Erster
Teil
1
Der Jüngling hieß Santiago. Es fing bereits an zu dämmern, als er mit seiner Schafherde zu einer alten, verlassenen Kirche kam. Das Dach war schon vor geraumer Zeit eingestürzt, und ein riesiger Maulbeerbaum wuchs an jener Stelle, wo sich einst die Sakristei befand. Er entschloß sich, die Nacht hier zu verbringen. So geleitete er alle Schafe durch die beschädigte Türe und legte einige Bretter quer davor, damit ihm die Tiere während der Nacht nicht entwischen konnten. Zwar gab es keine Wölfe in jener Gegend, aber einmal war ihm eines der Tiere während der Nacht entkommen, und er mußte den ganzen folgenden Tag mit der Suche nach dem verirrten Schäfchen verbringen.
Danach breitete er seinen Mantel auf dem Fußboden aus, legte sich nieder und nahm das Buch, das er gerade gelesen hatte, als Kopfkissen. Vor dem Einschlafen dachte er daran, daß er in Zukunft dickere Bücher lesen wollte, weil man länger etwas davon hat und weil sie eine bequemere Kopfstütze abgeben.
Es war noch finster, als er erwachte. Als er nach oben schaute, sah er die Sterne zwischen den Dachbalken durchscheinen.
>Eigentlich wollte ich noch weiterschlafen<, dachte er bei sich. Wieder hatte er den gleichen Traum gehabt wie vor einer Woche, und wieder war er vor dem Ende aufgewacht.
Er erhob sich und trank einen Schluck Wein. Dann nahm er seinen Hirtenstab und begann, die Schafe, die noch schliefen, eines nach dem anderen zu wecken. Mehr und mehr wurden die Tiere, wie ihm aufgefallen war, gleichzeitig mit ihm wach, als ob ein geheimnisvoller Gleichklang sein Leben mit dem der Schafe verband, die seit nunmehr zwei Jahren mit ihm übers Land gezogen waren, auf der Suche nach Wasser und Nahrung. >Sie haben sich schon so an mich gewöhnt, daß sie meinen Rhythmus kennen, dachte er. Aber nach kurzer Überlegung kam er zu dem Schluß, daß es auch umgekehrt sein könnte: Er selber hatte sich dem Rhythmus seiner Schafe angepaßt!
Einige unter den Tieren brauchten etwas länger zum Aufstehen. Der Jüngling weckte sie mit seinem Stab, indem er jedes bei seinem Namen nannte. Immer hatte er den Eindruck, daß die Schafe alles verstanden, was er sagte. Darum las er ihnen auch gelegentlich Abschnitte aus Büchern vor, die ihn besonders beeindruckten, oder er philosophierte über die Einsamkeit und die Freuden eines Schafhirten, oder er kommentierte die letzten Neuigkeiten, die er im den Städten erfahren hatte, durch die er zu ziehen pflegte.
Seit zwei Tagen jedoch sprach er beinahe nur noch über eins: die Tochter eines Händlers, die in jener Kleinstadt lebte, welche sie in vier Tagen erreichen würden. Im vorigen Jahr war er das erste Mal bei diesem Handelsmann gewesen, der Besitzer eines Textilgeschäftes war und darauf bestand, daß die Schafe vor seinem Geschäft geschoren würden, um jeden Betrug zu vermeiden. Ein Bekannt er hatte den Laden empfohlen, und so brachte der Hirte seine Schafe jetzt dorthin.
2
»Ich muß einige Wolle verkaufen«, sagte er damals zum Kaufmann. Der Laden des Mannes war voll Kunden, so daß der Händler den Schäfer bat, sich bis zum späten Nachmittag zu gedulden. Dieser setzte sich auf den Gehsteig vor das Geschäft und nahm ein Buch aus seinem Rucksack. »Ich wußte ja gar nicht, daß Hirten lesen können«, bemerkte eine weibliche Stimme an seiner Seite.
Das Mädchen sah wie eine typische Andalusierin aus mit langen schwarzen Haaren und Augen, die vage an die maurischen Eroberer erinnerten.
»Weil Schafe mehr lehren können als Bücher«, erwiderte der Jüngling. Sie unterhielten sich angeregt während mehr als zwei Stunden. Das Mädchen sagte, daß sie die Tochter des Händlers sei, und erzählte vom Leben in ihrem Ort, wo ein Tag dem anderen glich. Der Schäfer seinerseits berichtete über die Landschaft Andalusiens und die Neuigkeiten aus den Ortschaften, die er besucht hatte. Er war glücklich, einen Zuhörer gefunden zu haben.
»Wie hast du denn lesen gelernt?« wollte das Mädchen wissen. »In der Schule, wie alle anderen auch«, erwiderte der junge Mann. »Aber wenn du doch lesen kannst, weshalb bist du dann nur ein einfacher Schafhirte geworden?« Nun wurde der Jüngling verlegen, er wich der Frage aus, weil er überzeugt war, daß sie ihn doch nicht verstehen würde. Statt dessen berichtete er weiter von seinen Reisen, und die kleinen maurischen Augen des Mädchens wurden vor Staunen und Verblüffung bald groß und bald ganz schmal. Und während die Zeit dahinfloß, begann er, im stillen zu hoffen, daß dieser Tag niemals enden möge, oder daß der Vater des Mädchens ihn noch weitere drei Tage warten ließe Er bemerkte auch, daß er etwas Seltsames zu fühlen begann, etwas, was er bisher nicht gekannt hatte: den Wunsch, seßhaft zu werden. Mit dem Mädchen an seiner Seite würden die Tage gewiß nie langweilig werden.
Doch dann erschien der Kaufmann, ließ ihn vier Schafe scheren gab ihm seinen Lohn und bat ihn, im kommenden Jahr wieder vorbeizuschauen.
3
Jetzt fehlten also nur noch vier Tagesreisen bis zu jener Ortschaft Er war innerlich erregt und gleichzeitig verunsichert: Vielleicht hatte ihn das Mädchen längst vergessen, denn schließlich kamen viele Hirten hier vorbei, um Wolle zu verkaufen.
»Das wäre auch egal«, sagte der Jüngling laut zu seinen Schafen, »schließlich kenne ich ja noch andere Mädchen in anderen Städten.« Aber im Grunde seines Herzens wußte er sehr wohl, daß es ihm doch nicht egal war. Und daß sowohl Hirten als auch Matrosen oder Handlungsreisende immer irgendeinen Ort kannten, wo es jemanden gab, bei dem sie die Freude vergaßen, frei durch die Welt zu reisen.
4
Der Tag brach an, und der Hirte trieb seine Schafe in Richtung Sonnenaufgang.
>Die brauchen nie selber eine Entscheidung zu fällen<, dachte er. >Vielleicht sind sie deshalb so anhänglich.< Das einzige Bedürfnis, das die Schafe haben, ist fressen und trinken. Solange man sie auf die sattesten Wiesen von Andalusien führt, so lange werden sie immer deine Freunde sein. Selbst wenn ein Tag dem anderen gleicht, mit eintönigen Stunden, die sich zwischen Sonnenaufgang und - unterganz dahinschleppen, selbst wenn sie in ihrem kurzen Leben nie ein Buch lesen werden und die Sprache der Menschen nie verstehen, die sich die Neuigkeiten aus den Ortschaften erzählen. Sie sind zufrieden mit Wasser und Nahrung, und das genügt. Als Gegenleistung bieten sie großzügig ihre Gesellschaft, ihre Wolle und manchmal sogar ihr Fleisch. >Wenn ich mich plötzlich in eine Bestie verwandeln würde und eines nach dem anderen abschlachtete, so würden sie es wohl erst bemerken, wenn ihre Herde schon so gut wie ausgerottet ist<, dachte der Jüngling. >Denn sie vertrauen mir blindlings und vertrauen nicht länger auf ihren eigenen Instinkt. Nur, weil ich sie zu den grünen Auen und frischem Wasser leite.< Der junge Mann wunderte sich über seine eigenen Gedanken. Vielleicht war diese alte Kirche mit dem Maulbeerbaum irgendwie verhext gewesen. Immerhin war sie daran schuld, daß er einen Traum zum zweiten Mal träumte, und mit einemmal Wut gegenüber seinen so treuen Gefährten empfand. Er trank einen Schluck Wein, der noch vom Abendbrot übriggeblieben war, und preßte seinen Mantel gegen den Leib. Es war ihm klar, daß es in einigen Stunden, wenn die Sonne senkrecht stand, zu heiß sein würde, um seine Schafe über die Felder zu führen. Es war die Tageszeit, wo während des Sommers ganz Spanien Siesta machte. Die Hitze hielt bis in die Abendstunden an, und die ganze Zeit über mußte er seinen Mantel mitschleppen. Aber jedesmal, wenn er sich über die Last beklagen wollte, fiel ihm wieder ein, daß er es diesem verdankte, wenn er morgens nicht zu frieren brauchte.
>Auf die Launen des Wetters müssen wir immer vorbereitet sein<, dachte er und freute sich über das Gewicht des Mantels. So hatte sein Mantel einen Sinn, wie sein Leben auch einen hatte. Nach zwei Jahren kannte er nun schon alle Städte Andalusiens auswendig, und der große Sinn seines Lebens war: zu reisen. Er nahm sich vor, diesmal dem Mädchen zu erklären, warum ein einfacher Hirte lesen konnte: Bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr hatte er eine Klosterschule besucht, und seine Eltern wünschten, daß er Priester würde, worauf eine einfache Bauernfamilie Grund hatte, stolz zu sein. Denn auch sie hatten bisher nur für Nahrung und Wasser gelebt, wie seine Schafe. So erhielt er Unterricht in Latein, Spanisch und Theologie. Aber seit seiner Kindheit träumte er davon, die weite Welt kennenzulernen, und das schien ihm viel wichtiger, als Gott und die Sünden der Menschen kennenzulernen. Eines Nachmittags, als er seine Eltern besuchte, faßte er sich ein Herz und verkündete seinem Vater, daß er kein Priester werden, sondern reisen wolle.
