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Das Mars Café war in ganz Eldares bekannt, weil es zu moderaten Preisen ein hochwertiges Angebot an Tee, Kaffee, Kakao, Milchshakes, Eis, Brot, Kuchen, Sandwiches und alkoholfreien Getränken führte. Für viele war es ein beliebter Treffpunkt, weil es seinem Besitzer Gautama nichts auszumachen schien, wenn seine Kunden noch stundenlang sitzen blieben und sich unterhielten, nachdem sie das Bestellte konsumiert hatten. Wahrscheinlich aber war das Café vor allem wegen seines Wandschmucks bekannt, der die Erforschung des Weltraums feierte, und wegen Gautamas hingebungsvoller Begeisterung dafür.
Im Laufe der Jahre hatte das Café, den bedeutenden Ereignissen der Raumfahrt Rechnung tragend, mehrmals den Namen gewechselt. Es hatte Café Sputnik geheißen, dann Wostok und Apollo. Gautama mochte den Namen Apollo am liebsten, weil er über die Mondmission hinaus nicht nur einen Bezug zu dem griechischen Gott herstellte, sondern auch an Marco Polo erinnerte, der den Orient bereist hatte, in dessen Volksmythen die ersten Raumschiffe aufgetaucht waren. Zum Beweis für den asiatischen Ursprung des Wettlaufs um das All zitierte er häufig frühe chinesische Astronomen, die sich als Erste mit einer Supernova befassten. Als Nächstes taufte er es Mir Café und dann International Space Station Café, bevor sich Gautama auf Mars Café festlegte und versprach, diesen Namen beizubehalten, bis die ersten Menschen auf dem Mars landeten. Er war überzeugt, dass der Rote Planet die Geheimnisse über den Ursprung des Lebens und des Universums barg. Der Name des Cafés sollte die ewige Suche des Menschen nach Wahrheit, Freiheit und Wissen zum Ausdruck bringen. Deshalb waren die Wände mit Ausschnitten aus Zeitungen und Zeitschriften tapeziert, auf denen nicht nur Raketen, andere Raumflugkörper und Raumstationen zu sehen waren, sondern auch Weltraumreisende. Hier fanden sich Juri Gagarin und Alexej Leonow Seite an Seite mit Neil Armstrong und John Glenn neben anderen wieder.
Obwohl Gautama stets einen verträumten Gesichtsausdruck bekam, wenn er über das Weltall redete, verhielt er sich seinen Gästen gegenüber sehr bodenständig und aufmerksam. Jetzt beobachtete er, wie Kaniũrũ allein das Café betrat, und hoffte, ihn in einen kleinen Schwatz über das Universum verwickeln zu können. Als Kaniũrũ ihm aber sagte, er wolle mit seiner Bestellung noch warten, bis sein Gast eingetroffen sei, zog sich Gautama zurück und nahm seine Gedankenwanderung wieder auf. Kaniũrũ sah unablässig auf die Uhr und fragte sich, ob Nyawĩra ihn ein weiteres Mal versetzte. Ein paar Minuten wollte er noch warten. Dann würde er am nächsten Tag in ihrem Büro aufkreuzen und sie fragen, warum sie ihn versetzt hatte. Es beruhigte ihn, eine Ausrede zu haben, um Nyawĩra an ihrem Arbeitsplatz aufzusuchen und Tajirikas Besitz in Augenschein zu nehmen.
In diesem Augenblick berührte ihn jemand an der Schulter. Weil er dachte, es wäre Nyawĩra, drehte er sich um. Sein strahlendes Gesicht verdüsterte sich, als er sah, dass es nur wieder einer dieser Bettler war. Dass der Mann offensichtlich ein Krüppel war, irritierte ihn noch mehr. Als der aber den Spruch aufsagte: „Helft einem Armen, diese Beine wurden im Unabhängigkeitskrieg gebrochen!“, verlor Kaniũrũ die Geduld. Er stieß den Krüppel weg und brüllte ihn an: „Verschwinde! Wie kannst du es wagen, mich mit deinen schmierigen Fingern anzufassen!“ Er schrie den Bettler so laut an, dass Gautama durch dieses Geschrei aus seinen Weltallträumen gerissen wurde und zugunsten des Eindringlings eingriff. Gautama drückte ihm ein paar Münzen in die Hand, bat ihn, seine Gäste nicht zu stören und schob ihn zur Tür hinaus.
