4. Kapitel

Die Schur war in vollem Gange, und auf Springfield herrschte energische Betriebsamkeit. Tausende von Schafen wurden von den weiträumigen Weiden hereingetrieben, auf der Schulter in Hürden getragen und gelangten von dort aus zu den schwitzenden Männern in den Wollschuppen. Wenn sie weiß, dünn und nackt wieder auftauchten, sprangen sie wie befreit in die nächsten Hürden. Von dort aus öffneten sich die Tore zur Freiheit, und die kläffenden Hunde trieben sie auf ihre angestammten Weiden zurück.

In den Schuppen ging die Arbeit unablässig weiter. Man behielt die Tafeln im Auge, auf denen die Leistung der schnellsten Scherer verzeichnet wurde. Jedes Jahr aufs neue wurden die älteren, erfahrenen Männer von Anfängern und jungen Wilden herausgefordert, während die übrigen Wetten abschlossen auf die täglichen Zahlen und den Gesamtdurchschnitt. Alle freuten sich darauf, das letzte Schaf zu scheren, denn Springfield war bekannt für seine erstklassige Abschlußfeier.

Für diese turbulenten Wochen wurde eine zusätzliche Köchin eingestellt, die in einem langen Küchenschuppen, einem Anbau der eigentlichen Küche, Hannah zur Hand ging. Auch die Frauen aus dem Haus halfen mit. Hannah buk mit Hilfe von Louisa Scones, die Dampers genannten Fladenbrote sowie Obstkuchen. Die Hausmädchen packten bei der Wäsche, im Obstgarten, der Molkerei und vor allem dem Schlachthaus mit an, denn die hungrigen Männer vertilgten ungeheure Fleischmengen.

Obwohl sie sich um ihren Mann sorgte, führte Charlotte Springfield tüchtig wie immer durch diese hektische Zeit. Austin konnte inzwischen das Bett verlassen. Sein ›totes‹ Bein, wie er es nannte, behinderte ihn aber noch, und er war auf Übungen und Massagen angewiesen, um dessen Beweglichkeit zu fördern. Charlotte ermutigte ihn dazu. Ungeachtet ihres Protestes spannte sie auch Victor und Rupe ein, ihm bei seinen Übungen behilflich zu sein. Für die Zeit, da die beiden bei der Schur unabkömmlich waren, ließ Charlotte eine muskulöse Schwarze kommen, die Gefallen daran fand, die Beine des Bosses zu kneten. Sie erledigte diese Aufgabe besser als alle anderen.

Austin, dem die ganze Aufmerksamkeit und seine eigene Schwäche peinlich waren, entschied, daß Black Lily auch nach der Schur bleiben sollte. Er schätzte ihre fröhliche, gelassene Art und war zudem davon überzeugt, daß außer ihm nur Black Lily tatsächlich an den Erfolg dieser Maßnahmen glaubte.

Sie stellte ihn auf die Füße, legte seinen Arm um ihre Schulter und diente ihm als lebende Krücke auf seinem Weg durchs Zimmer. Sie führte ihn auf die Veranda, wo er mit Vorliebe die Mahlzeiten einnahm, und schleppte ihn sogar in die Dusche und auf die Toilette. Schockiert beschwerte sich Charlotte bei ihrem Mann. Obgleich sie nicht stark genug war, diese Aufgabe zu übernehmen, fand sie es unziemlich, daß eine andere Frau in derart intimen Momenten bei ihm war.

»Du solltest warten, bis ich einen der Männer gerufen habe, Austin.«

Doch er war anderer Meinung. Er preßte die Worte mit Mühe durch den steifen Kiefer und die zusammengebissenen Zähne: »Nein. Arbeit. Laß sie. Lily in Ordnung.«

Er wurde so abhängig von der vierundvierzigjährigen Aborigine-Frau, die ihm vom frühen Morgen bis zum Schlafengehen zur Seite stand, daß sich Charlotte wieder einmal beiseite geschoben fühlte. Natürlich interessierte Austin sich hauptsächlich dafür, wie es mit der Schur voranging. Seine Söhne mußten ihm jeden Abend Bericht erstatten, doch nicht ein Mal erwähnte er ihnen gegenüber den Brief des Bankdirektors oder erkundigte sich nach den Parlamentsdebatten über das neue Landgesetz. Dieses Problem schien er völlig vergessen zu haben.

Charlotte hatte einen Rollstuhl bestellt, den zu benutzen er sich weigerte, und Krücken, die er nicht gebrauchen konnte. Sie reagierte beschämt, als Black Lily sie darüber aufklärte, daß der Boß noch an seinem Arm arbeiten müsse.

»Das muß er erst schaffen, Missus, kann Stöcke sonst nicht brauchen. Arm wie krankes Bein. Kann keinen Stock auf dieser Seite halten. Boß fällt krachbums um.«

Die Frau rieb seine Finger und den Arm unermüdlich mit einer übelriechenden Salbe ein und befestigte auf Austins Anweisung, die sie besser zu verstehen schien als jeder andere, kleine Säckchen an seinen Armen, um die Muskeln wieder aufzubauen. Charlotte konnte nur daneben stehen und untätig zusehen. Austin war entschlossen, die Gewalt über seine Glieder zurückzuerlangen, und diese Entschlossenheit wurde förmlich zur Besessenheit. Er arbeitete bis zur völligen Erschöpfung, weigerte sich aber, die täglichen Übungen mit Black Lily einzuschränken.

Harry äußerte in einem Brief Besorgnis um seinen Vater und erklärte, daß er nach Springfield gekommen wäre, wenn ihn nicht Rupes zweites Telegramm zum Bleiben aufgefordert hätte. Sollte er nun heimkommen oder nicht?

Austin geriet in Wut darüber und machte Victor gegenüber deutlich, daß sein Bruder bleiben solle, wo man ihn wirklich brauchte. Dann kündigte ein weiterer Brief an, daß Harry und Connie nach dieser Sitzungsperiode umgehend nach Springfield kommen würden. Die Landgesetze wurden mit keinem Wort erwähnt.

Charlotte verstand nicht so ganz, weshalb Austin den Brief ärgerlich zerknüllte und auf den Boden warf. Zum Glück sprach er danach nicht mehr davon.

Die Post brachte stapelweise Briefe von Austins Freunden und Kollegen, die ihm alles Gute wünschten. Es kam sogar ein Schreiben des Premierministers von Queensland, der Charlotte beeindruckte und Austin kaltließ. »Verdammter Narr«, zischte er. »Verliert die Kontrolle!«

Und dann traf noch ein Brief von Fern Broderick ein, die wissen wollte, ob ein Besuch von ihr dabei behilflich sein könnte, den Patienten aufzuheitern.

Zum Glück war er an Charlotte adressiert. Sie hielt es nicht für nötig, ihn Austin zu zeigen. Nicht, daß sie etwas gegen Fern gehabt hätte, doch sie neigte zur Eifersucht. Diese Frau war so elegant und selbstsicher, daß Charlotte sich in ihrer Gegenwart irgendwie minderwertig vorkam. Austin wies immer darauf hin, wie klug Fern doch sei und wie gut sie das Geschäft nach dem Tod ihres Mannes führe.

Und warum auch nicht, dachte Charlotte gereizt. An ihrer Stelle hätte ich das gleiche getan. Schließlich hatte ihr Mann sie in die Geschäfte eingeführt. Hätte sie den Laden verkaufen und von dem Erlös und Justins kleiner Hinterlassenschaft leben sollen? Anscheinend hatte er viel Geld in das herrliche Haus in Wickham Terrace gesteckt, bevor die Krankheit bei ihm ausbrach.

»Für sie allein ist es viel zu groß«, hatte Charlotte damals gesagt. »Sie sollte es verkaufen und sich nach etwas Kleinerem umsehen.«

Austins Antwort hatte sie verblüfft. »Du hast doch auch ein großes Haus, warum also sie nicht?«

»Mag sein«, sagte Charlotte nun zu sich selbst, während sie an Victors Schreibtisch die vielen Briefe beantwortete, »aber Fern gehören das Haus und das Juweliergeschäft.«

Nachdem sich die erste Panik angesichts Austins Schlaganfall gelegt hatte, suchte Charlotte seine Schlüssel und öffnete den Safe in seinem Büro. Der Raum lag in seinem Privatflügel und grenzte an den clubähnlichen Bereich. An den Wänden standen deckenhohe Regale, die die gesamte Geschichte von Springfield enthielten: sorgfältig geführte Aufzeichnungen über Viehbestand, Land und Wasserversorgung, Wetterberichte, die Stammbäume der Pferde und, in ledergebundenen Bänden, die Herkunft der Merino-Zuchtwidder, seiner Lieblinge. Diese Aufzeichnungen gaben auch Auskunft über die Entwicklung der Wollpreise und boten eine Fülle von Informationen über die Schafzucht und Wollverarbeitung, die Austin persönlich gesammelt hatte und die bis in die Zeit Macarthurs zurückreichten. Als Charlotte während seiner Abwesenheit einmal das Büro in Augenschein genommen hatte, war sie erstaunt und beeindruckt gewesen, wie gründlich ihr Mann sich mit dem Thema Schafzucht beschäftigt hatte. Kein Wunder, daß er im Gegensatz zu vielen anderen einen so überwältigenden Erfolg damit erzielt hatte.

Doch diesmal untersuchte sie den Safe, während Austin, von Schlafmitteln betäubt, schnarchte. Er enthielt viel Bargeld, Tausende von Pfund, die vermutlich an den Steuerprüfern vorbeigeschmuggelt werden sollten, die Springfield gelegentliche unangemeldete Besuche abstatteten. Dann fanden sich darin noch ein dickes Bündel Banknoten und eine goldene Krawattennadel, die von einem Band zusammengehalten wurden. Auf einem beigefügten Zettel stand: »Für Teddy, von seinem Opa.«

Charlotte lächelte. Wie süß. Typisch Austin. Doch das Geld war es nicht, was sie interessierte. In Victors Safe hatte sie ebenfalls eine Menge Bargeld gefunden, das für Gehälter und Einkäufe vorgesehen war.

Dann entdeckte sie endlich Austins Testament. Es war einfach gehalten und notariell beglaubigt. Darin hinterließ er Springfield seinen drei Söhnen zu gleichen Teilen.

Charlotte stellte fest, daß ihr lebenslanges Wohnrecht auf der Farm eingeräumt wurde. Wie nett, dachte sie bitter, ich darf also in meinem eigenen Heim wohnen bleiben.

Das Testament bestätigte einen schon länger gehegten Verdacht. Austin hatte ihn dadurch ausgelöst, daß er die Farm immer nur als Vermächtnis für seine Söhne bezeichnete und die Rechte seiner Frau für den Fall, daß er vor ihr sterben sollte, mit keinem Wort erwähnte. Charlotte hatte sich entschlossen, mit ihm darüber zu sprechen, doch dies war nicht der richtige Zeitpunkt. Erst mußte Austin völlig wiederhergestellt sein.

Im Testament fanden sich noch weitere Legate.

Bedienstete wie Hannah, zwei Aufseher, Carter, der alte Lagerverwalter und ein Schmied, der inzwischen gestorben war, sollten jeweils hundert Pfund erhalten. Seiner verwitweten Schwägerin Fern Broderick vermachte er zum Gedenken an seinen geliebten Bruder Justin fünftausend Pfund.

Sicher, Fern war ein netter Mensch, doch eigentlich hätte Charlotte guten Grund gehabt, ihr zu zürnen.

Was war aus Kellys Anteil an Springfield geworden? Kelly hatte hart für seinen Traum gearbeitet und mit einem furchtbaren Tod dafür bezahlt. Aus diesem Grund hatte Charlotte sich auch nie mit den Schwarzen anfreunden können, die sie für die Ermordung ihres Bruders verantwortlich machte. Gemäß den Anweisungen ihres Mannes bildete sie die Aborigine-Mädchen aus und lernte ihre Gegenwart zu ertragen, doch sie hatte sich nie getraut, Austin zu gestehen, daß sie ihr im Grunde herzlich egal waren. Sie sehnte sich so verzweifelt nach Austins Liebe, daß sie sich ihm gänzlich unterwarf und ihre eigene Meinung zurückstellte, um ihn nicht zu verärgern. Charlotte war sich wohl bewußt, daß sie nicht sonderlich hübsch war, doch hatte sie immerhin den bestaussehenden Mann weit und breit für sich gewonnen. Das mußte doch auch etwas zählen. Ihr waren die bewundernden Blicke so mancher Frauen nicht entgangen, die ihm galten; aber er gehörte ihr, und das sollte auch jede wissen.

Doch seinem Testament zufolge würde sie nichts erhalten. Austin hielt es anscheinend für selbstverständlich, daß sich seine Söhne um sie kümmern würden. Aber welcher von ihnen? Und mit welcher Schwiegertochter würde sie auskommen müssen? Keine von beiden zeigte echtes Interesse an Springfield. Würde sie nach Austins Tod wie ein alte unverheiratete Tante im Hinterzimmer enden?

»Von wegen«, verkündete sie laut und zerschnitt den Brief von Fern Broderick fein säuberlich in tausend Stücke.

 

Da sich Fern große Sorgen um Austin machte, beschloß sie, ihren Neffen Harry im Parlamentsgebäude aufzusuchen und nach Neuigkeiten zu fragen. Erst gestern hatte sie zu ihrer Überraschung gehört, daß er sich noch in der Stadt aufhielt.

Sie war davon ausgegangen, Connie und er seien bereits vor Wochen nach Springfield gefahren, aber vermutlich erwartete Austin, daß sich sein Sohn während der Sitzungsperiode nicht von der Stelle rührte. Fern betrachtete das als gutes Zeichen.

Sie ging durch das Haupttor und überquerte den weitläufigen Hof. Kleine Gruppen von Männern standen im ernsten Gespräch beieinander. Manche lächelten wohlwollend und lüfteten grüßend den Hut, als die elegante Dame an ihnen vorbeischritt.

Das prachtvolle Gebäude beeindruckte sie immer wieder aufs neue. Die Palmen und Jakarandabäume im Vorhof warfen filigrane Schatten auf die hohen Sandsteinmauern und milderten die Strenge der Fassade mit den gotischen Fenstern und niedrigen Balustraden. Fern nahm nicht den Haupteingang, sondern ging unter den geschwungenen Kolonnaden bis zum Seiteneingang, der den Abgeordneten vorbehalten war.