5
»Menschen aus der ganzen Welt kamen schon durch diesen Ort, mein Sohn«, sagte damals sein Vater. »Sie kommen auf der Suche nach neuen Dingen, aber sie bleiben dabei dieselben. Sie gehen auf den Hügel, um die Burg zu besichtigen, und glauben, daß die Vergangenheit besser war als die Gegenwart. Sie haben blonde Haare oder dunkle Haut, aber im Grunde sind sie alle so wie die Leute in unserem Ort.« »Aber ich kenne nicht die Burgen in ihren Ländern«, entgegnete der Jüngling.
»Wenn sie unsere Gegend und unsere Frauen kennenlernen, dann sagen diese Männer, daß sie für immer hierbleiben möchten«, fuhr sein Vater fort. würde und eines nach dem anderen abschlachtete, so würden sie es wohl erst bemerken, wenn ihre Herde schon so gut wie ausgerottet ist<, dachte der Jüngling. >Denn sie vertrauen mir blindlings und vertrauen nicht länger auf ihren eigenen Instinkt. Nur, weil ich sie zu den grünen Auen und frischem Wasser leite.< Der junge Mann wunderte sich über seine eigenen Gedanken. Vielleicht war diese alte Kirche mit dem Maulbeerbaum irgendwie verhext gewesen. Immerhin war sie daran schuld, daß er einen Traum zum zweiten Mal träumte, und mit einemmal Wut gegenüber seinen so treuen Gefährten empfand. Er trank einen Schluck Wein, der noch vom Abendbrot übriggeblieben war, und preßte seinen Mantel gegen den Leib. Es war ihm klar, daß es in einigen Stunden, wenn die Sonne senkrecht stand, zu heiß sein würde, um seine Schafe über die Felder zu führen. Es war die Tageszeit, wo während des Sommers ganz Spanien Siesta machte. Die Hitze hielt bis in die Abendstunden an, und die ganze Zeit über mußte er seinen Mantel mitschleppen. Aber jedesmal, wenn er sich über die Last beklagen wollte, fiel ihm wieder ein, daß er es diesem verdankte, wenn er morgens nicht zu frieren brauchte.
>Auf die Launen des Wetters müssen wir immer vorbereitet sein, dachte er und freute sich über das Gewicht des Mantels.
So hatte sein Mantel einen Sinn, wie sein Leben auch einen hatte. Nach zwei Jahren kannte er nun schon alle Städte Andalusiens auswendig, und der große Sinn seines Lebens war: zu reisen. Er nahm sich vor, diesmal dem Mädchen zu erklären, warum ein einfacher Hirte lesen konnte: Bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr hatte er eine Klosterschule besucht, und seine Eltern wünschten, daß er Priester würde, worauf eine einfache Bauernfamilie Grund hatte, stolz zu sein. Denn auch sie hatten bisher nur für Nahrung und Wasser gelebt, wie seine Schafe. So erhielt er Unterricht in Latein, Spanisch und Theologie. Aber seit seiner Kindheit träumte er davon, die weite Welt kennenzulernen, und das schien ihm viel wichtiger, als Gott und die Sünden der Menschen kennenzulernen. Eines Nachmittags, als er seine Eltern besuchte, faßte er sich ein Herz und verkündete seinem Vater, daß er kein Priester werden, sondern reisen wolle.
6
»Menschen aus der ganzen Welt kamen schon durch diesen Ort, mein Sohn«, sagte damals sein Vater. »Sie kommen auf der Suche nach neuen Dingen, aber sie bleiben dabei dieselben. Sie gehen auf den Hügel, um die Burg zu besichtigen, und glauben, daß die Vergangenheit besser war als die Gegenwart. Sie haben blonde Haare oder dunkle Haut, aber im Grunde sind sie alle so wie die Leute in unserem Ort.« »Aber ich kenne nicht die Burgen in ihren Ländern«, entgegnete der Jüngling.
»Wenn sie unsere Gegend und unsere Frauen kennenlernen, dann sagen diese Männer, daß sie für immer hierbleiben möchten«, fuhr sein Vater fort. möglich ein anderer Schäfer mit einer größeren Herde vor ihm dagewesen war und um ihre Hand angehalten hatte.
>Erst die Möglichkeit, einen Traum zu verwirklichen, macht unser Leben lebenswert<, überlegte er, während er nochmals zum H immel aufschaute und seine Schritte beschleunigte. Ihm war nämlich gerade eingefallen, daß es in Tarifa eine Alte gab, die Träume deuten konnte. Und vergangene Nacht hatte er einen wiederkehrenden Traum gehabt.
7
Die Alte führte den Besucher zu einem Raum im hinteren Teil des Hauses, der vom Wohnzimmer durch einen Vorhang aus bunten Plastikstreifen abgetrennt war. Dort gab es einen Tisch, zwei Stühle und ein Bildnis von Jesus von Nazareth.
Die Alte nahm Platz und forderte ihn auf, es ihr nachzutun. Dann ergriff sie beide Hände des Jünglings und begann, leise murmelnd zu beten. Es klang nach einem Zigeunergebet. Er war schon etlichen Zigeunern auf seinem Weg begegnet; sie reisten, auch ohne Schafe zu hüten. Die Leute behaupteten, daß das Leben eines Zigeuners darauf ausgerichtet sei, andere zu betrügen. Man sagte auch, daß sie im Bündnis mit den Dämonen wären, und daß sie Kinder raubten, um sie als Sklaven in ihren düsteren Lagern zu halten. Als kleiner Junge hatte er immer schreckliche Angst gehabt, von den Z igeunern verschleppt zu werden, und diese alte Erinnerung kam nun wieder hoch, während die Alte seine Hände festhielt. >Aber sie hat ja ein Bild von Jesus an der Wand<, versuchte er sich zu beruhigen. Er wollte nicht, daß seine Hände zu zittern begannen und die Alte womöglich seine Ängste bemerkte. Im stillen sprach er ein Vaterunser. »Wie interessant«, bemerkte die Alte, ohne ihre Augen von seinen Händen abzuwenden. Und schwieg wieder.
Der Jüngling wurde immer unruhiger. Seine Hände begannen unwillkürlich zu zittern, und die Alte bemerkte es. Schnell zog er sie zurück. »Ich bin nicht hier, um mir die Hand lesen zu lassen«, sagte er und bereute schon, überhaupt gekommen zu sein. Für einen Augenblick dachte er, daß es besser sei, sofort zu zahlen und zu verschwinden, ohne etwas erfahren zu haben. Er hatte einem wiederkehrenden Traum einfach zuviel Bedeutung beigemessen.
»Du willst etwas über Träume erfahren«, antwortete die Alte. »Und Träume sind die Sprache Gottes. Wenn er die Sprache der Welt spricht, kann ich sie deuten. Aber wenn er die Sprache deiner Seele spricht, so kannst nur du selber sie verstehen. Dennoch werde ich die Beratung berechnen.« >Wieder so ein Trick<, dachte der Jüngling. Trotzdem wollte er es wagen. Schließlich ging ein Hirte auch das Wagnis ein, Wölfen oder der Trockenheit zu begegnen, und das machte seinen Beruf erst spannend. »Ich hatte den gleichen Traum zweimal hintereinander«, sagte er. »Ich träumte, daß ich mit meiner Herde auf der Weide war, als plötzlich ein Kind erschien, das mit den Schafen zu spielen begann. Eigentlich mag ich nicht, wenn man meine Schafe stört, sie haben nämlich Angst vor Fremden. Aber Kinder können immer mit ihnen herumtoben, ohne daß sie sich erschrecken. Ich weiß nicht, warum. Wie können die Schafe wohl das Alter eines Menschen erkennen?« »Komm endlich zur Sache«, unterbrach ihn die Alte. »Ich habe einen Topf auf dem Feuer. Außerdem hast du wenig Geld und kannst meine Zeit nicht so lange beanspruchen. « »Das Kind spielte ein Weilchen mit den Schafen«, fuhr der Jüngling etwas verlegen fort. »Und auf einmal nahm es mich bei der Hand und führte mich zu den Pyramiden von Ägypten.« Er machte eine kleine Pause, um die Wirkung seiner Worte abzuwarten. Aber die Alte blieb stumm.
»Dann, bei den Pyramiden von Ägypten«, die letzten drei Worte sprach er besonders betont, damit die Alte sie auch ja verstand, »sagte mir das Kind: >Wenn du hierherkommst, dann wirst du einen verborgenen Schatz vorfinden.< Und als es mir den genauen Ort zeigen wollte, wachte ich auf. Beide Male.« Die Alte blieb noch ein Weilchen stumm. Dann griff sie erneut nach seinen Händen und begann, sie genauestens zu studieren. »Ich werde dir jetzt nichts abverlangen«, sagte die Alte. »Aber ich möchte ein Zehntel deines Schatzes, wenn du ihn findest.« träumten Schatzes willen das bißchen Geld behalten, das er noch besaß. Sie mußte tatsächlich eine Zigeunerin sein - die sind ja so dumm. »Also gut, dann deute den Traum«, bat sie der Jüngling. »Vorher mußt du mir noch schwören, daß du mir tatsächlich den zehnten Teil deines Schatzes abgibst als Lohn für das, was ich dir sagen werde.« Der junge Mann schwor, und die Alte bat ihn, den Schwur vor dem Christusbild zu wiederholen.
