2. Kapitel
Minnie war verwirrt, aufgebracht und daher dankbar, daß weder Rupe noch Hannah auf eine Erklärung gedrängt hatten. Sie war sich nicht ganz im klaren über das Gehörte, da sie auch nach all den Jahren im Dienst der Weißen deren Sprache nicht vollkommen beherrschte.
Nicht Rupe, sondern Hannah und Victor waren ihr von all den Bewohnern des großen Hauses am liebsten. Die Köchin behandelte sie gut und schenkte ihr oft Essensreste, die sie ins Lager zu ihrer Familie mitnehmen konnte. Victor verhielt sich immer freundlich, obwohl er ein Boß wie sein Vater geworden war.
Als sie mit Bobbo, dessen richtiger Name Bobburah lautete, schwanger gewesen war, hatte sie einen Eklat verursacht, weil sie sich weigerte, den Namen des Vaters preiszugeben. Er war Viehhüter gewesen und hatte ihr mit Schlägen gedroht, wenn sie ihn verriet. Zu ihrem Entsetzen mußte sie erfahren, daß man statt seiner Mr. Victor verdächtigte, nur weil er ihr Freund war. Sie waren gemeinsam aufgewachsen. Minnie konnte den Weißen ja schlecht erklären, daß sich weder Victor noch Harry je den schwarzen Frauen näherten. Rupe hingegen schon. Er war ein Schwerenöter, der ständig schwarzen Mädchen hinterherjagte und sich nachts im Lager herumtrieb. Alle waren erleichtert, als es hieß, er würde in die Stadt gehen, aber dann wurde doch nichts daraus. Nachdem er aus der Schule zurückgekehrt war, blieb er auf Springfield.
Minnie hatte gedacht, Victor sei wegen ihrer Sturheit böse mit ihr, doch er hatte nur gelacht. »Was trägst du denn da mit dir herum, Min? Schwarz oder Weiß?«
»Klein Baby kommen«, hatte sie errötend geantwortet, um sich nicht festlegen zu müssen. Zu ihrer Erleichterung gebar sie ein wunderbar schwarzes Baby, das von ihrer Familie ohne die üblichen Probleme, die die Geburt von Mischlingen gewöhnlich aufwarf, angenommen wurde. Inzwischen hatte der Viehhüter die Farm verlassen, also hatte sich das Problem von selbst erledigt.
Minnie hieß in Wirklichkeit Moomabarrigah und war eine Cullya vom Emu-Volk. Der Clan ihrer Mutter gehörte zum großen Kamilaroi-Stamm, der einst das ganze Land hier bevölkert hatte, vom tiefen Süden bis zu den blauen Gipfeln, hinter denen die Sonne unterging. Allerdings hatte sich das Volk der Kamilaroi in alle Winde zerstreut. Minnies Vater war beim Überfall auf eine Gruppe weißer Jäger getötet worden. Es hieß, er sei ein Abtrünniger gewesen, der eine schlechte Horde anführte, was seine Verwandten jedoch bestritten. Manchmal wünschte Minnie, es sei wahr. Anders als ihre Schwester Nioka war sie schüchtern und stellte sich ihren Vater gern als großen Krieger und Kämpfer vor. Sie hoffte, er sei ein Abtrünniger gewesen, der es den weißen Leuten heimgezahlt hatte.
Nach seinem Tod war das Leben für die Cullya schwierig geworden. Viele zogen nach Norden in die heißen Länder, um bei entfernten Stämmen Zuflucht zu suchen; andere verschlug es in die Städte der weißen Menschen, doch Minnies engste Familie und Freunde versuchten, in der vertrauten Gegend zurechtzukommen. Leider war das kaum noch möglich, da die Weißen sie immer weiter wegtrieben, um Platz zu schaffen für ihre Familien und ihr Vieh.
Schließlich traf Minnies Mutter nach langwierigen Auseinandersetzungen die Entscheidung, ›hineinzugehen‹. Ihr Name durfte nun nicht mehr erwähnt werden, weil sie letzten Sommer gestorben war. Sie war eine starke, muskulöse Frau mit einer lauten Stimme gewesen, und der weiße Mann erkannte bald, wer in dieser Horde das Sagen hatte.
Sie war allein vor Mr. Broderick hingetreten und hatte verlangt, daß man ihnen gestattete, ein ständiges Lager an der Flußbiegung aufzuschlagen, in angemessener Entfernung von seinem Haus. Im Gegenzug würde sie dafür sorgen, daß es keine Kämpfe, toten Schafe oder Lagerdiebstähle mehr geben würde.
Und so schlossen sie einen Pakt. Er erklärte sich sogar bereit, den ungefähr fünfzig Menschen der Cullya-Horde zwei Schlachtschafe pro Monat und gelegentliche Rationen Tee, Mehl und Tabak zu überlassen, falls sie sich gut benahmen.
Allerdings lief es nicht immer glatt. Oft genug hörten die Mädchen die lautstarken Auseinandersetzungen zwischen Mr. Broderick und ihrer Mutter, wenn diese ihre Leute um jeden Preis verteidigte, die schwere Kriegskeule in seine Richtung schwang und verlangte, er solle seine Männer von den schwarzen Frauen fernhalten. Er schrie zurück und drohte damit, die gesamte Horde von seinem Besitz zu vertreiben, was ihre Wut nur noch weiter anstachelte. Sie war eine wilde Frau, beinahe so groß wie er, und nicht bereit, klein beizugeben, zumal sie fand, daß er alles in allem ein guter Mensch war, sofern das bei Weißen überhaupt möglich war.
Irgendwann setzten sie sich nieder, rauchten und redeten und lachten schließlich – zur Verwunderung der übrigen Horde, die sich unter den Bäumen versammelt hatte in der Befürchtung, bald nun auch von ihrem letzten Lagerplatz vertrieben zu werden.
Nur Minnie und Nioka wußten um die Tiefe der Verzweiflung, die im Herzen ihrer Mutter wohnte. Als sie auf Wanderschaft gingen, um die alten Gebote zu erfüllen und den geheiligten Stätten einen Besuch abzustatten, begriff sie, wie unmöglich es allmählich wurde, ihre Lebensweise aufrechtzuerhalten. Heilige Orte fanden sie entweiht vor, Land, auf dem sie früher Nüsse und Honig gefunden hatten, war gerodet worden, die großen Emu-Herden wurden vertrieben. Letzteres tat mehr weh als alles übrige. Emus waren ihr unberührbares Totem, dem nie ein Leid zugefügt werden durfte, und mit ihrer Zahl schwand auch ihre eigene Stärke dahin. Von da an kümmerte sich die Mutter immer weniger um ihre elende Lage und verbrachte ihre letzten Tage mit Fischen und Tagträumerei.
Als sie im Sterben lag, kam Mr. Broderick allerdings, um seinen Respekt zu bezeugen. Er stand neben der Hütte Wache, während ihre Familie trauerte und das Leben mehr und mehr aus ihr wich.
Sein Erscheinen hatte Minnie beeindruckt, ganz im Gegensatz zu Nioka. Diese glich mehr ihrer Mutter, war temperamentvoll, herrisch, eine Kämpfernatur. Sie wollte ihn nicht im Lager dulden.
»Er war nicht eingeladen«, schrie sie. »Wie kann er es wagen, sich einzumischen! Seine Leute haben ihr Herz getötet.«
»Respekt, Nioka, er bezeugt seinen Respekt.«
»Wir brauchen seinen Respekt nicht. Du sagst das nur, weil du für ihn arbeitest. Du willst deinen blöden Job nicht verlieren.«
»Das ist nicht wahr.«
Minnie ging aus der Küche in den Vorratsschuppen, wo sie einen großen Kürbis aussuchte, ihn auf eine Bank legte und mit einer kleinen Machete geschickt in vier Teile hackte. Sie seufzte, zögerte ihre Rückkehr ins Haus noch ein wenig hinaus. Sie fragte sich, ob sie damals nicht doch anders darüber gedacht hätte, wenn es ihr nicht darum gegangen wäre, ihren Job zu behalten.
Mrs. Broderick hatte Minnie zum Arbeiten ins Haus geholt, als sie zwölf war. Zunächst war es ihr schwergefallen, sich im Haus und in der fremden Sprache zurechtzufinden, doch sie hatte sich sehr viel Mühe gegeben und machte inzwischen nur noch selten Fehler. Im Laufe der Jahre waren andere Mädchen gekommen und gegangen, doch Minnie war am längsten geblieben. Sie hatte einen festen Platz gefunden und lebte gern in zwei Welten. Zwei schwarze Mädchen arbeiteten als Hausmädchen, doch Minnie gefiel es in der Küche am besten. Sie kam gut mit der Köchin aus, die ihre Arbeit zu schätzen wußte.
Nioka hingegen hatte sich geradeheraus geweigert, für die Weißen zu arbeiten. Sie kümmerte sich zwar gern um den kleinen Teddy, weil sie ihn mochte und er einen guten Spielgefährten für ihren und Minnies Sohn abgab, doch niemand konnte sie dazu bringen, bei ihnen in Stellung zu gehen, wie man es hier nannte. Sie spielte mit den drei kleinen Jungen in der Nähe des Hauses oder nahm sie mit ins Lager zum Schwimmen, und die Broderick-Leute akzeptierten das. Sie wußten, daß die Schwarzen Teddy sehr liebten und dem weißhaarigen Jungen unter den Augen so vieler Menschen nichts geschehen würde.
Bedrückt kehrte Minnie mit den Kürbisvierteln und einer Emailleschüssel voller Bohnen in die Küche zurück.
Was würde Nioka dazu sagen?
Hannah war beschäftigt und beachtete Minnie nicht weiter, die den Kürbis schälte und die Bohnen mit einem kleinen Messer oder, wenn ihr die Köchin den Rücken kehrte, auch mal mit den Zähnen abzog.
