8. Kapitel

Die Anträge wurden eingereicht, nach denen Springfield in mehrere voneinander unabhängige Besitzungen aufgeteilt werden sollte, von denen jede die von der Regierung festgelegte Höchstgrenze aufwies. Jedes Grundstück, das von einem Familienmitglied erworben werden sollte, bot ausgezeichnetes Weideland, während die auf Strohmänner eingetragenen Gebiete in Austins Augen nur zweitklassig waren.

Dies war ärgerlich, denn die Gesetze über den freien Erwerb machten keinen Unterschied bezüglich der Qualität des Bodens; der Preis pro Morgen war immer derselbe.

Austin verzichtete auf die steinigen, hügeligen oder zu trockenen Gebiete am Rande von Springfield, wenngleich er sich auch von ihnen nur ungern trennte, weil er sie als sein Land ansah. Ohne sie wäre Springfield nicht mehr dasselbe.

Victor fürchtete sich vor dem Tag, an dem er seinen Vater um die Ausstellung eines Schecks für die Bezahlung der Claims bitten müßte. Als ihm die Anwälte mitteilten, daß der Antrag für den ersten Besitztitel durch sei, blieb ihm nichts anderes übrig – er mußte das Thema anschneiden.

»Sie wollen das Geld jetzt schon?« knurrte Austin. »Da stimmt doch etwas nicht.«

»Es ist für deinen Claim, das Kerngebiet, auf dem das Haus steht. Das möchte ich zuerst unter Dach und Fach haben. Bei den anderen wird es vermutlich Probleme geben, wir haben da einige sehr dubios aussehende Karten eingereicht. Dieses Gebiet hier ist das Herzstück der Farm.«

»Und was bekomme ich für mein Geld? Mein eigenes Land!

Die Geier in der Regierung sind wahrhaft großzügig. Ich werde nicht zahlen! Sollen sie doch zur Hölle fahren.«

»Dad, wir müssen aber zahlen. Bei der Größe deines Vermögens wirst du doch gar nicht merken, daß das Geld weg ist. Und für die nächsten Claims können wir einige unserer Aktien verkaufen …«

»Von wegen, ich werde es nicht merken! Das ist mal wieder typisch für dich! Weißt du denn nicht, wie hart ich für dieses Geld gearbeitet habe? Nur damit ihr im Luxus leben konntet? Also erzähl mir nicht, ich würde es nicht merken. Schließlich geht es hier nicht um ein lumpiges Stück Seife.«

Es dauerte Tage, bis sich Austins Zorn gelegt hatte, und die ganze Zeit über machte Charlotte ihrem Ältesten deswegen Vorwürfe. »Hättest du es ihm nicht schonender beibringen können? Er hat einen furchtbaren Schock erlitten. Du weißt doch, daß es ihm nicht gutgeht.«

»Mutter, er mußte doch damit rechnen. Wir kommen nicht daran vorbei, ich konnte es ihm nicht ersparen.«

Rupe war wie immer anderer Meinung. »Du hättest eine kleine Anzahlung vorschlagen können.«

»Wir haben es hier nicht mit einem gewöhnlichen Verkäufer zu tun; das hier ist die Regierung. Entweder wollen wir das Land kaufen oder nicht. Außerdem kann er es sich durchaus leisten. Er wird noch einige Grundstücke kaufen können, bevor in seiner Kasse Ebbe ist. Und dann kann ich immer noch mit der Bank über einen Kredit sprechen. Das Land bietet eine ausreichende Sicherheit. Er muß sofort mit dem Bezahlen anfangen, anders geht es nicht.«

Er suchte Austin mit der Situation zu versöhnen, indem er ihm die Sicherheit vor Augen führte, die ein Besitztitel mit sich brachte. »Dann gehört uns das Land wenigstens; wir müssen das hier nie wieder durchmachen. Und Springfield wird weiterhin eine Menge abwerfen, da wir die Anzahl der Schafe nicht zu verringern brauchen.«

»Du sollst mich nicht bevormunden! Meinst du, ich wüßte das nicht selbst?«

Letztendlich unterzeichnete Austin nach wochenlanger hartnäckiger Weigerung den Scheck, wirkte aber müde und niedergeschlagen, nachdem er sich zu diesem Schritt durchgerungen hatte.

»Er wird schon darüber hinwegkommen«, sagte Victor.

»Bis zum nächsten Mal«, fügte Rupe düster hinzu.

»Das wird sich zeigen. Es gibt aber noch viel zu tun. Wir beide werden in Zukunft sehr viel härter arbeiten müssen.«

»Wie stellst du dir das vor? Vielleicht könntest du zur Abwechslung auch mal deinen Hintern aus deinem gemütlichen Bürosessel erheben.«

»Du wirst lachen, das habe ich tatsächlich vor. Und ich werde noch mehr tun. Wo immer es möglich ist, werde ich mich bemühen, unsere Ausgaben zu senken. Früher oder später wird es finanziell eng für uns, also können wir ebensogut gleich mit dem Sparen beginnen. Ich werde jeden einzelnen Kostenfaktor prüfen und sehen, was sich machen läßt.«

Rupe zuckte nur die Achseln. Er wußte, daß sie die Grundstücke systematisch kaufen würden, wobei das Tal den Ausgangspunkt bildete. Als nächstes wären dann Victors Claims an der Reihe. Obwohl das alles ohnehin nur auf dem Papier bestand, wurmte es ihn noch immer, daß Victor drei Grundstücke gehören würden, während nur eines seinen Namen trug. Und was sollte dieses Gerede von Einsparungen? Er konnte sich nicht vorstellen, wie so etwas zu bewerkstelligen wäre, doch die Idee als solche gefiel ihm ganz und gar nicht.

»Wir könnten das Personal reduzieren«, sagte Victor zu seiner Frau während eines gemeinsamen Abendspaziergangs durch den Garten. Die Luft war schwer vom Duft des Jasmins. »Und bei den Gärtnern fangen wir an.«

»Das wird Charlotte aber gar nicht gefallen.«

»Im Augenblick gefällt ihr ohnehin nichts von dem, was ich tue. Ständig ist sie gereizt. Ich weiß überhaupt nicht, was in sie gefahren ist.«

»Sie macht sich Sorgen und ist aufgebracht, weil Austin Harry nicht verzeihen will.«

Victor schüttelte den Kopf. »Das Problem ist, daß Austin nie erwachsen geworden ist.«

»Wer wird das schon?« versetzte Louisa leise. Sie wünschte, ihr Mann würde seinem Vater energischer entgegentreten, anstatt ständig klein beizugeben und sich anschließend bei ihr auszuheulen.

Victor schien ihre Bemerkung nicht gehört zu haben. Er öffnete das Tor zum Obstgarten und hielt es für sie auf. Als sie an ihm vorbeiging, zog er sie an sich. »Du siehst wunderschön aus heute abend. Und ich liebe dich so sehr. Mach dir keine Sorgen wegen dieser ganzen Landgeschichte. Immerhin wissen wir jetzt, woran wir sind und was wir dagegen tun können. Wir haben uns viel zu lange mit der Ungewißheit gequält.«

Louisa küßte ihn. »Tut mir leid, ich war dir dabei wohl keine große Hilfe.«

Sie gingen weiter im Schatten der Bäume und genossen die Abendstille. Irgendwann begann der Donner über den Hügeln zu grollen. Er versprach Regen und eine willkommene Abkühlung.

