17
Seit Tajirika von den Frauen und Vinjinia von Kaniũrũ und seinen Jugendbrigadisten entführt worden waren, hatten die beiden ihre Beziehung verbessert. Auch ihr gesellschaftliches Leben hatte sich verändert, und es verging nicht eine Woche ohne Einladung zu Cocktail- oder Dinnerpartys in irgendeinem Sieben-Sterne-Hotel. Diese Glitzerwelt und die Nähe zur Macht zogen Vinjinia an, und der politische Klatsch und Tratsch stießen sie nicht mehr ab wie früher. Die Kirchenbesuche waren das Einzige aus ihrem früheren Leben, an dem sie unvermindert festhielt. Sie besuchte noch immer dieselbe Kirche, All Saints, doch seit der Beförderung ihres Mannes bemerkte sie eine Veränderung in der Art, in der man ihr begegnete. Vorn, in der Nähe des Altars, war nun für sie und ihre Kinder eine Bank reserviert, und die Zahl der Männer und Frauen, die stehen blieben, um ein Wort mit ihr zu wechseln, die Hände zu schütteln oder sie einfach etwas zu fragen und einen Rat in religiösen Dingen einzuholen, war dramatisch gestiegen.
Sie glaubte, es sei alles in Ordnung, und sie könnte sich zurücklehnen und das Leben genießen. Doch als sie sah, wie ihr Mann schon wieder mit einem Spiegel sprach, war sie alarmiert. Sie rief sich die Zeit ins Gedächtnis, als Tajirika von der Krankheit der Worte befallen war und wie alles angefangen hatte. Bekam er etwa wieder einen Anfall? Der erste hatte sich kurz nach seiner Ernennung zum Vorsitzenden von Marching to Heaven ereignet. Würde seinem Aufstieg zum Gouverneur ein weiterer Verlust der Worte folgen? Der einzige Unterschied bestand darin, dass er sich diesmal nicht das Gesicht zerkratzte. In der Regierungsverlautbarung, die Machokali bloßstellte, waren Tajirika und sein letztes Treffen mit Machokali im Mars Café erwähnt worden. Machte das ihrem Mann zu schaffen? Sie war unsicher und betete zu Gott, die Dämonen auszutreiben, die ihren Mann quälten. Wieder spionierte Vinjinia ihm heimlich im Haus hinterher. Keine neuen Überraschungen!, schwor sie sich.
Eines Morgens hörte sie ihn deutlich den Herrn der Krähen erwähnen. Er war so in Gedanken vertieft, die ihn wohl auch zu diesem Ausruf gebracht hatten, dass er ihre Gegenwart nicht wahrnahm. Sie beschloss ihn zur Rede zu stellen: Welche Gefahr? Was ist mit dem Herrn der Krähen?
Es war Sonntagmorgen. Zunächst erschreckte ihn Vinjinias Stimme. Er versuchte, ein Lächeln aufzusetzen, konnte seine Beklemmung aber nicht verbergen. Er schien erleichtert, seine Frau zu sehen. Obwohl sie tagsüber auf unterschiedliche Weise beschäftigt waren und einander nicht so oft sahen, wie sie sich das wünschten, war Tajirika stets froh, vor seiner Frau prahlen zu können, wie sehr der Herrscher ihm vertraute oder sich seine Feinde wie Sikiokuu und Kaniũrũ darum bemühten, ihn milde zu stimmen. Jetzt bin ich am Drücker, verkündete er, und es gefiel ihm, wenn sie ihn ermahnte, sich nicht an der Macht zu berauschen wie einige Leute, die sie kannte. Das brachte beide zum Lachen, denn sie wussten, dass mit „einige Leute, die ich kenne“ Kaniũrũ gemeint war. Dennoch erzählte er ihr nicht alles, was sich im State House zutrug. Nichts über die Geldbäume, nichts über die Nacht, in der Machokali verschwand, und auch nichts über die Gefangennahme des Herrn der Krähen. „Es ist eine schwere Aufgabe, den Herrscher zu beraten, Vinjinia, und Staatsgeheimnisse lasten auf meiner Seele“, seufzte er. Aber er strahlte vor Vergnügen, sobald er Vinjinia sagen hörte: „Mach dir keine Gedanken. You can’t have your cake and eat it. Das gehört dazu.“
Nun erinnerte ihn ihre Frage plötzlich daran, dass sie es war, die ihn dem Herrn der Krähen vorgestellt hatte, als er vom Weiß-Wahn befallen gewesen war. Sie konnte bestimmt auch einen anderen Hexenmeister auftreiben. Frauen hatten einen sechsten Sinn.
