppelt hinter sich abzuschließen. Er wollte nicht, dass der Herr der Krähen entkam.
Der hatte sich den Wahnsinn mit einer Mischung aus Mitleid und Trauer angesehen. Gleichzeitig hatte er das Gefühl gehabt, loslachen zu müssen. Sein Geständnis hatte Tajirika dazu gebracht, seine eigene Scheiße zu schleppen. Zumindest für den Augenblick.
Draußen befahl Tajirika den Männern voranzugehen und warnte sie noch mal, nichts Unüberlegtes zu tun. Mit dem Scheißekübel, der zwischen seinen Beinen baumelte, folgte er dicht hinter ihnen.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Neuigkeit in der Anstalt. Die gesamte Wachmannschaft eilte zu den Waffen. Verstärkung kam. Doch die Aufseher, die nur einen Schritt vor Tajirika gingen, riefen unentwegt: „Lasst ihn in Ruhe. Er hat das Virus. Er ist in Handschellen. Provoziert ihn nicht. In seinem Kot steckt der Tod.“
So marschierten sie vor entsicherten Gewehren bis zum Büro des Direktors des Eldares Remand Prison. Der Direktor, die bewaffneten Wärter und die Verstärkungen von der Polizei – sie alle fürchteten sich vor dem Gefangenen, der angeblich den Tod bei sich trug. Sie wussten, dass er in Handschellen war, und sahen deshalb keinen Grund, irgendetwas zu unternehmen, was die Situation verschlimmern könnte. Als man ihn fragte, was er verlange, blieb Tajirika beharrlich bei seiner Forderung: Man solle ihn zu Sikiokuu bringen.
Der Gefängnisdirektor rief Sikiokuu an: „Hier ist ein Häftling, der mit einem Kübel Scheiße das Gefängnis beinahe in seine Gewalt gebracht hat. Er verlangt, Sie zu sprechen. Was sollen wir tun?“