Der diensthabende Beamte kannte sie. »Einen guten Tag, Mrs. Broderick. Schön, Sie zu sehen.«

»Vielen Dank, Linus. Geht es Ihnen gut?«

»Ich kann nicht klagen. Was kann ich für Sie tun? Suchen Sie den jungen Mr. Broderick?«

»Ja. Ich hatte gehofft, ihn vor der Nachmittagssitzung zu erwischen.«

»Es ist noch ein wenig Zeit bis dahin. Er könnte in seinem Zimmer sein. Falls nicht, schicke ich einen der Botenjungen nach ihm. Soll ich Ihnen den Weg zeigen?«

Da inzwischen mehrere Abgeordnete hinter ihr warteten, schüttelte Fern den Kopf. »Vielen Dank, Linus, ich finde mich schon zurecht.«

Sie ging durch den Flur und bog nach links ab, wobei sie voller Bewunderung die blank polierte Täfelung aus Zedernholz sowie die schimmernden Lampen und Türknäufe aus Messing betrachtete.

Wie wunderschön, dachte sie beim Anblick der vergoldeten Zahlen an der langen Türenreihe. Harrys Zimmer im Erdgeschoß trug die Nummer 35. Er war noch Hinterbänkler, aber auf dem Weg nach oben. Fern, die fest zu den Brodericks hielt, zweifelte nicht an seinem Aufstieg. Mindestens in den zweiten Stock, dachte sie lächelnd, in dem Wissen, daß sich dort die Ministerbüros befanden.

Sie wollte gerade an Harrys Tür klopfen, die nur leicht angelehnt war, wich aber zurück, als sie drinnen Stimmen hörte. Sie nahm auf einer der polierten Holzbänke Platz, die vor den Büros für Besucher aufgestellt waren, und nickte den Vorübergehenden höflich zu.

Fern erkannte Harrys Stimme, die ebenso tief klang wie die seines Vaters, vermochte jedoch nicht zu verstehen, was gesprochen wurde, bemühte sich auch gar nicht darum. Als die Stimmen lauter und heftiger wurden, konnte Fern aber nicht umhin, alles mit anzuhören. Anscheinend ging es in dem Streit um eine Abstimmung.

Doch schließlich waren lautstarke Diskussionen nichts Ungewöhnliches an einem Ort wie diesem.

»Ich kann diesem Gesetz nicht zustimmen«, sagte Harry gerade. »Das ist unmöglich. Ich war von Anfang an dagegen. Sie haben wirklich Nerven, mich das zu fragen, James!«

»Begreifen Sie doch endlich, daß ich Sie nicht frage, sondern Ihnen lediglich einen guten Rat geben möchte. Mehr als diese paar kleinen Abänderungen werden Sie nicht durchsetzen können. Harry, Ihr Problem ist, daß Sie vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen. Die Zeiten ändern sich; Sie müssen sich anpassen oder untergehen.«

»Es heißt, der freie Erwerb ruiniere die Squatter.«

»Jesus! Es heißt … es hieß auch einmal, wir würden niemals eine Telegrafenleitung nach London bekommen. Es hieß, Brisbane sei ein Sumpf, in dem nur Sträflinge leben könnten. Es hieß, wir könnten niemals unabhängig von Neusüdwales werden und uns in Queensland selbst regieren.«

»Ja, das stimmt, doch der freie Landerwerb ist etwas völlig anderes.«

Fern hörte, wie ein Streichholz entfacht wurde, und nahm kurz darauf den Geruch von Zigarrenrauch wahr. Dann sprach der Mann namens James wieder. Seine Stimme kam ihr bekannt vor, und sie fragte sich, ob es sich dabei wohl um James Mackenzie handelte, den Gewerkschafter und einflußreichen Sprecher der Opposition.

»Nein, das ist es nicht. Wir bieten Squattern wie Ihrem Vater einen sicheren Besitzanspruch, doch das wollen sie nicht einsehen. Sie wehren sich gegen jede Veränderung. Können Sie sich noch an die Pessimisten erinnern, die sagten, der Bau dieses Gebäudes würde den Staat in den Bankrott treiben? Sehen Sie sich diesen prachtvollen Bau heute an … und der Staat ist alles andere als bankrott.« Er seufzte. »Aber daran können Sie sich gar nicht erinnern, Sie sind noch zu jung. Ihr Problem ist, daß Sie sich trotz Ihrer Jugend auf die Seite der alten Garde stellen.«

»So ein Unsinn!« fauchte Harry. »Ich stimme mit der Regierung, mit meiner eigenen Partei.«

»Dann sollten Sie es sich besser noch einmal überlegen, mein Junge. Die Squatter haben an Einfluß verloren … sehen Sie sich die vorderen Bänke an: Da sitzen Ärzte, Anwälte, Geschäftsleute, die allmählich Druck auf den Finanzminister ausüben. Die Verpachtung des Landes bringt nämlich nicht viel ein. Sie sagen das gleiche wie ich. Der Staat braucht Geld zum Überleben. Sie wollen das ganze Pachtland verkaufen, ihre Kassen füllen und gleichzeitig, das möchte ich betonen, den Squattern eine faire Chance einräumen, ihr Land käuflich zu erwerben.«

»Wie soll denn das gehen?« gab Harry aufgebracht zurück.

»Sehen Sie sich doch nur einmal Springfield an. Allein auf der einen Seite des Flusses haben wir Hunderte von Quadratmeilen gepachtet. Wie sollten wir das Geld dafür aufbringen, all das zu kaufen?«

James lachte. »Das ist typisch! Hat es von einem kleinen Farmer bis zum Squatter gebracht, aber den Hals noch immer nicht voll. Austin könnte halb Queensland kaufen, wenn er wollte.«

»Das ist doch lächerlich. Ich kann nicht für alle sprechen, aber meine Familie könnte es sich nicht leisten, das gesamte Pachtland in ihr Eigentum zu überführen. Das ist zuviel verlangt.«

Fern hörte nun aufmerksam zu und nickte zustimmend. Gut gemacht, Harry.

»Wieso? Hat Austin eine Pechsträhne erwischt?« fragte der andere Mann aalglatt. Fern spürte den drohenden Unterton in seiner Stimme.

»Natürlich nicht. Was soll das heißen?«

»Ich habe mich nur gefragt, weshalb er Ihnen nicht unter die Arme greift, Harry. Es ist doch allgemein bekannt, daß Sie bis zum Hals in Schulden stecken. Ganz abgesehen von dem, was Sie mir schulden.«

»Das hat nichts mit meinem Vater zu tun.«

»Aber mit mir, Kumpel. Am Spieltisch wuchern Sie mit Austins Namen, doch wenn es ans Bezahlen geht, scheint er nicht mehr zu existieren. Entweder so oder so.«

»Ich treibe es schon noch auf«, knurrte Harry zurück. »Ich brauche nur ein bißchen Zeit.«

Fern hörte das Stühlerücken, als die Männer aufstanden.

»Woher wollen Sie es nehmen? Ihr einziges Einkommen stammt doch von Daddy. Falls Sie nicht Ihr prächtiges Haus verkaufen und wie ein Hinterbänkler leben wollen, der Sie im übrigen ja auch sind, sieht es schlecht für Sie aus. Oder gehört Austin das Haus etwa auch?«

»Das geht Sie gar nichts an!«

James verlegte sich aufs Beschwichtigen. »Hören Sie, Harry, nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen. Ich lasse ja mit mir reden. Wie Sie wissen, schlage ich auch gern einmal über die Stränge, aber ich habe Freunde, die mir aushelfen können. Sie sollten nicht blind in ihr Unglück rennen. Wie ich bereits sagte, wird dieses Gesetz durchkommen; wenn nicht in dieser Form, dann in einer um vieles verschärften. Die derzeitige Fassung sieht vor, daß Auswahl und Kauf von dreihundertzwanzig Morgen zweihundertfünfzig Pfund kosten sollen, doch gibt es Stimmen, die einen höheren Preis fordern. Austin wird Ihnen nicht gerade dankbar sein, wenn Sie so lange zaudern, bis die Preise in astronomische Höhen geschossen sind und die Leute im Finanzministerium sich die Hände reiben.«

Harry murmelte etwas Unverständliches.

»Wir wollen doch nur diese Vorlage vom Tisch bekommen«, sagte James, nunmehr in ruhigerem Ton. Fern mußte jetzt die Ohren spitzen, um ihn verstehen zu können. »Wichtigere Entscheidungen als diese stehen an. Wenn Sie uns wissen lassen, daß Sie mit uns für eine Sicherung des Besitzanspruchs der Squatter stimmen, dann kann ich Ihnen versprechen, daß sich Freunde finden, die Ihnen unter die Arme greifen.«

»In welcher Hinsicht?« fragte Harry nervös. Fern kaute an ihrem behandschuhten Finger.

Du darfst dich gar nicht erst darauf einlassen, drängte sie ihn innerlich.

»Sie könnten schuldenfrei dastehen«, erwiderte James mit fester Stimme. »Schuldenfrei, Harry! Allein von dem, was ich von Ihnen noch zu bekommen habe, könnten Sie eine Menge Drinks kaufen und die Gläubiger in Ihrem Club ausbezahlen. Doch das bleibt Ihnen überlassen, mein Freund. Entweder Sie gehen mit der alten Garde unter, oder aber Sie beweisen sich und uns, daß Sie ein verantwortungsvoller, fortschrittlich denkender Parlamentarier sind …«

»Das würde mir viel Kritik einbringen.«

James lachte erleichtert auf. »Geht es uns nicht allen so? Sie wären in bester Gesellschaft …«

Fern Broderick eilte davon. Sie konnte Harry jetzt nicht gegenübertreten und bereute es bitter, seine private Unterhaltung belauscht zu haben.

Sie war so aufgebracht, daß sie im Labyrinth der Flure ohne es zu merken falsch abbog, und schreckte hoch, als ein Parlamentsdiener eine Glocke läutete, um die Abgeordneten zur Nachmittagssitzung zu rufen. Verzweifelt öffnete sie eine Tür und fand sich draußen an der Flußseite des Gebäudes wieder. Fern ging den Weg zum Ufer hinunter. Vom Parlament hatte sie fürs erste genug.

Sie nahm den Pfad unter der Brücke, der in die Stadt führte. In ihrer augenblicklichen Stimmung wollte sie mit niemandem sprechen.

»Harry ist ein verdammter Dummkopf«, hatte Austin ihr einmal anvertraut.

»Das ist nicht fair«, hatte sie geantwortet. »Du gibst ihm ja keine Chance. Jeder von uns ist ein Anfänger, bis er sich in seinem Metier zurechtgefunden hat. Dir ist es nicht anders ergangen. Bei der Gründung der Farm sind dir auch ein paar schlimme Fehler unterlaufen, also spiel jetzt nicht den Neunmalklugen. Ich weiß noch, daß mir Justin ein paar von diesen Geschichten erzählt hat …«

»Welche zum Beispiel?«

»Zum Beispiel hast du einmal auf einer zu frühen Schur bestanden, und die armen geschorenen Schafe sind alle bei einem plötzlichen Kälteeinbruch erfroren.«

»Für das Wetter kann ich ja wohl nichts.«

»Ich will damit nur sagen, du solltest Harry eine Chance geben. Auf junge Männer muß das Parlament ganz schön einschüchternd wirken.«

»Das weiß ich selbst, aber schließlich bin ich es ja, der sich seine langweiligen Geschichten anhören muß. Er tut so, als sei er in den exklusivsten Club der Stadt eingetreten, und schwätzt von nichts anderem als vom gesellschaftlichen Leben.«

»Nun, so falsch liegt er damit doch gar nicht«, hatte Fern lachend erwidert. »Gib ihm ein bißchen Zeit zum Eingewöhnen.«

Das war vor drei Jahren gewesen. Harry und Connie waren inzwischen stadtbekannte Mitglieder der Gesellschaft von Brisbane und gaben rauschende Feste in ihrem Haus am Fluß, das Austin ihnen zur Hochzeit geschenkt hatte. Sie hatten Fern oft zu Abendgesellschaften und Konzerten eingeladen, aber nie zu den offizielleren Veranstaltungen, bei denen sie einen Begleiter benötigt hätte. Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß man Harry eher aufgrund seiner Partys als seiner politischen Arbeit kannte. Er tauchte zwar häufig im Gesellschaftsteil der Zeitung auf, doch keine seiner Reden hatte genügend Eindruck hinterlassen, um abgedruckt zu werden. Bei der Antrittsrede von Harrison J. Broderick war die ganze Familie anwesend gewesen, Fern eingeschlossen.

Damals hatte er über die Schändlichkeit der Landgesetze gesprochen!

»Oh, mein Gott«, sagte sie und blickte auf den sanft dahinströmenden Fluß hinaus. »Wird er etwa umschwenken?«

Austin hatte bei verschiedenen Gelegenheiten die Vorlagen zur Änderung der Landgesetze erwähnt und sich zuversichtlich gezeigt, daß sie niemals verabschiedet würden.

»Und wenn doch?« hatte Fern einmal gefragt.

»Dann stecke ich in der Klemme. Aber du solltest dir nicht deinen hübschen Kopf darüber zerbrechen.«

»Hübscher Kopf«, schnaubte sie und schritt energisch aus. Seine Frau war so selbstlos, so unterwürfig angesichts seiner Launen und Ansichten, daß er den Verstand einer Frau grundsätzlich unterschätzte. Wie er sie angefleht hatte, das Geschäft zu verkaufen, weil er befürchtete, sie könne bankrott gehen! Selbst jetzt glaubte er noch gern, sie befolge stets seinen finanziellen Rat, und bemerkte gar nicht, daß sie sich in vielen Fällen lieber auf ihr eigenes Urteil verließ.

Seit Austin die Landgesetze zum ersten Mal erwähnt hatte, hatte sie sich so gut wie möglich über deren Entwicklung informiert und versucht, bei den ständigen Debatten und Änderungsanträgen den Überblick zu behalten. Anscheinend hatte Harrys Gesprächspartner recht. Allmählich wandelten sich die Zeiten, und alles deutete auf den freien Grundbesitzerwerb hin. Harry hatte im Gespräch mit dem gerissenen James Mackenzie – sie war sich inzwischen ziemlich sicher, daß er dieser Mann gewesen war – das Wesentliche nicht erfaßt. Sicher war mit Geld viel zu erreichen, doch die Landmenge, die eine Person erwerben konnte, würde Beschränkungen unterliegen. Austin müßte somit einen großen Teil von Springfield abtreten. Das würde ihm das Herz brechen.