Was genau hatte sie eigentlich gehört, als sie den Teetisch abräumte? Minnie war sich nicht ganz sicher. Sie war mit den Tabletts hin- und hergelaufen und hatte nur Gesprächsfetzen aufgeschnappt. Zudem sprachen der Betmann und seine Missus in Singsangstimmen, nicht geradeheraus wie die anderen, so daß sie sie vielleicht nicht richtig verstanden hatte. Das kam oft genug vor. Doch sie hatten bestimmt davon gesprochen, die Kinder mitzunehmen. Die schwarzen Kinder. Teddy nicht.
Sie wußte, daß alle Broderick-Jungs zur Schule fortgeschickt wurden, wenn sie alt genug dazu waren. Teddy würde vermutlich mit zwölf Jahren hingehen. Doch sie hatte deutlich gehört, wie der Mann von Sechsjährigen sprach, denn Mrs. Broderick hatte es noch einmal wiederholt.
Sechs? Minnie erschauderte. Ihr Junge war sechs. Jagga war knapp sieben. Und es gab im Lager noch andere Kinder dieses Alters. Minnie hätte vor Angst schreien mögen.
»Du träumst wieder vor dich hin, Missy«, sagte Hannah. »Mach weiter. Du mußt auch noch Äpfel schälen, und danach kannst du mir Milch und Käse aus der Molkerei holen.«
Hoch oben auf einer Klippe über dem Ozean saß ein sehr alter Mann. Sein Haar war mit Bienenwachs und Muscheln zu einem hohen Kegel frisiert. Um seinen Hals hing eine Kordel mit einem gefährlich aussehenden Krokodilzahn. Sein dunkler, knochiger Körper war nur mit einem Lendenschurz bekleidet, doch das dichte Netz aus Narben auf seiner Haut erweckte beinahe den Eindruck eines Kleidungsstücks. Auf den ersten Blick wirkte er schwach und hilflos, ein Opfer seines hohen Alters, doch sobald er die Augen öffnete, war dieser Eindruck verschwunden. Moobuluk brauchte sie nicht mit der Hand vor dem grellen Sonnenlicht zu beschirmen; sie leuchteten braun und hell, wachsam wie die Augen eines weit jüngeren Mannes.
Neben ihm lag ein dreibeiniger Dingo ausgestreckt. Das Tier hatte einst vor der Wahl gestanden, in der Falle eines Weißen zu sterben oder sein eigenes Bein abzubeißen. Der Dingo hatte sich fürs Weiterleben entschieden. Nachdem er feststellen mußte, daß er nicht länger der Anführer seines Rudels war, hatte er sich diesem Menschen angeschlossen, den man anscheinend ebenfalls zum Sterben zurückgelassen hatte.
Doch der Dingo hatte sich geirrt, gründlich geirrt. Moobuluk war nicht nur einer der angesehensten Ältesten des Emu-Volkes, man hatte ihm auch große Verantwortung übertragen. Das Träumen hatte ihn tiefer und tiefer in die unergründlichen Geheimnisse und Mysterien seiner Rasse geführt. Nun war er der berühmteste Zauberer auf dieser Seite des Kontinents und hatte alle seine Lehrmeister überlebt. Moobuluk war viele Jahre lang weit über die Grenzen seines heimatlichen Kamilaroi-Landes hinaus gereist, hatte die Anführer unzähliger Stämme getroffen – darunter die weisen Jangga, die seltsamen Manganggai und die wilden Warungas – und sich mit ihnen beraten, weil er so viele Sprachen beherrschte und als guter Zuhörer bekannt war. Vor allem aber hieß man ihn willkommen, weil seine Kräfte sehr gefürchtet waren und niemals unterschätzt werden durften.
An diesem Tag blickte er traurig auf das leuchtende Blau des Ozeans hinaus, unter dem sich, wie er wußte, ein Riff verbarg, dessen Farben jeden Regenbogen in den Schatten stellten. Dies war sein liebster Ort auf der ganzen Welt.
Er hatte ein ganzes Leben voller Zuhören und Lernen benötigt, um seine eigenen Geheimnisse zu ergründen, doch war seine Lebensspanne lächerlich kurz, verglichen mit den Äonen, die es die winzigen Polypen gekostet hatte, ihren unzerstörbaren Unterwasserschatz zu errichten. Es lehrte einen Demut, die Zeit in diesem Zusammenhang zu betrachten. Und amüsant war es auch. Und erfreulich. Er war umgeben von üppigen Farben, vom Blau des Meeres, leuchtend wie die blauen Steine, die er weit drinnen im trockenen Land gefunden hatte, bis zum weicheren Blau des weiten Himmels und dem reichen Grün der dampfenden Bergwälder, die von einer erstaunlichen Vielfalt bunt gefiederter, frecher Vögel bewohnt wurden.
Es schmerzte ihn, diesen Ort zu verlassen, doch der Wind hatte ihm zugetragen, daß man ihn anderswo brauchte. Doch wohin sollte er sich in diesen Zeiten wenden? Die weißen Eindringlinge verursachten so viel Leid, so viel Verzweiflung, daß er sein eigenes Gefühl der Hoffnungslosigkeit kaum unterdrücken konnte. Er vermochte die Gezeiten nicht aufzuhalten; das Schicksal hatte die alte Ordnung zerstört und … durch was ersetzt? Moobuluk fand die Antworten nicht in seinem reichen Erfahrungsschatz, denn dessen Struktur basierte auf den Erfahrungen von tausend Leben, die an Männer wie ihn weitergegeben wurden. Die weißen Männer waren nicht Teil der Traumzeit, ebensowenig wie ihre Tiere oder die seltsamen Pflanzen, die sie eingeführt hatten. Daher fehlte ihm die Grundlage für seine Arbeit …
Er kratzte sich am Bauch und sah auf den Hund hinab. »Die Jangga-Leute rufen nach mir, aber ich kann nicht zu ihnen gehen, weil den Cullya-Leuten Schwierigkeiten bevorstehen.« Das ärgerte ihn ein wenig. Offensichtlich waren die Probleme der Jangga sehr viel schwerwiegender als die der kleinen Horde im Süden. Die Cullya waren unter der Führung seiner Urenkelin ›hineingegangen‹ und hatten sich auf einer Schaffarm angesiedelt. So schlimm konnte es ihnen da gar nicht ergehen.
Doch die nagende Sorge blieb. Irgend etwas stimmte nicht, das verriet ihm der Wind, der vom großen Fluß heranwehte. Und sie gehörten zur Familie. Zu seiner unmittelbaren Familie. Es war seine Pflicht, ihrem Ruf zu folgen.
Moobuluk freute sich nicht gerade auf die Rückkehr in sein Heimatterritorium. Obwohl dort inzwischen Frieden herrschte, bedrückten ihn die Erinnerungen an seine Kindheit am Großer-Mann-Fluß und das Wissen, daß diese glückliche Art zu leben seinen Nachkommen verwehrt war. Es tröstete ihn wenig, daß die Horde, die nun nach Brodericks Gesetzen lebte, ihr Los akzeptiert hatte und sogar vorgab, damit zufrieden zu sein. Er selbst trauerte der althergebrachten Lebensweise nach, und es tat ihm weh, sie immer schneller verschwinden zu sehen.
Oh ja, er kannte Broderick. Und er hatte auch den anderen gekannt, den, der Kelly hieß. Sie waren die ersten weißen Männer gewesen, die ohne Erlaubnis das Land der Cullya betraten. Nicht, daß je ein Weißer um Erlaubnis gebeten hätte, aber mit diesen ersten Schritten verstießen sie gegen Stammesrecht. Die friedfertigen Cullya waren zunächst nur neugierig gewesen; als ihnen jedoch dämmerte, daß sich die Weißen bei ihnen häuslich niederlassen wollten, hatten sie vergeblich versucht, sie zu vertreiben. Sie hatten sie belästigt, ihre Schafe getötet, Buschbrände gelegt, ihr Essen gestohlen – gutes Essen, wie sich Moobuluk grinsend erinnerte –, aber dennoch waren immer mehr weiße Männer gekommen.
Schließlich hatten sie angegriffen. Zum ersten Mal sahen sie sich der Macht von Schußwaffen gegenüber. Nach wenigen Minuten war alles vorbei – es gab sechs Tote und mehrere Verwundete. In tiefem Entsetzen suchten sie Deckung im Buschland und mußten sich dem Unausweichlichen fügen. Es war die erste und letzte offene Schlacht gegen Broderick gewesen.
Es folgten wochen- und monatelange Beratungen mit den Ältesten, es wurde hin und her argumentiert, während immer mehr Weiße mit ihren riesigen Herden eintrafen, Herden von Tieren, die nicht in dieses Land gehörten. Schließlich entschied man, die Waffen der Eindringlinge seien zu mächtig; es sollte daher keine Angriffe mehr geben, dafür aber um so mehr Vergeltungsschläge.
Moobuluk, der damals schon zu den Ältesten gezählt wurde, war den beiden Weißen Tag und Nacht gefolgt und hatte ihr Verhalten studiert.
Er meldete sich zu Wort, nachdem beschlossen worden war, daß sich die Vergeltung gegen diese beiden Männer richten sollte.
»Nein, wir nehmen nur einen von ihnen. Ein ritueller Tod, damit der andere weiß, daß wir ihn ebenso leicht hätten umbringen können. Der große Kerl mit dem weißen Haar ist ruhiger, ein Mann, der nachdenkt, laßt ihn leben. Wer wird ihnen nachfolgen, wenn wir beide töten? Womöglich ein Boß, der noch brutaler ist als sie.«
Und so geschah es.
Nach dem Vergeltungsschlag, bei dem sie einen der Bosse mit dem Speer aufgespießt hatten, verließen die beiden Männer, die man zur Ausführung des Rituals bestimmt hatte, die Gegend. Kurz darauf brach der Tumult los: Berittene überfielen die Lager, manche wollten jeden Schwarzen töten, selbst die Frauen und Kinder, doch Broderick hielt sie zurück. Die Ältesten erklärten, die Schuldigen seien nicht mehr da. Zur Strafe forderte er, daß weitere zwanzig junge Männer sein Land für immer verlassen müßten.