 

Nach dem nächtlichen Gewitter roch die Luft klar und frisch, die gewohnten Staubwolken waren fürs erste verschwunden. Die Schafe wurden von den Kookaburras, den Boten der Morgendämmerung, geweckt; Tausende von Papageien tanzten krächzend am Himmel; Landtiere wie Känguruhs und Wallabies begrüßten den Morgen mit wachsamen Blicken aus feuchten, sanften Augen. Pferde stampften und wieherten und berührten mit der Nase das taunasse Gras. Aus den Unterkünften traten gähnende Männer vor die Tür. Zu ihrer Erleichterung hatte das Unwetter keine Schäden angerichtet, sondern nur ein wenig Linderung von der Hitze gebracht.

Auch Charlotte erwachte früh. Sie stieg aus dem großen Himmelbett und tappte barfuß ins Badezimmer. Aus Gewohnheit hämmerte sie im Vorbeigehen an Rupes Tür. Er kam morgens nur schwer aus dem Bett.

Danach zog sie sich rasch an, bürstete ihr Haar und steckte es zu einem Knoten fest. Sie betrachtete sich einen Moment im Spiegel und nahm beinahe verstohlen einen Tiegel Creme aus einer Schublade. Sie massierte die Creme in ihre trockenen Wangen, um ihnen – wenn auch nur vorübergehend – etwas Glanz zu verleihen.

Charlotte hatte sich entschlossen, Austin zuliebe mehr Sorgfalt auf ihr Äußeres zu verwenden. Sie hoffte, er werde ihr dann mehr Aufmerksamkeit zuteil werden lassen. Fern Broderick ging ihr einfach nicht aus dem Kopf, zumal er sich in letzter Zeit des öfteren erkundigt hatte, weshalb sie ihn nicht besuchen komme. Charlotte hatte Austins Frage jedesmal wie beiläufig abgetan.

Nun betrachtete sie eingehend ihr rötlich-graumeliertes Haar. Wie könnte sie es tragen, um den strengen Knoten zu vermeiden? Es mußte doch eine Frisur geben, die ihr Gesicht attraktiver und weicher erscheinen ließe. Louisa hätte da bestimmt eine Idee, doch sie konnte es nicht über sich bringen, sie danach zu fragen. Dafür war Charlotte einfach zu schüchtern, und stolz zugleich. Sie hatte interessiert beobachtet, wie ihre Schwiegertochter sich aus einem unscheinbaren Mädchen mit unattraktiver Frisur in eine elegante junge Dame verwandelt hatte. Louisa war auf diesem Gebiet sehr begabt; sehr viel mehr hatte sie auf Springfield ja auch nicht zu tun.

Seufzend drehte Charlotte dem Spiegel den Rücken zu, band eine saubere Schürze über ihr eher praktisches als modisches braunes Kleid und ging nach unten in die Küche. Sie servierte Austin seinen Morgentee stets selbst.

Kurz darauf, als gerade die ersten Sonnenstrahlen über die Hügel krochen, wurde das ganze Haus von ihren markerschütternden Schreien geweckt.

Türen wurden aufgerissen, Stimmen riefen durcheinander. Teddy wachte verstört und weinend wie aus einem Alptraum auf. Draußen blieben Männer abrupt stehen, schauten sich entsetzt um. Manche rannte auf das Haus zu.

Victor fand sie auf Austins Ruhebett, wo sie sich verzweifelt hin- und herwiegte.

»Er ist tot«, schluchzte sie, »er ist tot.«

Er mußte sie sanft herunterziehen. »Warte, Mutter, laß mich nachsehen. Einen Moment, bitte.«

Doch Austin Broderick war tatsächlich tot. Er war friedlich entschlafen.

Hinter Victor drängten sich andere ins Zimmer. Er selbst war wie betäubt. Louisa nahm ihn in die Arme. »Liebling, es tut mir so leid. Unendlich leid.«

Er sah sie hilflos an, als wäre dieses unbegreifliche Ereignis zuviel für ihn. Seine Stimme war nur ein nervöses Flüstern.

»Er ist tot. Was machen wir jetzt?«

Louisa wußte darauf nichts zu erwidern. Sie verstand seine Verwirrung, seine augenblickliche Angst davor, nun auf eigenen Füßen stehen zu müssen. Sie fragte sich, als was für ein Mensch sich ihr Mann wohl entpuppen würde, wenn er endlich den Schatten des übermächtigen Vaters abgestreift hätte. Sie schaute zu Rupe hinüber, der bemüht war, seine Mutter zu trösten, und vermeinte eine gewisse Zufriedenheit in seinen kühlen blauen Augen zu lesen, doch das konnte auch eine Täuschung sein. Er war sicher ebenso erschüttert wie alle anderen.

 

Auch Cleo sprach ihr Beileid aus, konnte aber keine tiefe Trauer empfinden, da sie dem großen Mann nur ein paarmal begegnet war, wenn sie Teddy zu ihm führte oder Austin sich einmal dazu herabließ, aus den Tiefen seines Privatflügels emporzusteigen. Interessant fand sie allerdings, die Reaktionen der anderen zu beobachten. Sie waren allesamt starke Persönlichkeiten, auch die Frauen, obwohl sie sich dessen in Gegenwart ihres übermächtigen Patriarchen gar nicht bewußt zu sein schienen. Cleo fand die Brodericks faszinierend.

Als Zeichen des Respekts sagte sie für diesen Tag den Unterricht ab und half in der Küche aus. Es wurden zahlreiche Trauergäste erwartet, die alle verköstigt werden wollten. Zudem konnte sie bei dieser Gelegenheit dem neuesten Klatsch lauschen.

»Harry kommt bald nach Hause. Er und seine alberne Frau. Der arme Kerl ist sicher am Boden zerstört. Hatte keine Gelegenheit mehr, sich mit dem alten Mann auszusöhnen. Hatte es immer gehofft. Mr. Broderick konnte sehr jähzornig sein, aber nach einer Weile beruhigte er sich wieder.«

»Ich dachte, er hat Harry enterbt«, sagte Cleo, wohlweislich ohne zu erwähnen, daß in Brisbane noch schlüpfrigere Gerüchte über die Brodericks kursierten. Angeblich hatte Harry in einem Anfall von Eifersucht gedroht, seine Frau und ihren Liebhaber zu erschießen. Die ganze Nachbarschaft samt ihrer Tante hatte darüber getratscht; manche Leute behaupteten sogar, sie hätten mit eigenen Augen gesehen, wie er die Missetäter aus dem Haus warf. Und doch waren die beiden nach wie vor zusammen. Die Köchin jedenfalls hatte angekündigt, er werde seine Frau mitbringen.