Sie stand treu auf der Seite der Squatter und glaubte, daß es den Männern, die die großen Besitzungen aufteilen wollten, nicht in erster Linie darum ging, die kleinen Siedler zu unterstützen, sondern die Macht der Squatter zu brechen. Sie wußten den ungeheuren Beitrag nicht zu schätzen, den die Schafzüchter durch harte Arbeit und sorgfältige Zucht für das Land geleistet hatten. Früher hatte es geheißen, Australien sei auf dem Rücken von Schafen zum Erfolg geritten, doch heutzutage schien man es vergessen zu haben. Und wie sah Harry die Sache? Spielte er etwa mit dem Gedanken, seinem Vater in den Rücken zu fallen?

Fern schritt die betriebsame Queen Street entlang und war dankbar für den Schatten, den ihr die Markisen boten. In ihrem Ärger war sie zu schnell gelaufen und fühlte sich verschwitzt und unbehaglich. Was konnte sie in dieser Sache unternehmen? Eigentlich nichts. Auch wenn sie gestand, daß sie das Gespräch belauscht hatte, konnte sie Harry kaum der Bestechlichkeit bezichtigen. Selbst wenn er Geld annahm, wußten erfahrene Politiker ihre korrupten Machenschaften zu kaschieren, indem sie die Transaktionen wie gewöhnliche Geschäfte aussehen ließen. Es wäre schwierig, ihnen etwas nachzuweisen. Und im Grunde wollte sie Austins Sohn natürlich gar nicht der Bestechung bezichtigen.

 

Das auf Pfählen gebaute Haus der Brodericks lag im Stadtteil Paddington. Durch die Veranda, die es von allen Seiten umgab, wirkte das Gebäude geräumig und luftig. Das hohe, steile Dach war mit Eisenblech gedeckt. Die hölzernen Außenwände, schmiedeeisernen Geländer und das Gitterwerk hatte man weiß gestrichen, die Regenrinnen in einem hellen Grün. Die filigranen Verzierungen aus Schmiedeeisen, die sich an den Geländern der breiten hölzernen Vortreppe wiederholten, verliehen dem ansonsten schlichten Haus eine gewisse Üppigkeit. Es war im typischen Queensland-Stil gehalten.

Früher hatte man die Häuser in Brisbane zu ebener Erde errichtet, doch als man begann, an den sandigen Flußufern Häuser auf Pfähle zu setzen, erweckte dies die Aufmerksamkeit der Architekten. Sie begriffen, daß diese Häuser mit dem darunterliegenden Stauraum nicht nur Schutz gegen Überschwemmungen boten, sondern auch kühler waren, was in der drückenden Hitze von Queensland von entscheidender Bedeutung war. In der Folgezeit kamen sie auch in hügeligen Gegenden wie Paddington in Mode, da sie sich über dem Gebüsch erhoben, in dem die Moskitos lebten, und vor allem eine atemberaubende Aussicht boten. Metallkappen wurden über die hohe Pfähle gestülpt und hielten die Termiten fern, während die hochgelegten Fußböden vor Schlangen schützten, dem Alptraum jeder Hausfrau in den Tropen.

Zu beiden Seiten der Vortreppe verbargen sich hinter dem hölzernen Gitterwerk zusätzlicher Lagerraum und Wäscheleinen, die sich besonders während der Regenzeit als nützlich erwiesen. Außerdem war es kostengünstiger, an Hängen gelegene Häuser auf Pfählen zu errichten.

Connie Broderick liebte ihr Haus. Es stand ohnehin schon auf einer Anhöhe und bot einen herrlichen Ausblick auf die Stadt und den Fluß, und da es zudem auf Stelzen thronte, schien man dem Himmel noch näher. Sie und Harry hatten viel Geld in die Verschönerung ihres Heims gesteckt. Auf der Veranda brachten sie große Leinwand-Jalousien an, die Schatten spendeten und vor den Monsunregen schützten. Die zahlreich vorhandenen Gartenmöbel konnten daher im Freien bleiben.

Eine Tür aus hölzernem Gitterwerk führte auf die kühle, geräumige Veranda, so daß der Blick der Besucher zuerst auf die eleganten Korbsessel und Sofas mit geblümten Kissen, die geschickt verteilten Beistelltische und Zimmerpalmen fiel.

Durch die eigentliche Haustür, die meist offenstand, gelangte man in das überaus gepflegte Interieur. Die Fußböden mit den weichen Perserteppichen glänzten; in jedem Zimmer standen prächtige Mahagoni-Möbel, deren Strenge durch deckenhohe Spitzenvorhänge gemildert wurde. Gegenüber dem offiziellen Salon lag das Musikzimmer, in dem ein Flügel thronte, und das Speisezimmer wartete mit einem Tisch auf, an dem zwölf Personen Platz fanden.

Mit letzterem war Connie ganz und gar nicht zufrieden. Sie hatte dieses Haus selbst eingerichtet und sich dabei genau an Bilder aus einem Londoner Journal gehalten, doch das Speisezimmer erwies sich als eine Enttäuschung. Harry war ein bedeutender Mann. Als seine Frau mußte sie ihre gesellschaftliche Position wahren, und für wirklich extravagante Dinnerpartys reichte der Raum einfach nicht aus. Irgendwann würde sie ein größeres Haus mit einem passenderen Eßtisch besitzen. Sie hatten so viele wichtige Freunde, daß man sich bei Einladungen kaum auf zehn Gäste beschränken konnte.

Zu ihrer Enttäuschung kam Harry an diesem Tag allein nach Hause. Donnerstags brachte er gewöhnlich nach der letzten Sitzung einige Freunde mit, und sie sprachen und scherzten bei einem Drink über die Woche im Parlament. Es war eine fröhliche Gesellschaft, und besonders Sam Ritter sah nicht nur unglaublich gut aus, sondern flirtete auch auf Teufel komm raus mit ihr. Connie vergötterte ihn; er gab ihr stets das Gefühl, sie sei etwas Besonderes. Vergangene Woche hatte er sie zu ihrem neuen Kleid, einem Traum aus weich fließendem rosa Organza mit üppigen Volants, beglückwünscht. Aus diesem Grund hatte sie es auch heute angezogen. Sie zupfte vor dem Spiegel ihre dunklen Locken zurecht und ging ihrem Mann entgegen. Vielleicht kam ja doch noch jemand nach.

Harry zog das Jackett aus, warf es auf einen der Tische und ließ sich in einen Verandasessel fallen, um die Schuhe auszuziehen.

»Oh, Harry«, rief Connie entsetzt, »du bist hier nicht im Busch. Zieh dich bitte drinnen aus.«

»Ich ziehe mich aus, wo es mir paßt«, gab er zurück, schleuderte die Schuhe von sich, zog die Krawatte aus und knöpfte den steifen Kragen ab.

Eilig hob sie die Kleidungsstücke auf. »Du kannst nicht in Hemdsärmeln hier sitzen. Ich hole deinen Hausrock.«

»Es ist verdammt noch mal zu heiß dafür. Bring mir lieber einen Whisky und kaltes Wasser.«

»Du könntest auch ›bitte‹ sagen. Kommt sonst noch jemand?«

»Nein, ich muß gleich wieder zurück. Komiteebesprechung.«

»Das geht nicht. Wir essen heute abend bei den Pattersons.«

»Sie haben abgesagt. Anscheinend ist Mrs. Patterson krank geworden.«

»Vielen Dank, daß ich es auch noch erfahre. Ich habe der Köchin für heute abend freigegeben.«

Er seufzte. »Der Whisky, Connie. Schaffst du wenigstens den ohne ihre Hilfe?«

Sie brachte das vorbereitete Tablett mit den Drinks heraus und stellte es vorsichtig auf dem Tisch ab. »Bedien dich. Ich nehme ein Glas Weißwein, wenn es nicht zuviel verlangt ist.«

Nachdem er ihr das Weinglas gereicht hatte, machte Connie es sich in ihrem Lieblingssessel gemütlich und sah ihn schmollend an.

Er kippte den Whisky hinunter, goß sich nach und kam endlich auf das zu sprechen, was ihm Kummer machte. »Ich stehe vor einer schweren Entscheidung.«

»Worum geht es?«

»Um die Landgesetze. Demnächst steht eine weitere Abstimmung an.«

»Ach, die alte Sache. Gibt es denn kein anderes Thema?«

»Ich werde diesmal gedrängt, dafür zu stimmen. Die Idee ist eigentlich gar nicht so schlecht, aber Austin wird einen Tobsuchtsanfall bekommen.«

»Mußt du denn immer tun, was er von dir verlangt? Es ist dein Sitz im Parlament, nicht seiner.«

»Es betrifft auch Springfield. Ich kann es ihm schwerlich erklären; er würde es nicht verstehen, und zum gegenwärtigen Zeitpunkt kommen solche Gespräche ohnehin nicht in Frage.«

»Würde es ihn sehr wütend machen, wenn du nach deinem eigenen Willen abstimmtest, ohne es ihm zu sagen?«

Harry starrte in sein Glas. »Wütend ist gar kein Ausdruck. Er würde mich vermutlich enterben.«

»Guter Gott! So wichtig kann das doch nicht sein.«

»Ist es aber.«

»Dann vergiß die Sache. Hast du bisher nicht gegen diese Vorlagen gestimmt?«

»Ja, aber da waren die Umstände anders gelagert. Diesmal sollte ich wirklich dafür stimmen.«

Connie war schockiert. »Harry, du bist verrückt. Du mußt wieder mit Nein stimmen.«

»Hast du nicht eben noch verlangt, ich solle nicht immer nach seiner Pfeife tanzen? Du änderst deine aber Meinung schnell.«

»Ich weiß ja nicht, worum es in diesen Vorlagen genau geht, aber ich kenne das Temperament deines Vaters. Du übrigens auch. Du kannst Springfield nicht aufs Spiel setzen. So weit würde er doch nicht gehen, oder?«

Connie bekam es mit der Angst zu tun. Tief im Herzen kannte sie die Antwort auf ihre Frage, und Harrys Nicken bestätigte es ihr.

»Dann solltest du mit Nein stimmen, Harry. Mir ist es egal, ob das gut oder schlecht ist; Springfield ist immerhin dein Erbe!«

Sie runzelte die Stirn, als er sich einen weiteren Drink genehmigte, wagte aber keinen Einwand.

Harry lehnte sich gedankenverloren zurück und streckte die langen Beine aus. Schließlich sah er sie an.

»Wir sind pleite, Connie. Schlicht und einfach pleite.«

»Was soll das heißen? Das kann nicht sein. Du hast doch viel Geld.«

»Ich hatte viel Geld«, korrigierte er sie. »Jetzt habe ich überall Schulden, selbst bei deinem Vater.«

»Was hast du mit dem ganzen Geld gemacht? Austin und Daddy haben uns bei der Heirat beträchtliche Beträge überschrieben, und dann war da noch die Erbschaft von meiner Tante …«

»Das fragst du mich?« versetzte er scharf. »Austin hat uns dieses Haus gekauft, und du konntest nicht aufhören, Geld auszugeben, seit du einen Fuß hineingesetzt hast. Nichts war dir zu teuer: ausländische Möbel, das beste Silber und Porzellan, und sogar den verfluchten Flügel mußtest du unbedingt haben, auf dem keiner von uns spielen kann. Ganz zu schweigen von deinen Kleidern … Du hast mehr Kleider, als meine Mutter in ihrem ganzen Leben besessen hat.«

Sie ignorierte seine Vorwürfe. »Unser Geld wurde angelegt, um uns ein angemessenes Einkommen zu sichern. Wenn ich zuviel ausgegeben habe, hättest du es mir sagen können. Wieso hast du dir von Daddy Geld geliehen? Erzähl mir doch nichts! Du hast wieder gespielt. Vor einem Jahr gab es zwischen dir und Austin einen Streit wegen des Glücksspiels, das habe ich selbst gehört. Du hast ihm damals hoch und heilig versprochen, damit aufzuhören.«

»Was macht das jetzt noch für einen Unterschied?« gab Harry zurück. »Wir sind pleite.«

»Das macht sehr wohl einen Unterschied! Du bist derjenige, der es verspielt hat. Ich lasse mich nicht von dir zur Bettlerin machen! Du bist ein Idiot, Harry Broderick.«

»Verstehe«, entgegnete er trocken. »Und was schlägst du vor?«

»Leih dir noch etwas von Austin.«

»Ich will nicht noch mehr Schulden machen. Außerdem wird er mir nichts mehr leihen. Es ist schon eine komische Situation: Wenn ich mit Nein stimme, ist er zufrieden, und ich bin pleite. Stimme ich mit Ja, erlassen mir gewisse Freunde die Schulden und befördern mich vielleicht sogar in Aufsichtsräte, die mir für meine Arbeit gutes Geld zahlen. Natürlich Freunde aus der Opposition«, fügte er hinzu.

»Das ist doch Wahnsinn! Ich würde mich auf Austins Seite stellen.«

»Von Austin habe ich nichts mehr zu erwarten. Du könntest mit deinem Vater sprechen. Sag ihm, wir hätten in letzter Zeit zusätzliche Ausgaben gehabt …«

»Das werde ich nicht tun. Ich werde mich keinesfalls deinetwegen vor ihm demütigen.«

Connie schwieg und fragte sich, ob ihr Mann das gleiche dachte wie sie: Wäre Austin dem Schlaganfall erlegen, hätten sie ausgesorgt. Harry würde einen Anteil an einer der größten Schaffarmen des Staates besitzen …

»Möchtest du etwas essen, bevor du wieder weg mußt?« fragte sie schließlich.

»Nur ein Sandwich. Ich bin nicht allzu hungrig.«

 

Nachdem er gegessen und das Haus verlassen hatte, bestrich sich Connie selbst einige Scheiben Brot mit Butter und Marmelade, holte sich aus der Vorratskammer etwas Kuchen und trug dies alles, zusammen mit einem Glas Limonade, auf einem Tablett in den Salon. Wenn sie schon – wieder einmal – allein zu Hause bleiben mußte, wollte sie es sich wenigstens gemütlich machen.

Sie versuchte, sich mit einigen Zeitschriften von ihren Problemen abzulenken, warf sie aber schon bald ungeduldig zu Boden. »Wie kann er es wagen, mir Vorwürfe zu machen! Ich habe das Geld immerhin für etwas Greifbares ausgegeben. Er hat nichts vorzuweisen außer Spielschulden und einer Schublade voller unbezahlter Rechnungen!«

Connie fiel ein, daß ihre Mutter erst kürzlich eine Bemerkung über Pferderennen fallen gelassen hatte.