Wie Broderick vorausgeahnt hatte, brachte dies großen Schmerz über die Leute, doch er blieb unbeugsam. Seine Vergeltung dezimierte den Clan, kostete aber immerhin niemanden das Leben.
Moobuluk war dort gewesen, als seine Verwandte starb, die Mutter der beiden Mädchen. Sie hatte ihn zu sich gerufen, als sie in den Traum entglitt, und er war an ihrer Seite aufgetaucht, um ihr den Weg zu weisen. Die alten Männer in der Sterbehütte hatten ihn erkannt und waren stolz gewesen, daß die Frau einen so mächtigen Mann herbeirufen konnte. Dennoch setzten sie unbeirrt ihre Gesänge fort.
Er hatte Broderick erkannt, der hinter den weinenden Frauen zwischen den Bäumen stand und seinen Respekt bezeugte. Befriedigt hatte er genickt, erleichtert, vor so langer Zeit den richtigen Mann ausgewählt zu haben, doch er ging nicht zu ihm hin. Moobuluk trat nur selten mit weißen Männern in Kontakt. Es hatte keinen Sinn und war auch nicht erforderlich. Er verstand ihre Sprache – das war genug.
Er schlenderte ans Ufer und sah hinaus auf seinen geliebten Fluß. Als seine Urenkelin hinüberging, heulte der Dingo klagend auf. Moobuluk verschwand wieder in die Nacht, ebenso lautlos, wie er gekommen war.
Draußen auf dem blauen Meer konnte er ein großes Schiff mit Segeln wie Flügel erkennen und bestaunte seine Anmut, doch dann wandte er sich zögernd ab. Die Pflicht rief.
Austin Broderick erwartete Rupe und seinen Bruder bereits. Sie setzten sich an einen Tisch, der über und über mit Gebietskarten bedeckt war. »Wir beginnen hier.«
»Womit beginnen wir?« fragte Rupe.
»Damit, Springfield zu retten.«
»Wovor?«
»Jesus Christus! Muß ich etwa alles wiederholen? Victor, hast du ihm die Situation nicht erklärt?«
»Ich sagte ihm, du hättest Angst, daß sich die Siedler die besten Stücke aus Springfield herausschneiden könnten.«
»Angst! Wer sagt, ich hätte Angst? Die Siedler sollten lieber Angst haben.«
Victor schüttelte den Kopf. »Du hörst mir nie richtig zu. Ich sage dir doch, die Selektionsgesetze, wie sie die Landvergabegesetze jetzt nennen, werden niemals verabschiedet werden. Die haben nicht die geringste Chance.«
»Und wenn doch?« fragte Rupe. Sein Vater schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Genau! Was wenn doch? Dann gibt es einen Ansturm auf Land, der dem Goldrausch in nichts nachstehen wird. Land ist immerhin eine sichere Sache. Und darüber sprechen wir hier. Habt ihr irgendwelche Vorschläge?«
»Klar.« Rupe grinste. »Wir vertreiben sie. Ein paar Schüsse in den Hintern werden die Siedler schnell eines Besseren belehren.«
»Sollte es wirklich jemals ein solches Gesetz geben, dann würdest du es damit brechen«, sagte Victor wütend.
»Na und?« schnaubte sein Vater. »Es ist mein Land. Die einzige Alternative, um Springfield in seiner gegenwärtigen Form zu erhalten, wäre, das Pachtland zu kaufen. Und das kann ich mir nicht leisten.«
Rupe stand auf und streckte sich. »Natürlich kannst du das. Verwandle alles in Eigenbesitz, und wenn du mehr Geld brauchst, leihst du es dir eben. Du stehst dich doch gut mit den Banken.«
»Etwas ähnlich Dummes hatte ich auch von dir erwartet«, versetzte Victor spitz. »Du hast doch gehört, daß Daddy es sich nicht leisten kann. Wir würden uns auf mehrere Generationen hinaus verschulden.«
Austin beachtete ihren Streit nicht. »Es gibt zwei Ansatzmöglichkeiten. Entweder wir beschäftigen Grenzreiter, die Eindringlinge fernhalten, oder wir fangen an, die besten Stücke Land abzustecken.« Er erklärte, daß diese Weidegebiete geortet und kartographiert werden müßten. »Auf diese Weise können wir die Siedler vom lebenswichtigen Wasser abschneiden und den Lumpen, die unbedingt etwas von uns haben wollen, das kümmerliche, felsige Land überlassen.«
»Du redest, als sei es schon Wirklichkeit«, wandte Victor ein. »Es ist kein feststehender Beschluß, sondern das Wunschdenken der Siedler, die eine günstige Gelegenheit wittern.«
»Nicht zu Unrecht«, warf Rupe ein. »Wir müssen einfach feststellen, welches unsere besten Weidegründe sind.«
»Das dürfte kein Problem sein«, sagte Austin. »Ich habe die Karten hier. Wir kennen dieses Land, sie nicht. Wir fangen gleich an. Victor, hol ein paar Stifte. Und einen Radiergummi.«
»Jetzt?« fragte Rupe. »Warum denn jetzt? Wir haben jede Menge Zeit.«
»Wer sagt das? Ich nicht.«
»Aber das kann die ganze Nacht dauern.«
»Meinetwegen soll es die ganze Woche dauern. Wir arbeiten die Karten hier durch, dann reitet ihr hinaus und steckt die Grenzen ab, damit sich die Vermesser an die Arbeit machen können.«
Als Charlotte hereinkam, um sie ans Abendessen zu erinnern, fand sie alle drei über Landkarten gebeugt vor, provisorische Linien ziehend.
»Unsere Gäste warten.«
Austin war so in seine Pläne vertieft, daß er kaum den Kopf hob. »Fangt schon mal an. Wir haben zu tun.«
»Aber euer Essen wird kalt.«
Er drehte sich auf seinem Stuhl herum. »Hast du nicht gehört? Wir essen später.«
Charlotte sah ihre Söhne an. Als von ihnen keine Antwort kam, zog sie sich zurück.
Wütend sagte sie Hannah Bescheid, die davon ebensowenig begeistert war, und führte die Gäste ins Speisezimmer, wo sich Louisa zu ihnen gesellte.
»Wo sind die Männer?« erkundigte sich ihre Schwiegertochter.
»Sie essen später.«
»Wieso?«
»Sie haben zu tun.«
Louisa wandte sich zur Tür. »Das werden wir ja sehen!«
»Das würde ich lieber nicht tun.« Sie verstand die Warnung und ließ sich mit einem gereizten Seufzen am Tisch nieder.
»Dann werde ich das Gebet sprechen«, verkündete Reverend Billings.
Amy saß während des Essens brav neben ihrem Ehemann. Die Mahlzeit war köstlich – cremige Suppe, saftige Lammkoteletts, herrliches Gemüse und ihr Lieblingsdessert, gedämpfter Aprikosenpudding mit Vanillesauce und Sahne –, doch sie konnte sie nicht richtig genießen. Ihr Rücken schmerzte, und Tom starrte sie finster an, wann immer sie sich anschickte, den Mund aufzumachen. Sie durfte nicht einmal auf Fragen antworten. Ihre Strafe würde sie später erhalten.
Er war sehr schlecht gelaunt, da seine Versuche, Mr. Broderick zu sprechen, fehlgeschlagen waren. Die Abwesenheit des Gastgebers am Tisch trug nicht gerade dazu bei, seine Stimmung zu heben. Amy wußte jedoch, daß auch sie Tom gegen sich aufgebracht hatte, was ihr sehr leid tat. Sie hätte es besser wissen müssen.
Er hatte sie nach ihrem Spaziergang schon ungeduldig erwartet.
»Wo bist du gewesen? Meine Socken müssen gestopft werden, und du hast nichts anderes im Sinn, als an diesem gottverlassenen Ort herumzulaufen, als gehöre er dir.«
»Ich bin nur spazierengegangen. Ich stopfe deine Socken jetzt gleich.«
Er warf sie ihr hin. »Erwartest du etwa, daß ich es diesen selbstzufriedenen Sündern gleichtue? Ich besitze nur zwei Paar Socken und werde, gelobt sei der Herr, immer nur zwei Paar Socken besitzen, von denen eins in der Wäsche und das andere zum Tragen gedacht ist. Doch was muß ich sehen? Löcher!«
»Tut mir leid, ich werde sie sofort stopfen.«
»Dafür bleibt uns keine Zeit, wenn wir die Regeln dieses Hauses einhalten wollen.« Er entriß ihr die Socken. »Ich werde sie samt Löchern tragen, und wenn sie es bemerken, wird es dich Demut lehren. Dich, nicht mich. Mit wem bist du spazierengegangen?«
Die Frage kam so plötzlich, daß sie Amy unerwartet traf. »Allein natürlich.«
Seine Faust prallte auf ihren Rücken, und sie fiel gegen die Wand. »Lügnerin! Ich war im Badezimmer am Ende des Flurs. Dort schaute ich aus dem Fenster und sah dich mit einem Mann spazierengehen.«
»Oh nein, Tom, ich habe nicht …«
»Schon wieder Lügen!« Er riß sie an den Haaren auf die Füße und schüttelte sie, so daß sie sich auf die Zunge biß.
