8
Kaniũrũ hatte gerade Nachrichten über den Herrn der Krähen erhalten und machte sich fertig, sie dem Herrscher zu überbringen, als er erfuhr, dass Seine Allmächtigkeit einen weiteren Schub körperlicher Ausdehnung erlitten hatte und jetzt in der Luft schwebte. Dahinter muss der Herr der Krähen stecken, dachte er und beschloss aus Angst, er selbst könnte das nächste Angriffsziel werden, die Nachrichten für sich zu behalten, bis er mehr über die Situation erfahren hatte. Und um sicherzugehen, zog er sich in Kanyoris Wohnung zurück. Die stets treue Kanyori stellte keine Fragen, nicht einmal, als Kaniũrũ sie bat, sein Bein am Bettgestell anzuketten und die Tür von außen abzuschließen. Sie stellte ihm einen Teller Essen und einen Krug Wasser hin. Kaniũrũ blieb den ganzen Tag in der Wohnung. Jedes Mal, wenn der Wind gegen das Fenster blies, hielt er sich mit beiden Händen am Bettgestell fest. Er hatte vergessen, Kanyori zu bitten, auch für andere Bedürfnisse Sorge zu tragen, und als sie Kaniũrũ abends von der Kette befreite, schoss er ohne ein Wort an ihr vorbei und verschwand für lange Zeit auf der Toilette. Er fürchtete, die Geräusche, die er von sich gab, könnten Kanyori im Wohnzimmer erreicht haben und deshalb kehrte Kaniũrũ peinlich berührt in seine eigene Wohnung zurück, um sich bessere Präventivmaßnahmen gegen Überraschungsangriffe des Herrn der Krähen auszudenken.
Einige Tage lang fuhr er überall ausschließlich mit dem Auto hin, selbst die kürzeste Strecke, um dem Herrn der Krähen die Chance zu nehmen, ihn mit Hilfe des Windes in den Himmel zu wehen. Für kurze Gänge zu Fuß besorgte er sich Stiefel, deren Sohlen mit Eisen verstärkt waren. Aber die schweren Stiefel zu schleppen, wurde bald lästig, und so kam ihm nach einer Weile die einfachere Idee, Gewichte in seine Jackentaschen zu stecken. Als ihm nach einigen Tagen nichts Ungewöhnlicheres als eine Verstopfung widerfahren war, fühlte er seinen Mut zurückkehren. Die Nachrichten waren zu wichtig, um sie für sich zu behalten, und er wollte die Gelegenheit nicht verpassen, sich beim Herrscher beliebt zu machen.
Während sein Mercedes durch die Straßen zum State House raste, durchdachte Kaniũrũ noch einmal alles und ihm kam, dass er der Einzige war, der bereits die Klingen mit dem Herrn der Krähen gekreuzt hatte. Nur mit einer kleinen Schramme war er aus dem Gefecht hervorgegangen und dieser Gedanke stärkte seine Zuversicht.
Obwohl Kaniũrũ die Behauptung, der Herrscher schwebe in der Luft, geglaubt hatte, trat er erschrocken zwei, drei Schritte zurück, als er die Stimme des Herrschers von oben herabschallen hörte. Doch als er den Kopf hob und den Herrscher in einem Stuhl auf einer Plattform sitzen sah, dessen Lehne die Decke zu berühren schien, glaubte er, das Jüngste Gericht sei gekommen. Er sank auf die Knie und schlug beide Hände vor die Brust, als ergäbe er sich einem Engel des Herrn. Er begann zu jammern: „Oh Gott, oh mein Gott.“ Dann fing er an zu beten: „Näher, mein Gott, zu Dir … Näher zu Dir …“
„Kaniũrũ, habe ich dir und den anderen nicht verboten, mich mit Gott zu vergleichen“, rügte ihn der Herrscher von oben herab.
„Worin besteht der Unterschied?“, fragte Kaniũrũ mit einer offensichtlichen Aufrichtigkeit, die den Herrscher erfreute.