»Meine Liebe, du solltest dafür sorgen, daß er nicht ganz so oft zum Rennen geht. Sicher könnt ihr am Samstagnachmittag auch etwas anderes unternehmen.«

»Mir machen die Rennen Spaß, Mutter. Alle unsere Freunde gehen hin«, hatte sie geantwortet.

War das eine Warnung gewesen? Gab es etwas, das sie ihrer Tochter nicht offen sagen wollte?

»Verdammt!« rief Connie aus, »ich hätte darauf bestehen sollen, daß er mich über die Höhe seiner Schulden informiert!«

Doch wozu sollte das gut sein? Es würde sie höchstens noch mehr aufregen. Was hieß eigentlich pleite? Besaßen sie überhaupt kein Geld mehr? Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie hatte einmal ein Ehepaar gekannt, das sein Haus verkauft hatte, in einem Ort auf dem Land untergetaucht und damit völlig aus der guten Gesellschaft verschwunden war, weil die beiden ihr ganzes Geld verloren hatten. Connie fürchtete, es könnte ihr ebenso ergehen.

»So weit darf es nicht kommen«, sprach sie mit Nachdruck zu sich selbst. »Ich werde meine Eltern nicht um Geld anbetteln. In diesem Fall wäre es wohl das beste, ihn zu verlassen und ganz zu ihnen zurückzukehren.« Diese Lösung erschien ihr die vernünftigste. Nicht selten verließen Mädchen ihre Männer und kehrten aus Gründen, die man geflissentlich unerwähnt ließ, in ihr Elternhaus zurück. Man ging gewöhnlich davon aus, daß der Ehemann ein übler Charakter war. Je länger Connie über diesen Ausweg nachdachte, desto annehmbarer erschien er ihr. Es kam nur auf den richtigen Zeitpunkt an. Falls Harry am Rande des Ruins stand, würde sie als seine Frau jedenfalls nicht seelenruhig dasitzen und auf den Gerichtsvollzieher warten. Diese Demütigung wäre einfach zu groß. Sie würde ihre Koffer packen und verschwinden, bevor es zu spät war.

Harry war durch pure Dummheit in diese Klemme geraten. Die offensichtliche und wohl einzige Lösung bestand für ihn darin, sich auf Gedeih und Verderb seinem Vater auszuliefern. Wie konnte er da diesen Lobbyisten überhaupt Gehör schenken? Doch das war typisch für Harry: Er bevorzugte kurzfristige Lösungen, mit denen er regelmäßig scheiterte – so schloß er beispielsweise immer höhere Wetten ab, um seine Verluste auszugleichen, nur um noch mehr dabei zu verlieren.

Wenn er nicht an Austin schreiben wollte, würde Connie es eben tun. Es war völlig unnötig, ihren Schwiegervater durch die Erwähnung dieser verfluchten Abstimmung noch weiter gegen sich aufzubringen.

Andererseits – warum eigentlich nicht? Erst jetzt wurde ihr richtig bewußt, was die Angebote dieser sogenannten Freunde bedeuteten. Austin würde es recht geschehen, wenn er Harry durch seinen Geiz in die Arme der Opposition triebe. Indem er sich weigerte, Harry finanziell unter die Arme zu greifen, ließ er seinem Sohn keine andere Wahl.

Victor hatte in einem Brief von Austins Fortschritten berichtet. Er litt noch unter Lähmungserscheinungen, doch seine geistigen Fähigkeiten waren durch den Schlaganfall nicht beeinträchtigt worden. Also würde er Harrys Lage begreifen können.

Plötzlich klopfte es an der Haustür. Connie fuhr zusammen und überlegte fieberhaft, ob Gerichtsvollzieher wohl auch abends arbeiteten. Oder pochte da ein Gläubiger auf sofortige Zahlung? Sie spielte mit dem Gedanken, sich zu verstecken, doch dann vernahm sie eine vertraute Stimme. »Hallo? Jemand zu Hause?«

Es war Sam Ritter.

Eilig zog sie sich die Schuhe an, sammelte die Zeitschriften ein und warf einen Blick auf die kläglichen Überreste ihres kargen Mahls. Dann strich sie sich das Kleid glatt, richtete vor dem Spiegel noch schnell ihr Haar und lief hinaus, wobei sie die Salontür hinter sich schloß.

»Sam, was für eine nette Überraschung. Komm herein«, sagte sie und führte ihn ins Musikzimmer.

Er lehnte sich lässig gegen den Flügel. »Connie, du siehst wirklich wundervoll aus. Du wirst von Tag zu Tag hübscher.

Wo steckt denn der gute Harry?«

»Er mußte noch einmal ins Parlament zu einer Besprechung.«

Sie sah ihn kurz blinzeln. »Besprechung? Ja, natürlich. Der Fluch unseres Lebens.« Da wußte sie, daß Harry gelogen hatte. Aber wo sollte er sonst hingegangen sein?

Sam machte keinerlei Anstalten zu gehen, und Connie, die seine Gesellschaft genoß, bot ihm einen Sherry an. »Gute Idee. Ich bin auf dem Weg zu einem Essen in Newstead House. Tödlich langweilige Angelegenheit zu Ehren eines alten Knaben von der Royal Historical Society. Ich habe es also nicht sonderlich eilig.«

Während sie die Drinks einschenkte, spielte er gekonnt einen Lauf auf den Tasten. »Ich liebe diesen Flügel. Ich selbst besitze ja auch nur ein Klavier.«

Connie lachte. Sam Ritter war allgemein als reicher Mann bekannt, der von seinem Vater eine große Summe geerbt und gewinnbringend investiert hatte, indem er Luxusgüter importierte. Er besaß riesige Lagerhäuser am North Quay, und in New Farm ein herrliches Haus mit Blick auf den Fluß. »Spiel mir etwas vor«, bat sie. »Ich kann ein bißchen Aufmunterung gebrauchen.«

Er wollte sich gerade auf den Hocker setzen, hielt aber inne und sah sie aufrichtig besorgt an. »Wieso? Was ist denn los?«

»Nichts Besonderes.«

»Das nehme ich dir nicht ab, meine Liebe. Wo drückt der Schuh?«

»Überall«, erwiderte sie unglücklich.

Er nahm sein Sherryglas. »Nun, dann sollten wir zuerst auf unsere Gesundheit anstoßen. Komm schon … chin-chin … und weg damit!«

Sam kippte seinen Sherry hinunter und lachte, da Connie mehrere Schlucke für ihren benötigte. »Sehr schön. Und jetzt setzen wir uns hier drüben hin, und du erzählst mir alles.«

Auf dem Sofa brach Connie in Tränen aus. Sie konnte unmöglich zugeben, daß sie pleite waren. Vielleicht schuldete Harry Sam ebenfalls Geld, außerdem klang es so erbärmlich. Dann fiel ihr der ursprüngliche Plan wieder ein.

Er legte tröstend den Arm um sie, während sie in ihr Taschentuch schluchzte. »Komm schon, Liebes, erzähl dem alten Sam, was dich bedrückt.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.« Das Selbstmitleid trieb ihr erneut die Tränen in die Augen.

Sam zog sie an sich und küßte sie auf die Wange. »Nicht weinen. So schlimm kann es doch nicht sein.«

»Es geht um Harry«, flüsterte Connie. »Er behandelt mich fürchterlich. Er macht mir das Leben zur Hölle. Ich fürchte mich inzwischen schon vor dem Moment, in dem er nach Hause kommt.«

Das stimmte ja auch, denn er brachte immer wieder schreckliche Neuigkeiten mit.

»Guter Gott«, sagte Sam leise, »ich hatte ja keine Ahnung. Wie, ich meine, in welcher Hinsicht mißhandelt er dich?«

»Frag mich bitte nicht«, schluchzte sie. »Es ist einfach zu furchtbar, Sam. Ich bin so froh, daß du hier bist. Ich weiß weder ein noch aus.«

»Mein armer Liebling«, murmelte er und hielt sie plötzlich in seinen Armen. Seine Lippen waren wunderbar weich. Sams elegante Erscheinung unterschied sich beträchtlich von der ihres aufgrund seiner Größe ungelenk wirkenden Mannes, was seine Anziehungskraft noch verstärkte. Zudem war er immer gut gelaunt. In seinen sonst so fröhlichen blauen Augen las Connie nun Besorgnis und fühlte sich getröstet. Sie genoß seine Küsse und Liebkosungen, die ihr so unendlich guttaten, und preßte sich voller Leidenschaft an ihn.

»Oh, Connie«, flüsterte er, »ich liebe dich. Ich habe dich immer geliebt. Weißt du das denn nicht?«

Sie war sprachlos vor Aufregung angesichts dieses Geständnisses. Als ihr Liebesspiel intimer wurde, traf sie eine Entscheidung, denn dieses harte Sofa war der Situation keineswegs angemessen. Sie wollte Sam zeigen, daß sie seiner Liebe wert war.

Im behaglich weichen Doppelbett gab sich Connie mit nie gekannter Erregung Sams Leidenschaft hin, erlebte ihn als wunderbaren Liebhaber, lauschte seinen Liebesschwüren und schwelgte in einer neuen, ungehemmten Lust …

Dann schneite Harry herein.

 

Er war bei einer Besprechung gewesen, die allerdings nicht im Parlament stattfand, sondern in James Mackenzies Cottage in South Brisbane. Die vier Männer tranken Bier und kauten unermüdlich das Für und Wider des Gesetzentwurfes durch, der dem Parlament in der kommenden Woche vorgelegt werden sollte.

Harry hörte zu und diskutierte mit, doch seine Besorgnis wuchs. Er wußte, daß sich ihm hier eine willkommene Gelegenheit bot, sich aus Austins finanzieller Umklammerung zu befreien; doch wäre dies die zu erwartende Rache seines Vaters wert?

»Und bedenken Sie, daß nun jeden Moment auch das andere Gesetz verabschiedet werden kann, über Aufwandsentschädigungen für Parlamentsmitglieder«, sagte James. »Wenn Sie bei uns bleiben, Harry, bringen wir die Sache noch einen Schritt weiter. Das Programm der Labor Party fordert, daß alle Abgeordneten eine anständige Bezahlung erhalten, da sie lebenswichtige Interessen des Volkes vertreten. Die reichen Parlamentarier verschwenden natürlich keinen Gedanken daran, daß wir große Opfer bringen, indem wir unseren Pflichten nachkommen und die Wahlbezirke betreuen, was uns wiederum wenig Zeit zum Geldverdienen läßt.«

Harry nickte. »Das ist nur allzu wahr.«

»Wir wissen, daß Geld für Sie eigentlich keine Rolle spielt«, warf ein anderer Mann ein. »Junge Leute wie Sie müssen jedoch einsehen, daß sie gewählt wurden, um für alle Menschen dazusein und, mit Verlaub, nicht nur für die Reichen.«

»Diesem Vorwurf müssen Sie entgegentreten«, fügte James hinzu. »Verlassen Sie sich auf Ihre Integrität und stimmen Sie für das Volk, oder vertreten Sie weiterhin die überholten Interessen der Elite? Ihre Situation ist schwierig, da in diesem Fall Familieninteressen gegen die Interessen von Queensland stehen. Man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, daß Sie sich in einem Interessenkonflikt befinden, der Ihre Stimmabgabe im Grunde ungesetzlich macht.«

»Ich wurde ebenso zum Abgeordneten gewählt wie Sie«, entgegnete Harry aufgebracht. »Wie kann meine Stimme da ungesetzlich sein!« Er erhob sich. »Ich muß jetzt gehen. Ich werde das alles am Wochenende überdenken.«

Als er gegangen war, nickten die Labor-Vertreter einander zu. »James, du hast ihn beinahe soweit. Bleib dran.«

Ein Mann zögerte. »Ich verstehe das nicht. Er mag zwar verschuldet sein, doch wo liegt das Problem? Sein Vater wird ihm schon aus der Patsche helfen.«

James grinste. »Vielleicht aber auch nicht. Ich habe gerüchteweise gehört, daß der alte Broderick noch vor seinem Schlaganfall die Kasse dichtgemacht hat. Es heißt, sein Zustand sei ernst, aber nicht lebensbedrohlich. Daher kann es dauern, bis ihm Harrys Klagen zu Ohren kommen. Wir müssen einfach den Druck auf den Jungen verstärken. Wie steht es mit Ned Lyons? Harry schuldet ihm eine Menge Geld. Könnte man ihn dazu bringen, uns zu helfen?«

»Sicher. Er schickt einen seiner Burschen vorbei, und der kitzelt ihn ein bißchen.«

»Es muß morgen sein, und Kitzeln reicht nicht aus.«

»Soll er ihn fertigmachen?«

James lachte. »Nein, schlimmer. Er muß begreifen, daß er keinen Penny mehr auf Pferde setzen kann, wenn er nicht bis Samstag bezahlt hat. Daraufhin gerät er gewiß in Panik … Er will im Rennclub doch nicht als Idiot dastehen.«

»Sind wir so dringend auf ihn angewiesen?«

»Ja. Die Mehrheit der Regierung ist denkbar knapp; diesmal könnten wir es schaffen. Mein Sohn und seine Freunde stehen schon in den Startlöchern. Wenn das Land frei wird für Siedler, dann ist das besser als jeder Goldrausch.«

»Das wird aber auch allmählich Zeit. Die Squatter haben sich viel zu lange ein schönes Leben gemacht. Kommt, wir gehen die Zahlen noch einmal durch, uns bleiben nur noch vier Tage.«

Sie durchkämmten ihre Listen, suchten nach weiteren möglichen Überläufern aus dem Regierungslager, überlegten, wie man die Anwesenheit aller ihrer Anhänger bei der Stimmabgabe sicherstellen konnte, wählten die besten Redner für die Debatte aus und grübelten bis spät in die Nacht über die Gesetzesvorlage. Harry war für sie kein Thema mehr.

 

Fern Broderick schloß ihren Laden ab und schlenderte gemächlich hügelaufwärts zu ihrem Haus in Wickham Terrace. Sie war so müde, daß sie die Schritte zählte und vor Erleichterung seufzte, als sie die Tür erreicht hatte. Die ganze Zeit über hatte sie gegen den Drang angekämpft, eine Droschke zu nehmen und zu Harry zu fahren. Sie spürte das Bedürfnis, mit dem jungen Mann zu sprechen, doch ihre müden Knochen erlaubten es jetzt nicht.