»Sicher, er hat Harry aus dem Testament gestrichen, aber doch nur auf dem Papier. Mit der Zeit hätte der arme Mr. Broderick die Sache wieder in Ordnung gebracht. Sehen Sie, er mußte ein Machtwort sprechen. Aber er hat immer nur gebellt, nie gebissen. Dreht sich bestimmt im Grab um, weil er diesmal zu weit gegangen ist. Aber sie sind alle drei seine Söhne, und Victor und Rupe werden tun, was sich gehört. Dafür wird die Missus schon sorgen.«

Als Cleo Teddy später auf der vorderen Veranda etwas vorlas, fuhr ein Gig vor. Ein großer Mann mit dem wohlbekannten blonden Haarschopf der Brodericks half einer Frau beim Aussteigen.

Teddy bestätigte Cleos Vermutung, als er »Onkel Harry! Opa ist jetzt im Himmel!« rief und auf den Mann zustürmte. Sie sah den aufrichtigen Schmerz in seinen Augen, als er den Jungen hochnahm, und empfand Mitleid mit ihm, da seine Situation besonders grausam schien. Auch seine Frau stand wie betäubt vor dem Haus ihres Schwiegervaters.

»Komm, Liebling, gehen wir hinein.«

Teddy hielt sie auf, da er ihnen unbedingt Miss Murray vorstellen wollte, die so gut Geschichten vorlas. Sie wurden von Charlotte unterbrochen, die herauskam und sich weinend an Harry klammerte. Die drei betraten das Haus, und Cleo hielt es für das beste, mit Teddy einen Spaziergang zu den Ställen zu unternehmen.

 

Rupe stand wütend in der Tür zum Salon. »Was hast du hier zu suchen? Hast du nicht schon genug Unheil angerichtet?«

Harry schüttelte nur den Kopf.

Connie antwortete an seiner statt. »Wie kannst du es wagen, so mit ihm zu sprechen? Laß ihn in Ruhe.«

Harry nahm ihre Hand. »Schon gut, Connie, er ist nur aufgewühlt, so wie wir alle.«

»Wo ist Mutter?« wollte Rupe wissen. »Weiß sie, daß du hier bist?«

Louisa betrat das Zimmer. »Ich habe sie gerade nach oben gebracht, sie muß sich ein wenig hinlegen. Und ja, Rupe, sie weiß, daß Harry hier ist.«

Rupe stürmte davon. Louisa sah Connie an. »Was sollte das denn eben?«

Harry erhob sich aus seinem Sessel. »Nichts, Lou. Connie ist sicher erschöpft von der langen Fahrt. Wir gehen nach oben. Haben wir unser altes Zimmer?«

»Natürlich.« Louisa sah ihre Schwägerin aufmerksam an.

»Du siehst gut aus, trotz der langen Reise.« In der Tat wirkte Harry abgekämpfter als seine Frau, die nun matt lächelte. »Meine Liebe, sag bloß nicht, du …«

Connie errötete. »Doch, ich erwarte ein Baby.«

Alle schwiegen betroffen und hatten nur einen Gedanken: Austin würde sein zweites Enkelkind niemals kennenlernen.

»Wo ist er?« fragte Harry.

»In seiner Höhle. Hannah und die Frau des Arztes haben ihn dort aufgebahrt.«

Er nickte Connie zu. »Ich komme später nach.«

 

Victor saß mit einem Whisky auf Austins Veranda, als Harry ins Arbeitszimmer trat.

Entsetzt stellte er fest, daß man das Lieblingszimmer seines Vaters in ein Mausoleum verwandelt hatte: Der große Spiegel war schwarz verhängt, die Bilder waren zur Wand gedreht, seine kostbaren Trophäen weggeschlossen. In der Mitte des Zimmers lag Austin in einem dunklen Anzug aufgebahrt, umgeben von einem Meer weißer Chrysanthemen. Natürlich, es ist ja Mai, dachte er zerstreut. Im Mai blühten immer dichte Büschel dieser Blumen im Garten von Springfield.

Er versuchte, die Augen vor der gespenstischen Szenerie zu verschließen, sich zu sagen, daß dies alles nur auf Charlottes Pflichtverständnis und ihre übliche Fehleinschätzung von Austins Geschmack zurückzuführen war. Dad hätte es gehaßt, inmitten dieses Blumenschmucks wie ein Bräutigam zu thronen … Harry sah nieder auf das unbewegliche, noch immer gutaussehende Gesicht, und flüsterte:

»Es tut mir leid, Dad, es tut mir so leid.«

Er drängte die Tränen zurück, holte ein Glas aus dem Schrank und ging zu Victor auf die Veranda.

»Wie geht es dir?« fragte er seinen Bruder.

Dieser schob ihm die Whiskyflasche hin. »Ich weiß es nicht. Es kommt mir so unwirklich vor. Gestern abend fühlte er sich noch gut. Wir haben Karten gespielt, er hat sogar ein paarmal gewonnen gegen Rupe und mich. Sprach davon, den alten Jock und ein paar Freunde einzuladen … Vielleicht sind wir zu lange aufgeblieben. Ich dachte, er hätte das Schlimmste überstanden.«

Harry ließ ihn sich von der Seele reden, was er hätte tun oder unterlassen sollen, weil es ihm half, sich seiner nutzlosen Schuldgefühle zu entledigen.

»Mutter meint, wir wären zu lange mit ihm aufgeblieben«, fuhr Victor verzweifelt fort.

»Sieht aus, als sei er mit einem Lächeln auf den Lippen gestorben. Er liebte es zu gewinnen.«

»Stimmt.«

»Mutter ist einfach verzweifelt, du solltest dich nicht darum kümmern, was sie sagt. Sie sucht nach einem Schuldigen, so wie er es auch immer getan hat. Gott kann sie ja schlecht die Schuld geben.«

Victor schenkte sich einen weiteren Drink ein. Harry reichte ihm die silberne Wasserkaraffe, doch er winkte ab. An diesem Tag trank er seinen Whisky lieber pur. »Springfield wird nie wieder sein, was es einmal war.«

»Selbstmitleid hilft dir jetzt auch nicht weiter.«

Wütend fuhr Victor auf. »Du hast gut reden. Du mußtest ja nicht zusehen, wie er sich Tag für Tag abmühte, bis er beinahe wieder der alte war; wie er ohne ein Wort der Klage gegen seine Behinderung ankämpfte …«

»Das klingt mir aber gar nicht nach Vater.« Harry sah, wie sein Bruder in Tränen ausbrach, und sagte tröstend zu ihm: »Komm, trinken wir noch einen. Wir können die Totenwache ebensogut heute abend halten.«

 

Louisa half Victor ins Bett und verabreichte ihrer Schwiegermutter anschließend eine weitere Dosis des Beruhigungsmittels, das der Arzt gegen ihr hysterisches Weinen verschrieben hatte.

Dann brachte sie Connie ein Tablett mit dem Abendessen hinauf.

»Stimmt es, daß Austin Harry aus seinem Testament gestrichen hat?«

»Woher weißt du das?« fragte Louisa, der diese Frage offensichtlich peinlich war.