„Ich möchte eine Tasse Tee und ein Stück Kuchen“, rief Nyawĩra Gautama zu, als sie hereinkam und sich zu Kaniũrũ an den Tisch setzte. „Warum wolltest du dich mit mir treffen?“, fragte sie barsch.
„Ich bin zufällig vorbeigekommen und dachte mir, ich schau mal bei dir rein“, antwortete Kaniũrũ und merkte an ihrem Gesichtsausdruck, dass sie ihm nicht glaubte. „Du arbeitest also da?“
„Hab ich dir nicht gesagt, dass du mich in Ruhe lassen sollst?“
„Ja, aber wir müssen doch nicht gleich Feinde sein.“
„Auf deine Freundschaft kann ich verzichten.“
„Ich habe nicht gesagt, dass wir Freunde sein müssen.“
„Hör zu, ich habe keine Zeit für Wortklaubereien.“
„Ich auch nicht. Ich wollte nur sagen, dass, selbst wenn Menschen unterschiedliche Wege gehen, sie nicht aneinander vorbeigehen müssen, ohne sich wenigstens zuzuwinken.“
„Was willst du?“
„Ich will nur, dass du weißt, dass ich dich immer noch liebe.“
„Du verschwendest deine Zeit und meine auch, wenn du versuchst, hier etwas zu kitten. Wenn du noch mal damit anfängst, gehe ich auf der Stelle.“
„Worüber soll ich denn sonst mit dir reden?“
„Ich habe dich nicht eingeladen. Warum jubelst du mir nicht etwas vor, wie toll es ist, zur Jugendbrigade Seiner Königlichen Allmächtigkeit zu gehören?“, antwortete Nyawĩra mit kaum verhohlenem Sarkasmus.
„Du hast ja recht, wenn du einige Stützen der Partei mit kritischen Augen siehst. Es sind Heuchler, die nur darauf aus sind, unser Land zu ruinieren und in Misskredit zu bringen, vor allem die, die sich so vehement für Marching to Heaven einsetzen! Das Urteil darüber wurde schon vor langer Zeit gefällt, als die Kinder Israels sich am Turm zu Babel versuchten!“
„Den Gerüchten nach warst du es aber, der den Plan entworfen hat, oder vielmehr die künstlerische Darstellung. Warum diese ablehnende Haltung deinem Baby gegenüber?“
Er versuchte, nicht zusammenzuzucken, als er sich die Demütigung vergegenwärtigte, die er bei der Geburtstagsfeier erlitten hatte und die jetzt von der Frau erneuert wurde, die er mit seinen Verbindungen zu Macht und Privilegien beeindrucken wollte. Er schwieg und dachte an den Ursprung dieses Fiaskos.
Es hatte alles damit angefangen, dass Machokali einen Vortrag am Polytechnikum hielt, an dem Kaniũrũ unterrichtete. Als er erfuhr, dass es dort eine Kunstfakultät gab, hatte sich der Minister laut gefragt, ob man deren Studenten wohl zutrauen könnte, der leblosen Zeichnung eines Architekten Leben einzuhauchen. „Wenn Sie das können, dann sprechen Sie in meinem Büro vor“, hatte er gesagt, nichts weiter. Die Einladung war so vage, dass viele sie ganz richtig als eine der üblichen rhetorischen Aufforderungen nahmen, die Politiker manchmal von sich gaben. Als Kaniũrũ einige Tage später zu ihm ins Büro kam und kurz erklärte, dass es machbar sei und er seine Dienste anbieten wolle, erinnerte sich der Minister schon nicht mehr daran. Machokali brauchte eine Weile, um zu begreifen, wovon der Mann redete, bis ihn Kaniũrũ an seinen Besuch im Polytechnikum erinnerte. „Oh, darum geht es“, sagte der Minister. „Sie behaupten, sich eine zweidimensionale Zeichnung ansehen und einen bildhaften dreidimensionalen Entwurf davon schaffen zu können? Sie wissen schon, in den realen Farben des Lebens und so?“
„Es ist nicht einfach, aber es lässt sich machen.“ Natürlich nicht von jedem X-Beliebigen, aber er, John Kaniũrũ hätte schließlich einen Abschluss in Kunst und Kunstgeschichte der Eldares University und sogar ein wenig Architektur studiert. Eine künstlerische Gestaltung wäre keine große Sache.