„Und was wünschst du vom Herrn?“, fragte der Herrscher lächelnd, und sein leicht scherzhafter Ton wirkte auf Kaniũrũ so beruhigend, dass sein Herz zu flimmern aufhörte.
„Ich weiß, wo sich der Herr der Krähen versteckt hält“, rief er und befreite sich vor dem Angesicht des Herrn von einer Last.
Der Herrscher schwieg, als hätte er nicht richtig gehört. Kaniũrũ nahm an, dass er auf mehr Einzelheiten wartete, und begann, sich eine Geschichte zurechtzulegen, aber das erwies sich als unnötig. Denn als der Herrscher begriff, was Kaniũrũ gesagt hatte, war er es, der sich nun fühlte, als wäre ihm in der Zeit größter Not ein Engel des Herrn erschienen. Erst in der Not zeigt sich der wahre Diener.
„Was?“, fragte der Herrscher.
Kaniũrũ erzählte ihm, wie er seit der Flucht der beiden erbärmlichen Zauberer all seine List in ihre Verhaftung gesteckt hatte, schließlich jedoch einsehen musste, dass er es ohne die Hilfe seiner Leute, die er über ganz Santamaria und Santalucia verstreut im Einsatz hatte, nicht geschafft hätte.
„Sobald ich die Neuigkeit erfahren hatte, sagte ich mir, Kaniũrũ, das darfst du nicht für dich behalten, keine Sekunde lang, und deshalb bin ich hier“, sagte er noch immer kniend.
„Gut gemacht“, lobte der Herrscher, die rechte Hand zu segnender Geste erhoben. „Gehe hin und bleibe rechtschaffen, denn ich weiß jetzt, dass ich mich jederzeit auf dich verlassen kann. Alles, was mit dem Herrn der Krähen zu tun hat, überlass von jetzt an mir. Ich werde dir deine Ergebenheit nie vergessen.“
Ohne nach links oder rechts zu sehen, eilte Kaniũrũ zu seinem Wagen. Trotz der Gewichte in seiner Jacke, fühlte er sich leicht wie eine Feder. Er konnte nicht einmal mehr sagen, wann und wie er in sein Auto oder zu seiner Wohnung gekommen war.
An diesem Abend ließ er zu Hause alle Lichter eingeschaltet. Er fand kaum Schlaf. Das Bild des Herrschers, dessen Stimme klang, als käme sie vom Himmel, ging ihm nicht aus dem Kopf. Was dieses Bild befleckte, waren die Decke, die irdisch aussah, die Wände, die noch irdischer aussahen, und natürlich der aufgeblähte Herrscher, dessen Körper trotz der Riemen wie ein Ballon in einer sanften Brise von einer Seite zur anderen schwankte. Dass die Riemen und das Gerüst sichtbar waren, zerstörte die Illusion einer Gottheit im Himmel.
Und mit einem Mal hatte Kaniũrũ das Gefühl, als würden ihm Flügel wachsen und er sogleich abheben und durch die Luft schweben wie der Herrscher. Er, der ehemalige Kunststudent, hatte zum ersten Mal den Sinn der Kunst im Leben der Menschen erkannt oder zumindest in seinem Leben, und das auf weit nutzbringendere Weise als seine Fälschungen von Sikiokuus Unterschrift und die Zeichnung vom Herrn der Krähen für ein Fahndungsplakat.
Er würde seinen auserwählten Gott in einem konkreten Himmel platzieren und in diesem Augenblick verstand er auch die volle Bedeutung der Worte seines Namensvetters Johannes des Täufers: Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. Amen.
Der Herrscher hingegen hatte, kaum dass Kaniũrũ gegangen war, Wonderful Tumbo angerufen, den leitenden Officer der Polizeiwache von Santamaria, und ihm Befehle erteilt: Die Zeit des Herrn der Krähen ist abgelaufen! Ich will ihn hier sehen. Sofort! Lebendig!