»Rupe hat ein großes Mundwerk. Aber eigentlich wird auf der ganzen Farm darüber geklatscht. Ist es denn wahr?«

»Ja.«

»Auch gut. Ich wünsche euch allen viel Glück mit unserem Anteil.«

»Ich habe nichts damit zu tun, Connie.«

»Das weiß ich, ich wollte nur sicher sein. Harry interessiert es sowieso nicht besonders.«

»Wirklich nicht?« fragte ihre Schwägerin überrascht. »Nein. Er hat sich geändert, will jetzt nichts weiter als ein ruhiges Leben führen. Er hatte nämlich einen Nervenzusammenbruch.«

»Tut mir leid, das wußte ich nicht.«

»Wie solltest du auch, schließlich hat sich keiner von euch nach unserem Befinden erkundigt oder uns besucht. Nicht einmal Charlotte. Ihr Mann war ihr da anscheinend wichtiger.«

»Wir haben es wirklich nicht gewußt. Wir dachten, er hätte seinen Parlamentssitz wegen der verpaßten Abstimmung aufgegeben, aber …«

»Ach, ist ja jetzt auch schon egal«, unterbrach Connie sie mit fester Stimme. »Es ist vorbei. Wir sind glücklich auf Tirrabee …«

»Ich habe gehört, es sei eine schöne Farm.«

»Harry hat dort alles, was er sich vom Leben wünscht.«

»Dann ist ja alles bestens.«

»Wirklich?« Connie stellte das Tablett beiseite, zog den Gürtel ihres rosafarbenen Morgenrocks enger und trat ans Fenster.

»Ich sagte, Harry interessiert es nicht mehr, aber mich schon. Mein Kind, das Enkelkind von Austin Broderick, hat ein Recht auf sein Erbe. Denk darüber nach, Louisa, und richte Victor von mir aus, daß mein Sohn oder meine Tochter die gleichen Rechte besitzt wie Teddy. Wenn er und Rupe uns auszubooten versuchen, wird das Folgen haben.«

Sie lächelte. »Nimm es nicht persönlich, Louisa, ich habe dich immer gern gemocht. Und vielen Dank für das Essen. Ich muß meinen Kakao trinken, bevor er kalt wird.«

Da Victor ausgestreckt auf dem Bett lag und viel zu betrunken für eine Unterhaltung war, legte Louisa sich in einem der Gästezimmer schlafen.

Connie hingegen ging noch lange nicht ins Bett. Sie setzte sich an den Tisch und verfaßte einen wohlgesetzten Brief an ihren Vater. Sie seien sehr glücklich auf Tirrabee und ihr Mann entschuldige sich für alle Unannehmlichkeiten, die er verursacht haben mochte – wobei letzteres allerdings frei erfunden war. Harry habe ein neues Leben begonnen und sei nun ein liebender Ehemann, der seine Pflichten ernst nehme. Dann eröffnete sie ihrem Vater die gute Neuigkeit, daß sie sein erstes Enkelkind erwartete.

Stirnrunzelnd spannte Connie von dort den Bogen zu der schlechten Neuigkeit, die ihn womöglich bereits von anderer Seite erreicht hatte, da Austin ein sehr bekannter Mann war. Sie bat den Richter um Rat. Wie könne es angehen, daß Harry Broderick aufgrund eines vorübergehenden Nervenzusammenbruchs aus dem Testament seines Vater gestrichen wurde? Daß Harry und ihr Kind um ihren rechtmäßigen Anteil, ein Drittel von Springfield, gebracht werden sollten?

Unter dem Vorwand, seinen juristischen Rat zu erbitten, appellierte Connie an die Geldgier ihres Vaters. Er würde alle Hebel in Bewegung setzen, um Harrys Anteil mit dem Besitz der Walkers zu vereinigen.

Zufrieden lächelnd versiegelte sie den Brief und trank den kalt gewordenen Kakao. Was Rupe wohl für ein Gesicht machen würde, wenn er gegen das geballte juristische Fachwissen von Richter Walker antreten müßte? Dies würde ihn lehren, seinen Bruder in seinem eigenen Heim wie einen Eindringling zu behandeln.

 

Rupe und Cleo aßen allein. Er wirkte unsicher und nervös, entschuldigte sich für die Abwesenheit der übrigen Familienmitglieder und schien zu keiner vernünftigen Unterhaltung fähig, bis er schließlich vorschlug, eine Flasche Wein zu öffnen.

»Ich brauche etwas zu trinken. Sind Sie damit einverstanden?«

»Natürlich.«

»Meine Brüder sitzen mit einer Flasche Whisky da draußen. Mich hat man nicht eingeladen, meine Meinung zählt anscheinend nicht. Nun, Sie trinken ohnehin keinen Whisky, oder?«

»Nein.«

»Dann also Wein, den besten, den wir haben. Mein Vater hielt nämlich zeitlebens nichts vom Trübsalblasen. Wir sollten auf ihn anstoßen. Leider nicht mehr auf gute Gesundheit und ein langes Leben.«

Sie lehnte sich zwanglos zurück. »Rupe, Sie müssen sich nicht ständig entschuldigen. Holen Sie schon den Wein. Ich leiste Ihnen Gesellschaft.«

»Wieso? Weil ich der Ausgestoßene bin?«

»Nein, weil Sie durcheinander sind und jetzt nicht allein bleiben sollten.«

Sie nippte an dem trockenen Weißwein und wünschte insgeheim, sie wäre mit einem Buch und einem Imbiß in ihrem Zimmer geblieben. Der Umgang mit Rupe war schwierig, zudem servierte das Mädchen das Essen mit aufreizender Langsamkeit. Cleo meinte, bei Rupe eine Mischung aus Trauer und Zorn über eine Welt zu entdecken, die ihm den Vater genommen hatte. Ihr war weh ums Herz, ihn so leiden zu sehen. Immer wieder versank er in brütendes Schweigen, doch sie fand, er hatte ein Recht dazu, und versuchte nicht krampfhaft, ihn aufzumuntern.

Irgendwann schob er seinen Stuhl zurück. »Wie wäre es mit einem Spaziergang?«

Das kam unerwartet. Cleo wäre am liebsten davongelaufen, aber ihr fiel keine Entschuldigung ein. »Wenn Ihnen danach ist.«

»Also, gehen wir.«

Sie nahmen den Vordereingang und folgten den Kieswegen, die sich um die Blumenbeete zogen. Zu ihrer Erleichterung bemühte sich Rupe nun, sie in ein Gespräch zu verwickeln, erkundigte sich nach ihrer Heimat im Norden, den Plantagen, den Jahreszeiten, den Pflanzen, einfach nach allem, wenn es nur nichts mit Austin Broderick zu tun hatte. Wie jeder Landbewohner schien er an ihren Antworten ehrlich interessiert. Sie machten die Runde ein zweites Mal, und als sie wieder vor der Tür standen, berührte er sie leicht am Arm.

»Danke, Cleo. Tut mir leid, daß ich vorhin so unausstehlich war, es ist nur … Ach, egal, Sie sollten jetzt besser hineingehen.«

An der offenen Tür drehte sie sich noch einmal um und sah, ihn sich entfernen, die Hände in den Taschen vergraben. Plötzlich wurde ihr bewußt, wie einsam er sich fühlen mußte. Sein Vater war wohl sein einziger echter Freund gewesen.