Kaniũrũ zerging förmlich bei der Aussicht, mit solch einem berühmten Minister zusammenarbeiten zu können. Doch schon bauten sich die ersten Hindernisse vor seinem Glück auf. Nachdem er ganz allgemein beschrieben hatte, was er von dem Künstler erwartete, wies Machokali einen Referenten an, Kaniũrũ die Zeichnung vorzulegen. „Sie sehen sie sich nur dieses eine Mal an“, sagte er. „Das Übrige überlasse ich Ihrer Phantasie.“ Zu diesem Zeitpunkt ahnte Kaniũrũ noch nichts von der Bedeutung der Zeichnung, die ihm als Inspirationsquelle für seine Kunst diente. Nachdem er jeden Tag zur Arbeit eingeschlossen und am Abend einer Leibesvisitation unterzogen wurde, dämmerte ihm, dass es sich um etwas Wichtiges handeln musste. Und als er herausbekam, dass es mit der Geburtstagsfeier des Herrschers zusammenhing, gab er dem Referenten des Ministers einen Brief, in dem er den Minister anflehte, seinen Beitrag zum nationalen Wohl anzuerkennen. Der Referent beruhigte ihn. Nicht nur würde sein Name erwähnt werden, sondern es bestünde sogar die Möglichkeit, dem Herrscher persönlich vorgestellt, zumindest aber nach vorn gerufen zu werden, damit die Menschen ihn sehen konnten. Dafür bedankte sich Kaniũrũ überschwänglich beim Referenten des Ministers, nannte ihn „meinen Freund“, übersah aber sämtliche Hinweise, sich beim Nachrichtenüberbringer erkenntlich zu zeigen. Der Referent war darüber gezwungenermaßen verwundert. Was ist das für einer, der nicht mal weiß, dass auch der Überbringer einer Botschaft essen muss? Und weil er über den Geiz von Kunstlehrern sauer war, erzählte er später dem Minister, dass der Lehrer verfügt habe, sein Name solle nicht erwähnt werden. So selbstlos sei er. Kaniũrũ, der von diesem Verrat nichts wusste, überlegte mehrere Tage, wie er seinen öffentlichen Auftritt am besten inszenieren könnte. Er wollte sich ganz nach hinten setzen, damit er, wenn sein Name aufgerufen wurde, den langen Weg durch die Menschenmenge bis zur Bühne zu gehen hatte. Selbst wenn man ihn nur bat sich zu erheben, würden sich Tausende Köpfe nach ihm umdrehen, um ihn zu sehen. Doch statt der dankbaren Aufmerksamkeit aller empfing er nur die wütenden Gesten derer, die um ihn herum saßen. Und dazu noch die Warnung eines Bullen, nur ja ruhig zu bleiben, weil er ihm sonst – und das machte die Beleidigung noch schlimmer – mit der Pistole die Nase wegblasen würde. Wie sollte er Machokali je verzeihen, ihn wie Dreck behandelt zu haben?
Doch selbst als ihn die Bitterkeit dieses Moments überkam, beherrschte er sich, um der Frau, die er zurückgewinnen wollte, keine Schwäche zu zeigen.
Es erleichterte ihn ein wenig, als er erfuhr, dass Nyawĩra nicht bei der Zeremonie gewesen war, und weil die Wahrheit bekanntlich im Auge des Betrachters liegt, bemühte er sich, sie die Dinge mit seinen Augen sehen zu lassen.