»Oh, Tom, laß das, bitte«, flehte sie ihn an. »Er hat sich mir einfach angeschlossen. Ich habe ihn nicht dazu eingeladen. Es war nur Rupe Broderick.«
»So nennst du ihn also? Seit wann steht ihr auf so vertrautem Fuß miteinander?«
»Man sagte uns, wir sollen die Söhne Rupe und Victor nennen.«
»Mir wurde es gesagt, nicht dir. Hast du denn gar kein Schamgefühl? Du bist eine verheiratete Frau. Auf die Knie mit dir!«
Als sein Gürtel auf ihren Rücken niederging, biß Amy auf ein Handtuch, um nicht laut herauszuschreien. Sie wollte nicht, daß irgend jemand davon erfuhr. Sie würden es nicht richtig verstehen. Tom liebte sie wirklich, es war nur so, daß es ihr schwerfiel, seinen strengen Prinzipien, was ein christliches Leben anbelangte, zu entsprechen. Schon oft hatte er ihr, wenn er in besserer Stimmung war, erklärt, daß er alle Hände voll zu tun hätte, den Teufel in sich selbst zu bekämpfen, und nicht auch noch ihre Schlachten austragen könne. Amy wußte, daß sie sich noch mehr anstrengen mußte, denn Tom war ein guter Ehemann, der sich aufrichtig um sie sorgte. Er fürchtete ständig, er werde ohne sie in den Himmel gelangen, wenn sie nicht lernte, dem Herrn zu gefallen. Ein wirklich rücksichtsvoller Mann. Nur wenige Ehemänner besaßen Toms Voraussicht; die meisten waren viel zu selbstsüchtig.
Die anderen beiden Frauen am Tisch hätten Tom Billings wohl kaum einen rücksichtsvollen Ehemann genannt. Hätten sie gewußt, daß er seine Frau unter ihrem Dach schlug, hätten sie wohl selbst zur Pferdepeitsche gegriffen. Allerdings erachteten sie ihre eigenen Männer tatsächlich als selbstsüchtig. Charlotte fühlte sich um die romantische Liebe betrogen, nach der sie sich immer gesehnt hatte, und Louisa mißbilligte, daß sich Victor von seinem Vater gängeln ließ. Ihre Wünsche kamen stets erst an zweiter Stelle. Er liebte sie, sehr sogar, war stolz auf sie und stellte sie jedem als ›meine wunderschöne Frau‹ vor, doch sie wollte nicht ständig mit einem tyrannischen Vater konkurrieren müssen, der, wie sie sehr wohl wußte, gegen ihre Heirat gewesen war.
Grimmig tauchte sie ihren Löffel in die Suppe, während Charlotte höflich nickend den Ausführungen des Reverends lauschte, der zu einem von Schlürfgeräuschen unterbrochenen Monolog über das zweite Erscheinen Christi angesetzt hatte. Seine Tischmanieren waren grauenvoll, was Louisa nur noch mehr aufbrachte. Säßen die Männer mit am Tisch, wären die Frauen seinen Litaneien wenigstens nicht allein ausgeliefert. Wie nannte Rupe es doch gleich?
Ein gefesseltes Publikum.
Er fand die Missionare komisch. Typisch Rupe!
Louisa erblickte ihr Gesicht in dem goldgerahmten Spiegel an der Wand und war getröstet. Wegen ihr brauchte Victor sich nicht zu schämen, selbst wenn sie nur die Tochter eines Ladenbesitzers und nicht wie er in die Elite von Queensland hineingeboren worden war. Tatsächlich hieß es oft, sie könnten Geschwister sein. Beide waren groß, blond und blauäugig, doch Louisa betonte stets, daß damit die Ähnlichkeit aufhöre. Schließlich war es nicht gerade schmeichelhaft für eine Frau, ihrem Aussehen nach mit einem Mann verglichen zu werden. Ihr Haar war lang und seidig, reichte ihr fast bis zur Taille. Victor liebte es ganz besonders an ihr, und sie mußte ihm hoch und heilig versprechen, daß es niemals mit einer Schere in Berührung käme. Ihre Gesichtszüge waren fein, die Haut rein und ohne Sommersprossen, der Mund klein – ›wie eine Rosenknospe‹, hatte Victor einmal gesagt.
Sie runzelte die Stirn. Ihr Vater hatte sie vor der Hochzeit gewarnt. »Laß dich nicht von ihnen unterkriegen, Liebes. Du bist so gut wie jeder einzelne von ihnen. Mein Dad war ein freier Siedler, Brodericks Großvater ist in Ketten hergekommen. Du hast also allen Grund, den Kopf hoch zu tragen.«
Damals war Louisa bei der Aussicht auf eine Ehe mit Victor, der sie ein Jahr lang umworben hatte, so aufgeregt gewesen, daß sie den Rat ihres Vaters als albern abgetan hatte. Victor war verrückt nach ihr. Was zählte sonst noch? Vieles, dachte sie nun mürrisch.
Minnie kam herein und räumte langsam die Teller ab, jeden einzeln, als habe sie Bleigewichte an den Füßen. Charlotte bemerkte es mit einem Stirnrunzeln.
Sie trug die Koteletts und das Gemüse auf, wobei sie einen Krug umstieß. Die dicke Soße ergoß sich über die Damasttischdecke.
»Oh nein, sieh nur, was du angerichtet hast«, rief Charlotte.
»Was ist denn bloß los mit dir?«
»Ich hole einen Lappen«, erbot sich Louisa und sprang auf.
»Du bleibst, wo du bist«, wies Charlotte sie an. »Ich kümmere mich darum.«
Louisa blieb also sitzen und überließ es ihrer Schwiegermutter, das Durcheinander zu ordnen, was ein bezeichnendes Licht auf ihren Status innerhalb der Familie warf.
»Ich gelte hier überhaupt nichts«, hatte sie sich immer wieder bei Victor beklagt. »Dein Vater behandelt mich, als hätte ich nicht einen Funken Verstand, und gibt allen Leuten zu verstehen, daß sein Sohn seiner Ansicht nach unter seinem Stand geheiratet hat. Und Charlotte läßt mich nicht einmal einen Besen in die Hand nehmen.«
»Sie will, daß du dich um nichts kümmern mußt. Sie führt das Haus, du bist für Teddy zuständig.«
»Sie führt ihr Haus, meinst du wohl!«
Sie und Charlotte begegneten einander freundlich, ohne jedoch befreundet zu sein. Zu ihren Jugendfreundinnen hatte Louisa jeglichen Kontakt verloren. Wäre es einmal zum offenen Streit mit Charlotte gekommen, hätte sie wenigstens herausfinden können, wer diese unscheinbare Frau mit dem dünnen, roten Haar wirklich war. Sie leitete die Geschicke des Herrenhauses von Springfield mit einer übertriebenen Geschäftigkeit, die an Besessenheit grenzte, und tat alles, um ihrem Ehemann zu gefallen. Außer Teddy hatten die beiden Frauen nichts gemein. Charlotte betrachtete Mode als leichtsinnigen Tand, während Louisa schöne Kleider liebte. Sie lächelte grimmig.
Das Kleid, das sie zum Abendessen in ihrem eigenen Heim trug, hatte zwanzig Pfund gekostet, ein kleines Vermögen.
Für diese Summe hätte ihr Vater über eine Woche lang arbeiten müssen. Und in diesem herrlich kühlen Schweizer Organza, der mit gelben Schmetterlingen bestickt war, saß sie hier nun bei einem langweiligen Essen.
»Eigentlich hätten es Bienen sein sollen«, hatte sie Victor erklärt, als das Kleid in der vergangenen Woche eingetroffen war. Sie hatte es aus einem Katalog bestellt.
»Weshalb denn Bienen?«
»Ach, vergiß es.« Hatte Napoleon nicht angeordnet, daß all seine Kleider mit goldenen Bienen bestickt sein sollten? Warum dann nicht goldene Schmetterlinge für die verdammten Brodericks? Diese Squatter taten doch ohnehin, als gehöre ihnen die Welt. Was vermutlich sogar stimmte, das mußte sie sich eingestehen.
Warum also war sie so unglücklich? Louisa wünschte sich, ihre Mutter wäre noch am Leben. Bei seinem letzten Besuch auf Springfield hatte sie versucht, mit ihrem Vater zu sprechen, doch er war viel zu begeistert von ihrem prächtigen Lebensstil gewesen, um zuzuhören. Von Teddy, seinem Enkel. Und von Austins Unterstützung, die es ihm ermöglicht hatte, sein Geschäft zu einer Großhandlung auszubauen, in der die Landbewohner ihre Vorräte unter dem Einzelhandelspreis erwerben konnten, sofern sie große Mengen bestellten. Auf seinem Weg in den Wohlstand hatte sich ihr Vater von einem Kritiker in einen Verehrer Austin Brodericks verwandelt, der die Oberschicht nicht länger mißtrauisch beäugte, geschweige denn bekämpfte.
Mit Charlotte konnte sie auch nicht reden, da sie ständig zu befürchten schien, ihr verdammter Ehemann lausche an der Tür.
Doch selbst Charlotte mußte noch eine andere Seite haben.
Wenn man nur zu ihr durchdringen könnte, sinnierte Louisa und rümpfte die Nase beim Anblick des Puddings, den sie verabscheute. Und auch ich habe eine andere Seite. Ich werde nicht zulassen, daß mich diese Leute hier festhalten, wo ich den lieben langen Tag zum Däumchendrehen verdammt bin. Ich will mein eigenes Zuhause. Allerdings würde Austin es nie gestatten, daß Victor ein weiteres Haus auf Springfield errichtete, obwohl mehr als genug Platz dafür vorhanden war. Er hatte dieses riesige Heim für seine gesamte Familie gebaut.
Der Reverend schwadronierte noch immer über die Wiederkunft des Messias.
»Und wann wird das in etwa sein?« fragte Louisa schnippisch.
»Sehr bald.«
»Wie bald? Nächste Woche oder nächstes Jahrhundert? Dann werden wir es vermutlich nicht mehr miterleben.«
»Ha! In diese Falle tappen viele. Warum sollte der Herr Ihnen, einem Stäubchen im Universum, verraten, wann er zuschlagen wird? Die Wahrheit steht in der Bibel, und nur wahre Anhänger des Heiligen Wortes werden Seiner Gnade teilhaftig.«
»Welche wahren Anhänger?«
»Die Menschen, die wir Missionare segnen und taufen, meine Dame.«
»Und wohin hat Ihre Mission Sie geführt, Reverend?«
»Über die Tasman-See in Ihr schönes Land.«
Louisa sah, wie sich Charlottes Augenbrauen mißbilligend hoben. Sie mochte ihre Gäste nicht, schätzte Louisas Genörgel aber ebensowenig.