Doch Rupe war keineswegs einsam, sondern sehr zufrieden mit sich. Endlich hatte er das Eis gebrochen; ab heute würde sie ihm nicht mehr aus dem Weg gehen. Je näher er sie kennenlernte, desto besser gefiel sie ihm – gut genug jedenfalls, um sie zu heiraten. Immerhin stammte sie aus einer reichen Familie, würde eine ansehnliche Mitgift mitbringen und hatte eine beträchtliche Erbschaft zu erwarten.

»Verdammte Regierung«, murmelte er. Ausgerechnet jetzt, da diese verfluchten Politiker ihnen das Geld aus der Tasche zogen, erbte er die Hälfte von Springfield. Es war eine unglaubliche Geldverschwendung, so zu tun, als teilten sie den Besitz auf. Erst als Victor von Einsparungen sprach, hatte er die Endgültigkeit dieser ungeheuren Zahlungen zur Sicherung des Besitzes begriffen. Nicht Austins Geld würde nun in die Kassen der Regierung fließen, sondern sein eigenes!

Rupe lehnte sich gegen den Zaun und sah zum Haus zurück, dessen Sandsteinmauern beinahe weiß im Mondlicht schimmerten. Er hatte sich immer vorgestellt, daß er nach Austins Tod Victor die Leitung der Farm überlassen würde, während Harry in Brisbane lebte und er selbst frei war, in die Welt hinauszuziehen. Sein Anteil an den Wollerträgen würde ihm, wie vielen anderen Squattern auch, ein angenehmes Leben ermöglichen.

Jetzt, nachdem Harry enterbt war, hätte das ganze schöne Geld ihm und Victor allein gehört.

»Verdammtes Pech!« schnaubte er. Die Ehe mit einem reichen Mädchen erschien nun unumgänglich. Von ihrem Geld würde er keinen Penny in Springfield stecken, soviel stand fest. Es würde ihnen allein zugute kommen. Oder besser noch: Ihm allein.

Rupe fragte sich, ob es überhaupt erforderlich war, ganz Springfield zu kaufen. Austin hatte den Besitz in vollem Umfang erhalten wollen, doch er war gestorben und mit ihm sein alberner Stolz auf das Land, das ihnen auf viele Jahre hinaus beträchtliche finanzielle Einschränkungen auferlegen würde.

Nein, wir werden es anders machen, beschloß er. Zum Teufel mit den Strohmännern! Wir kaufen einfach nur so viel von dem Land zurück, daß es für einen anständigen, ertragreichen Besitz reicht. Den Rest sollen andere haben. Wenn er sich weigerte, mehr Land zu kaufen, würde Victor keine andere Wahl bleiben, als mitzuziehen. Wir behalten das Beste für uns und stoßen die Nebenfarmen ab, damit sparen wir auch gleich die Gehälter für die Verwalter ein. Springfield wird einfach nur etwas kleiner werden.

Rupe fühlte sich besser, nachdem er diese Entscheidungen getroffen hatte, und kehrte ins Haus zurück. Er ging sofort in sein Zimmer, da er Harry nicht noch einmal über den Weg laufen wollte; zwischen ihnen gab es nichts mehr zu sagen. Morgen würden von überallher die Trauergäste eintreffen. Das Begräbnis war für übermorgen vorgesehen. Die Frauen steckten schon in den Vorbereitungen für die Ankunft der größten Menschenmenge, die Springfield je erlebt hatte. Das Haus würde förmlich aus den Nähten platzen.

Er nickte. »Wenn alles vorbei ist, werde zur Abwechslung einmal ich es sein, der bestimmt, was zu tun ist.«

 

Charlotte erwachte und spürte sofort wieder die tiefe Niedergeschlagenheit, die sie wie ein Mantel umgab. Ihr Kopf tat weh, der Körper war bleischwer, als könne sie sich nie wieder ohne fremde Hilfe aus diesem Bett erheben. Ein trockenes Schluchzen schüttelte sie, und sie mußte gegen eine aufsteigende Übelkeit ankämpfen.

Im Zimmer war es totenstill, durch die offenen Fenster drang nicht die leiseste Brise. Das ganze Haus lag in völliger Ruhe. Keine Stimmen, kein geschäftiges Treiben, nichts.

Heute wurde ihr Mann beerdigt.

Sie wollte weinen, hatte aber keine Tränen mehr. Ihr war, als müsse ihr das Herz brechen, weil Austin sie ohne ein Wort verlassen hatte. Ohne ihre Wünsche erfüllt zu haben, ohne ihr ein einziges Mal gesagt zu haben, wie sehr er sie liebte. Um sich zu trösten, ließ sie sich noch einmal in ihren Traum sinken: Sie verließ Austin und zog nach Brisbane. Er kam ihr nach und flehte sie an, zu ihm zurückzukehren, damit er der Welt zeigen könne, wieviel sie ihm bedeutete.

Gestern hatte sie Pferde und Wagenräder auf der Kiesauffahrt gehört. Ihr Zimmer lag unmittelbar über der Haustür, von wo jetzt leise Stimmen zu ihr hinaufdrangen, die ihr Beileid ausdrückten. Heute würden weitere Trauergäste eintreffen. Sie wußte, sie hätte eigentlich unten sein und sie begrüßen müssen, wollte aber niemanden sehen. Sie würde besser hier oben bleiben, bis alle gegangen waren, denn wer interessierte sich schon für die Witwe von Austin Broderick? Die Gäste waren seine Kumpel, Freunde, Angehörige der Oberschicht wie er selbst; sie alle ließen es sich nicht nehmen, zu seiner letzten Ruhestätte zu pilgern, die gleich neben der von Kelly liegen würde, wie er es sich immer gewünscht hatte.

Die Namen wichtiger Leute, von denen manche vermutlich bereits die Gästezimmer bezogen hatten, schwirrten ihr durch den Kopf. Charlottes hausfrauliche Sorge erwachte. Kam Louisa mit alldem zurecht? Wußte sie, was zu tun war? Hatte sie das Haus in Ordnung bringen lassen? War alles an seinem Platz? Sie bezweifelte es, da ihre Schwiegertochter nicht gerade die personifizierte Ordnungsliebe war. Was würden die Leute denken, wenn sie Springfield vernachlässigt vorfanden? Ihre Sorge verwandelte sich in Furcht, während sie sich den Kopf über die zahlreichen Details zerbrach, die Louisa vermutlich übersehen hatte. Es half nichts, sie mußte aufstehen und das Kommando übernehmen.

Das war allerdings leichter gesagt als getan. Mit größter Mühe schleppte sie sich aus dem Bett. Im Stehen wurde ihr schwindlig. Sie machte einen Schritt auf die vergoldete Klingel zu, um ein Hausmädchen zu rufen, zögerte aber. Die Depression umgab sie wie ein Glocke, lockte sie, in diesem Zimmer zu bleiben, das sie mit Austin geteilt hatte. Sie hätte der Verlockung beinahe nachgegeben, doch ihr Stolz auf den immer so tadellosen Haushalt gewann schließlich die Oberhand. Wie betäubt öffnete sie ihren Kleiderschrank und suchte ihr bestes schwarzes Seidenkleid und all die anderen Dinge heraus, die sie benötigen würde. Erneut liefen ihr die Tränen übers Gesicht.