»Vielleicht sollte ich allmählich daran denken, mich aus dem Geschäft zurückzuziehen«, sagte sie zu Bonnie, dem Hausmädchen, und ließ sich in den erstbesten Wohnzimmersessel sinken. »Es wird mir zuviel.«

»Sie hätten nicht zu Fuß gehen sollen. Dieser Hügel ist steil. Wo Sie doch schon den ganzen Tag auf den Beinen sind, sollten Sie wenigstens abends eine Droschke nehmen.«

Fern lächelte und zog die Nadeln aus ihrem Hut. Bonnie war schon oft im Juweliergeschäft gewesen, betrachtete ihre Herrin aber noch immer als eine Art Verkäuferin, die hinter der Ladentheke stand und nicht in einem Büro im hinteren Teil des Ladens residierte. Einem sehr gemütlichen Büro hinter Glasscheiben, in dem sie mit Edelsteinhändlern und besonderen Kunden verhandelte. Die Vorhut im Laden bildeten zwei erfahrene Verkäufer, die schon seit Jahren für die Brodericks tätig waren.

Dankbar zog sie die Schuhe aus und trank den Tee, den Bonnie ihr brachte. Danach ging sie ins Badezimmer. Sie wollte Harry unangekündigt nach dem Essen aufsuchen, doch zunächst verlangten Körper und Seele nach einem langen, heißen Bad.

Bonnie sah sie überrascht an, als sie einige Zeit später in ihrem grauen Kostüm ins Speisezimmer herunterkam. »Gehen Sie noch einmal aus, Mrs. Broderick?«

»Vielleicht. Ich denke noch darüber nach.«

Fern nahm ihr Abendessen auch dann im Speisezimmer ein, wenn sie allein war. Einsam fühlte sie sich nie. Sie genoß diesen Teil des Tages: eine gute Mahlzeit, ein Glas Wein, Ruhe … Vor dem Fenster verzogen sich die Vögel allmählich zum Schlafen ins Gebüsch, und die Currawongs stimmten ihren abendlichen Gesang an.

Fern überdachte ihren Plan. Connie war sicher zu Hause. Sie konnte weder verlangen, daß Harrys Frau sie beide allein ließ, noch das Thema in ihrer Gegenwart anschneiden. Auf keinen Fall wollte sie in der Familie Zwietracht säen. Möglicherweise würde Harry auf ihre Einmischung mit Zorn reagieren, vor allem, da sie durch Lauschen zu ihrem Wissen gelangt war.

Allmählich redete sie sich das Vorhaben selber aus. Schließlich war ihr Neffe kein Kind mehr. War er wirklich auf die Ratschläge seiner Tante angewiesen? Was wollte sie ihm überhaupt raten?

Vielleicht würde er ihr sogar die Tür weisen, und das mit Recht.

»Nein, ich bleibe doch hier«, teilte sie der erleichterten Bonnie mit. »Meinen Kaffee trinke ich am Schreibtisch.«

Austin war entsetzt gewesen, daß eine Dame ein Rollpult in ihrem Wohnzimmer aufstellte. Fern gefiel es dort besser, da ihr das hintere Zimmer, in dem Justin gearbeitet hatte, zu abgeschieden erschien.

Nun saß sie mit der Feder in der Hand vor einem leeren Blatt Papier. Vielleicht sollte sie an Harrys Mutter appellieren. Austin konnte sie wohl kaum schreiben; es wäre grausam, einen kranken Mann derart zu beunruhigen.

Fern fiel ein, daß sie auf ihren eigenen Brief keine Antwort erhalten hatte. Vermutlich war Charlotte zu sehr mit wichtigeren Dingen beschäftigt, um auch noch auf die vielen Genesungswünsche seiner Freunde zu reagieren.

Liebe Charlotte, schrieb sie.

Ich hoffe, Dir geht es gut und Austins Genesung macht Fortschritte. Connie hat mir jedenfalls berichtet, er sei auf dem Wege der Besserung. Es fällt mir schwer, diesen Brief zu schreiben, weil ich mich nicht in Eure Angelegenheiten mischen möchte, aber ich habe erfahren, daß Harry in finanziellen Schwierigkeiten steckt …

»Nein«, sagte sie laut, »das kann ich so nicht schreiben. Klingt zu sehr nach Petzen. Unmöglich.«

Sie zerknüllte die Seite und warf sie in den Papierkorb. »So etwas sollte man nicht brieflich erledigen.«

Sie rief nach Bonnie. »Was hältst du von einem Besuch auf der Springfield Station?«

»Ich? Wann denn?«

»Sobald ich im Laden alles geregelt habe. Anfang nächster Woche.«

»Wunderbar. Endlich machen Sie einmal Urlaub. Wie kommen wir dorthin?«

»Mit Bahn und Kutsche. Es ist eine lange Reise.«

»Klingt nicht sehr erholsam, diese Kutschen holpern doch so. Sind Sie wirklich fest entschlossen?«

Bonnie hatte recht. Ein Arzt würde einer Frau in mittleren Jahren wohl kaum eine so lange, unbequeme Reise empfehlen, selbst wenn am Ziel Austins behagliches Haus auf sie wartete. Zudem galt es auch die beschwerliche Rückreise zu bedenken.

»Nein«, gab sie zu Bonnies Überraschung zurück. »Aber ich habe das Gefühl, ich sollte es tun.«

»Ach so, Sie machen sich Sorgen um Mr. Austin?«

Fern nickte und fügte im Geiste hinzu: Um ihn und seinen verfluchten Sohn. Was sollte sie überhaupt sagen, wenn sie erst einmal dort war? Den Eltern erzählen, daß er in Schwierigkeiten steckte? Vielleicht wäre eine ruhige Unterredung mit dem besonnenen Victor die vernünftigere Lösung.

Oder sollte sie besser zu Hause bleiben und sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern? Wollte sie denn wirklich fahren, um zu helfen, oder benutzte sie Harry als Vorwand, um Austin wiederzusehen?

 

Harry stand mit der Tweedjacke über der Schulter und der Krawatte in der Hand in seiner Schlafzimmertür. Die Schuhe hatte er auf der Veranda gelassen. Er kam sich dumm vor, wie er da in Socken auf der Schwelle stand und sein Bett anstarrte. Besser gesagt, die beiden Menschen in seinem Bett, zwei Körper, zerknüllte Laken, Kopfkissen auf dem Boden. Im Zimmer war es dunkel, das einzige Licht drang aus dem Flur hinter ihm herein.

Er war der Eindringling. Peinlich berührt, wollte er sich schon mit einer Entschuldigung abwenden und die Tür hinter sich schließen. Er war ohnehin verwirrt und deprimiert, doch nun verstand er die Welt nicht mehr. Er sah sich um. Dies war doch sein Schlafzimmer, oder etwa nicht?

Plötzlich entstand heftige Bewegung im Bett. Körper lösten sich voneinander. Jemand umklammerte die Decken. Harry schüttelte den Kopf, während ihm ganz allmählich die Tragweite dieser Szene aufging. Aus seiner Kehle drang nur ein Krächzen. »Was geht hier vor?«

»Harry!« kreischte die Frau. Seine Frau. Connie.

Der Mann stolperte aus dem Bett. Nackt. Er war tatsächlich splitternackt! In seinem Haus! Tastete nach seinen Kleidern. Harry war wie gelähmt. Er wollte eine Erklärung, einen Hinweis, wie er sich verhalten sollte, denn sein Körper war kraftlos und zitterte.

Dann sagte der Mann etwas und stöberte in einer dunklen Ecke des geräumigen Zimmers herum. Harry verstand ihn nicht, erkannte aber im dämmrigen Licht Sam Ritter, der ihm seinen weißen Hintern entgegenstreckte.

Harry explodierte. »Ihr Schweine!« brüllte er los und stürmte davon. Für einen couragierten Mann gab es in einer derartigen Lage nur eines: Er riß den Dielenschrank, auf, in dem er seine Waffen aufbewahrte, ließ die eleganten Gewehre links liegen, griff gleich nach einer doppelläufigen Schrotflinte mitsamt den Patronen und schlitterte über den blank gebohnerten Boden zurück ins Schlafzimmer. Unterwegs lud er die Waffe.

Inzwischen waren beide halb angekleidet. Sam trug Hosen und Schuhe und knöpfte gerade sein Hemd zu. Sie war schon in ihr geblümtes Kleid geschlüpft, doch ihr Haar wirkte völlig zerzaust. Sieht aus wie ein Rattennest, dachte er. Die Assoziation paßte.

»Raus aus meinem Haus, ihr verfluchten Ratten!«

Sie duckte sich hinter die Frisierkommode aus Mahagoni mit dem großen Spiegel, die ihn ein Vermögen gekostet hatte. Sam blieb, taktisch geschickt, hinter dem Bett stehen. »Hör zu, alter Junge, ich kann dir alles erklären. Leg das Gewehr weg.«

Ihre schrille, unnatürlich klingende Stimme wirkte wie ein Echo. »Bitte, Harry, leg das Gewehr weg. Sei nicht dumm.«

»Wie kannst du es wagen, mich dumm zu nennen?« schrie er und richtete die Waffe nun auf sie. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Raus aus meinem Haus.«

Sams Stimme klang betont ruhig. »Gut, ich gehe. Ich gehe ja schon. Du gibst mir den Weg frei, und ich gehe.«

Über den nächsten Schritt hatte Harry noch gar nicht nachgedacht. Er war völlig verwirrt. Empört. Als er Regentropfen gegen das eiserne Dach klatschen hörte, freute er sich. Brisbane brauchte den Regen dringend. Er lauschte dem heftiger werdenden Prasseln, dem Wind, der an der losen Dachrinne rüttelte, die er schon vor Monaten hatte reparieren lassen sollen.

»Wenn du mit dem Gewehr in den Salon gehst, verschwinde ich«, sagte Sam. »Wir können morgen über alles sprechen.«

»Was?« Harry fühlte sich mit Gewalt in seinen Alptraum zurückgerissen. Seine Frau und sein bester Freund! Jetzt war er den Tränen nahe, entschied sich aber für Vergeltung. Das verlieh ihm neue Stärke, und das Gewehr trug seinen Teil dazu bei. Verwundert stellte er fest, daß er sich noch nie im Leben so stark gefühlt hatte. Immer hatte er die Befehle anderer befolgt; nun war er selbst am Zug.

»Du gehst nirgendwohin«, sagte er zu Sam. »Sie übrigens auch nicht. Ich werde euch beide erschießen. Und niemand wird mich dafür bestrafen.«

Zum Beweis zielte er auf das Bett, in dem er nie wieder schlafen würde. Das Kopfende zersplitterte. Bettfedern stoben in alle Richtungen. Als der ohrenbetäubende Lärm losging, hatten sich die beiden zu Boden geworfen. Harry lud durch.

Connie kreischte. Als sich der Federwirbel ein wenig gelegt hatte, stand Sam auf.

»Sei doch vernünftig, Harry. Du kannst uns nicht erschießen. Mach dir doch nichts vor. Sie werden dich dafür hängen.« Er kam langsam um das zerschmetterte Bett herum. »Gib mir die Waffe.«

»Verschwindet aus meinem Haus!«

»Ich gehe ja schon. Aber nicht mit einer Kugel im Leib. Also zurück mit dir! Geh mir aus dem Weg!«

Harry war erschüttert angesichts dieser Wendung. Der höfliche, gewandte Partylöwe Sam Ritter klang auf einmal wie Austin. Wie war das möglich? Harry fühlte sich betrogen. Nicht genug damit, daß sein Freund seine Ehre verletzt hatte, nun legte er auch noch Autorität an den Tag, jene verhaßte Autorität, der er sich zu Hause, in der Schule und im Parlament sein Leben lang hatte beugen müssen. Die Leute des Premierministers, die Freunde seines Vaters, alle schrieben sie ihm vor, was er zu tun hatte, wo er sitzen und wie er abstimmen sollte. Aber nicht mehr lange. Er würde ausbrechen. Wenn er konnte.

Sam starrte ungerührt in die beiden Läufe, die auf ihn gerichtet waren. Schade. Zwischen ihnen würde es nie mehr wie früher sein. Sein guter alter Freund. Eigentlich wollte er gar nicht ihn erschießen, sondern sie. Die Hure.

»Raus«, sagte Harry schließlich. Dann schossen ihm Sams Worte durch den Kopf: Sie werden dich dafür hängen. Doch es war eine Frage der Ehre.

»Raus«, wiederholte er. »Und nimm sie mit.«

Connie kroch hinter dem Bett hervor und rannte zu Sam. »Raus hier, aber schnell!« brüllte Harry und trieb die beiden durch den Flur vor sich her. Connie war noch barfuß. Harry spürte, wie ihn ein nie gekanntes Gefühl der Macht durchflutete. »Ich werde nicht schießen, wenn ihr verschwindet. Versprochen. Aber dreht euch gefälligst nicht um.«

»Laß mich nur schnell Schuhe und Mantel holen«, bat sie. Sie war tatsächlich in Tränen ausgebrochen, dabei hätte er sehr viel mehr Grund zum Weinen gehabt. Zufrieden stellte Harry fest, daß es draußen mittlerweile in Strömen goß.

Er feuerte einen weiteren Schuß ab, der den Garderobenständer traf. Auf die drei ging ein Regen aus Holzsplittern nieder. »Weiter«, donnerte Harry und trieb die beiden zur Haustür und auf die Veranda hinaus. Er genoß den Anblick seiner Frau, der Hure, die einer Ohnmacht nahe war und von ihrem Galan über die Veranda und nach draußen in den Regen geschleift wurde. Sie liefen auf das Gartentor zu. Harry wachte als Verteidiger von Heim und Herd über ihren Rückzug, die Schrotflinte immer an seiner Seite.

»Auf Nimmerwiedersehen!« rief er hinter ihnen her und knallte die Tür zu.

 

Connie klammerte sich an Sam fest. »Gott, ist mir übel. Was sollen wir jetzt machen?«

»Himmel, das weiß ich doch nicht!«

»Wir können hier nicht stehenbleiben. Ich bin schon völlig durchnäßt.« Allmählich dämmerte ihr, daß sie nicht allein waren. Überall standen die Nachbarn, von den Schüssen aufgeschreckt, in ihren Vorgärten und beäugten neugierig das zerzauste Paar.