»Hier handelt es sich um einen Traum in der Sprache der Welt«, sagte sie. »Ich kann ihn deuten, und es ist eine sehr schwierige Auslegung. Darum ist es nur gerecht, wenn mir ein Teil deines Fundes zusteht. Die Deutung ist folgende: Du sollst zu den Pyramiden von Ägypten gehen. Ich habe zwar noch nie etwas von ihnen gehört, aber wenn dir ein Kind den Weg gewiesen hat, dann gibt es sie wirklich. Dort wirst du dann einen Schatz finden, der dich sehr reich macht.« Der Jüngling war erst überrascht, dann enttäuscht. Dafür hätte er nicht kommen müssen. Doch schließlich brauchte er auch noch nichts zu bezahlen.
»Für diese Auskunft hätte ich meine Zeit nun wirklich nicht zu verschwenden brauchen«, meinte er.
»Darum sagte ich bereits, daß es sich um einen schwierigen Traum handelt. Die einfachen Dinge sind die ungewöhnlichsten, die nur die Gelehrten verstehen können. Da ich aber keine Gelehrte bin, muß ich andere Künste anwenden, wie beispielsweise das Handlesen.« Und wie soll ich nun nach Ägypten kommen?« »Ich kann Träume nur deuten. Ich kann sie nicht in Wirklichkeit verwandeln. Darum muß ich auch von dem leben, was mir meine Kunden abgeben.« »Und wenn ich niemals nach Ägypten komme?« »Dann bleibe ich ohne Bezahlung. Das wäre nicht das erste Mal. Daraufhin sagte die Alte nichts mehr. Sie schickte den Jüngling fort, denn sie hatte schon genug Zeit mit ihm verloren.
8
Der Jüngling zog enttäuscht von dannen und nahm sich vor, nie wieder an Träume zu glauben. Ihm fiel wieder ein, daß er noch einiges zu erledigen hatte: Er besorgte sich Lebensmittel, tauschte sein Buch gegen ein dickeres ein, und dann setzte er sich auf eine Bank auf dem Marktplatz, um den Wein zu kosten, den er gekauft hatte.
Es war ein sehr heißer Tag, und der Wein vermochte ihn aus irgendeinem unerklärlichen Grund zu erquicken. Die Schafe waren am Ortseingang, im Stall eines seiner neuen Freunde, gut aufgehoben. Er kannte überhaupt eine Menge Leute in dieser Gegend, und darum reiste er auch so gerne. Man konnte immer wieder neue Freundschaften schließen und mußte nicht Tag für Tag mit denselben Leuten auskommen. Wenn man, wie im Seminar, immer dieselben Menschen um sich hat, dann lassen wir sie zu einem festen Teil unseres Lebens werden. Und wenn sie dann ein fester Teil davon geworden sind, wollen sie unser Leben verändern. Und wenn wir dann nicht so werden, wie sie es erwarten, sind sie enttäuscht. Denn alle Menschen haben immer genaue Vorstellungen davon, wie wir unser Leben am besten zu leben haben. Doch nie wissen sie selber, wie sie ihr eigenes Leben am besten anpacken sollen. Wie jene Traumdeuterin, die nicht fähig war, die Träume Wirklichkeit werden zu lassen. Er wollte noch warten, bis die Sonne tiefer stand, bis er mit seiner Herde weiterzog. In nur mehr drei Tagen würde er mit der Tochter des Händlers beisammen sein.
Nun begann er das Buch zu lesen, welches er vom Pfarrer von Tarifa bekommen hatte. Es war sehr dick und handelte gleich auf der ersten Seite von einer Beerdigung, und die Namen der Figuren waren sehr kompliziert. Wenn er eines Tages selber ein Buch schreiben würde, dachte er bei sich, so würde er immer nur jeweils eine Person nach der anderen in Erscheinung treten lassen, um den Leser nicht zu verwirren. Als er sich endlich in die Lektüre vertiefen konnte - und sie war recht gut, denn sie handelte von einer Beerdigung im Schnee, was ihm ein Gefühl der Erfrischung unter dieser starken Mittagssonne vermittelte -, setzte sich ein alter Mann zu ihm auf die Bank und begann eine Unterhaltung. »Was machen all die Leute?« fragte der Alte, während er auf die Menschen deutete, die über den Platz eilten.
»Arbeiten«, antwortete der Jüngling kurz und tat so, als sei er in die Lektüre vertieft. In Wirklichkeit aber dachte er jetzt daran, daß er die Schafe diesmal vor den Augen der Tochter des Händlers scheren würde, damit sie sah, was er für interessante Dinge beherrschte. Diese Szene hatte er sich schon öfter vorgestellt; und immer war das Mädchen verblüfft, wenn er ihr erklärte, daß Schafe von hinten nach vorne geschoren werden müssen. Auch versuchte er sich an ein paar gute Anekdoten zu erinnern, die er ihr während der Arbeit erzählen könnte. Die meisten kannte er aus irgendwelchen Büchern, aber er wollte sie so erzählen, als hätte er sie persönlich erlebt. Sie würde es sowieso nie merken, weil sie selber nicht lesen konnte.
Der Alte jedoch gab nicht auf. Er sagte, er sei müde und durstig, und bat um einen Schluck Wein. Der Jüngling reichte ihm die Flasche, in der Hoffnung, dann vielleicht seine Ruhe zu haben. Aber der Alte wollte sich unbedingt unterhalten. Er fragte, was er da gerade lese. Gerne wäre der
nd Hirte jetzt unhöflich geworden u hätte die Bank gewechselt, aber sein Vater hatte ihm Respekt vor dem Alter beigebracht. So reichte er dem Alten das Buch aus zweierlei Gründen: erstens konnte er den Titel nicht richtig aussprechen, und zweitens würde der Alte, wenn er nicht lesen konnte, wahrscheinlich von sich aus die Bank wechseln, um sich nicht gedemütigt zu fühlen.
»Hmm...«, machte der Alte und betrachtete das Exemplar von allen Seiten, als handle es sich um einen seltenen Gegenstand. »Dies ist zwar ein wichtiges Werk, jedoch äußerst langweilig.« Der Jüngling war überrascht. Also konnte der Alte auch lesen und kannte sogar dieses Buch. Wenn es tatsächlich so langweilig ist, wie er behauptet, dann wäre noch Zeit, es gegen ein anderes einzutauschen. »Es ist ein Buch, das vom selben handelt wie alle an deren Bücher auch«, fuhr der Alte fort. »Der Unfähigkeit des Menschen, sein eigenes Schicksal zu wählen. Und schließlich bewirkt es, daß alle an die größte Lüge der r Welt glauben.«
9
»Welches ist denn die größte Lüge der Welt?« fragte der Jüngling überrascht.
»Es ist diese: In einem bestimmten Moment unserer Existenz verlieren wir die Macht über unser Leben, und es wird dann vom Schicksal gelenkt. Das ist die größte Lüge der Welt!
»Bei mir war es nicht so«, entgegnete der junge Mann. »Man wollte einen Geistlichen aus mir machen, aber ich habe mich entschlossen, Schafhirte zu werden.« »So ist es besser«, meinte der Alte. »Schließlich reist du gerne.« >Er hat meine Gedanken gelesen, überlegte der Jüngling. Der Alte blätterte inzwischen im Buch, ohne Anstalten zu machen, es zurückzugeben. Der Hirte betrachtete die ausgefallene Kleidung, die jener trug; er sah wie ein Araber aus, was in dieser Gegend keine Seltenheit war. Afrika lag nur wenige Stunden von Tarifa entfernt; man brauchte lediglich die schmale Meerenge mit einem Boot zu überqueren. Häufig erschienen Araber in der Stadt, um einzukaufen und mehrmals täglich eigenartige Gebete zu murmeln.
»Woher kommen Sie?« fragte er.
»Von vielerorts.« »Niemand kann von verschiedenen Orten gleichzeitig kommen«, sagte der Jüngling. »Ich bin ein Hirte und kenne viele Orte, aber herkommen tue ich aus einer einzigen Stadt, in der Nähe einer alten Burg. Dort bin ich geboren.« »Dann kann man sagen, daß ich aus Salem komme.« Der Jüngling hatte keine Ahnung, wo Salem lag, fragte jedoch nicht weiter, um sich keine Blöße zu geben. Er schaute eine Zeitlang dem Treiben der Leute auf dem Platz zu, die alle einen sehr geschäftigen Eindruck machten. »Wie läuft es in Salem?« fragte der Jüngling, um auf eine Spur zu kommen.
»Wie immer.« Das war noch keine Fährte. Er wußte nur so viel, daß Salem nicht in Andalusien lag. Sonst würde er es kennen.
»Und was machen Sie in Salem?« beharrte er weiter. »Was ich dort mache?« Jetzt brach der Alte in ein herzliches Gelächter aus. »Ich bin der König von Salem!« >Die Menschen reden oft merkwürdige Dinge<, dachte der Hirte. >Manchmal ist die Gesellschaft der Schafe wirklich vorzuziehen, sie sind stumm und suchen nur nach Wasser und Futter. Oder Bücher leisten uns
ie Gesellschaft, die uns d tollen Geschichten immer dann erzählen, wenn wir sie hören möchten. Aber wenn man mit Menschen spricht, so kann es passieren, daß sie Dinge von sich geben, bei denen man nicht mehr weiterweiß.< »Mein Name ist Melchisedek«, sagte der Alte. »Wie viele Schafe hast du?« »Genug«, antwortete der Jüngling mißtrauisch. Der Alte wollte zuviel über ihn erfahren.