Zur Hölle damit, dachte diese, deren Wagemut durch die Abwesenheit ihres Mannes gestärkt wurde. Er schalt sie gelegentlich, sie rede zuviel.
Anfangs hatte er sogar recht damit gehabt. Niemand wußte besser als sie selbst, daß sie bei ihrer Ankunft auf Springfield tatsächlich zuviel geredet hatte. Geplappert. Geschwätzt. Vor allem bei Tisch, wenn der Wein ihr die Zunge löste. Doch das war reine Nervosität gewesen. Allmählich und mit Mühe war es ihr gelungen, sich zu beruhigen, doch geschwiegen hatte sie nie. Louisa hegte ihre eigenen Vorstellungen und fühlte sich berechtigt, sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit auch zu äußern, Austins finsteren Blicken und Victors Nasezucken zum Trotz.
»Was geschieht mit den Menschen, die Ihres Segens nicht teilhaftig werden?« fragte sie unvermittelt. »Ich meine, mit dem Rest der Welt? Bleiben ihnen die Tore des Himmels für immer verschlossen?«
Der Reverend wischte mit einer Brotkruste Soße vom Teller auf und lächelte sie an.
»Ha! Gute Frage. Deshalb arbeiten wir ja so hart. Wir möchten alle Seelen zum Herrn geleiten.«
»Und wie steht es mit mir? Bin ich verloren, nur weil ich Anglikanerin bin?«
Nun schritt Charlotte ein. »Wirklich, Louisa, dies ist wohl kaum der Ort für derartige Haarspaltereien. Denk daran, ›im Haus meines Vaters sind viele Zimmer‹.«
Louisa sah, wie das Lächeln des Reverend dahinschwand, und fragte sich, ob Charlotte sein Credo bewußt in den Grundfesten erschüttert hatte. Bei ihr konnte man sich nie sicher sein.
Sie nutzte die Gelegenheit zu weiteren Sticheleien. »Nun, dann sagen Sie mir eines: Werden die schwarzen Kinder Ihren Glauben angenommen haben, wenn sie zurückkehren, Reverend? Oder werden sie sich, wie Charlotte es ausdrückt, der vielen Zimmer bewußt sein?« Sie verzichtete auf den Nachsatz: »und weniger bigott werden als Sie.«
Mrs. Billings schreckte aus ihrer Lethargie hoch und wollte etwas sagen, doch ihr Mann kam ihr zuvor. »Es ist unsere Pflicht, die schwarzen Kinder aus ihrem heidnischen Dasein zu befreien und ins Licht der Christenheit zu führen. Anscheinend bemüht sich auf diesen Farmen niemand darum. Sie werden ihnen diese von Gott geschenkte Gelegenheit doch nicht mißgönnen wollen, Mrs. Broderick?«
»Sicher nicht«, warf Charlotte rasch ein. »Louisa, du findest das Programm doch auch hervorragend. Ich dachte, wir trinken den Kaffee heute abend draußen auf der Veranda, dort ist es kühler.« Sie wandte sich an die Gäste. »Sie schließen sich uns doch an, nicht wahr?«
Billings nahm das abgegriffene Gebetbuch, das er stets bei sich trug, und warf einen unsicheren Blick auf die dunkle Veranda.
»Ich glaube nicht. Wir ziehen uns zurück.«
Als er das Dankgebet anstimmte, prustete Louisa beinahe los vor Lachen. Wenn sich die Männer bisher zu Portwein und Zigarren in Austins Höhle zurückgezogen hatten, hatte der Reverend als Antialkoholiker und Nichtraucher den Damen im Salon Gesellschaft geleistet. Er hatte ihnen so lange aus dem Gebetbuch vorgelesen, bis sie unerträglich gelangweilt die Flucht ergriffen. Doch auf der Veranda gab es keine Lampen, da sie Horden von Insekten angezogen hätten. Lesen kam also nicht in Frage. Ob Charlotte das wohl bei ihrem Vorschlag bedacht hatte?
Amy war verwirrt. Toms Stimmung hatte sich weiter verschlechtert, nachdem sie auf den exzellenten Kaffee und die kleinen Plätzchen verzichtet hatten, die Mrs. Broderick nach dem Essen zu servieren pflegte, und sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatten.
»Gottloser Haufen!« knurrte er. »Das hat diese Frau doch mit Absicht getan.«
»Was denn?«
»Uns nach draußen gebeten, wo ich nicht die Kapitel lesen kann, die ich für den heutigen Abend ausgesucht habe.«
»Warum nicht?«
»Weil es auf der Veranda kein Licht gibt, du dummes Weib. Doch das wird ihnen noch leid tun, denn mein ist die Rache, spricht der Herr. Denk an meine Worte. Nun knie nieder und bereue deine Sünden. Ich habe deine Untaten von heute nachmittag nicht vergessen.«
Gehorsam kniete Amy sich mit dem Gesicht zur Wand, während sie die Knöchel umklammerte, den Hals reckte und den Rücken durchbog. Die Haltung war überaus schmerzhaft.
»Nun sprich mir nach: ›Ich entsage dir, Satan. Ich vertreibe den Teufel …‹«
Diese Sitzungen endeten erst, wenn Amy zusammenbrach, den Herrn um Vergebung anflehte und sich dankbar mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden ausstreckte. Obwohl diese Strafe mit Qualen verbunden war, stärkte sie ihr Bewußtsein für die Gegenwart des Herrn. Wenn sie sich dann erheben durfte, konnte sie aus voller Kehle »Halleluja! Halleluja!« ausrufen, wieder vereint mit ihrem Mann.
Doch eine Frage blieb.
Als sie ins Bett stieg, erinnerte sie sich wieder daran. »Hast du gehört, was diese Mrs. Broderick, Louisa, über die schwarzen Kinder gesagt hat?«
Er nickte. »Ja, ich habe es gehört.«
»Sie scheint zu glauben, daß sie wiederkommen.«
»Was nur die Unwissenheit dieser Frau beweist. Sie gibt sich als Anglikanerin aus und hat keine Ahnung von Theologie. Und zu allem Überfluß hat sie unsere Mission völlig mißverstanden. Diese schwarzen Kinder müssen aus dem Schmutz des Heidentums und der animalistischen Rituale errettet werden. Würde man sie zurückbringen, fielen sie erneut der Verderbtheit anheim.«
»Das habe ich mir auch gedacht. Sie scheint zu glauben, daß sie wie weiße Kinder ins Internat kommen. Vielleicht solltest du ihr erklären …«
»Auf gar keinen Fall! Wir brauchen einem verzogenen Balg wie ihr doch nicht das Wort des Herrn zu erklären. Hast du ihr Kleid gesehen? Es war vorn einfach obszön weit ausgeschnitten. Ihr Ehemann sollte es ihr vom Leib reißen. Und nun zieh das Laken beiseite.«
Pflichtschuldig zog Amy ihr langes Nachthemd hinunter, bis nur noch die Füße herausschauten, und warf das Laken zur Seite. Sie sah Tom dabei zu, wie er sie in seinem dicken Nachthemd bestieg.
»Ich bin bereit«, sagte er. »Bedecke dein Gesicht.«
Sie legte sich das Kopfkissen so übers Gesicht, daß er ihr in Würde beiwohnen konnte.
»Was gibt es denn so Dringliches, daß sie dafür das Essen ausfallen lassen?« fragte Hannah. Charlotte zuckte die Achseln. »Das hat man mir nicht gesagt, aber ich werde es herausfinden. Bereite ein Tablett mit Sandwiches und kaltem Braten vor, und was du sonst noch finden kannst. Ich werde es ihnen bringen. Sie können nicht erwarten, daß du den ganzen Abend hier herumsitzt und wartest, bis sie fertig sind.«
»Das Gemüse ist inzwischen sowieso zerkocht«, erwiderte Hannah naserümpfend. »Ich brate es morgen mit Rindfleisch auf. Minnie, du kannst Brot schneiden und buttern.«
Minnie kam mit verweinten Augen aus der Spülküche. »Was haben gesagt?«
»Das Brot! Schneide das Brot! Hole Butter aus der Speisekammer! Gott steh uns bei, Mädchen, was ist nur in dich gefahren?«
Charlotte starrte sie an. »Ist alles in Ordnung, Minnie? Die Sache bei Tisch vorhin war doch nur ein Mißgeschick. Du brauchst dich deswegen nicht so aufzuregen.« Sie wollte sie berühren, doch Minnie fuhr zurück, als habe man sie schlagen wollen.
»Um Himmels willen, du zitterst ja wie Espenlaub«, sagte Charlotte. »Bist du krank, Minnie?«
»Nein, Missus«, schluchzte das Mädchen.
»Ich glaube, es geht ihr nicht gut«, sagte Charlotte zu Hannah. »Laß sie gehen. Morgen früh sehen wir weiter.«
Minnie sauste zur Hintertür hinaus und rannte den Weg hinter dem Gästeflügel hinunter. Als sie an dem Zimmer vorbeikam, in dem das böse Ehepaar schlief, hörte sie die Frau »Halleluja! Halleluja!« schreien. Es gellte furchtbar durch die warme Nacht. Minnie stolperte vor lauter Angst, obwohl sie die Worte nicht verstand. Sie rappelte sich auf und rannte weiter, vorbei an der Schlafhütte, die sie mit den anderen schwarzen Hausmädchen bewohnte, und über die Koppeln. Noch immer in Panik, raffte sie ihr Baumwollkleid und sprang mühelos wie eine geübte Hürdenläuferin über die Zäune. Erst am Fluß verlangsamte sie ihren Lauf. Hier war sie zu Hause, hier fühlte sie sich sicher.
Sie trottete den vertrauten Pfad zum Lager entlang. Die Finsternis der mondlosen Nacht schreckte sie nicht.
Ihre Leute würden keine Fragen stellen. Einmal wöchentlich durfte sie für die Nacht ins Lager zurückkehren, und sie würden denken, dies sei ihr freier Abend. Sie zählten die Tage nicht so wie die Weißen.