»Ich muß gehen«, sagte er. »Morgen bringe ich die Sache in Ordnung. Harry ist schwach, er wird sich wieder beruhigen.«

»Und was ist mit mir?«

»Geh zurück und sag ihm, daß es dir leid tut.«

»Bist du verrückt? Er hat ein Gewehr.«

»Harry wird dich schon nicht erschießen.«

»Ach, nein? Vielleicht erschießt er mich ja auch nicht, sondern prügelt mich nur grün und blau. Ich gehe nicht mehr in dieses Haus zurück. Ich gehe mit dir.«

Sie rannte hinter ihm her. »Bleib stehen, Sam! Du bist zu schnell für mich.«

Wütend wandte er sich um. »Ich sagte, du sollst zurückgehen.«

Nun standen sie im strömenden Regen an der Straßenecke und stritten sich.

»Ich komme mit. Mit zu dir.«

»Zu mir?« keuchte er. »Das ist unmöglich. Sieh dich doch an! Du bist nicht einmal richtig angezogen.«

»Was macht das schon?« schluchzte sie. »Ich dachte, du liebst mich.«

»Das tue ich ja auch«, erwiderte er versöhnlich. »Aber gerade ist meine Mutter aus Melbourne zu Besuch da. Mein Gott, Connie, du kennst sie nicht. Wenn sie dich so sieht, wirft sie dich glatt aus dem Haus.«

»Wir könnten ihr ja sagen, daß wir vom Regen überrascht worden sind.«

»Und dann? Sie wird dir eine Droschke rufen. Geh nach Hause, um Gottes willen. Sag ihm einfach, es täte dir leid.«

Doch Connie gab nicht so schnell auf. »Es tut mir aber nicht leid. Und deine Mutter interessiert mich nicht die Bohne. Ich weiß nicht, wo ich hin soll. Ich komme mit zu dir. Morgen schicken wir einen Diener los, der meine Sachen holt. Sam, es wird alles gut. Vielleicht wird man eine Weile über uns reden, aber wenn wir einander lieben, spielt das doch keine Rolle. Wir beide gehören zusammen. Das haben wir heute nacht bewiesen. Du liebst mich, und nach dieser wundervollen Nacht weiß ich, daß ich das gleiche für dich empfinde.«

Sam packte und schüttelte sie mit einem abschätzigen Blick auf das armselig wirkende dünne Kleid, das an ihrem Körper klebte. »Hör auf, Connie, Schluß jetzt! Du bist verständlicherweise durcheinander, aber ein bißchen Vernunft kann ich doch wohl von dir erwarten. Du bist eine verheiratete Frau; ich kann dich nicht einfach so mit nach Hause nehmen. Und wo soll ich übrigens bei diesem Wetter eine Droschke hernehmen?«

»Das kann nicht dein Ernst sein!« schrie sie. »Du hast gesagt, du liebst mich!«

»Und du hast gesagt, Harry sei ausgegangen!«

An der nächsten Ecke setzten sie ihre Auseinandersetzung fort. Connie klammerte sich hysterisch an Sam fest, der wiederum versuchte, sie abzuschütteln.

Mittlerweile hatten sie beinahe schon die Innenstadt erreicht. Endlich gelang es ihm, eine Droschke anzuhalten. Seine Geduld war jetzt unwiderruflich zu Ende. »Ich nehme dich nicht mit zu mir nach Hause, kapier das endlich. Wo soll ich dich also absetzen?«

»Nirgendwo! Auf der Straße! Mir ist alles egal.«

»Sei vernünftig, Connie. Wohin willst du fahren? Soll ich dich zu deinen Eltern bringen? Du kannst dir doch irgendeine Geschichte für sie ausdenken.«

»Nein!« kreischte sie. »So, wie ich aussehe! Mein Vater würde geradewegs zu Harry fahren. Wenn er hört, was passiert ist, möchte ich lieber deiner Mutter als ihm gegenübertreten müssen.«

»Dann lasse ich mich von dieser Droschke jetzt nach Hause bringen, und du kehrst damit anschließend zu Harry zurück.«

Connies Tränen waren inzwischen versiegt. »Harry hatte recht.« Sie spie die Worte förmlich aus. »Du bist ein Schwein! Ein verdorbenes, dreckiges Schwein! Bring mich nach Wickham Terrace.«

»Wer wohnt da?«

»Fern Broderick.«

»Harrys Tante?«

»Was geht es dich an.«

 

Nur Austin und Bonnie wußten, daß sich Fern ab und an in ihrem Salon einen edlen Stumpen ansteckte. Tatsächlich hatte Austin ihr eine Kiste davon selbst gekauft. Justin, der weniger Humor besessen hatte als sein Bruder, wäre entsetzt gewesen.

Nun saß sie rauchend am Schreibtisch und dachte noch immer über das Problem Harry Broderick nach. Allmählich rückte sie von der impulsiven Idee einer Reise nach Springfield ab, da Charlotte ihren letzten Brief nicht beantwortet hatte. Über dem Schreibtisch hing ein Porträt der Brüder, auf dem sie sehr ernsthaft und unpersönlich wirkten. Justin saß, und Austin, der neben ihm stand, hatte die Hand auf seine Schulter gelegt.

Fern staunte noch immer darüber, daß beide Brüder sich in sie verliebt hatten. Sie vermißte sie schrecklich.

Fern warf einen liebevollen Blick auf Austin in seinem hochgeschlossenen Anzug und dem steifen Kragen. »Was kann ich tun? Du würdest natürlich sagen, ich solle mich nicht um Konventionen scheren und einfach nach Springfield kommen. Du wärst beleidigt, wenn ich es nicht täte. Aber was dann? Du hast oft genug mit mir über Harry gesprochen … Wie könnte ich dir seine Situation verschweigen? Ich kenne dich, Austin Broderick. Egal, was die Ärzte sagen, du würdest es nicht schätzen, wenn ich mit Victor anstatt mit dir darüber redete.«

Natürlich würde er sich aufregen, wenn man etwas hinter seinem Rücken tat, doch sein Zorn träfe nicht sie, sondern Victor. Austin mußte einfach alles wissen, was innerhalb der Familie vor sich ging.

»Ach, ich weiß nicht«, seufzte sie. »Vielleicht sollte ich doch erst mit Harry sprechen. Möglicherweise habe ich die ganze Unterhaltung mißverstanden und übertreibe nun alles.«

Gerade als sie die Zigarre ausdrückte, klopfte es an der Haustür. Wer konnte das sein – zu dieser späten Stunde und vor allem bei solch einem Wetter? Sie wedelte schuldbewußt mit den Armen durch die Luft, um den Tabakrauch zu vertreiben, und schloß rasch das Rollpult.

Besorgt ging sie zur Tür, denn sie fürchtete einen Telegrammboten mit schlechten Nachrichten. Ihr erster Gedanke galt Austin. Hatte er etwa einen weiteren Schlaganfall erlitten? War er vielleicht gar gestorben? Lieber Gott, nur das nicht!

Erregt riß Fern die Tür auf, sah sich aber nicht wie erwartet einem ernst dreinblickenden Telegrammboten gegenüber, sondern vielmehr einer zierlichen, barfüßigen Frau, die bis auf die Haut durchnäßt war.

Zum zweiten Mal an diesem Abend sah sich Connie einem Menschen gegenüber, der sie ungläubig anstarrte. Sie nicht erkannte, weil sie nichts mehr von der verwöhnten, modebewußten Dame der Gesellschaft an sich hatte.

»Ja, bitte?« fragte Fern ebenso erleichtert wie irritiert.

»Laß mich um Himmels willen herein«, zischte die durchnäßte Frau. Fern starrte sie mit offenem Mund an, als sie sich an ihr vorbei in die erleuchtete Diele drängte. Die schwarzen Haare klebten ihr am Kopf, und das Kleid war beinahe durchsichtig.

»Guter Gott, du bist es, Connie!«

Bei diesen Worten fiel Connie ihr weinend um den Hals. Aus ihrem Mund drangen zusammenhanglose Sätze, die keinen Sinn ergaben.

»Schon gut, Connie, beruhige dich. Du bist in Sicherheit. Was ist denn nur mit dir geschehen, Kleines? Ich rufe Bonnie. Du mußt unbedingt die nassen Sachen ausziehen, bevor du dir eine Erkältung holst. Bei diesem Wetter draußen herumzulaufen!«

 

Nach einem heißen Bad schlüpfte sie in eines von Ferns eleganten Seidennachthemden und zog einen japanischen Kimono über. Bonnie, das freundliche Hausmädchen, hatte ihr die Haare trockengerieben und zwei Tassen heißen, süßen Kakao gebracht.

Schon fühlte Connie sich etwas besser. Sie hatte die Beherrschung wiedergewonnen und konnte sich nun genau überlegen, was sie Fern zur Erklärung sagen sollte. Sie kannte Harrys verwitwete Tante nur von gesellschaftlichen und familiären Anlässen her, wo sie zuweilen ein paar Worte gewechselt, sich jedoch nie eingehend unterhalten hatten. Fern war sehr angesehen, obwohl sie ein Geschäft betrieb, und erschien stets in Begleitung von respektablen Paaren, nie von einzelnen Herren. Kurzum, Connie fühlte sich eingeschüchtert von dieser Frau und war nur aufgrund ihrer tiefen Verzweiflung auf die Idee gekommen, ausgerechnet bei ihr Zuflucht zu suchen.

Als ihre Gastgeberin das hübsche Zimmer mit dem Einzelbett betrat, saß Connie auf der Bettkante und schaute auf ihre Hände hinunter.

»Wie geht es dir, meine Liebe?«

»Es tut mir leid, dich so überfallen zu haben«, flüsterte sie.

»Ich wußte nicht, an wen ich mich wenden sollte. Dank dir geht es mir jetzt schon viel besser.«

»Was ist dem um Himmels willen passiert?«

»Er hat gewütet wie ein Berserker!«

»Wer?«

»Harry. Es war schrecklich. Ich hatte solche Angst.« Sie spielte kurz mit dem Gedanken, das Gewehr unerwähnt zu lassen, entschloß sich aber, dem Gerede der Nachbarn zuvorzukommen.

»Er hatte ein Gewehr und schoß damit im Haus herum«, wimmerte sie.

»Harry? Oh, mein Gott!«

»Ja, Harry«, bestätigte Connie empört. »Warte nur, bis Austin davon erfährt.«

»Aber ich verstehe das nicht. Was hat ihn dazu veranlaßt?«

Connie seufzte. »Er ist einfach wahnsinnig geworden. Er kam von einer Sitzung nach Hause und ließ sich darüber aus, wie pleite wir seien.«

»Pleite?« fragte Fern nervös.

»Ja, genau das. Du kannst dir sicher vorstellen, wie schockiert ich war. Ehrlich gesagt habe ich ihm zunächst nicht geglaubt, weil er getrunken hatte. Aber er redete immer weiter und zeterte über seine Schulden, und da begriff ich erst, daß er wieder gespielt hatte.« Connie zögerte. »Entschuldige, ich möchte dich mit alledem nicht belasten. Es ist einfach zu abscheulich.«

»Schon gut. Erzähl mir nur in Ruhe, was geschehen ist.«

»Na ja … Ich weiß nicht, ob dir bekannt ist, daß Harry spielt … Und jetzt ist uns nichts geblieben, die ganzen Rücklagen sind weg … einfach alles. Er schuldet ganz Brisbane Geld.«

Sie brach wieder in Tränen aus. Fern reichte ihr ein Taschentuch. »Kopf hoch, meine Liebe. Du kannst mir ruhig alles erzählen.«

»Er tobte und schrie, wir wären am Ende, wir würden das Haus verlieren und den Bankrott erklären müssen. Er war wie von Sinnen. Vermutlich haben ihn die Sorgen um den Verstand gebracht. Ich wollte ihn beruhigen, aber da griff er mich an.«

»Wie meinst du das?«

»Er beschuldigte mich, es war so ungerecht. Er nannte mich eine Verschwenderin, behauptete, ich sei an allem schuld. Ich versuchte ihm zu erklären, daß ich von unseren finanziellen Problemen gar nichts gewußt habe, und das ist die Wahrheit, ehrlich.«

Fern nickte verständnisvoll.

»Doch das machte ihn nur noch wütender. Er rannte los und holte seine Schrotflinte, und dann hat er wie wild um sich geschossen. Du solltest unseren Garderobenständer sehen; er war importiert und sehr teuer, doch er hat ihn in tausend Stücke zerschossen.«

»Den Garderobenständer? Du lieber Himmel!«

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich gefürchtet habe. Ich wollte ihn dazu bringen, das Gewehr wegzulegen, aber er drohte damit, mich zu töten. Also bin ich einfach aus dem Haus gerannt.«

»Warum bist du nicht zu einem Nachbarn gegangen?«

»Ach, Fern, ich fühlte mich so gedemütigt. Sie standen alle vor ihren Häusern, als seien sie im Zirkus. Ich konnte ihre Blicke nicht ertragen und bin einfach weitergelaufen. Der Regen schien meine Schande irgendwie zu verbergen.«

»Du bist doch nicht den ganzen Weg hierher zu Fuß gelaufen?«

»Nein. Ich war so erschöpft, daß ich eine Droschke gerufen habe.« Connie bemerkte sofort den Fehler in ihrer Geschichte und improvisierte rasch. »Der Kutscher war so nett. Vor deinem Haus mußte ich ihm gestehen, daß ich kein Geld bei mir hatte. Er sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, er sei ohnehin auf dem Heimweg.«

»Das war wirklich nett von ihm.«

»Eigentlich wollte ich zu meinen Eltern fahren, damit sie den Kutscher bezahlten, entschied mich dann aber anders. Wie hätte mein Vater wohl reagiert, wenn er mich in diesem Aufzug gesehen hätte? Er ist sehr jähzornig. Ich fürchte, er wäre schnurstracks zu Harry marschiert und hätte womöglich etwas Unüberlegtes getan.«

»Das ist durchaus möglich. Es war gut, daß du weiteren Schwierigkeiten aus dem Weg gegangen bist. Am besten, du gehst jetzt schlafen. Das war genügend Aufregung für einen Abend.«

»Was ist mit Harry?«

»Das legt sich wieder. Wenn er nicht mehr mit dir streiten kann, wird er sich vermutlich abregen und in aller Ruhe darüber nachdenken, wie dumm er sich verhalten hat. Morgen gehen wir zusammen zu ihm.«

»Nein! Auf gar keinen Fall. Ich gehe nie mehr dorthin zurück.«

»Na schön. Reg dich nicht wieder auf. Ich mache jetzt das Licht aus, und du versuchst zu schlafen.«

Fern schloß die Tür. Sie empfand großes Mitleid mit Connie. Da sie die Unterhaltung im Parlament mitgehört hatte, konnte sie Harrys Ausbruch gut verstehen. Schulden waren eine Sache – der Bankrott, der für einen Mann in seiner Position den Untergang bedeutete, eine andere. Sie war sich nicht im klaren darüber gewesen, wie dramatisch seine Lage war. Harry hatte sich die Vorschläge der Oppositionsmitglieder angehört, weil er dringend Geld benötigte. Anscheinend sogar viel Geld. Selbst wenn er seine Schulden bezahlen konnte, brauchte er darüber hinaus auch noch Geld zum Leben.