»In dem Fall stehen wir vor einem Problem. Ich kann dir nicht helfen, solange du annimmst, daß du genug Schafe besitzt. Nun wurde der junge Mann gereizt. Schließlich hatte nicht er um Hilfe, sondern der Alte um Wein, Unterhaltung und das Buch gebeten. »Geben Sie mir das Buch zurück. Ich muß jetzt meine Schafe holen und weiterziehen.« »Wenn du mir den zehnten Teil deiner Schafherde gibst, dann erkläre ich dir, wie du an deinen verborgenen Schatz gelangen kannst«, sagte der Alte.
Jetzt fiel dem Jüngling der Traum wieder ein, und plötzlich erschien ihm alles ganz klar. Die alte Traumdeuterin hatte zwar nichts genommen, aber dafür würde ihn jetzt der Alte, der vielleicht ihr Mann war, für eine wertlose Auskunft ausnehmen. Sicherlich war er auch ein Zigeuner. Bevor der Jüngling etwas erwidert hatte, beugte sich der Alte herunter, nahm ein Stöckchen zur Hand und begann im Sand zu schreiben. Beim Herabbeugen leuchtete etwas auf seiner Brust auf, das den jungen Mann stark blendete. Aber mit einer für sein Alter fast zu eiligen Bewegung zog der Greis seinen Mantel darüber. Als sich die Augen des jungen Mannes wieder beruhigt hatten, las er, was der Alte schrieb. Im Sand des Marktplatzes standen die Namen seines Vaters und seiner Mutter. Er las die Geschichte seines bisherigen Lebens, seiner kindlichen Spiele, der kalten Nächte während des Seminars; er las den Namen der Kaufmannstochter, den er selber gar nicht kannte. Er las Dinge von sich, über die er noch mit niemandem gesprochen hatte wie er die Waffe seines Vaters entwendete, um Hirsche zu jagen, oder die Geschichte seiner ersten, einsamen sexuellen Erfahrung.
10
»Ich bin der König von Salem«, hatte der Alte behauptet. »Wieso unterhält sich ein König mit einem einfachen Hirten?« fragte der Jüngling beschämt und verwundert.
»Dafür gibt es mehrere Gründe. Aber der Hauptgrund liegt darin, daß du es geschafft hast, deinem persönlichen Lebensweg zu folgen.« Der Jüngling wußte nicht, was ein persönlicher Lebensweg war. »Es ist das, was du schon immer gerne machen wolltest. Alle Menschen wissen zu Beginn ihrer Jugendzeit, welches ihre innere Bestimmung ist. In diesem Lebensabschnitt ist alles so einfach, und sie haben keine Angst, alles zu erträumen und sich zu wünschen, was sie in ihrem Leben gerne machen würden. Indessen, während die Zeit vergeht, versucht uns eine mysteriöse Krall davon zu überzeugen, daß es unmöglich sei, den persönlichen Lebensweg zu verwirklichen.« Was der Alte da sagte, ergab nicht viel Sinn für den jungen Mann. Dennoch wollte er wissen, was der Begriff mysteriöse Kräfte bedeuten sollte; die Tochter des Händlers würde Augen machen.
»Das sind die Kräfte, die uns schlecht erscheinen, aber in Wirklichkeit helfen sie uns, unseren persönlichen Lebensplan zu erfüllen. Sie entwickeln deinen Geist und deinen Willen, denn es gibt eine große Wahrheit auf diesem Planeten: Wer immer du bist oder was immer du tust, wenn du aus tiefster Seele etwas willst, dann wurde dieser Wunsch aus der Wellenseele geboren. Das ist dann deine Aufgabe auf Erden.« »Selbst wenn es nur der Wunsch zu reisen ist oder der, die Tochter des Textilhändlers zu heiraten?« »Oder der, nach einem Schatz zu suchen. Die Wellenseele wird von dem Glück der Menschen gespeist. Oder vom Unglück, von Neid und Eifersucht. Unsere einzige Verpflichtung besteht darin, den persönlichen Lebensplan zu erfüllen. Alles ist in Einem. Und wenn du etwas ganz fest willst, dann wird das gesamte Universum dazu beitragen, daß du es auch erreichst.« Einige Zeit blieben sie schweigsam und beobachteten die Leute auf dem Marktplatz. Der Alte ergriff zuerst wieder das Wort. »Warum hütest du Schafe?« »Weil ich gerne reise.« Der Alte deutete auf einen Eisverkäufer mit einem roten, zweirädrigen Karren, der an einer Ecke des Platzes stand.
»Dieser Eisverkäufer wollte als kleiner Junge auch immer reisen. Aber er zog es vor, einen kleinen Eiswagen zu kaufen, um einige Jahre Geld zu verdienen und zu sparen. Wenn er genug hat, wird er einen Monat in Afrika verbringen. Er hat nie verstanden, daß man immer in der Lage ist, das, was man sich erträumt, auch in die Tat umzusetzen.« »Er hätte auch Hirte werden können«, überlegte der Jüngling laut. »Er hat sogar daran gedacht«, sagte der Alte. »Aber die Eisverkäufer sind geachteter als die Hirten. Sie haben ein Haus, während die Hirten im Freien übernachten. Die Leute verheiraten ihre Töchter lieber mit einem Eisverkäufer als mit einem Hirten.« Der Jüngling fühlte einen Stich im Herzen, als er an die Tochter des Händlers denken mußte. Sicherlich gab es in ihrer Stadt auch einen Eisverkäufer.
»Schließlich wird es für die Menschen wichtiger, was andere Leute über Eisverkäufer und über Hirten denken, als ihre innere Bestimmung zu erfüllen.« Daraufhin blätterte der Alte in dem Buch und las ein wenig darin. Der junge Mann wartete ein Weilchen, um ihn dann zu unterbrechen, wie er selber unterbrochen worden war.
»Warum erzählen Sie mir diese Dinge?« »Weil auch du deiner inneren Bestimmung zu folgen versuchst und nun kurz vor dem Aufgeben stehst.« »Und erscheinen Sie immer im kritischen Moment?« »Zwar nicht immer in dieser Form, jedoch irgendwie tauche ich immer auf. Manchmal erscheine ich in Form eines guten Ausweges, einer guten Idee. Ein andermal, in einem entscheidenden Moment, erleichtere ich die Dinge. Und so weiter, aber die Mehrheit der Menschen bemerkt es nicht.« Der Alte berichtete, daß er vergangene Woche einem Edelsteinsucher in Form eines Steines erschienen sei. Der Mann hatte alles aufgegeben, um Smaragde zu suchen. Fünf Jahre lang arbeitete er an einem Fluß und hatte bereits 999 999 Steine aufgeschlagen, auf der Suche nach einem Smaragd. Nun dachte der Edelsteinsucher ans Aufgeben dabei fehlte doch nur noch ein Stein, ein einziger Stein, bis er seinen Smaragd finden würde. Weil auch dieser an seine Bestimmung geglaubt hatte, beschloß der Alte einzugreifen. Er verwandelte sich in einen Stein, der auf den Fuß des Mannes zurollte. Dieser aber warf, mit der ganzen Wut und Verzweiflung seiner fünf verlorenen Jahre, den Stein weit von sich. Er schleuderte ihn mit solcher Gewalt, daß er auf einen anderen Stein aufschlug, der davon zerbarst und den schönsten Smaragd der Welt in seinem Innern offenbarte. »Die Menschen erkennen schon sehr früh ihren Lebensplan«, bemerkte der Alte mit Bitterkeit. »Vielleicht geben sie ihn gerade deswegen dann auch so früh wieder auf. Aber so ist es nun mal.« Da erinnerte sich der Jüngling, daß die Unterhaltung mit dem verborgenen Schatz begonnen hatte.
»Schätze werden vom Strom an die Oberfläche getragen und wieder unter den Wassern begraben«, sagte der Alte. »Wenn du etwas über deinen Schatz erfahren willst, dann mußt du mir den zehnten Teil deiner Schafe geben.« »Möchten Sie nicht lieber ein Zehntel des Schatzes haben?« Nun war der Alte enttäuscht.
»Wenn du versprichst, was du noch gar nicht hast, dann wirst du den Willen verlieren, es zu erreichen.« Daraufhin gestand der Jüngling, daß er der Zigeunerin bereits ein Zehntel versprochen hatte.
»Ja, die Zigeuner sind schlau«, sagte der Alte. »Immerhin ist es gut, wenn du lernst, daß alles im Leben seinen Preis hat. Das ist es, was wir Lichtboten vermitteln wollen.« Der Alte gab dem Jüngling das Buch zurück.
»Morgen zur gleichen Zeit wirst du mir ein Zehntel deiner Schafe bringen. Dann lehre ich dich, wie du an den verborgenen Schatz gelangen wirst. Auf Wiedersehen.« Und er verschwand um eine Ecke.
11
Der Jüngling versuchte zu lesen, aber er konnte sich nicht mehr konzentrieren. Er war unruhig und angespannt, denn er wußte, daß der Alte die Wahrheit sagte. Er ging zum Eisverkäufer hinüber und kaufte sich ein Eis, während er überlegte, ob er ihm erzählen sollte, was der Alte ihm gesagt hatte.