In der Küche wurden gerade die Überreste des Frühstücks weggeräumt, als Charlotte müde, aber äußerlich gefaßt in der Tür erschien.

»Louisa, es ist zehn Uhr, und im Salon ist noch nichts gerichtet.«

»Ich weiß, Charlotte. Wir haben heute morgen viel zu tun. Geht es dir gut? Möchtest du eine Tasse Tee?«

»Nicht jetzt. Ich möchte erst die vorderen Zimmer in Ordnung bringen.«

Louisa berichtete Victor, daß seine Mutter heruntergekommen sei und sehr gefaßt wirke. »Gott sei Dank.«

»Gut, ich hatte mich nämlich schon gefragt, ob sie überhaupt imstande sein würde, am Begräbnis teilzunehmen. Ich will mal nachsehen, ob ich ihr irgendwie zur Hand gehen kann.«

 

Cleo war schier überwältigt von der ungeheuren Menschenmenge, die aus Anlaß von Mr. Brodericks Begräbnis zusammengekommen war. Gerührt bemerkte sie, daß auch viele einfache Viehhüter von anderen Farmen gekommen waren, um sich von diesem Pionier zu verabschieden. Charlotte stand tief verschleiert am Grab, umgeben von ihren drei Söhnen, deren blondes Haar der düsteren Zeremonie ein wenig Licht verlieh.

Die Kirchenlieder schwollen im Wind, der durch das Tal fegte, an und ab. Louisa sang solo »Nun danken alle unserm Herrn«, weil sie eine schöne Singstimme besaß.

Und dann war auf einmal alles vorbei.

Die Gäste zogen sich leise und respektvoll zum Nachmittagstee ins Haus zurück und wurden später von Charlotte vor der Tür verabschiedet. Als sich die verbliebenen Damen im Salon versammelten, suchte Cleo ihr Zimmer auf, wo zu ihrer Überraschung von draußen Gesang zu ihr drang.

Sie trat ans Fenster und lauschte. Die Männer hielten unten am Fluß ihre eigene Totenwache ab. Sie sah das Flackern der Lagerfeuer und roch den eukalyptusgeschwängerten Rauch. Das alles wirkte sehr tröstlich auf sie. Anstelle von Kirchenliedern sangen sie Balladen, traditionelle Weisen so vertraut wie alte Freunde, die davon zeugen sollten, daß sie Austin Broderick ebensowenig vergessen würde wie seine Familie.

 

»Müßt ihr denn wirklich schon aufbrechen?« wollte Charlotte am nächsten Morgen von Harry wissen. »Könnt ihr nicht noch ein bißchen bleiben?«

»Leider nicht, zu Hause wartet viel Arbeit auf mich. Du mußt uns bald einmal besuchen, ein Urlaub würde dir sicher guttun.«

»Ich habe hier so viel zu erledigen …«

Er legte seiner Mutter den Arm um die Schultern. »Komm, Austin würde nicht wollen, daß du traurig bist. Du hast dich prächtig gehalten, aber jetzt mußt du ein bißchen kürzer treten. Soll ich dich in vierzehn Tagen abholen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Bitte dräng mich nicht, Harry, ich kann Springfield jetzt noch nicht verlassen. Es ist schwer genug, den Tag zu überstehen.«

»Ich weiß«, antwortete er sanft. »Du kommst, wenn dir danach ist.«

»Fahr bitte noch nicht weg«, bat Charlotte eindringlich.

»Bleib noch einen Tag, ich brauche dich hier. William Pottinger wartet, bis die letzten Gäste weg sind, und will dann das Testament eröffnen. Es soll alles ganz offiziell ablaufen.«

»Ein Grund mehr für mich, das Haus zu verlassen. Rupe hat mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, daß ich nicht darin bedacht wurde.«

»Ach, was weiß Rupe denn schon?«

»Aber es stimmt doch, oder? Schau mal … ich will dir und den anderen keine Schwierigkeiten machen. Es war Austins Entscheidung, und ich muß sie akzeptieren.«

»Ich möchte dennoch, daß du bleibst. Ich brauche dich wirklich hier bei mir. Die anderen interessieren sich nicht für mich.«

»Wie kommst du denn auf die Idee?«

»Sag mir, daß du bleibst«, beharrte Charlotte. »Tu einmal im Leben etwas für mich.«

Zu seiner Überraschung war Connie einverstanden. Sie hatte nicht einmal etwas dagegen, bei der Testamentseröffnung im Salon anwesend zu sein. »Ich dachte, es wäre dir peinlich, wenn dein Ehemann wie das fünfte Rad am Wagen daneben sitzt.«

»Keineswegs. Ich möchte es mit eigenen Ohren hören.«

»Wie du willst.«

Louisa stieß Victor an, als die beiden den Raum betraten. Er sah nervös zu ihnen hinüber. Rupe schenkte ihnen keine Beachtung, und Charlotte nickte Pottinger zu. »Sie können anfangen.«

William Pottinger wirkte mit seinem hageren, gebräunten Gesicht und den großen Händen eher wie ein Farmer, doch alle wußten, daß er als Anwalt nahezu unschlagbar war. Er raschelte mit den Papieren, die auf der polierten Tischplatte lagen, schob seine Frackschöße nach hinten und nahm Platz. Harrys Gegenwart schien ihn nicht zu stören.

Er hüstelte. Verlas das Datum des Testaments und hüstelte noch mehr, als wolle er ihnen Zeit geben, die Tatsache zu verdauen, daß dies ein neues Testament war, verfaßt, nachdem Harry auf so spektakuläre Weise in Ungnade gefallen war. Dann las er den Wortlaut vor: »Dies ist der letzte Wille und das Testament von mir, Austin Gaunt Broderick. Ich befinde mich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte …« Pottinger sah zu Charlotte hinüber, die ihr Gesicht dem Fenster zugewandt hatte, als errege dort etwas ihre Aufmerksamkeit.

Er fuhr fort mit den Legaten, die schweigend aufgenommen wurden, und bemerkte dazu, dies sei im Gegensatz zu vielen anderen, mit denen er zu tun gehabt habe, ein einfaches, unkompliziertes Testament. Sodann beeilte er sich zu verkünden, daß Austin seinen gesamten Besitz, seine Güter und seine bewegliche Habe seinen Söhnen Victor und Rupert vermache unter der Bedingung, daß Charlotte Broderick für den Rest ihres Lebens Wohnrecht auf Springfield genieße.

Da sich niemand zu Wort meldete, sammelte er seine Papiere wieder ein und verzichtete auf die übliche Gratulation, die ihm angesichts der unbehaglichen Familiensituation unangemessen erschien.

Schließlich erhob sich Rupe von seinem Stuhl. »Vielen Dank, William. War das alles?«

»Wir müssen noch die Details der Erbschaft besprechen, das Kapitalvermögen und so weiter, aber das hat Zeit. Da Sie beide hier leben, ist es nicht dringlich.«

Pottinger sah, wie sich Charlotte vorbeugte, etwas sagen wollte, Luft holte, es erneut versuchte. Er empfand Mitleid mit der Witwe. Das Sprechen schien ihr enorme Mühe zu bereiten.