Dennoch mußte sie vorsichtig sein und durfte kein Wort über die Sache verlieren, damit man sie nicht für einen Hasenfuß hielt, der sich vor weißem Gerede und schreienden Frauen ängstigte.
Doch sie hatte noch mehr gehört. Sie sprachen noch immer über schwarze Kinder, die weggebracht werden sollten. Wieder hatte sie nur Gesprächsfetzen aufgeschnappt, weil sie so nervös gewesen war und Soße verschüttet hatte. Louisa hatte etwas von der Rückkehr der schwarzen Kinder gesagt. Nun war sich Minnie fast sicher, daß sie einige schwarze Jungen zur Schule schicken wollten, wie sie es mit Victor, Harry und Rupe gemacht hatten. Irgendwann würden sie dann wieder heimkommen, wie Mr. Brodericks Söhne auch.
Aber wieso? Schwarze Kinder gehörten nicht an solche Orte. Wozu sollte es gut sein? Nioka würde sie auslachen, wenn sie es wüßte, doch sie selbst sah eine Zukunft für Bobbo hier auf der Farm. Er konnte schon ein bißchen Englisch, und wenn er älter war, wollte sie Victor bitten, ihn reiten zu lehren. Er könnte hier als Viehhüter arbeiten.
Sie mußte zugeben, daß Nioka viel klüger war als sie. Sie bemerkte Dinge. Sie bemerkte, daß alle Weißen bezahlt wurden und die Schwarzen nicht. Nicht einmal die Jungen, die als Viehhüter arbeiteten. Doch ihre Mumma war deswegen böse auf Nioka gewesen. Sie hatte gesagt, es sei gut, wenn man einen Job wie Minnie hatte, weil man dabei viel lernen konnte, selbst wenn man kein Geld bekam.
Minnie wußte nicht so recht, was sie bei der Arbeit im Haus lernen können sollte. Manchmal war sie nach den langen, streng reglementierten Tagen so müde, daß sie ihre Schwester um das unbeschwerte Leben im Lager beneidete. Nioka konnte zum Haus kommen und mit Teddy spielen, wann immer ihr danach war, oder wenn Bobbo und Jagga ihren Spielgefährten besuchen wollten. Traurig dachte Minnie daran, daß sie ihren eigenen Sohn nur noch selten sah. Nioka kümmerte sich um ihn, während seine Mutter meilenweit entfernt war, für die Weißen arbeitete.
Geschickt bestieg Minnie einen flachen Felsen, setzte sich hin und ließ die Füße ins strömende Wasser baumeln. Die plötzliche Kühle erfrischte sie.
Es war nicht richtig, das wußte sie. Schon oft war sie mit Nioka wegen Bobbo in Streit geraten. Wenn ihr an Niokas Erziehung etwas nicht paßte, solle sie doch wie eine gute Mutter im Lager leben und ihn auf ihre Art erziehen, anstatt die Weißen zu bedienen. Und wozu das alles? Für nichts als kostenlose Verpflegung und ein gelegentliches Kopftätscheln.
»Sie interessieren sich nicht für dich!« hatte Nioka sie angeschrien. »Wenn du stirbst, holen sie sich eine Jüngere und lehren sie Gehorsam. Schlagen sie solange, bis sie es richtig macht.«
Und auch das stimmte. Als sie jünger war, hatte Minnie oft genug Schläge von Hannah und Mrs. Broderick bezogen, damit sie sich etwas einprägte. Doch die beiden hatten nie so fest zugeschlagen wie Mumma. Ein Schlag von Mumma mit ihrer berühmten Keule kam einem Pferdetritt gleich.
Das alles war sehr verwirrend. Wer hatte recht? Nioka oder Mumma? Seltsamerweise war Nioka altmodischer als Mumma. Sie wollte die Traditionen bewahren. Sogar ihr Ehemann war anderer Ansicht gewesen. Er hatte sich kurz nach Jaggas Geburt aus dem Staub gemacht, um die Städte der Weißen zu sehen. Angeblich zog er sich dort irgendeine Krankheit zu und konnte nicht heimkehren, selbst wenn er gewollt hätte.
Minnie seufzte. Sie sollte jetzt besser aufbrechen. Es waren nur noch wenige Meilen bis zum Lager, und die meisten Leute würden inzwischen schlafen. Ganz in ihrer Nähe raschelte es im Gebüsch, und sie verharrte bewegungslos. Ihre scharfen Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt.
Aus den Büschen unter ihr hinkte ein dreibeiniger Dingo hervor und ließ sich am sandigen Ufer zum Trinken nieder. Dann drehte er sich um und schaute mit weichem, ruhigem Blick zu ihr hoch. Schließlich schüttelte er sich das Wasser von der Schnauze und machte sich leise davon.
Minnie sprang auf die Füße und lief los.
Stolpernd erreichte sie das Lager und rief nach Nioka.
»Nioka, wach auf! Wach auf! Moobuluk ist hier! Er ist wieder da.«
Nioka schlief in ihrer Rindenhütte am Flußufer. Nun zog sie sich auf die Ellbogen hoch. »Halt den Mund, du weckst die Kinder!«
»Moobuluk ist hier, wenn ich es dir doch sage. Ich habe seinen Hund gesehen. Den roten, dreibeinigen Dingo. Den großen Hund. Er hatte ihn bei sich, als unsere Mutter starb.«
»Wovon redest du? Wir haben ihn damals nicht mal gesehen.«
»Aber er war da. Jeder wußte das. Und du, wir beide, haben seinen Hund gesehen. Überall würde ich den wiedererkennen. Heute abend habe ich ihn bei dem flachen Felsen entdeckt.«
»Du bist betrunken! Hau ab.«
Minnie errötete. Die eine Nacht, in der sie nach einer Party bei den Brodericks die Reste aus Flaschen und Gläsern getrunken und man sie am folgenden Tag hilflos umhertappend und zusammenhanglos lallend im Busch gefunden hatte, würde man sie nicht so schnell vergessen lassen.
»Das ist nicht wahr«, rief sie, doch Nioka war bereits wieder eingeschlafen. Minnie legte sich neben die beiden Jungen, nahm sie in die Arme und schlief ein.
Moobuluk jedoch war viel weiter entfernt, als Minnie glaubte. Die Sorge um die beiden Mädchen quälte ihn, und er sandte ihnen einen einfachen Zauber, damit sie wußten, daß ihr Verwandter, wenn auch nicht körperlich, so doch im Geiste bei ihnen war. Sein alter Körper war gebrechlich. Maß man die Entfernung nach Art der Weißen, so lag seine verborgene Höhle Hunderte von Meilen nördlich der Broderick-Farm und seiner ursprünglichen Heimat. Dort wachte er über die heiligen Malereien, die die Geschichte der Traumzeit darstellten und noch nicht von Eindringlingen entweiht worden waren. Als junger Mann mit flinken Füßen hatte er an einem Tag große Strecken zurücklegen und sogar nachts weiterlaufen gekonnt, doch diese Zeiten waren vorbei. Da jedoch die heiße, regenreiche Zeit bevorstand, in der die breiten Flüsse anschwollen und die trockenen Gegenden im Süden unvorbereitet trafen, würde er mit etwas Glück auf Angehörige der Flußstämme treffen, die ihn ein gutes Stück in ihren Einbäumen mitnehmen könnten.
Moobuluk nickte seinem Hund zu, während sie die Berghänge hinunterstiegen. »Weshalb laufen, wenn wir im Boot fahren können? Selbst die Weißen würden einen häßlichen, alten Kerl wie mich mitnehmen.«
Wochen später kämpfte er sich durch den Regenwald. Alles um ihn herum schien voller Spannung auf den Monsun zu warten. Das Unterholz war trocken und spröde, Schlingpflanzen hingen träge von durstigen Bäumen; kleine Tiere huschten geschäftig unter riesigen Blättern umher und brachten sich vor den stets wachsamen Schlangen in Sicherheit. Der alte Mann lächelte und sprach mit ihnen, während er sich dem Fluß näherte. Er führte wenig Wasser. Krokodile dösten am schlammigen Ufer, und über dem Sumpfland hing ein Verwesungsgeruch, doch Moobuluk machte das nichts aus. Alles war, wie es sein sollte.
Er stieg entschlossen über die freiliegenden Mangrovenwurzeln hinweg und folgte dem Fluß bis zu einem hohen Wasserfall. Wenn der Regen kam, würde sich der Fluß in einen reißenden Strom verwandeln, über die Felsen donnern und die Welt aufwecken.
Und so wanderte er weiter, begleitet von seinem Hund. Er würde zur rechten Zeit bei seinen Verwandten ankommen, wie es die Natur vorsah. Er hoffte, daß sie nicht zuviel von ihm erwarteten. Manche glaubten, er könne die Zeit aufhalten und Veränderungen rückgängig machen, die die Weißen verursacht hatten, doch das lag nicht in seiner Macht. Die Logik sagte ihm, daß, sofern es erneut Unruhen im offenen Land gab, wo der kleine Clan noch immer lebte, der Grund dafür wieder einmal bei den Weißen zu finden wäre. Er seufzte. Vielleicht war es an der Zeit, seine Leute tiefer ins Landesinnere zu bringen.
Tagelang ritten die drei Brodericks über den riesigen Besitz und teilten ihn in separate Weiden ein, die sie durchnumerierten. Dabei kam es zu hitzigen Diskussionen, denn jeder hatte seine eigene Vorstellung von den besten Weidegebieten. Austin bestand darauf, alle Wasserstellen und -läufe zu beanspruchen, was Victors Versuche, sie in seinem Notizbuch aufzuzeichnen, in einem Wirrwarr von Zickzacklinien enden ließ.
Nichtsdestotrotz arbeiteten sie weiter, immer unter Austins Aufsicht. Rupe brannte Bäume nieder und brachte Kreidemarkierungen für die Landvermesser an, während Victor bemüht war, System in die ganze Angelegenheit zu bringen.