>Manchmal ist es klüger, die Dinge zu belassen, wie sie sind, dachte er und verhielt sich ruhig. Wenn er etwas sagen würde, dann wäre der Eisverkäufer drei Tage lang am Überlegen, ob er alles hinwerfen sollte, dabei war er doch schon so an seinen Verkaufskarren gewöhnt. Diesen Kummer konnte er dem Eisverkäufer ersparen. So ging er ziellos durch die Straßen und kam zum Hafen. Hier stand ein kleines Gebäude mit einem Schalter, an dem man Fahrkarten lösen konnte. Ägypten liegt in Afrika!
»Was wünschen Sie?« fragte der Mann am Schalter. »Morgen vielleicht«, entgegnete der Jüngling und zog sich eilig zurück. Wenn er nur ein einziges Schaf verkaufte, - so konnte er die Meerenge überqueren. Dieser Gedanke beunruhigte ihn.
»Wieder so ein Träumer«, sagte der Kerl am Schalter zu seinem Kollegen, während sich der Jüngling entfernte. »Der hat kein Geld zum Reisen.« Als er am Schalter gestanden war, mußte der Jüngling an ;seine Schafe denken und bekam auf einmal Angst, zu ihnen zurückzukehren. Binnen zwei Jahren hatte er alles über ,die Kunst des Schafehütens erlernt; er konnte scheren, die trächtigen Tiere versorgen, die Schafe vor den Wölfen beschützen. Auch kannte er inzwischen alle Weideplätze Andalusiens. Er kannte den richtigen An- und Verkaufspreis eines jeden Tieres. Nun schlug er den längsten Weg ein, um zum Stall seines Freundes zurückzukehren. Auch diese Stadt hatte eine '~ Burg, und so entschied er, die Steinrampe hinaufzugehen und sich auf die Brüstung zu setzen. Von dort oben konnte er Afrika sehen. Irgendwann hatte man ihm erklärt, daß über diesen Weg die Mauren eingedrungen waren, die während so v ieler Jahre fast ganz Spanien besetzt hielten. Der Jüngling verabscheute die Mauren, schließlich hatten sie die Zigeuner mitgebracht. Von da oben konnte er auch beinahe die ganze Stadt überblicken, einschließlich des Platzes, wo er sich mit dem Alten unterhalten hatte. >Verflucht sei die Stunde, in der mir der Alte begegnet ist<, dachte er verzweifelt. Er hatte ja nur die Traumdeuterin aufsuchen wollen. Weder sie noch der Alte hatten berücksichtigt, daß er ein Schäfer war. Beide waren sie wohl recht einsame Personen, die nicht mehr ans Leben glaubten und nicht verstanden, daß ein Hirte an seinen Schafen hängt. Er kannte die Eigenarten jedes einzelnen Tieres, er wußte, welches hinkte, welches in zwei Monaten niederkommen würde und welches das Faulste war. Er wußte auch, wie man sie scherte und wie man sie schlachtete. Wenn er sie verließ, so würden sie leiden.
Ein leichter Wind kam auf. Er kannte diesen Wind, die Leute nannten ihn den Wind der Levante, weil mit diesem Wind Horden von Aufständischen aus dem Orient gekommen waren. Bevor er nicht in Tarifa gewesen war, hätte er nie gedacht, daß Afrika so nah war. Das bedeutete auch eine große Gefahr: Die Mauren könnten jederzeit wieder angreifen. Der Wind begann stärker zu blasen.
>Ich stehe zwischen den Schafen und dem Schatz<, dachte der Jüngling. Nun mußte er sich zwischen etwas Vertrautem und etwas, was er gerne besitzen würde, entscheiden. Da gab es auch noch das Mädchen, aber sie war nicht so wichtig wie die Schafe, weil sie nicht auf ihn angewiesen war. Vielleicht würde sie sich seiner nicht mal mehr erinnern. Jedenfalls war er sicher, daß, wenn er in zwei Tagen nicht erschien, sie es nicht einmal bemerken würde: Für sie war ein Tag wie der andere, und wenn alle Tage gleich sind, dann bemerkt man auch nicht mehr die guten Dinge, die einem im Leben widerfahren.
>Ich bin von meinem Vater, meiner Mutter und der Burg in meiner Heimatstadt fortgegangen. Sie haben sich daran gewöhnt, genauso wie ich mich daran gewöhnt habe. Also werden sich die Schafe auch an meine Abwesenheit gewöhnen, überlegte er. Von hier oben konnte er den Platz gut überblicken. Der Eisverkäufer verkaufte noch immer sein Eis. Ein junges Pärchen nahm auf der Bank Platz, wo er sich mit dem Alten unterhalten hatte, und tauschte einen langen Kuß. »Ja, der Eisverkäufer«, sagte er vor sich hin, ohne jedoch den Satz zu beenden, da der Levante Wind nun stärker blies und er ihn auf dem Gesicht spürte. Er brachte zwar die Mauren, aber er brachte auch den Duft der Wüste und der verschleierten Frauen. Er brachte den Schweiß und die Träume von Männern, die eines Tages ins Unbekannte aufgebrochen waren, auf der Suche nach Gold, nach Abenteuern - und den Pyramiden. Der Jüngling begann, den Wind um seine Freiheit zu beneiden, und merkte, daß er genauso frei sein könnte. Nichts hinderte ihn daran, außer er selber. Die Schafe, die Tochter des Händlers, die Weiden von Andalusien waren alle nur einzelne Schritte auf seinem persönlichen Lebensweg gewesen.
12
Am nächsten Tag traf sich der Jüngling mittags mit dem Alten. Er hatte sechs Schafe mitgebracht.
»Ich bin überrascht«, sagte der Jüngling, »mein Freund hat mir sofort alle übrigen Schafe abgekauft. Er meinte, daß er schon immer davon geträumt habe, Hirte zu sein, und dies sei ein gutes Zeichen.« »Das ist immer so«, bemerkte der Alte. »Wir nennen es das Günstige Prinzip. Wenn du zum ersten Mal ein Glücksspiel riskierst, wirst du mit großer Wahrscheinlichkeit gewinnen. Anfängerglück.« »Aber warum?« »Weil das Leben will, daß du deinen persönlichen Lebensweg einhältst.« Dann untersuchte er die Schafe und stellte fest, daß eines lahmte. Der Jüngling versicherte, dies sei nicht so wesentlich, weil es das intelligenteste war und auch viel Wolle produzierte.
»Wo befindet sich also der Schatz?« fragte er.
»Der Schatz liegt in Ägypten bei den Pyramiden.« Der junge Mann erschrak. Das gleiche hatte schon die Alte behauptet, aber nichts dafür genommen.
»Um dorthin zu gelangen, mußt du den Zeichen folgen. Gott zeichnet den Weg vor, den jeder Mensch gehen soll. Du mußt also nur erkennen, was er für dich aufgezeichnet hat.« Bevor der Jüngling etwas sagen konnte, flatterte ein Schmetterling zwischen ihm und dem Alten hin und her. Da mußte er an seinen Großvater denken: Als er noch ein Kind war, hatte ihm der Großvater erzählt, daß Schmetterlinge Glück bringen. Wie Grillen, vierblättriger Klee und Hufeisen.
»Das stimmt«, sagte der Alte, der seine Gedanken lesen konnte. »Es ist, wie dein Großvater dich lehrte. Das sind die Zeichen.« Dann öffnete er den Mantel, der seine Brust verdeckte, und der Jüngling war beeindruckt von dem, was er sah, und erinnerte sich an das Leuchten, das er am vorigen Tag bemerkt hatte: Der Alte hatte einen Brustpanzer aus purem Gold, bedeckt mit bunten Edelsteinen. Er mußte tatsächlich ein König sein. Wahrscheinlich war er nur in den Mantel gehüllt, um den Räubern zu entkommen.
»Nimm«, sagte der Alte und entnahm aus der Mitte des goldenen Brustpanzers einen weißen und einen schwarzen Stein. »Sie heißen Urim und Thummim. Der schwarze bedeutet ja und der weiße nein. Wenn du also die Zeichen nicht selber erkennen kannst, werden sie dir nützlich sein. Stelle immer eine objektive Frage. Aber auf jeden Fall ist es besser, wenn du deine Entscheidungen selber fällst. Daß der Schatz bei den Pyramiden liegt, wußtest du bereits; aber du mußtest sechs Schafe einbüßen, weil ich dir half, eine Entscheidung zu treffen.« Der Jüngling verstaute die Steine in seinem Rucksack. In Zukunft würde er seine eigenen Entscheidungen treffen.
»Vergiß nie, daß alles ein Ganzes ist. Vergiß die Sprache der Zeichen nicht. Und vor allem vergiß nicht, deinen persönlichen Lebensweg zu Ende zu gehen. Bevor wir uns trennen, möchte ich dir aber noch eine Geschichte erzählen: Eines Tages schickte ein Geschäftsmann seinen Sohn zu dem größten Weisen weit und breit, um ihm das Geheimnis des Glücks beizubringen. Der Jüngling wanderte vierzig Tage durch die Wüste, bis er schließlich an ein prachtvolles Schloß kam, das oben auf einem Berg lag. Dort wohnte der Weise, den er aufsuchen sollte. Anstatt nun einen Heiligen vorzufinden, kam der Jüngling in einen Raum, in welchem große Betriebsamkeit herrschte; Händler kamen und gingen, Leute standen in den Ecken und unterhielten sich, eine kleine Musikkapelle spielte leichte Melodien, und es gab eine festliche Tafel mit allen Köstlichkeiten dieser Gegend. Der Weise unterhielt sich mit jedem einzelnen, und der Jüngling mußte zwei volle Stunden warten, bis er an der Reihe war.
Der Weise hörte sich aufmerksam seine Geschichte an, sagte jedoch, er habe im Moment keine Zeit, ihm das Geheimnis des Glücks zu erklären. Er empfahl ihm, sich im Palast umzusehen und in zwei Stunden wiederzukommen.