»Ja, meine Liebe?« fragte er teilnahmsvoll.

Sie schluckte. »Was ist mit meinem Anteil?«

Pottinger starrte sie an. »Wie bitte?«

»Mein Anteil.«

»Charlotte, für Sie ist bestens gesorgt. Dies ist und bleibt Ihr Heim, das wird hierin sehr deutlich erklärt.«

»Tatsächlich?« fragte sie zornig. »Dann werde ich euch allen jetzt etwas sagen: Mein Bruder hat diese Farm mit Austin zusammen gegründet. Sie waren Partner, und ihnen gehörte das ganze Land in diesem Tal, als Kelly starb und Austin weitere Ländereien pachtete.«

»Ich glaube nicht, daß dies jetzt von Belang ist, Mutter«, warf Rupe ein, doch Harry knurrte: »Mutter hat uns etwas zu sagen, Rupe. Laß sie bitte ausreden.«

Sie sah ihre Söhne gequält an. »Versteht ihr mich denn nicht? Austin sagte immer, mir stehe ein rechtmäßiger Anteil zu, da ich die engste Verwandte meines Bruders war. Seine Erbin«, fügte sie verbittert hinzu. »Das Wort dürfte euch ja nicht unbekannt sein. Aber ich habe meinen Anteil nie bekommen, er hat alles für sich behalten. Und nun hat er mich schon wieder übervorteilt.«

Victor war völlig perplex. »Mutter, bitte! So darfst du nicht denken. Dies ist doch dein Zuhause.«

»Und ich muß künftig bei dir um jedes Pfund betteln, wie ich es zuvor bei deinem Vater getan habe.«

»Komm schon, du bist jetzt nur ein wenig aufgeregt. Austin hat dir nie etwas verweigert, Mutter, und das werden wir ebensowenig tun. Wenn du möchtest, setzen wir eine regelmäßige finanzielle Zuwendung fest, die zu deiner freien Verfügung steht …«

»Du verstehst nicht, worum es geht«, warf Connie ein, die diese Auseinandersetzung genoß. »Deine Mutter will sagen, daß ihr ein Anteil an Besitz und Vermögen zusteht, keine Almosen von ihren Söhnen. So ist es doch, Harry?«

Er wirkte hilflos. »Nun, ich weiß nicht, darüber habe ich nie nachgedacht.«

»Wir reden ein anderes Mal darüber«, sagte Victor unglücklich, denn ihm war dieses Schauspiel vor den Augen des Anwalts aus Toowoomba überaus peinlich. Schließlich hatte dieser zu Austins besten Freunden gehört.

Doch Charlotte, die endlich all ihren Mut zusammengenommen hatte, wußte genau, daß sie diese Frage jetzt oder nie klären mußte.

»Ich möchte aber jetzt darüber sprechen. William, ich bitte Sie, meinen Anspruch zu prüfen. Ich verlange einen Anteil an Springfield.«

Er schüttelte ratlos den Kopf. »Charlotte, ich handle hier im Namen Ihres verstorbenen Mannes und kann unmöglich auch noch Sie vertreten. Wenn Sie bei dieser … hm … Haltung zu bleiben belieben, müssen Sie sich einen anderen Anwalt suchen.«

»Sie verstehen es auch nicht, oder? Versteht es auch nur einer von euch? Ich habe die Karten mit den Ansprüchen gesehen, die die Männer eingereicht haben, damit es so aussieht, als hielten sie die Gesetze der Regierung ein. William, wußten Sie, daß Austin mir die gleiche Menge Land zugewiesen hat wie Fern Broderick?«

Bei dem bloßen Gedanken daran wurde sie wieder so wütend, daß alle überrascht zusammenfuhren, doch sie verfolgte ihren Gedankengang unbeirrt weiter. »Sehen Sie sich diese Karten an. Zu mehr als einem Strohmann tauge ich anscheinend nicht. Und das betrachte ich als grobe Beleidigung.«

Pottinger setzte sich wieder hin. »Charlotte, Sie werfen das Erbe von Springfield mit den Anforderungen des Gesetzes gegen die Zweckentfremdung von Land in einen Topf. Für welche Verfahrensweise sich die Herren auch immer entschieden haben – wie ich höre, werden Sie dabei von Anwälten aus der Stadt beraten –, um so viel Grund und Boden wie möglich behalten zu können, es steht ihnen frei, dies zu tun. Ich möchte Sie jedoch aufrichtig davor warnen, die Frage der Strohmänner außerhalb der vier Mauern dieses Hauses anzusprechen. Dieser Komplex geht weit über meine juristische Kompetenz, und obwohl ich die Viehzüchter bedaure, die sich derartigen Problemen gegenübersehen, möchte ich nicht an illegalen Vorhaben beteiligt sein. Ich will vergessen, daß der Begriff Strohmann je gefallen ist.«

»Mit anderen Worten, es ist Ihnen gleichgültig, daß man mich, so sehe ich es zumindest, um den mir zustehenden Anteil an Springfield gebracht hat?«

»Ganz und gar nicht. Wenn Sie es so empfinden, ist es Ihr gutes Recht, das Testament anzufechten.«

»Wie bitte?« Rupe war aufgesprungen.

»Setz dich hin!« donnerte Harry. Sein Bruder gehorchte, wenn auch nur widerwillig.

Pottinger fuhr fort: »Wie gesagt, es steht Ihnen frei, einen anderen Rechtsbeistand zu verpflichten.«

»Wen denn?« fragte Charlotte.

»Das liegt ganz bei Ihnen, meine Liebe.«

Connie lächelte. »Natürlich Richter Walker. Ich bin sicher, meinem Vater wird es eine Ehre sein, dir zu helfen.«

»Mein Gott, nur das nicht!« rief Harry entsetzt aus, doch seine Mutter nickte Connie dankbar zu. Zum ersten Mal standen die beiden Frauen wirklich auf einer Seite.

Er lehnte sich zurück und suchte den Fortgang des Streits aus seinem Bewußtsein auszublenden. Wie traurig, dachte er, daß sich Charlotte die ganze Zeit über mit dem Wunsch nach einem Anteil an Springfield gequält haben mußte. Er wünschte, sie hätte mit Austin darüber gesprochen, doch das hätte sie wohl zu große Überwindung gekostet. Austin

redete nicht mit den Leuten, er redete sie in Grund und Boden.

Der Anwalt machte Anstalten zu gehen, verabschiedete sich mit bemühter Höflichkeit von allen Anwesenden und verließ so schnell wie möglich den Raum. Charlotte begleitete ihn. »Ich hoffe, Sie überdenken das alles noch einmal, meine Liebe«, sagte er zu ihr, während sie ihm in den weißen Staubmantel half. »Wenn Sie Austins Testament anfechten, wird dies einen gewaltigen Skandal verursachen.«

Ihr Blick schweifte über den Garten zu der langen Baumreihe am Ende des Tales, die vom Licht der Nachmittagssonne vergoldet wurde. »Ich betrachte es als einen Skandal, daß man mich übergangen hat«, seufzte sie. »Aber ich will Sie nicht länger aufhalten. Auf Wiedersehen, William, und vielen Dank für den schönen Kranz.«

 

Im Salon wandte Victor sich unterdessen an Harry. »Hinter alledem steckst doch du! Bist du deshalb hiergeblieben? Du hast Connie und Charlotte gegen uns aufgehetzt.«

»Nein, ich bin nur ein unbeteiligter Zuhörer«, sagte Harry grinsend.