„Ich brauche ein paar Hexenmeister und Zauberheiler“, erklärte er ihr ohne weitere Hinweise.
„Was?“, rief Vinjinia überrascht. Machte er Witze oder war er schwach im Kopf geworden?
„Ich möchte, dass du mir die mächtigsten Hexenmeister und Zauberheiler besorgst, die zu haben sind“, wiederholte Tajirika.
„Hexenmeister?“
„Einer würde schon reichen“, sagte Tajirika. „Aber mehrere wären besser als einer, weil ich dann den besten aussuchen könnte.“
„Wovon redest du eigentlich? Wozu brauchst du plötzlich Hexenmeister?“, fragte Vinjinia nach, als ihr klar wurde, dass er es ernst meinte. „Wen hast du vor zu verhexen?“
Er bat sie, sich zu setzen, und erzählte ihr von der Verhaftung des Herrn der Krähen und dessen Leiden. Doch habe der Herrscher ein paar Fragen, die nur er, der Herr der Krähen, beantworten könne. Und ihm sei, erklärte er, die Aufgabe zugefallen, einen Heiler zu besorgen, der den Heiler heilte.
„Um Himmels willen, was weiß ich von Hexenmeistern und wo man sie findet?“, fragte Vinjinia und tat das Thema ab.
„Du bist eine sehr einfallsreiche Frau, Vinjinia“, flehte Tajirika sie an. „Ich bin mir todsicher, dass du einen Hexenmeister besorgen kannst, wie du es schon einmal getan hast.“
Vinjinia wollte ihn daran erinnern, dass es Nyawĩra gewesen war, die sie zum Herrn der Krähen geführt hatte, unterließ es aber.
Als Frau eines Gouverneurs und erfolgreiche Geschäftsfrau wollte sie mit Nyawĩra, mit dem Herrn der Krähen oder dem zerstörten Schrein nichts zu tun haben.
In Wahrheit jedoch war Vinjinia verzweifelt gewesen, als sie von der Brandstiftung erfuhr, und weil sie nicht wusste, ob Nyawĩra im Schrein umgekommen war, machte das die Nachricht noch schlimmer. Vinjinia fühlte sich verantwortlich und schuldig und konnte mit niemandem darüber reden, ohne preisgeben zu müssen, dass sie die Identität eines der Gesichter des Herrn der Krähen kannte. Die Vorstellung der verkohlten Überreste Nyawĩras quälte sie, doch mit der Zeit lernte sie, diese zu unterdrücken.
Vinjinia ging durch den Kopf, wie oft Nyawĩra ihr zu Hilfe gekommen war, und war überrascht, jetzt das Gleiche zu empfinden wie in dem Augenblick, als sie hörte, der Schrein sei niedergebrannt worden. Wie konnte sie Tajirika mitteilen, dass Nyawĩra, die sie zum Herrn der Krähen gebracht hatte, die Einzige, die ihnen den Weg zeigen konnte, zu Asche verbrannt war? Wie konnte sie ihm beibringen, von Hexenmeistern und Hexen, Wahrsagern und Heilern selbst keine Ahnung zu haben? Weil sie ihm nicht das Herz schwer machen wollte, versuchte sie, diplomatisch zu sein.
„Gut, ich werde die Ohren offen halten“, sagte sie anteilnehmend.