Abends saßen sie in Austins Höhle, zeichneten neue Landkarten, änderten sie wieder und legten die Grenzen neu fest, was Victor im übrigen für Zeitverschwendung hielt. Rupe hingegen hatte seinen Spaß und störte sich auch nicht daran, daß Austin ein falsches Spiel trieb und seine Weiden beinahe die doppelte Größe der zulässigen Höchstgrenze erreichten, die in den bisher noch nicht auf die Probe gestellten Landgesetzen festgelegt worden war.
»Von deinen offensichtlichen Betrügereien einmal abgesehen, kannst du diese ganzen Weiden ohnehin nicht kaufen«, bemerkte Victor. »Die Gesetze legen genau fest, wieviel Land ein Mann besitzen darf.«
»Kein Problem«, grinste Rupe, »wir setzen verschiedene Namen aus unserer Familie als Besitzer ein.«
»Das wird nicht reichen.«
Doch sein Vater wollte sich von solchen Bagatellen nicht von seinem Plan abbringen lassen.
»Dann benutzen wir eben Strohmänner. Unsere Viehhüter und Farmhelfer werden schon nichts dagegen haben, als stellvertretende Käufer zu fungieren, und wer sollte je davon erfahren? Du machst dir unnötige Sorgen, Victor.«
»Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Du zerbrichst dir den Kopf über etwas, das gar nicht passieren wird. Es wäre das reinste Chaos.«
»Die Politiker verursachen doch nichts als Chaos, anstatt endlich einmal etwas Handfestes zuwege zu bringen. Morgen fangen wir mit der anderen Flußseite an.«
Unterdessen schäumte der Reverend vor Wut. Er fühlte sich brüskiert, da er glaubte, Broderick gehe ihm absichtlich aus dem Weg. Was konnte denn schon wichtiger sein als seine Mission? Tom Billings kaufte ihm seine diesbezüglichen Entschuldigungen nicht ab. Er wollte sich aber auch nicht dazu herablassen, das Thema noch einmal mit den Frauen zu besprechen. Dennoch mußte etwas geschehen. Für Amy war es nicht förderlich, in diesem dekadenten Haushalt herumzufaulenzen, der ihr nur den Kopf verdrehte.
Schließlich paßte er Broderick auf dem Weg von den Ställen zum Haus ab.
»Sir, wenn ich um eine kurze Unterredung bitten dürfte.«
Broderick blieb stehen, nahm den Hut ab und wischte sich mit einem Taschentuch übers Gesicht. »Kann das nicht warten? Ich bin ein bißchen müde.«
Er sah wirklich erschöpft aus, doch Tom konnte kein Mitleid aufbringen für einen Mann seines Alters, der in dieser Hitze unbedingt wie ein Herzog über seine Besitzungen reiten zu müssen glaubte.
»Leider nicht. Mrs. Billings und ich würde gern aufbrechen, wenn Sie erlauben …«
Entdeckte er da ein plötzliches Interesse bei seinem Gegenüber? Tom beschloß, sein Gekränktsein darüber für sich zu behalten, und fuhr fort: »Ich wollte mit Ihnen über unseren Plan sprechen, drei schwarze Jungen mitzunehmen und ihnen eine Ausbildung zu ermöglichen.«
»Ja.« Broderick nickte. »Meine Frau erwähnte so etwas. Klingt vernünftig. Werden Sie sich um sie kümmern?«
»Allerdings, Sir. Ich habe einen Brief von meinem Bischof mitgebracht, in dem er das Programm vorstellt. Sie werden daraus ersehen können, daß wir bemüht sind, so viele junge Seelen wie möglich zu retten und in die zivilisierte Welt einzuführen. In der Missionsschule bieten wir ihnen Kost und Logis. Unsere Laienhelfer, die sich dem christlichen Leben verschrieben haben, sorgen für sie. Natürlich kostet all das Geld, und der Bischof hoffte …«
»Sie wollen eine Spende? Wieviel? Oder soll ich für ihre Schulgebühren aufkommen? Das erscheint mir sinnvoller. Wieviel pro Kind?«
Er setzte seinen Weg zum Haus fort, und Tom beeilte sich, seinen ausladenden Schritten zu folgen. »Wir nehmen keine Schulgebühren, diese Arbeit ist rein karitativ. Das gleiche Programm wird in viel größerem Umfang von anderen Kirchen und Wohltätigkeitsorganisationen durchgeführt …«
»Davon habe ich gehört.«
»Aber auch sie sind abhängig von Spenden. Eine direkte Gabe an Bischof Frawley …«
»Ist mir gänzlich unbekannt.«
»Er ist das Oberhaupt der Kirche des Heiligen Wortes und wird nicht nur in Queensland, sondern auch in Neuseeland hoch geschätzt.«
»In Ordnung. Bringen Sie mir den Brief und die Namen der drei Jungen ins Büro. Klingt nach einer einzigartigen Chance. Wann wollten Sie doch gleich aufbrechen?«
»Wir könnten morgen losfahren …«
»Dann kommen Sie um sechs Uhr in mein Büro, dann besprechen wir alles Weitere. Sie müssen mich jetzt entschuldigen, ich möchte duschen und mich ein wenig ausruhen.«
Als die Standuhr in der Halle sechs schlug, mußte der Reverend mehrfach an Brodericks Tür klopfen, bevor er eine Antwort erhielt. Bei seinem Eintreten stand Broderick mit einem Glas Whisky in der Hand über einen Tisch gebeugt, der über und über mit Landkarten bedeckt war. Tom fiel die Größe des teuer eingerichteten Raumes auf, in dem es nach Geld, Alkohol und Tabak roch. Typisch für die Brodericks mit ihrem anrüchigen Lebensstil.
»Nehmen Sie Platz«, sagte Broderick über die Schulter gewandt. Tom sah sich nach einem Stuhl um. Auf allen Sitzgelegenheiten waren Landkarten ausgebreitet, sogar auf dem Billardtisch, der auf der anderen Seite des Zimmers stand. Eine weitere Gelegenheit zum Sündigen, wie Tom voller Empörung feststellte.
»Fegen Sie die Papiere einfach beiseite«, setzte Broderick hinzu. »Einen Drink? Ach, ich vergaß. Sie trinken ja nicht.« Ungerührt goß er sich nach. »Sehen wir doch mal, was Ihr Bischof zu sagen hat.«
Als er sich mit Brief und Glas in seinem Büro niedergelassen hatte, kam Victor zur Tür herein.
»Guten Tag, Reverend.« Er legte Austin einige Briefe auf den Schreibtisch. »Ein Viehhüter hat Post mitgebracht. Ein Brief von Harry ist auch dabei …«
»Dann mach ihn doch auf! Allmächtiger, was schreibt er denn? Was tut sich da unten?«
Victor öffnete den Brief und überflog ihn rasch.
»Etwas über die Gesetze?«
»Nein, er schreibt von seinem Haus … sie denken daran, anzubauen. Und etwas von einem Ball im Parlamentsgebäude … und Connies Dad geht in den Ruhestand …«
Austin schnappte sich den Brief, las ihn rasch durch und warf ihn auf den Tisch. »Das ist doch mal wieder typisch! Er soll nicht den Partylöwen mimen. Ich müßte den Trottel eigentlich wieder herholen und ein paar Jahre als Viehhüter schuften lassen. Würde ihn vielleicht zur Vernunft bringen.«
Billings lauschte der Tirade mit der bösen Vorahnung, daß von Broderick in dieser Stimmung wohl kaum Großzügigkeit zu erwarten war.
»Reg dich nicht so auf«, sagte Victor. »Der Arzt hat gesagt, du sollst es langsam angehen lassen. Du warst schon den ganzen Tag auf der Weide …«
»Sag mir gefälligst nicht, was ich zu tun habe! Du schreibst Harry, daß wir keinen Gesellschaftsklatsch mehr hören wollen; wir brauchen tagtägliche Berichte über dieses Gesetz, wer dafür ist und wer dagegen, so etwas. Nackte Zahlen!«
»Wenn es ein Problem gäbe, würde er es in seinem Brief erwähnen. Ich schätze, das Gesetz ist so gut wie gestorben. Das Parlament hat Wichtigeres zu tun.«
»Was denn zum Beispiel?« brüllte Broderick, zerknüllte den Brief und warf ihn Victor hin. »Sagt er uns vielleicht mal, was sich sonst noch so im Parlament tut? Oder geht er nur zum Schlafen hin?«
»Ich sag’s ihm«, seufzte Victor. »Vergiß nicht, heute abend mußt du zum Essen erscheinen. Es ist unser Hochzeitstag, und Charlotte hat eine ganz besondere Dinnerparty geplant, mit Champagner und so.«
Billings erschauderte. Offensichtlich würden er und Amy einen weiteren alkoholisierten Abend mit diesen Menschen ertragen müssen. Vielleicht konnte er darum bitten, daß man ihnen das Essen auf dem Zimmer servierte.
Der Sohn verschwand, und Broderick wandte seine Aufmerksamkeit wieder ihm zu. »Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, der Bischof.« Er las den Brief sorgfältig durch.
»Scheint in Ordnung zu sein.«
Billings sprang auf und übergab ihm einen selbstverfaßten Brief des Inhalts, daß sie die unten genannten Jungen am nächsten Morgen in ihrem Wagen mitnehmen und dem Bischof persönlich übergeben würden.
Gleichzeitig ließ er sich lang und breit über die Vorzüge einer sauberen Umgebung, von Englischunterricht, Gebeten und einer Berufsausbildung aus.