>Aber ich möchte dich um einen Gefallen bitten, fügte der Weise hinzu und überreichte dem Jüngling einen Teelöffel, auf den er zwei Öltropfen träufelte. >Während du dich hier umsiehst, halte den Löffel, ohne dabei das Öl auszuschütten.< Der Jüngling stieg treppauf und treppab, ohne den Blick von dem Löffel zu lösen. Nach zwei Stunden erschien er wieder vor dem Weisen. >Na<, fragte dieser, >hast du die kostbaren Perserteppiche in meinem Eßzimmer gesehen? Und den prachtvollen Park, den der Gärtnermeister innerhalb von zehn Jahren anlegte? Und die schönen Pergamentrollen in meiner Bibliothek?< Beschämt mußte der junge Mann zugeben, daß er nichts von alledem gesehen hatte, weil seine ganze Aufmerksamkeit dem Teelöffel mit dem Öl gegolten hatte, das ihm anvertraut worden war.
>Also, dann zieh noch einmal los und schau dir all die Herrlichkeiten meiner Welt genau an<, sagte der Weise. >Man kann einem Menschen nicht trauen, bevor man sein Haus nicht kennt.< Nun schon etwas ruhiger, nahm er wieder den Löffel und machte sich erneut auf den Weg, doch diesmal achtete er auf all die Prachtgegenstände, die an den Wänden und an der Decke hingen. Er sah den Park, die Berge ringsherum, die Vielfalt der Blumen, die Vollendung, mit der jeder Kunstgegenstand am richtigen Ort eingefügt war. Zurück beim Weisen schilderte er ausführlich, was er alles gesehen hatte. >Aber wo sind die beiden Öltropfen, die ich dir anvertraute?< bemerkte der Weise.
Als er auf den Löffel blickte, mußte der Jüngling entsetzt feststellen, daß er sie verschüttet hatte.
>Also, dies ist der einzige Rat, den ich dir geben kann<, sagte der weiseste der Weisen. >Das Geheimnis des Glücks besteht darin, alle Herrlichkeiten dieser Welt zu schauen, ohne darüber die beiden Öltropfen auf dem Löffel zu vergessen.«< Hierauf blieb der Hirte still. Er hatte die Geschichte des alten Königs wohl verstanden. Ein Hirte reist gerne, aber er vergißt nie seine Schafe. Der Alte sah ihn freundlich an und machte mit ausgebreiteten Händen ein paar eigenartige Bewegungen über seinem Kopf. Dann nahm er die Schafe und zog von dannen.
13
Oberhalb der kleinen Stadt Tarifa lag eine alte Festung, die von den Mauren erbaut worden war, und wer auf ihren Mauern saß, der konnte einen Platz, einen Eisverkäufer und ein Stück von Afrika sehen. Melchisedek, der König vom Salem, setzte sich an jenem Nachmittag auf einen Mauervorsprung der Festung und fühlte den Levante Wind auf seinem Gesicht. Die Schafe an seiner Seite schlugen aus, aus Angst vor dem neuen Herrn, und weil sie in Unruhe waren durch all die Veränderungen. Alles, was sie wollten, war Wasser und Nahrung. Melchisedek schaute dem kleinen Dampfer nach, der gerade aus dem Hafen auslief. Er würde den Jüngling nie mehr zu Gesicht bekommen, ebenso wie er Abraham nie mehr gesehen hatte, nachdem er auch bei ihm den Zehnten abkassiert hatte. Und dennoch hatte er gewirkt. Die Götter sollten keinerlei Wünsche haben, zumal sie keinen persönlichen Lebensplan haben. Trotzdem hoffte der König von Salem im stillen, daß der Jüngling erfolgreich sein würde.
>Schade, daß er meinen Namen so schnell vergessen wird, dachte er. >Ich hätte ihn öfter wiederholen sollen. So würde er von mir erzählen, von Melchisedek, dem König von Salem.< Dann blickte er etwas zerknirscht gen Himmel: »Es ist alles ganz eitel, aber auch ein alter König muß manchmal stolz auf sich sein dürfen.«
14
>Wie eigenartig Afrika ist<, dachte der Jüngling. Er saß in einer Art Bar, welche vielen anderen Bars glich, die er in den schmalen Gassen der Stadt vorgefunden hatte. Einige Männer rauchten eine riesige Pfeife, die von Mund zu Mund gereicht wurde. In den wenigen Stunden seit seiner Ankunft hatte er schon eine Menge gesehen: Männer, die Hand in Hand gingen, Frauen mit verhüllten Gesichtern und Priester, die auf hohe Türme stiegen, um zu singen, während alle um sie herum sich niederknieten und mit der Stirn gegen den Boden schlugen. >Heidnische Bräuche, sagte er sich. Als Kind hatte er sich in der Kirche seines Heimatortes immer das Standbild vom heiligen Santiago von Compostela auf seinem Schimmel betrachtet, der mit gezogenem Schwert über Leute wie diese hier hinwegritt. Der Jüngling fühlte sich äußerst unbehaglich und schrecklich einsam. Die Ungläubigen sahen bedrohlich aus. Und überhaupt hatte er, in der Eile des Aufbruchs, eine Tatsache außer acht gelassen, ein einziges Detail, das ihn noch lange von seinem Schatz fernhalten könnte: In diesem Land sprachen alle Arabisch.
er Als d Barbesitzer sich näherte, deutete der Jüngling auf ein Getränk, welches an einem anderen Tisch serviert worden war. Es handelte sich um einen bitteren Tee, und viel lieber hätte er ein Glas Wein getrunken. Aber damit wollte er sich jetzt nicht belasten. Er sollte nur an seinen Schatz denken und an Mittel und Wege, ihn zu erreichen. Der Verkauf der Schafe hatte ihm eine Menge Geld eingebracht, und der Jüngling wußte, daß Geld etwas Magisches an sich hat: Mit ihm ist man nie allein. Bald, womöglich schon in wenigen Tagen, würde er bei den Pyramiden sein. Ein Alter mit so viel Gold auf der Brust hatte es bestimmt nicht nötig, ihn wegen sechs Schafen zu belügen.
Der Alte hatte von Zeichen gesprochen. Beim Überqueren des Meeres hatte er über diese Zeichen nachgedacht. Ja, er wußte, wovon die Rede war: Während jener Zeit, die er auf den Weiden Andalusiens verbracht hatte, hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, sowohl auf der Erde als auch am Himmel nach Hinweisen zu suchen, welche Richtung er einschlagen sollte. Er hatte gelernt, daß ein bestimmter Vogel die Nähe einer Schlange signalisierte, und daß ein bestimmter Busch auf Wasser in der näheren Umgebung schließen ließ. Die Schafe hatten ihn das alles gelehrt.
>Wenn Gott die Schafe so gut führt, dann wird er a uch den Menschen führen, überlegte er und beruhigte sich. Der Tee schmeckte schon weniger bitter.
»Wer bist du?« hörte er eine Stimme neben sich auf spanisch fragen. Der Jüngling fühlte sich erleichtert. Er hatte an Zeichen gedacht, und schon war jemand aufgetaucht.
»Woher kannst du Spanisch?« fragte er.
Der Neuankömmling war ein junger Mann, nach westlicher Art gekleidet, obwohl die Hautfarbe eher auf einen Einheimischen schließen ließ. Er war ungefähr so groß und so alt wie er selbst »Hier spricht beinahe jedermann Spanisch. Wir sind nur knapp zwei Stunden von Spanien entfernt.« »Setz dich und bestell dir was auf meine Rechnung«, forderte ihn der Jüngling auf. »Und für mich bestelle einen Wein. Ich hasse diesen Tee.« »Hier gibt es keinen Wein«, sagte der Neuankömmling. »Die Religion erlaubt es nicht.« Der Jüngling erzählte dann, daß er zu den Pyramiden gelangen mußte. Beinahe hätte er auch vom Schatz erzählt, aber er beschloß zu schweigen, sonst würde der Araber sicher einen Anteil haben wollen, um ihn dort hinzubringen. Er erinnerte sich an die Warnung des Alten bezüglich solcher Angebote.
»Ich möchte dich bitten, mich dorthin zu begleiten, wenn es dir möglich ist. Natürlich zahle ich dich als Reiseführer.« »Hast du denn überhaupt eine Vorstellung, wie man dort hinkommt?« Der Jüngling bemerkte, daß der Barbesitzer in der Nähe stand und dem Gespräch lauschte. Er fühlte sich gestört durch seine Anwesenheit. Aber jetzt, wo er einen Führer gefunden hatte, wollte er sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen.
»Du mußt die ganze Sahara durchqueren, und dafür brauchst du viel Geld. Ich möchte mal sehen, ob du überhaupt genug Geld bei dir hast.« Der Jüngling fand die Frage etwas befremdend. Aber er vertraute dem Alten, der behauptet hatte, daß uns das gesamte Universum unterstützt, wenn wir etwas ganz fest wollen. Also holte er sein Geld aus der Tasche und zeigte es dem Neuankömmling. Der Besitzer der Bar näherte sich, um es auch sehen zu können. Die beiden wechselten ein paar heftige Worte auf arabisch. Der Barbesitzer machte einen aufgebrachten Eindruck. »Laß uns gehen«, meinte der Neuankömmling. »Er will uns hier nicht haben.« Der Jüngling war erleichtert. Er stand auf, um die Rechnung zu begleichen, aber der Barinhaber packte ihn beim Arm und redete wild auf ihn ein. Der Jüngling war zwar kräftig, doch er befand sich in der Fremde, und so war es sein neuer Freund, der ihm aus der Patsche half, den Barkeeper beiseite stieß und ihn mit ins Freie zog.