„Bitte, versuch es – ich bin überzeugt, dass es unter deinen Kirchenleuten viele gibt, die nachts zu einem Hexenmeister gehen“, bettelte Tajirika. „Bete zu Gott, dass er dir den Weg weist.“
Vinjinia musste sehr an sich halten, um nicht loszulachen, als sie realisierte, dass Tajirika es ernst gemeint hatte: Sie sollte Gottes Führung suchen, um für ihn einen Hexenmeister zu finden. Als sie allein im Auto saß und zur All Saints Cathedral fuhr, lachte Vinjinia laut darüber, wie lächerlich ihr Mann sich benommen hatte. Immerhin war sie eine bürgerliche, christliche Frau. Sie war eine respektierte Kirchgängerin, die Ehefrau des Gouverneurs der Central Bank und Vorsitzenden von Marching to Heaven sowie gegenwärtig alleinige Geschäftsführerin der Tajirika Enterprises einschließlich der bekannten Eldares Modern Construction and Real Estate. Wie sollte sie sonntags in die Kirche gehen und ihre Brüder und Schwestern fragen: Können Sie mir sagen, wo ich einen Wahrsager finden kann? Oder: Meine christliche Mitschwester, bitte erzähl mir von deinem privaten Zauberheiler? Nein. Sollten sich doch Tajirika und der Herrscher selber um ihre Jagd nach einem Hexenmeister kümmern.
Vor der Kirchentür stieß sie mit Maritha und Mariko zusammen, die sagten, sie hätten auf sie gewartet. Zunächst nahm sie an, es wäre das übliche Anliegen von Leuten, die ihr nur die Hand schütteln und sich vorstellen wollten. Was aber konnten Maritha und Mariko von ihr wollen? Sie erweckten nach wie vor den Anschein, als lebten sie völlig in Frieden mit sich selbst, als lebten sie in ihrer eigenen Welt.
„Wir wollten Sie abfangen, bevor Sie hineingehen“, sagte Maritha hastig.
„Ja, nach dem Gottesdienst ist es schwierig, an Sie heranzukommen. Es sind immer eine Menge Leute um Sie herum“, fügte Mariko hinzu.
„Und ihr wichtigen Leute seid immer so beschäftigt“, sagte Maritha, „dass …“
„… Sie nach dem Gottesdienst einfach wegfahren könnten“, ergänzte Mariko.
„Geht es um etwas, das bis nach dem Gottesdienst warten kann?“, fragte Vinjinia ungeduldig, da sie vor Beginn des Gottesdienstes in der Kirche sein wollte. Vinjinia gehörte zu denen, die nicht mehr folgen konnten, wenn sie zu spät zum Gottesdienst oder zu einer Vorstellung kamen.
„Es geht nur um eine Nachricht“, sagte Maritha.
„Aber die kann auch bis nach dem Gottesdienst warten“, ergänzte Mariko.
„Von wem kommt die Nachricht?“, fragte sie neugierig.
„Von einer Taube“, antworteten Maritha und Mariko gleichzeitig.
„Von einer Taube?“, fragte Vinjinia nach und runzelte die Stirn.
Doch statt die Frage zu beantworten, begannen Maritha und Mariko zu singen und zu tanzen wie zwei Kinder auf einem Fest.
Taube gab mir einen Auftrag, mmhh
Braucht nen größeren Schnabel, mmhh
Damit sie Körner schlucken kann, mmhh
Denn wenn sie das jetzt versucht, mmhh
Bleiben sie stecken im Hals, mmhh
Maritha und Mariko waren in der Kirchengemeinde bekannt für ihre komische Art, Dinge auszudrücken. Jetzt aber waren sie zu weit gegangen. Sprangen herum, und das nur wenige Meter vom Eingang der Kirche entfernt? In ihrer Verlegenheit und aus Angst vor dem Missfallen möglicher Zuschauer blickte sich Vinjinia schnell um.
„Verschieben wir das besser auf nach dem Gottesdienst“, sagte sie hastig. „Wir treffen uns da drüben, wo ich mein Auto geparkt habe“, fügte sie hinzu und zeigte auf ihren Mercedes am Straßenrand. „Wenn ihr vor mir dort seid, dann wartet bitte auf mich“, sagte sie noch, bevor sie in die Kirche eilte.