Fern ging in ihr Schlafzimmer, machte Licht und zog die Vorhänge zu. Falls Harry für zahlungsunfähig erklärt würde, wäre es das Ende seiner politischen Laufbahn. Sie fragte sich, ob die ausgekochten Taktiker dies bedacht hatten. Aber ja, natürlich hatten sie das. Wenn er sich weigerte, für das Landgesetz zu stimmen, blieben ihnen noch andere Möglichkeiten. Sie konnten das gleiche Ergebnis erzielen, indem sie dafür sorgten, daß man ihn seines Amtes enthob, was eine Gegenstimme weniger bedeutete. Hatte Harry diese Pläne durchschaut? Vermutlich schon. Kein Wunder, daß er so getobt hatte, was allerdings die Angriffe gegen seine Frau nicht im mindesten rechtfertigte.

Fern hoffte, daß sich alles wieder einrenken würde. Sie könnte auch gleich zu ihm fahren, doch würde sich um diese Uhrzeit wohl kaum noch eine Droschke auftreiben lassen. Außerdem hatte der Tumult außer den Nachbarn vermutlich auch die Polizei auf den Plan gerufen.

Mitten in der Nacht fuhr sie im Bett hoch, voller Angst, Harry könne sich in seinem Zustand etwas antun. Danach machte sie kaum noch ein Auge zu.

 

Eine zaghafte Sonne brach sich durch die dicken Wolken und ließ sie golden glänzen. Es herrschte noch ein heftiger Wind, doch der Sturm hatte nachgelassen. Harry saß auf der Hintertreppe und hielt sich den Kopf, und zwar nicht ohne Grund. Nachdem er Sam und Connie hinausgeworfen und das Gewehr weggeräumt hatte, war er durch die Verwüstung getappt, die er im Flur angerichtet hatte, bis er zur Whiskykaraffe vorstieß. Dann war er allein mit seiner Wut und seinem Whisky.

Stundenlang hatte er sodann über die beiden nachgegrübelt. Darüber, was er noch hätte zu ihnen sagen, was er hätte tun sollen. Als die Karaffe leer war, griff er zu einer neuen Flasche. Er verfluchte Sam und Connie wegen ihrer Verderbtheit, wegen ihres abstoßenden, gemeinen Verhaltens, und schwor sich, ihnen niemals zu vergeben. Dazwischen weinte er, wenn ihn sein Unglück überwältigte, und schlief endlich in einem Sessel ein.

In der Morgendämmerung weckte ihn sein rebellierender Magen. Er konnte gerade noch auf den Rasen laufen, wo er sich erbrach.

Danach schleppte er sich mit letzter Kraft zur Hintertreppe. Weiter kam er nicht. Er umklammerte seinen Kopf und saß noch immer so da, als die Köchin und das Hausmädchen durchs Gartentor auf ihn zukamen.

»Alles in Ordnung, Sir?«

Er schaute nicht hoch, sondern winkte nur ab und stieß ein ungehaltenes Grunzen aus. Als er ihre entsetzten Schreie hörte, mußte sich Harry sehr konzentrieren, um die Ereignisse der Nacht zu rekapitulieren.

Die Frauen liefen zu ihm zurück. »Mr. Broderick, was ist passiert? Da drinnen ist alles kaputt! Das Haus sieht aus wie nach einem Wirbelsturm! Wo ist Mrs. Broderick? Geht es Ihnen gut?«

Harry rappelte sich mühsam auf und starrte sie an. »Wir haben eine Party gefeiert. Macht es eben wieder sauber.«

»Wie denn? Die Möbel sind zertrümmert. Das Bett …«

»Na und?« Er drängte sich an ihnen vorbei. »Ich will Tee und ein Sandwich. Im Speisezimmer.«

Er zog sich um, wusch sich, machte jedoch keinerlei Anstalten, sich zu rasieren. Ohne das Hausmädchen zu beachten, das in der Diele Holzsplitter aufkehrte, ging er ins Speisezimmer. Er brauchte etwas zu Essen, um zu Kräften zu kommen, um wieder klar denken zu können.

Nach dem Frühstück zog er sich in den Salon zurück und ließ sich dankbar auf das Sofa sinken. Bald war er eingeschlafen. Das Hausmädchen weckte ihn einige Zeit später und wich angesichts seiner schlechten Laune erschrocken zurück.

»Geh weg! Was willst du von mir?«

»Ein Gentleman möchte Sie sprechen, Sir.«

»Hab’ ich dir etwa erlaubt, jemanden hereinzulassen?«

Sie zuckte zusammen. »Sie haben aber auch nicht ausdrücklich das Gegenteil gesagt, Sir. Er ist erst in der Diele, ich kann ihn also noch wegschicken.«

Als Harry den Mann sah, wurde ihm wieder übel. Es war einer von Ned Lyons’ Schlägern und überbrachte seine Botschaft ohne Umschweife.

»Mr. Broderick, Sir, Mr. Lyons schickt mich. Ich soll Ihnen ausrichten, daß Sie morgen nicht wetten können, wenn Sie nicht heute Ihre Schulden begleichen. Er sagt, Sie können mir das Geld jetzt geben, und ich bringe es ihm. Dann gibt es keine Probleme mehr.«

Harry schüttelte den Kopf. »Mir geht es nicht gut. Ich kann jetzt nicht nachdenken.«

»Das sehe ich, Sir«, erwiderte der Mann ungerührt. »Aber was soll ich Mr. Lyons sagen?«

»Überhaupt nichts. Kommen Sie heute nachmittag wieder.«

»Um welche Zeit, Sir?«

»Woher soll ich das wissen, verdammt noch mal? Irgendwann halt.«

»Gut, also um drei.« Der Mann setzte die Kappe auf, nickte Harry zu und verschwand.

»Jesus!« Harry wollte in den Salon zurückkehren, doch das Mädchen vertrat ihm den Weg. »Ich weiß nicht, womit ich im Schlafzimmer anfangen soll, Sir.«

»Dann fang eben nicht an!« brüllte er. »Verschwinde! Geh nach Hause! Tu, was du willst!«

Sie warf ihren Besen weg. »Genau das mache ich jetzt auch. Ich komme morgen wieder, wenn die Missus da ist. Die Köchin weiß auch nicht, was sie tun soll.«

»Kann sie nicht einfach das machen, was sie immer macht?« fauchte er.

»Die Missus muß ihr erst sagen, was sie kochen soll. Sie kann doch keine Gedanken lesen.«

Mit diesen Worten stampfte das Mädchen davon, und Harry kehrte auf sein Sofa zurück. Doch die drängenden Sorgen ließen sich nicht so einfach abschütteln.

Irgendwann bemerkte er die ungewöhnliche Stille im Haus und stellte fest, daß sich sowohl Hausmädchen als auch Köchin verdrückt und ihn mit seinem Chaos allein gelassen hatten.

Später klopfte es noch einmal an der Tür. Er schlich sich auf die Seitenveranda und sah zu seinem Erstaunen, daß Fern Broderick davorstand.

»Was will sie bloß?« murmelte er vor sich hin. Er hörte sie noch mehrmals klopfen und dann auch seinen Namen rufen, war aber nicht in der Stimmung für ein Gespräch. Also verhielt er sich ruhig, bis sie aufgab und wegging.

Die Nachwirkungen des Alkohols und seine elende Lage machten es ihm unmöglich, etwas Sinnvolles zu tun. So verharrte er weiter untätig im Haus. Am liebsten hätte er sich in einem Gästezimmer eingeschlossen und im Schlaf Zuflucht gesucht, doch es gab keine Schlösser an den Türen. Und Barrikaden aufzustellen, um Fremde fernzuhalten, hätte doch allzu unziemlich gewirkt.

»Unziemlich«, schnaubte er. »Daß ich nicht lache! Im Augenblick muß dies wohl das unziemlichste Haus in der ganzen Stadt sein!«

Aus lauter Angst vor weiteren Besuchern verkroch er sich im hinteren Teil des Hauses. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn die Nachbarn die nächtliche Ruhestörung der Polizei gemeldet hätten. Harry sah sich momentan außerstande, einem Polizisten gegenüberzutreten. Ihn überlief ein Schauder. Und wenn Connie nun mit ihrem Liebhaber zurückkehrte, um ihre Kleider zu holen?

Dann traf er eine Entscheidung. Zum zweiten Mal an diesem Morgen kämpfte er sich durch das Durcheinander im Schlafzimmer und suchte ein Baumwollhemd, eine Arbeitshose, die Jagdjacke und seine Reitstiefel zusammen. Im Flur zog er sich um, ergriff seinen Hut und rannte über den Hof in die Gasse neben dem Haus. Von dort aus hatte er bald die Stallungen erreicht, in denen sein Pferd untergebracht war. Mit dem Tier am Zügel schlich er sich wieder zurück, räumte die Vorratskammer aus, packte einen Rucksack, rollte alles Notwendige zu einem Bündel, holte sein Gewehr und verließ das Haus.

Beim Davonreiten fühlte Harry sich auf einmal frei und unbeschwert. Er ritt zum Fluß und folgte seinem Lauf durch die Vororte und weiter über die Buschpfade.

Er ritt den ganzen Tag und behielt dabei den breiten, malerischen Fluß im Auge. Manchmal durchquerte er Ackergebiete, dann wieder unwegsames Buschland, bis er mit einem Seufzer der Erleichterung sein Ziel erreicht hatte.

Hoch über dem Ufer mit Blick auf die nächste Flußbiegung, verborgen hinter Akazien, lag die kleine Holzhütte. Es war ein gottverlassener Ort, aber Harry liebte den Ausblick, den man von dort hatte. Deshalb hatte er die Hütte mit der Hilfe eines Arbeiters an dieser Stelle errichtet. Sie bot keinerlei Annehmlichkeiten, keinen Kamin, nicht einmal eine Fensterscheibe in dem einzigen Fenster. Obwohl er das Gebäude als Jagdhütte bezeichnete, jagte er hier nur selten, schoß nur dann und wann einen Buschtruthahn, um Abwechslung in seine Verpflegung zu bringen. Eigentlich zog er das Angeln vor. Sam Ritter war der einzige, den er je hierher mitgenommen hatte, und bei diesem einen Mal war es auch geblieben. Er wußte die Einsamkeit und Schönheit der Landschaft nicht zu schätzen, außerdem war er ein schlechter Angler.

»Schlecht durch und durch«, stieß Harry zwischen den Zähnen hervor und zog den Riegel zurück.

Hier war alles unverändert geblieben. Als die Hütte fertig war, hatte er die wichtigsten Dinge flußaufwärts mit dem Boot hergeschafft, denn es gab keinen richtigen Weg hierher. Die primitive Ausstattung reichte ihm völlig. Der Boden bestand aus gestampftem Lehm, Tisch und Bänke waren aus rohem Holz gezimmert, der Schlafsack lag zusammengerollt in der Ecke. Erfreut stellte er fest, daß sein Angelzeug einsatzbereit war.

Der ehrenwerte Parlamentsabgeordnete Harry Broderick reckte sich, lächelte und ging zu seinem Pferd zurück. An diesem Abend saß er unter den Sternen am Lagerfeuer, trank Rum und rauchte eine gute kubanische Zigarre. Vergeblich versuchte er sich durch das Rauschen des Flusses und die Geräusche im Busch ringsum zu entspannen – der Gedanke daran, irgendwann wieder nach Brisbane und zu all seinen Sorgen zurückkehren zu müssen, ließ ihn einfach nicht los.

 

Am nächsten Morgen kamen Köchin und Hausmädchen und putzten die Diele, aber das Schlafzimmer ließen sie unberührt. Besorgungen konnten sie auch nicht machen, da sie weder Geld – der heutige Freitag war Zahltag – noch entsprechende Anweisungen erhalten hatten. Also räumten sie noch die übrigen Zimmer und die Küche auf und hinterließen auf dem Küchentisch einen Zettel mit der Nachricht, sie kämen am nächsten Tag wieder.

Als sie das Haus auch am Samstag verlassen und unberührt vorfanden, fügten sie eine Notiz hinzu, in der sie ihren Lohn forderten. Ihnen war klar, daß es im Haushalt der Brodericks einen gewaltigen Zwischenfall gegeben haben mußte, was sie ungeheuer amüsierte, wenn man von der ausstehenden Bezahlung einmal absah. Sie hofften auf den Montag.

Erst am Sonntag konnte Fern Connie dazu überreden, ihr Haus und damit auch Harry aufzusuchen, um die Probleme aus der Welt zu schaffen.

»Ich begleite dich«, bot sie ihr an. Connie konnte ihr das Vorhaben nicht ausreden. Sie befürchtete, Fern könne von Harry die Wahrheit erfahren, brauchte andererseits jedoch dringend ihre Kleider. Schließlich konnte sie sich nicht ewig in Ferns Haus verbergen. Sie war entsetzt gewesen, als sie von Ferns vergeblichem Besuch in Padddington erfuhr. Wenn er nun zu Hause wäre und seiner Tante die ganze Geschichte erzählt hätte!

Seltsam, daß das Hausmädchen ihr nicht die Tür geöffnet hatte. Beim Gedanken daran, daß jemand die Bescherung gesehen haben könnte, errötete sie vor Scham. Bald würde es die ganze Stadt wissen. Inzwischen hatte Connie die Episode mit Sam Ritter völlig verdrängt und gab nun einzig und allein Harry die Schuld an allem. Kein Wunder, wenn die Leute über sie klatschten – schließlich hatte ihr Mann Spielschulden und benahm sich wie ein Verrückter.