„Glaub mir, ich habe diesen Schwachsinn nur gemalt, weil Machokali darauf bestanden hat. Er, oder vielmehr sein Referent, gab mir eine Kopie der Bauzeichnung und verlangte eine künstlerische Umsetzung von Marching to Heaven. Ehrlich gesagt, ich fand die ganze Sache hirnrissig. Deshalb habe ich verlangt, meinen Namen nicht zu erwähnen.“
„Ich bewundere deine Bescheidenheit“, meinte Nyawĩra. „Demut steht einem bestimmt besser als Demütigung.“
„Spar dir deinen Spott. Und eins will ich dir sagen: In der Herrscherpartei gibt es immer noch zahlreiche Säulen, die so fest stehen wie ein Fels. Minister Silver Sikiokuu zum Beispiel. Er durchschaut diesen ganzen Schwachsinn ebenfalls und hat deshalb die brillante Idee eines persönlichen Herrscherraumschiffs auf den Tisch gelegt, das nach Vorbildern, wie sie hier an der Wand hängen, gebaut werden soll. Was denkbar erscheint, ist auch machbar. Stell dir vor, wie der Herrscher das All regiert. Sikiokuu ist ein politisches Genie, ein wahrer Visionär!“
„Na, das wird ja interessant. Wer ist denn nun dein Herr und Meister, Minister Sikiokuu oder Seine Königliche Allmächtigkeit? Zu wessen Jugendbrigade gehörst du eigentlich?“
„Ich schäme mich nicht zuzugeben, dass ich der Herrscherpartei angehöre. Völlig loyal, zu einhundert Prozent. Wo wären wir ohne seine weise Führung? Stell dir mal die Katastrophe vor, wenn einer wie Machokali das Land führen würde! Und bei den Jugendbrigaden des Herrschers mitzumachen, ist kein Partisanenakt, sondern patriotische Pflicht. Es haben sich sogar Professoren und Promovierte eingeschrieben. Jetzt brauchen wir Mädchen wie dich. Für die Mädchenbewegung.“
„Ich bin eine erwachsene Frau. Und geschieden.“
„Ich wollte dir nur klarmachen, dass es in der Herrscherjugend keine Diskriminierung wegen des Geschlechts oder des Alters gibt. Einige unserer besten Mitglieder sind Frauen. Einige Professoren sind schon über fünfzig. Sikiokuu selbst ist der Führer der Jugendbrigaden, er ist ein echter Mann des Volkes. Sein Ziel ist es, die Jugend glücklich zu machen. Er möchte, dass sich Frauen wie du …“
„Geh zu deinem Sikiokuu mit den Hasenohren und sag ihm, dass Nyawĩra sich nicht vor irgendwelchen politischen Anführern verneigt.“
„Was ist der Unterschied? Du arbeitest für Tajirika, einen loyalen Anhänger Machokalis.“
„Stimmt, aber er hat mich nicht als politische Aktivistin eingestellt. Ich bin eine ganz normale Angestellte mit einer ganz normalen Arbeit.“
„Und was ist an der unübersehbaren Schlange, die sich im Moment vor eurem Büro bildet, so normal?“
„Hast du mir nicht gerade erzählt, du seist zufällig vorbeigekommen? Bist du den ganzen Tag hier gewesen? Und abgesehen davon: Wann fliegst du nach London, um dir die Nase vergrößern zu lassen?“, fragte Nyawĩra und musste lachen, als sie sich vorstellte, wie seine Nase aussähe, wenn sie größer wäre. „Machokali hat sich die Augen vergrößern lassen, bei Sikiokuu sind es die Ohren, und bei Big Ben Mambo der Mund oder vielmehr die Zunge. Wer könnte besser als du die Feinde Seiner Königlichen Allmächtigkeit ausschnüffeln?“
„Nyawĩra, hör mir zu: Es stimmt. Ich komme hier ab und zu vorbei. Aber nicht wegen Tajirika. Und heute haben mich weder Tajirika noch sein Geschäft hierhergeführt. Es war die Stimme meines Herzens – geh nicht, bitte. Bleib und hör mich an. Du weißt ja nicht einmal, was ich dir sagen will. Ich will dich. Es fällt mir schwer, ja, ich kann mich nicht von dir fernhalten. Ich werde auch nicht in dein Privatleben eindringen, selbst wenn ich wüsste, wo du wohnst. Aber ich habe das Recht, mich in der Öffentlichkeit frei zu bewegen. Gestern bin ich diese Straße entlanggekommen und habe gesehen, wie du dich angeregt mit einem Mann unterhalten hast.“
„Darf ich nicht reden, mit wem ich will?“
„Aber genau darum geht es ja! Der Mann, mit dem du dich unterhalten hast, ist kein gewöhnlicher Mensch.“
„Wie interessant.“
„Bitte, hör mir zu und urteile dann. Ihr habt beide nicht weit von der Stelle gesessen, an der du heute das Schild ausgetauscht hast. Nachdem ihr euch verabschiedet habt, wollte ich dir eigentlich folgen, nur um Hallo zu sagen, aber irgendetwas an dem Mann ließ mich ihn weiter beobachten. Er blieb lange dort sitzen, als würde er auf jemand warten oder wüsste nicht wohin. Schließlich ging er die Straße hinunter, und ich folgte ihm. In Santamaria blieb er plötzlich stehen und lehnte sich an eine Wand, als hätte er sich verlaufen. Doch kurz darauf ging er weiter, bis er den Ruler’s Square in der Nähe vom Paradise erreichte. Und weißt du, was er dann gemacht hat? Er betrat eine öffentliche Toilette …“
Nyawĩra konnte nicht anders, sie musste laut lachen. Er redete so todernst. Was war so seltsam an Leuten, die auf eine öffentliche Toilette gingen? Doch dann fiel ihr ein, wie schrecklich schmutzig die waren, und sie wollte seinen Bedenken beinahe zustimmen.