»Er wollte dein Geld«, sagte er. »Tanger ist nicht wie das übrige Afrika. Wir sind hier in einer Hafenstadt, und in Häfen wimmelt es bekanntlich von Dieben.« Seinem neuen Freund konnte er wirklich trauen. Schließlich hatte er ihm aus einer kritischen Lage herausgeholfen. Er nahm das Geld aus der Tasche und zählte es.
»Wir können schon morgen bei den Pyramiden sein«, sagte der andere und nahm das Geld. »Aber vorher muß ich noch zwei Kamele kaufen.« Nun schlenderten sie gemeinsam durch die engen Gassen von Tanger. Überall lagen Waren aus. Endlich kamen sie an einen großen Platz, auf dem Markt war. Es gab Tausende von diskutierenden Menschen, die kauften und verkauften, Gemüse, daneben Schwerter, Teppiche zusammen mit jeder Art von Pfeifen. Aber der Jüngling ließ seinen neuen Freund nicht aus den Augen. Der hatte ja sein ganzes Geld eingesteckt. Am liebsten hätte er es zurückverlangt, aber irgendwie erschien es ihm doch unhöflich. Immerhin kannte er noch nicht die Sitten in diesem fremden Land.
>Ich brauche ihn nur zu beobachten<, beruhigte er sich, und außerdem war er kräftiger als der andere.
Da bemerkte er mit einemmal, zwischen all dem Gemüse, das herrlichste Schwert, das er je gesehen hatte. Die Scheide war silbern und der Griff schwarz, bespickt mit bunten Steinen. Der Jüngling schwor sich, dieses Schwert bei seiner Rückkehr aus Ägypten zu kaufen. »Frag mal den Händler, was es kosten soll«, wollte er sich an seinen Freund wenden, da wurde ihm bewußt, daß er jenen für zwei Sekunden aus den Augen gelassen hatte, als er das Schwert betrachtete. Sein Herz zog sich zusammen. Er hatte Angst, zur Seite zu schauen, denn instinktiv wußte er, was passiert war. Sein Blick blieb noch für einige Augenblicke an dem schönen Schwert haften, bis er Mut gefaßt hatte und sich umwandte. Um ihn herum war der Markt mit den vielen schreienden und verhandelnden Menschen, die Teppiche neben den Haselnüssen, die Salate zwischen den Silbertabletts, die Männer, die sich an den Händen hielten, die verschleierten Frauen, der Duft exotischer Speisen, aber nirgends, wirklich nirgends eine Spur seines Freundes. Zuerst wollte er noch glauben, daß sie sich versehentlich aus den Augen verloren hatten. Er blieb ein Weilchen stehen, um auf den anderen zu warten. Nach einiger Zeit stieg jemand auf einen dieser Türme und begann zu singen; alle knieten nieder, schlugen mit der Stirn gegen den Boden und sangen ebenfalls. Anschließend bauten sie, eifrigen Ameisen gleich, ihre Stände ab und verließen den Platz.
Die Sonne war schon am Untergehen. Der Jüngling sah ihr nach, wie sie langsam hinter den weißen Häusern verschwand, die den Platz säumten. Er dachte daran, daß er bei Sonnenaufgang noch auf einem anderen Kontinent war; er war ein Hirte gewesen, besaß sechzig Schafe und war mit einem Mädchen verabredet. Heute morgen auf der Weide hatte er noch einen genauen Überblick über sein Leben gehabt. Während jetzt, bei Sonnenuntergang, er sich in einem fremden Land befand, wo er nicht einmal die Sprache verstehen konnte, die hier gesprochen wurde. Er war auch kein Schäfer mehr und besaß absolut nichts mehr im Leben, nicht einmal das nötige Kleingeld, um zurückzufahren und von vorne zu beginnen.
>Das alles zwischen Sonnenauf- und -untergang<, dachte er niedergeschlagen. Und er bekam Mitleid mit sich selber, denn manchmal ändern sich die Lebensumstände innerhalb eines Augenblickes, ehe man weiß, wie einem geschieht.
Eigentlich schämte er sich zu weinen. Niemals hatte er vor seinen Schafen geweint. Aber jetzt war der Markt menschenleer, und er war fern der Heimat. Der Jüngling weinte. Er weinte, weil Gott ungerecht war und es jemandem so heimzahlte, der fest an seinen Traum geglaubt hatte. >Als ich noch bei meinen Schafen war, fühlte ich mich glücklich und verbreitete Freude in meiner Umgebung. Die Leute sahen mich gerne kommen und empfingen mich herzlich. Aber jetzt bin ich traurig und unglücklich. Was soll ich bloß tun? Ich werde verbittert sein und den Menschen mißtrauen, weil mich einer betrogen hat. Ich werde all jene hassen, die ihre verborgenen Schätze gefunden haben, weil ich meinen nicht fand. Und ich werde immer das wenige, was ich habe, festhalten, weil ich zu klein bin, die Welt zu umarmen.< Er öffnete seinen Rucksack, um nachzusehen, was er noch hatte; vielleicht war noch etwas vom Brot übriggeblieben, das er auf dem Dampfer verspeist hatte. Aber er fand nur das dicke Buch, den Mantel und die beiden Steine, die ihm der Alte gegeben hatte.
Beim Anblick der Steine fühlte er eine große Erleichterung. Er hatte sechs Schafe gegen zwei Edelsteine aus dem goldenen Brustpanzer eingetauscht. Er könnte sie verkaufen, um seine Rückfahrkarte zu lösen. >Ab jetzt werde ich schlauer sein, dachte der Jüngling bei sich und nahm die Steine aus dem Rucksack, um sie in der Hosentasche zu verstecken. Dies hier war eine Hafenstadt, und in diesem Punkt hatte der Mann ja recht gehabt; ein Hafen ist immer voller Diebe.
Jetzt verstand er plötzlich auch die Verzweiflung des Barbesitzers: Er wollte ihm nur klarmachen, daß er dem Mann nicht trauen sollte. >Ich bin wie alle Menschen: Ich sehe die Welt so, wie ich sie gerne hätte, und nicht so, wie sie tatsächlich ist.< Er betrachtete sich seine Steine, berührte sie vorsichtig, fühlte die Temperatur und die glatte Oberfläche. Sie waren sein ganzer Schatz. Die bloße Berührung der Steine vermittelte ihm mehr Gelassenheit. Sie erinnerten ihn an den Alten.
»Wenn du etwas ganz fest willst, dann wird das Universum darauf hinwirken, daß du es erreichen kannst«, hatte er gesagt. Gerne würde er verstehen, wie das gehen sollte. Er befand sich auf einem leeren Marktplatz, ohne alles Geld in der Tasche und ohne Schafe. Aber die Steine waren der Beweis dafür, daß er einem König begegnet war - einem König, der seine Lebensgeschichte kannte, der von der Waffe seines Vaters wußte und von seiner ersten sexuellen Erfahrung. »Die Steine dienen zur Vorhersage. Sie heißen Urim und Thummim.« Der Jüngling verstaute sie wieder im Rucksack und wollte es einmal ausprobieren. Der Alte hatte gesagt, man müsse klare Fragen stellen, denn die Steine nützen nur, wenn man weiß, was man will. Also fragte er, ob der Segen des Alten noch bei ihm sei. Er entnahm einen Stein. Die Antwort war ja.
»Werde ich meinen Schatz finden?« fragte er weiter. Wieder steckte er die Hand in den Rucksack, um einen Stein herauszuholen, als beide durch ein Loch zu Boden fielen. Der Jüngling hatte noch gar nicht bemerkt, daß sein Rucksack aufgerissen war. Er bückte sich, um Urim und Thummim wieder aufzuheben. Als er sie jedoch so auf dem Boden liegen sah, kam ihm ein weiterer Satz des Alten ins Bewußtsein. »Lerne die Zeichen zu erkennen und folge ihnen«, hatte der alte König gesagt.
Dies war sicherlich wieder ein Zeichen. Der Jüngling lachte erleichtert auf. Dann nahm er die Steine und verstaute sie im Rucksack. Er würde ihn nicht flicken, die Steine sollten ruhig herausfallen, wann immer sie wollten. Er hatte begriffen, daß man gewisse Dinge nicht fragen soll, um seinem Schicksal nicht auszuweichen. >Außerdem habe ich mir vorgenommen, meine eigenen Entscheidungen zu treffen<, erinnerte er sich. Immerhin hatten ihm die Steine gesagt, daß der Alte noch bei ihm sei, und das gab ihm mehr Vertrauen. Er blickte wieder über den leeren Marktplatz, aber nun fühlte er nicht mehr die Verzweiflung von vorher. Es war keine fremde Welt, sondern eine neue. Schließlich war es genau das, was er immer gewollt hatte: neue Welten kennenlernen. Selbst wenn er die Pyramiden niemals erreichen würde, so war er doch schon viel weiter herumgekommen als jeder andere Hirte, den er kannte. Ach, wenn sie wüßten, daß es zwei Seestunden entfernt so viele exotische Dinge gab. Die neue Welt zeigte sich ihm jetzt als ein leerer Marktplatz, aber er hatte diesen Markt auch schon voller Aktivitäten erlebt und würde es nie mehr vergessen. Nun erinnerte er sich an das Schwert - es war wirklich ein hoher Preis, den er fürs Betrachten zahlen mußte, aber er hatte vorher auch noch nie etwas Ähnliches gesehen. Plötzlich erkannte er, daß er die Welt entweder mit den Augen eines armen, beraubten Opfers sehen konnte oder aber als Abenteurer, auf der Suche nach einem Schatz. >Ich bin ein Abenteurer auf dem Weg zu meinem Schatz<, dachte er noch, bevor er erschöpft einschlief.