Tapfer schritt sie auf das Haus zu. Bei jedem zweiten Schritt zerrte sie an dem viel zu langen Rock des Kleides, das Fern ihr geliehen hatte, und hielt die Augen starr geradeaus gerichtet, um die Blicke neugieriger Nachbarn nicht sehen zu müssen.

Das Haus lag still da. Am Sonntag gab Connie dem Personal immer frei, da sie selbst meist ausging.

»Da hat der Garderobenständer gestanden«, erklärte sie Fern, als sie die Diele betraten. »Ich glaube, Harry ist nicht zu Hause.«

Irgendwie bedauerte sie, daß die Trümmer beseitigt worden waren, denn sie hätte Fern mit Freuden die Beweise für Harrys empörendes Verhalten vorgeführt. Daher traf sie das Chaos im Schlafzimmer, das sie nun zum ersten Mal bei Tageslicht erblickte, auch völlig unvorbereitet. Sie stieß einen Schrei aus.

»Guter Gott!« sagte Fern und spähte über ihre Schulter. »Habe ich es dir nicht gesagt? Sieh dir das an! Er besitzt nicht einmal den Anstand, es in Ordnung zu bringen. Er ist ein Schwein! Ein verdammtes Schwein!«

Als eine Männerstimme aus der Diele ertönte, klammerte sie sich an Fern fest. »Ich kann ihm jetzt nicht gegenübertreten. Ich will ihn nicht sehen. Sag ihm, er soll gehen.«

»Jemand zu Hause?« fragte die Stimme. Connie fiel beinahe in Ohnmacht.

»Verdammt«, stieß sie hervor, »es ist mein Vater.«

 

Richter Walker war entsetzt. »Das sind mir ja schöne Sachen an einem Sonntagmorgen! Wo ist dein Mann?«

»Ich weiß es nicht und will es auch gar nicht wissen«, schmollte Connie.

»Wenn ich ihn erwische, bekommt er meine Peitsche zu spüren! Mrs. Broderick, ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie sich um Connie gekümmert haben. Allerdings hätte sie Sie in diese schmutzige Angelegenheit nicht mit hineinziehen dürfen.« Er wandte sich an seine Tochter. »Weshalb bist du nicht zu uns gekommen?«

»Sie war so verwirrt«, erklärte Fern. »Es ist eine überaus schwierige Situation.«

»Nein, jetzt nicht mehr. Du packst deine Sachen und kommst mit mir nach Hause. Ich weiß nicht, was deine Mutter zu diesem schändlichen Benehmen sagen wird. Sie ist derartiges nicht gewohnt. In was für einem Haushalt hast du hier überhaupt gelebt, Mädchen? Und wo ist der Garderobenständer geblieben? Ich wußte nicht wohin mit meinem Hut.«

»Den hat er auch kaputtgeschossen«, flüsterte Connie.

»Seid ihr denn völlig verrückt geworden? Mrs. Broderick, ich glaube, das da draußen ist Ihre Droschke. Wenn Sie uns bitte entschuldigen würden. Ich warte hier, bis meine Tochter ihre Habseligkeiten zusammengesucht hat. Wir möchten Sie nicht länger aufhalten. Ich stehe tief in Ihrer Schuld.«

Als Fern sich zur Tür wandte, fügte er noch hinzu: »Würden Sie Ihrem Neffen, falls Sie ihn sehen, bitte ausrichten, daß ich ihn morgen um Punkt neun Uhr in meinem Büro zu sehen erwarte? Ich verlange eine Erklärung und habe noch einige andere Angelegenheiten mit ihm zu regeln.«

»Falls ich ihn sehe«, sagte Fern zustimmend, hielt es insgeheim aber für äußerst unwahrscheinlich.

Connie machte eine Runde durchs Haus, um sich von Harrys Abwesenheit zu überzeugen. Sie entdeckte die Notizzettel auf dem Küchentisch und zerriß sie, ohne sie genau gelesen zu haben. Es ging um ausstehenden Lohn, mehr wollte sie gar nicht wissen. Sie konnte ihren Vater unmöglich noch mit den Problemen der Dienstboten belasten.

Als sie mit dem Gedanken gespielt hatte, Harry zu verlassen und zu ihren Eltern zurückzukehren, hatte sie sich die Sache ganz anders vorgestellt. Der Richter zeigte überhaupt kein Mitleid; er sah nur den Schaden, den das Gerede seinem eigenen Ruf zufügen würde. Er kochte vor Wut, als er die neugierigen Nachbarn sah, die sich draußen versammelt hatten und seine stadtbekannte Kutsche begafften.

»Beeil dich, du Unglückswurm«, rief er, »sonst werde ich auch noch zum Gespött der Leute.«

 

Die Droschke rollte durch die sonntäglich stillen Straßen. Fern überlegte, ob sie sich zum Botanischen Garten bringen lassen sollte, entschied sich aber mit leisem Bedauern dagegen. Sie schlenderte sonntags oft und gern zum Pavillon, wo sie sich mit einigen Freundinnen zum Morgentee traf. Es war eine zwanglose Angelegenheit, und Fern genoß es, nach einer Woche im Geschäft die neuesten Nachrichten aus der Gesellschaft zu erfahren.

Aber nicht heute, dachte sie. Schüsse im beschaulichen Paddington waren nicht an der Tagesordnung, und solche Neuigkeiten machten schnell die Runde, vor allem, wenn bekannte Persönlichkeiten involviert waren. Ihr war ganz und gar nicht danach, Fragen über ihren Neffen, den Herrn Abgeordneten, zu beantworten.

Auch den Plan, nach Springfield zu reisen, hatte sie endgültig aufgegeben. Nicht einmal Fern Broderick besaß den Mut, Austin und seiner Familie die Neuigkeit zu überbringen, daß Harry nicht nur tief verschuldet war, sondern auch noch im eigenen Heim mit einem Gewehr um sich geschossen hatte. Daß ihn seine Frau verlassen hatte, setzte allem die Krone auf.

»Oh Gott«, brummte sie, »am besten halte ich mich ganz heraus. Hoffentlich renkt sich alles wieder ein.«

 

Am Montagmorgen wartete Richter Walker vergeblich auf seinen Schwiegersohn.

»Nicht einmal Manns genug, um mir Auge in Auge gegenüberzutreten«, sagte er zornig. »Aber egal, ich weiß, wo ich ihn morgen finden kann. Dort kann er mir nicht entwischen.«

Dem Richter gelang es mit Mühe, seine Termine so zu verschieben, daß er ins Parlament gehen konnte. Um drei Uhr betrat er die Besuchergalerie, um seine Beute auszuspähen. Im Hohen Haus standen wieder einmal die verfluchten Landgesetze zur Debatte. Da dieses Thema von großer Bedeutung für seine Familie war, vertiefte sich Walker derart in die Äußerungen der Redner, daß er Harry Broderick beinah darüber vergaß. Als er dann doch über die Brüstung auf die im Halbkreis angeordneten Bänke unter ihm herunterschaute, konnte er seinen Schwiegersohn unter den vielen vertrauten Gesichtern nicht entdecken.

Die Debatte wurde nun hitziger und nahm an Lautstärke zu. Beleidigungen flogen hin und her, die Redner unterbrachen sich gegenseitig, während der Parlamentspräsident gelegentlich mit seinem Hammer auf das Pult schlug und die Abgeordneten zur Ordnung rief. Zwei Männer auf der Galerie wurden aufgrund ihrer Zwischenrufe verwarnt und mit Ausschluß bedroht.

Der Richter erkundigte sich bei dem Saaldiener nach dem Platz von Mr. Broderick.

Der Mann beugte sich über die Brüstung und deutete nach unten. »Er sitzt gewöhnlich dort, Sir. Im Augenblick ist er allerdings nicht anwesend. Er muß den Saal kurz verlassen haben.«

»Vielen Dank«, sagte der Richter und sah wieder auf die lärmende Versammlung hinunter. Nur wenige Plätze waren leer.

»Das paßt zu Broderick. Fehlt, wenn die Landgesetze auf der Tagesordnung stehen«, murmelte er. »Austin wird begeistert sein.«

Nun ergriff der Parlamentspräsident wieder das Wort. »Die Zeit für die Debatte ist abgelaufen und wird nicht mehr verlängert.«

Die Unruhe nahm zu, es gab weitere Ordnungsrufe. Der Premierminister sprang wütend auf und verlangte eine verlängerte Redezeit, während ihn die Oppositionsmitglieder niederbrüllten. Der Präsident fuhr unbeirrt fort, hakte phlegmatisch Ordnungsfragen ab und rief schließlich: »Es erfolgt nun die Abstimmung nach dem Hammelsprung …«

Die Abgeordneten erhoben sich geräuschvoll von ihren Stühlen. Manche standen in den Gängen und diskutierten; andere stießen Schmähungen hervor, wenn Kollegen sich an ihnen vorbeidrängten. Der Richter hatte sich ebenfalls erhoben und hielt zur Linken des Präsidenten, wo sich die mit Nein stimmenden Männer versammelten, Ausschau nach Harry Broderick.

Die Zählung lief noch, doch der Richter war zu der Überzeugung gelangt, daß Broderick nicht anwesend war. Den hochgewachsenen, blonden Mann hätte er unter den vielen grauen Häuptern wohl kaum übersehen.

Er setzte die Brille auf. Dann verkündete der Präsident: »Die Entscheidung lautet Ja.« Zornige Rufe ertönten, und der Richter brauchte eine Weile, bis er das Ergebnis verdaut hatte. Das Landgesetz war verabschiedet worden! Der Angriff auf die Squatter hatte begonnen.

Zu spät versuchte er zu erkennen, wer für dieses unglaubliche Gesetz gestimmt hatte, denn die Abgeordneten kehrten bereits auf ihre Plätze zurück oder strömten dem Ausgang zu. Er war davon überzeugt, daß sein verräterischer Schwiegersohn dafür gestimmt haben mußte, sonst hätte er ihn doch bemerkt. Gemeinsam mit den anderen Zuschauern verließ er die Galerie und erkundigte sich unten im Flur bei einem Freund Harrys nach dessen Verbleib.

»Broderick!« rief der Parlamentarier aufgebracht. »Ich weiß nicht, wo zum Teufel er steckt. Ausgerechnet heute ist er nicht gekommen. Ich könnte ihn erwürgen. Eine Stimme! Wir haben mit einer verdammten Stimme verloren. Dieser verfluchte Schweinehund!«

 

Richter Walker machte sich auf den Weg zu Harrys Büro, wobei er so verwirrt war, daß er die Freunde und Bekannten, die ihn im Vorbeigehen grüßten, kaum zur Kenntnis nahm. Durch die Untaten seines Schwiegersohns und die Abstimmung über das Landgesetz war seine Welt vollkommen aus den Fugen geraten. Seine Familie besaß riesige Pachten in den Western Downs. Die Farm seines Vaters grenzte an Austin Brodericks Besitz, zudem hielt er beträchtliche Anteile an einer weiteren Farm. Als waschechter Squatter-Aristokrat wußte der Richter nur allzugut, daß die Umwandlung der Ländereien in freien Grundbesitz eine ungeheure finanzielle Belastung für die Squatter nach sich ziehen würde. Noch mehr sorgte er sich aber um die unvermeidlichen Folgen dieser Umwälzung: Eine ganze Lebensweise würde untergehen, an der er sehr hing.

Er kam an einigen Männern vorbei, die einander gratulierten. Der Grund war offensichtlich.

»Schämt euch!« schnaubte er und stürmte weiter.

Er hatte erwartet, Harry Broderick in seinem Büro vorzufinden. Dort wollte er ihn zur Rede stellen und eine Erklärung für seine Abwesenheit verlangen. Hatte er die Abstimmung verschlafen? War er betrunken oder gar krank geworden? Irgendeinen Grund mußte es doch geben.

Doch in dem leeren Büro traf er nur auf einen wütenden Herrn, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte. »Guten Tag, Herr Richter«, sagte dieser. »Vielleicht können Sie mich über den Verbleib von Mr. Broderick aufklären.«

Walker erkannte den Einpeitscher der Regierungspartei, dem es oblag, über die Abstimmungsdisziplin der Abgeordneten zu wachen und bei wichtigen Anlässen die Anwesenheit der Fraktionsmitglieder sicherzustellen. Der Tonfall des Mannes mißfiel ihm.

»Anscheinend ist er nicht da. Niemand bleibt ohne guten Grund dem Parlament fern …«

»Oder ohne es mir mitzuteilen«, unterbrach ihn der Mann grob.

Der Richter fuhr fort: »Daher kann ich nur folgern, daß Mr. Broderick ein Unglück zugestoßen ist. Guten Tag, Sir.«

Auf dem Heimweg suchte Walker noch einmal das Haus in Paddington auf, fand es jedoch verlassen vor. Er kam in übelster Stimmung heim und befahl seine Tochter umgehend zu sich.

»Wo ist er?« stieß er hervor. »Der Kerl hat seine Pflichten vernachlässigt, so etwas dulde ich nicht. Verstehst du mich? Ich dulde es nicht!«

»Ich weiß nicht, wo er ist«, antwortete Connie kleinlaut.

»Vielleicht in seinem Club.«

»Dann setzt du dich auf der Stelle hin und schreibst mir die Adressen seines Clubs und seiner Kumpane sowie seiner üblichen Aufenthaltsorte auf. Mein Diener wird ihn schon aufstöbern. Verstanden?«

Connie stellte ihm eine Liste zusammen, wobei sie Sam Ritter geflissentlich ausließ, und überreichte sie ihm.

»Das ist doch wieder typisch für ihn! Lauter Nichtsnutze und stadtbekannte Faulpelze. Wenn es nach mir geht, wird sich euer Lebensstil von Grund auf ändern. Ein derart abscheuliches Verhalten dulde ich nicht in meiner Familie. Und vor allem wirst du morgen in euer Haus zurückkehren. Ich denke nicht daran, zu allem Überfluß auch noch irgendwelche Ausreden für deine Anwesenheit hier zu erfinden. Und jetzt geh auf dein Zimmer.«

Connie lief weinend zu ihrer Mutter. »Ich kann nicht zurück. Wenn er nun wieder um sich schießt?«

»Der Richter weiß, was am besten ist. Er wird Harry tüchtig ins Gebet nehmen. Aber du kannst auf keinen Fall hierbleiben, sonst gibt es noch mehr Gerede.«