»Berufsausbildung? Das ist gut.« Broderick holte sein Scheckbuch heraus. »Ich habe darüber nachgedacht. Um die Wahrheit zu sagen, habe ich bisher weder von Ihrer Kirche noch von Ihrem Bischof je etwas gehört. Ich möchte Sie nicht beleidigen, aber immerhin nehmen Sie drei kleine Kinder von hier mit. Sie sollten in gute Hände kommen. Daher verlange ich, daß Ihr Bischof ein Treuhandkonto auf die Namen dieser Jungen eröffnet. Wer war es doch gleich? Bobbo, Jagga und der kleine Doombie. Das Geld ist für sie bestimmt.«
»Das ist wirklich nicht nötig«, wehrte Billings ab. »Für sie wird gesorgt.«
»Aber Sie sagten doch, daß ihr Unterhalt und die Arbeit der Laienhelfer Geld kosten.«
»Das stimmt. Deshalb ist es besser, alle Spenden zusammenzufassen, damit der Bischof sie angemessen verteilen kann, Mr. Broderick.«
»Mag sein, aber ich möchte sichergehen, daß diese Kinder nicht als Fälle für die Fürsorge gelten. Immerhin stammen sie aus Springfield. Ihr Bischof kann die Kinder mit diesem Geld unterstützen, und wenn ich das nächste Mal nach Brisbane komme, werde ich sie besuchen und mich persönlich von ihrem Wohlergehen überzeugen. Hier ist ein Scheck über dreihundert Pfund, hundert pro Kind, und es soll für Unterkunft, Kleidung und andere lebensnotwendige Dinge ausgegeben werden. Sind Sie damit einverstanden?«
»Das ist sehr großzügig, Sir. Gott segne Sie.«
»Schön. Setzen Sie sich hin und legen Sie meine Bedingungen, die an diesen Scheck geknüpft sind, schriftlich nieder. Sie unterzeichnen im Namen von Bischof Frawley. Notieren Sie bitte, daß ich eine Aufstellung aller Ausgaben benötige, samt Quittungen. Nur wenn alles seine Ordnung hat, werde ich eine beträchtliche Spende für den Unterhalt des Heims erwägen. Verstehen wir uns?«
Dreihundert Pfund! Dies war die größte Spende, die Tom je erzielt hatte. Der Bischof würde begeistert sein. Und das war erst der Anfang!
»Natürlich, Sir, vollkommen. Ich schreibe alles Wort für Wort auf, ganz wie Sie es wünschen. Ich habe eine schöne Handschrift, wenn ich das selbst von mir sagen darf, und es wird ein durchaus vorzeigbares Dokument werden.«
Tom erhielt Feder, Tinte sowie elegantes Schreibpapier und machte sich an die Abfassung einer wortreichen Epistel, deren schöne Schrift den ungehobelten Broderick mit seinen herrischen Manieren beeindrucken sollte. Der Bischof würde schon wissen, wie mit ihm zu verfahren war.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Tom, daß sich Broderick einen weiteren Whisky aus der Kristallkaraffe genehmigte. Eigentlich sollte er ihn auf die Übel der Trunksucht hinweisen, doch das mußte noch eine Weile warten.
Broderick nahm zwei Briefe zur Hand, die ihm Victor ebenfalls auf den Schreibtisch gelegt hatte. Der erste schien ihn nicht weiter zu interessieren; er legte ihn weg und öffnete den anderen mit einem Brieföffner aus Elfenbein. Dabei sagte er zu Billings:
»Die Mütter dieser Kinder sind sicher glücklich, daß sie in die Schule kommen, oder?«
Toms Hand zuckte, und er verschmierte die Seite. Die Mütter? Was hatten die denn damit zu tun? Geschweige denn die Väter! Die Idee bestand doch darin, die Kinder dem Einfluß dieser Wilden zu entziehen. War dieser Mann denn ein Narr, oder bloß betrunken? Man würde die Kinder in einem Heim in Brisbane unterbringen, bis sie alt genug wären, sich bei weißen Familien zu verdingen. Ihre Herkunft mußte praktisch ausgemerzt werden.
Er murmelte eine unverständliche Antwort und beugte sich wieder über sein Papier. Dann schreckte ihn Broderick mit dem Ausruf auf: »Jesus! Oh Gott, sehen Sie sich das an.« »Was denn, Sir?« Tom, dem erneut die Feder aus der Hand gerutscht war, fürchtete schon, er müsse das gesamte Dokument zum dritten Mal neu schreiben. Broderick war rot angelaufen und hielt ihm seinen Brief unter die Nase.
»Das hier! Ich wußte, es würde soweit kommen!« Vor Wut schnappte Broderick nach Luft. »Die Schweinehunde tun es! Sie tun es tatsächlich!«
Verwirrt nahm Tom den Brief entgegen, der von einer Bank stammte und den Vermerk ›Persönlich und vertraulich‹ trug.
»Sagen Sie mir, was drinsteht«, flüsterte Broderick. »Ich will es wissen.«
Gehorsam las Tom vor: »Lieber Austin, leider muß ich Ihnen mitteilen, daß die Verabschiedung des neuesten Landvergabegesetzes unmittelbar bevorsteht. Wir sollten umgehend Ihre Aktien und anderen Vermögenswerte durchgehen, um zu sehen, wie Sie die Kosten für den Erwerb der Ländereien aufbringen können. Aufgrund der Dringlichkeit fasse ich mich kurz, wofür ich um Entschuldigung bitte, doch ich muß auch andere Züchter auf die kommenden Ereignisse vorbereiten. Ich werde Sie bald ausführlicher informieren.«
Er schaute hoch. »Der Brief ist mit ›Ben Mathews‹ unterzeichnet … Alles in Ordnung, Mr. Broderick?«
»Wasser«, keuchte Austin und tastete haltsuchend nach dem Schreibtisch. »Holen Sie mir Wasser, schnell!« Dann stürzte er zu Boden, die Hand in die Brust gekrallt.
Tom wollte ihn auffangen, doch er kam zu spät. Er holte einen Wasserkrug und hielt ihn Broderick an den Mund, wobei sich das Wasser über dessen Hemd ergoß.
Broderick verzog vor Schmerz das Gesicht. Offensichtlich hatte er einen Anfall erlitten. Tom machte Anstalten, Hilfe zu holen, doch Austin klammerte sich an seinen Arm und flüsterte: »Ich hätte nie gedacht, daß es soweit kommen würde. Ich wollte sie doch nur auf Trab bringen.«
»Wen?« fragte Tom höflich zurück.
Doch ein erneuter Krampf ließ Broderick zu Boden stürzen, wo er sich vor Schmerz krümmte. »Oh Jesus!« schrie er. »Da ist es wieder.«
Bevor er davonlief, um Hilfe zu holen, ergriff Tom den kostbaren Scheck und das Dokument, das er aufgesetzt hatte, und steckte beides in die Tasche. Dann rannte er an der Standuhr vorbei durch den Flur und rief nach Mrs. Broderick. Der rachedürstende Gott, der es nicht hinnehmen konnte, daß der Mensch sündigte, hatte erneut zugeschlagen.
Die Sorge legte sich wie ein Mantel über den gesamten Haushalt. Um Broderick, der auf dem Ruhebett in seinem Zimmer lag, stand es schlecht. Seine Frau und Victor blieben bei ihm. Rupe war trotz der späten Stunde in das weit entfernte Dorf Cobbside geritten, um einen Arzt zu holen. Louisa Broderick hatte ihren kleinen Sohn nach oben gebracht und versucht, ihn zu beruhigen. Das Kind beklagte sich bitterlich, da man ihm versprochen hatte, es dürfe die Party mitfeiern.
Tom und Amy saßen vergessen im Wohnzimmer. Durch die offene Flügeltür zum Speisezimmer konnten sie die lange Tafel sehen, die festlich gedeckt und mit einem herrlichen Blumenarrangement geschmückt war.
»Sollen wir für ihn beten?« flüsterte Amy.
»Er ist in Gottes Hand. Wir brauchen uns nicht einzumischen.«
»Ich dachte nur …«
»Das solltest du nicht tun. An uns denkt ja auch niemand. Das Essen hätte schon vor Stunden serviert werden sollen. Das Personal ist überaus nachlässig. Es gibt keine Entschuldigung für eine derartige Mißachtung der Gastfreundschaft.« Obwohl er es nicht zugeben wollte, gefielen Tom die Mahlzeiten auf Springfield am besten. Er fieberte dem ausgezeichneten Essen geradezu entgegen. Sein Magen knurrte unablässig bei dem Gedanken an die Köstlichkeiten, die servierbereit in der Küche standen. Die letzte Mahlzeit schien bereits eine Ewigkeit zurückzuliegen.
Schließlich kam Louisa Broderick mit den schwarzen Hausmädchen ins Speisezimmer gerauscht. Unglücklich umklammerte Tom sein Gebetbuch – sie räumten den Tisch ab! Kerzenleuchter, Gläser und all die anderen schönen Sachen verschwanden vor seinen Augen und ließen einen alltäglich gedeckten Tisch zurück.
Louisa trat ins Wohnzimmer. »Es tut mir so leid, daß Sie warten mußten, aber wir waren sehr in Sorge. Es war ein solcher Schock, an eine Feier war gar nicht zu denken, aber wenn Sie nun mitkommen möchten …«
Sie erhoben sich prompt von ihren Stühlen.
»Wie geht es Mr. Broderick?« erkundigte sich Amy eifrig.
»Furchtbar. Er hat solche Schmerzen. Er ist bei Bewußtsein, kann aber nicht sprechen, so sehr er sich auch bemüht. Es ist so traurig …«
»Klingt nach einem Schlaganfall«, bemerkte der Reverend.
»Ja. Bitte warten Sie nicht auf uns. Wir essen nachher eine Kleinigkeit.«
»Verstehe. Unter diesen Umständen wäre es wohl besser, wenn wir morgen früh gleich aufbrächen. Teilen Sie Mrs. Broderick bitte mit, daß wir heute abend packen.«
»Selbstverständlich.« Louisa wirkte so erregt, daß Tom sich nicht gewundert hätte, wenn sie seine Nachricht einfach vergaß. Doch Tom empfand kein Mitleid mit ihr. Diese Leute führten ein so sorgenfreies Leben, daß ihnen ein wenig Kummer gar nicht schaden konnte. Er marschierte vor Amy zum Tisch, nahm seinen angestammten Platz ein und stopfte sich die Serviette in den Kragen. Dann klopfte er mit einem Löffel gegen die Zuckerdose, um die Küche auf seine Wünsche aufmerksam zu machen.