15
Er wachte auf, als ihn jemand anstieß. Er war mitten auf dem Marktplatz eingeschlafen, der sich nun wieder belebte. Verstört schaute er sich nach seinen Schafen um, bis er merkte, daß er sich in einer anderen Welt befand. Aber anstatt traurig zu sein, fühlte er sich glücklich. Nun brauchte er nicht mehr nach Wasser und Nahrung zu suchen; nun konnte er einen Schatz suchen. Er hatte zwar kein Geld in der Tasche, aber er glaubte an das Leben. Am Vorabend hatte er sich entschieden, ein Abenteurer zu sein, wie die Helden in den Büchern, die er las. Ohne Eile spazierte er über den Platz. Die Händler bauten ihre Stände auf; er half einem Süßwarenhändler dabei. Auf dem Gesicht des Händlers lag ein zufriedenes Lächeln: Er war fröhlich, offen fürs Leben und bereit, einen guten Arbeitstag zu beginnen. Dieses Lächeln erinnerte ihn irgendwie an den Alten, diesen geheimnisvollen König, der ihm begegnet war. >Dieser Händler macht sicher kein Zuckerwerk, weil er eines Tages reisen will, oder weil er die Tochter eines Kaufmannes heiraten will. Er stellt seine Leckereien her, weil er es gerne tut<, überlegte der Jüngling und bemerkte, daß er dasselbe tun konnte wie seinerzeit der Alte - erkennen, ob eine Person nahe oder weit von ihrem persönlichen Lebensweg entfernt war. Nur so vom Ansehen. >Es ist so einfach, aber ich habe es noch nie bemerkt.< Als der Stand fertig aufgebaut war, reichte ihm der Händler die erste
s Süßigkeit, die er zubereitet hatte. Der Jüngling ließ e sich schmecken, dankte und zog seines Weges. Als er sich schon etwas entfernt hatte, fiel ihm erst auf, daß der Stand von einer arabisch und einer spanisch sprechenden Person aufgebaut worden war. Und sie hatten sich bestens verständigt.
>Es gibt eine Sprache, die jenseits der Worte steht<, dachte er. >Das konnte ich früher schon mit den Schafen erleben und fetzt auch mit den Menschen.< Er lernte verschiedene neue Dinge. Dinge, die er bereits erlebt hatte, die ihm dennoch neu erschienen, weil er sie damals unbeachtet ließ. Und er hatte sie nicht beachtet, weil er an sie gewöhnt war. »Wenn ich diese Sprache ohne Worte zu entziffern lerne, dann gelingt es mir auch, die Welt zu entziffern.« »Alles ist in Einem«, hatte der Alte gesagt.
Er beschloß, ohne Hast und ohne Unruhe durch die schmalen Straßen von Tanger zu schlendern: Nur so würde er die Zeichen bemerken. Das verlangte eine Menge Geduld, aber genau das ist die erste Tugend, die ein Hirte lernt. Wieder fiel ihm auf, daß er in dieser fremden Welt die Lektionen anwandte, die ihn seine Schafe gelehrt hatten.
»Alles ist in Einem«, hatte der Alte gesagt.
16
Der Kristallwarenhändler sah die Sonne aufgehen und empfand die gleiche Beklemmung wie an jedem Morgen. Seit beinahe dreißig Jahren war er nun schon am selben Ort, in einem Laden am oberen Ende einer ansteigenden Straße, wo nur noch selten ein Kunde vorbeikam. Jetzt war es zu spät, um noch etwas ändern zu wollen: Alles, was er im Leben gelernt hatte, war, Kristallglas zu kaufen und zu verkaufen. Es gab eine Zeit, als viele Leute sein Geschäft besuchten, arabische Händler, englische und französische Geologen, deutsche Soldaten, alle mit Geld in der Tasche.?.
Zu jener Zeit war es ein tolles Abenteuer, Gefäße aus Kristallglas zu verkaufen, und er freute sich darauf, ein reicher Mann zu werden und im Alter von schönen Frauen umgeben zu sein.
Doch die Zeit verstrich, die Stadt Ceuta wuchs mehr als Tanger, und der Handel ging andere Wege. Die Nachbarn waren fortgezogen, und nur wenige Läden blieben am Berghang zurück. Und wer kam schon wegen einiger weniger Geschäfte eigens den Hang hinauf? Aber der Kristallwarenhändler hatte keine Wahl. Dreißig Jahre seines Lebens kaufte und verkaufte er Kristallglas, und nun war es zu spät, andere Wege zu gehen.
Während des ganzen Vormittags schaute er dem wenigen Betrieb auf der Straße zu. Das machte er schon seit Jahren, und so kannte er den Rhythmus eines jeden. Wenige Minuten vor der Mittagspause blieb ein junger Ausländer vor seinem Schaufenster stehen. Er war normal gekleidet, aber der Kristallwarenhändler erkannte mit kundigem Blick, daß jener kein Geld hatte. Dennoch beschloß der Händler, nach innen zu gehen und noch einen Moment abzuwarten, bis der Jüngling weitergezogen wäre.
17
Ein Schild an der Tür besagte, daß man hier d iverse Sprachen spreche. Der Jüngling sah einen Mann hinter dem Ladentisch auftauchen. Ich kann diese Gefäße putzen, wenn Ihr möchtet«, sagte der Jüngling. »So, wie sie jetzt sind, wird sie niemand kaufen wollen.« Der Händler sah ihn an, ohne etwas zu sagen.
»Als Gegenleistung zahlt Ihr mir einen Teller zu essen.« Der Mann blieb stumm, und der Jüngling fühlte, daß er eine Entscheidung fällen mußte. In seinem Rucksack war der Mantel, und in der Wüste würde er ihn sicher nicht mehr brauchen. Also holte er ihn heraus und begann, damit die Gläser und Vasen zu säubern. Innerhalb einer halben Stunde hatte er alle Gefäße aus dem Schaufenster gereinigt; während dieser Zeit waren zwei Kunden gekommen und hatten dem Händler einige Kristallgläser abgekauft.
Als er alles gesäubert hatte, bat er erneut um Nahrung. »Laß uns zusammen essen gehen«, sagte der Kristallwarenhändler. Er hängte ein Schild vor die Tür, und sie gingen zu einer winzigen Bar, oben am Berghang. Als sie am einzigen Tisch Platz genommen hatten, begann der Händler zu lächeln.
»Du hättest gar nichts putzen müssen«, meinte er. »Das Gebot des Korans verpflichtet uns, Hungrige zu speisen.« Und warum hast du's mich dann tun lassen?« fragte der Jüngling. »Weil die Gefäße schmutzig waren. Und wir beide, sowohl du als auch ich, mußten unsere Köpfe von schlechten Gedanken reinigen.« Als sie mit Essen fertig waren, wandte sich der Händler an den Jüngling: »Ich möchte, daß du für mich arbeitest. Heute kamen zwei Käufer, während du die Gläser geputzt hast, und das ist ein gutes Zeichen.« >Die Menschen sprechen so viel von Zeichen, dachte der Hirte. >Aber es ist ihnen gar nicht bewußt, was sie sagen. So wie es mir auch nicht bewußt war, daß ich mich mit den Schafen seit langem schon in einer Sprache jenseits der Worte v erständigt habe.< »Willst du für mich arbeiten?« beharrte der Händler. »Ja, ich kann den Rest des Tages arbeiten«, antwortete der Jüngling. »Bis zum Morgengrauen werde ich sämtliche Kristallgefäße des Geschäft es gereinigt haben. Dafür möchte ich dann das nötige Geld, um noch morgen nach Ägypten zu kommen.« Nun mußte der Kristallwarenhändler lachen.
»Selbst wenn du meine Gläser ein Jahr lang polieren würdest, selbst wenn du eine gute Verkaufsprovision bekämst, dann müßtest du immer noch zusätzlich Geld leihen, um nach Ägypten zu gelangen. Zwischen Tanger und den Pyramiden liegen Tausende von Wüstenkilometern.« Da kehrte einen Augenblick lang eine Stille ein, als sei die Stadt in tiefen Schlaf versunken. Es gab keine Bazare mehr, keine diskutierenden Händler, keine Männer, die auf ihren Minaretten sangen, keine prachtvollen Schwerter mit verzierten Griffen. Es gab keine Hoffnung mehr und kein Abenteuer, keine alten Könige und persönlichen Lebenspläne, keinen Schatz und keine Pyramiden. Es war, als schweige die ganze Welt, weil die Seele des Jünglings verstummt war. Es gab keinen Schmerz, kein Leiden, keine Enttäuschung: nur einen leeren Blick hinaus durch die offene Bartüre und eine große Sehnsucht zu sterben, den Wunsch, daß alles in dieser Minute ein Ende hätte.
Der Händler schaute besorgt auf den Jüngling. Es war, als ob die ganze Lebensfreude, die er ihm an diesem Morgen angesehen hatte, plötzlich verschwunden war.
»Ich kann dir Geld geben, damit du in deine Heimat zurückkehren kannst, mein Sohn«, sagte der Händler beschwichtigend.
Der Jüngling blieb stumm. Dann stand er plötzlich auf, richtete seine Kleider und nahm seinen Rucksack.
»Ich werde für Sie arbeiten«, sagte er. Und nach einer weiteren Pause fügte er hinzu: »Ich brauche Geld, um einige Schafe zu kaufen.«