„Lach, so viel du willst, aber ich versichere dir, die Sache ist überhaupt nicht zum Lachen. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er in die Toilette gegangen ist; ich habe am Eingang Wache gehalten. Herausgekommen ist aber nur ein zerlumpter Bettler. Er aber nicht. Ich verheimliche dir nichts, ich sage dir nur die Wahrheit. Später musste ich mal und ging hinein, um zu sehen, was da drin vor sich ging. Da war niemand, nicht eine Menschenseele. Der Mann hatte sich in Luft aufgelöst.“
„Ein Außerirdischer. Ist jetzt wieder auf dem Mars“, kommentierte sie und versuchte, die Sache herunterzuspielen.
„Das ist kein Spaß. Wie gut kennst du diesen Mann?“
„Nicht besonders“, gab sie zur Antwort und gähnte, als langweilte Kaniũrũ sie. „Aber vielleicht sollte ich sagen, wenn derjenige, über den du sprichst, derselbe ist wie der, den ich meine, dann kann ich dir ehrlich versichern, dass ich nichts über ihn weiß, abgesehen von der Tatsache, dass er in unser Büro kam und Arbeit suchte.“
Einen Test auf dem Lügendetektor hätte sie jetzt sicher nicht bestanden, denn während sie sprach, spürte sie, wie sich Unruhe in ihr breitmachte. Wie ging es Kamĩtĩ? War ihm etwas zugestoßen? Verschwieg ihr Kaniũrũ irgendetwas?
„Ob du es hören willst oder nicht, ich mache mir Sorgen um dich und ich möchte nicht, dass es mit dir ein böses Ende nimmt, weil du in schlechter Gesellschaft bist. Ich bin nicht abergläubisch, aber dieser Mann ist kein Mensch. Er könnte ein Dschinn oder ein Ungeheuer sein.“
„Ein Ungeheuer? Und er ist nicht Mitglied der Regierung?“, fragte Nyawĩra mit gezwungenem Lachen. „Ich kann mich gut selbst verteidigen.“
Sie griff nach ihrer Handtasche und stand auf, um zu gehen. Sie dachte an Kamĩtĩ und überlegte, wo und wie er den Tag verbracht haben könnte. Zu seinen Sorgen kam jetzt auch noch, dass ihr Ex-Mann hinter ihm her war. Sie fühlte sich matt, aber bei dem Gedanken, dass Unheil auf Kamĩtĩ zukommen könnte, spürte sie einen Stich im Herzen und wusste nicht, ob sie sich freuen oder traurig sein sollte.
„Hör zu“, sagte sie zu Kaniũrũ. „Selbst wenn du jemandem begegnen solltest, der mich umbringen will, behalte es für dich. Ich will nichts von dir. Also gib nicht vor, dass du es für mich tust.“
Er sah ihr nach, wie sie zum Tresen ging und ihren Tee und den Kuchen bezahlte. Sie ging, ohne noch einmal zurückzuschauen. Er saß betrübt da. Sie hatte ihn nicht ernst genommen. Und doch war er sich sicher, was er gesehen hatte. Oder hatten ihn seine Augen getäuscht?
„Nein. Der Mann ist ein Mensch, aber gleichzeitig auch mehr als ein Mensch“, murmelte er vor sich hin, noch immer verwirrt von dem, was er vor den Toren des Paradise erlebt hatte.