»Wie kommt Connie denn dazu, für dich ebenfalls einen Anteil zu verlangen?«

»Davon wußte ich ja gar nichts.«

Rupe stürmte auf ihn zu. »Du verdammter Lügner, du willst uns nur Schwierigkeiten machen …«

Er konnte den Satz nicht mehr beenden, da ihn Harry am Hemdkragen packte und gegen die getäfelte Wand stieß.

»Deine Beleidigungen habe ich gründlich satt. Halt endlich die Klappe.«

Connie genoß die Szene. Also hatte Rupe ihren Mann nun doch genügend provoziert, um ihm eine Reaktion zu entlocken. Vielleicht würde er ja jetzt endlich um seinen Anteil an Springfield kämpfen. Louisa hingegen war außer sich.

»Hört auf! Euer Vater ist kaum unter der Erde, und schon geht ihr einander an die Kehle! Hört sofort damit auf!«

Die Männer traten auseinander, doch niemand machte Anstalten, den Salon zu verlassen. Es stand einfach zuviel auf dem Spiel. Harry bot schließlich eine Lösung an.

»Mutter sollte euch nicht darum bitten müssen, daß Austins Vermögenswerte umverteilt werden. Wir alle müssen uns bei ihr entschuldigen. Niemand, auch Vater nicht, hat je auf ihre Wünsche Rücksicht genommen. Wenn ihr den Besitz durch drei teilt und dies rechtlich absichert, dann sind alle Probleme gelöst.«

»Und was passiert, wenn Springfield in einzelne Abschnitte aufgeteilt wird?« wollte Victor wissen. »Das wird doch alles viel zu kompliziert.«

»Komm schon, Victor, du weißt ganz genau, daß weiterhin alles durch deine Hände läuft: die Ausweisung neuer Weiden, die Verwaltung, die Viehbestandskontrolle, die Geldgeschäfte. Ich sage lediglich, ihr sollt Mutter ein Drittel davon abtreten.«

»Das können wir uns nicht leisten.«

»Natürlich könnt ihr das. Sie bittet nicht um Bargeld, sondern um einen gleichrangigen Anteil am Besitz. Das ist doch nicht so schwer zu verstehen.«

Rupe, der etwas abseits am Fenster stand, ergriff nun wieder das Wort: »Wenn ich etwas dazu bemerken darf – jemand sollte Harry darüber aufklären, daß für uns lediglich Austins Testament bindend ist. Und ich für meinen Teil habe vor, die Bestimmungen buchstabengetreu zu befolgen.«

»Auch wenn du damit deine Mutter ausschließt?« fragte Harry knapp.

»Es ist ja nicht so, als hätte Austin sie völlig übergangen. Sie kann so lange im Haus leben, wie sie möchte. Er wußte, daß wir uns um sie kümmern würden. Vielleicht dachte er, eine Wiederheirat könne die Dinge erschweren, falls er ihr einen Anteil hinterließe. Austin wußte, was er tat, und hatte zumeist recht damit.«

Victor schien seiner Sache nicht mehr ganz sicher. »Wenn wir Mutter einen Anteil geben, könntest du ebenfalls einen einfordern, oder nicht, Harry?«

»Das werde ich nicht tun.«

»Paß auf, was du sagst, Harry Broderick«, warf seine Frau ein. »Du verzichtest nicht auf den Anteil an einer kleinen Bauernkate. Springfield ist nicht Tirrabee, wo du nur als Verwalter arbeitest. Victor weiß genau, daß es noch um jemand anderen geht …«

»Um wen denn, bitte schön?« fauchte Rupe, doch Connie schenkte ihm keine Beachtung.

»… da Louisa ihn bestimmt davon in Kenntnis gesetzt hat. Er tut jetzt nur so, als wüßte er von nichts, und dabei spekuliert er darauf, daß er das bessere Geschäft macht, wenn er Charlottes Forderung nachgibt und du gleichzeitig auf deine Ansprüche verzichtest.«

Während sie sprach, ging Harry durchs Zimmer und schenkte sich an der Anrichte einen Whisky ein. »Wovon sprichst du eigentlich? Bin ich denn der einzige hier, dem da was entgangen ist?«

Charlotte, die in der Tür stand, sagte: »Nein, mein Lieber, ich hatte zuvor auch nicht daran gedacht, aber Connie hat völlig recht. Wenn du nicht selbst um das Erbe eures Kindes, Austins zweitem Enkel, kämpfst, werden Connie und ich es für dich tun.«

Auf unsicheren Beinen schwankte sie durchs Zimmer. Victor kam ihr zu Hilfe und führte sie zurück zu ihrem Stuhl. »Soll ich dir einen Brandy bringen?«

»Ja, bitte, mit Wasser.«

Harry goß den Drink ein und gab Victor das Glas, der es seiner Mutter brachte. »Das ist alles zuviel für dich. Warum legst du dich nicht ein bißchen hin, und wir besprechen alles, wenn du dich erholt hast?«

Sie nahm einen Schluck Brandy. »Wir reden jetzt darüber. Ich verlange eine Entscheidung. Du und Rupe vertretet anscheinend die gleiche Meinung wie Austin, was ich euch nicht übelnehme. Schließlich hat er euch so erzogen. Ich habe mit eurem Vater nie über dieses Thema gesprochen, weil er sich Frauen gegenüber sehr herablassend verhielt. Bei meinen Söhnen werde ich dieses Benehmen aber keinesfalls dulden.«

Sie hielt inne. »Harry beginnt bereits, mich ein wenig zu verstehen, aber wie steht es mit euch? Ich verlange eine Antwort.«

»Mutter, dies ist nicht der geeignete Zeitpunkt, um über eine Dreiteilung des Besitzes zu sprechen«, sagte Victor. »Vierteilung«, berichtigte sie ihn.

»Wie auch immer, jedenfalls geht es um eine Teilung«, fuhr er fort, »während der Zwang zum freien Erwerb wie ein Damoklesschwert über unseren Köpfen hängt. Kannst du nicht warten, bis wir all das hinter uns haben?«

Natürlich, dachte sie, bis Fern Brodericks Name im Landministerium registriert ist, und zwar für einen Anteil, der ebensogroß ist wie meiner.

»Was meinst du dazu, Rupe?«

»Ich halte es für falsch und erbärmlich, den letzten Willen unseres Vaters derart zu mißachten. Er war im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und wußte, mit welchen Schwierigkeiten Victor und ich beim Schutz unseres Landes zu kämpfen haben würden. Es geht doch auch um dein Heim, Mutter.«

Charlotte nippte an ihrem Brandy, während die anderen auf ihre Reaktion warteten.

»So, das wäre es dann wohl«, sagte sie schließlich. »Ich bin in meinem eigenen Haus nur geduldet.«

Louisa war empört. »Oh, Charlotte, so etwas darfst du nicht einmal denken!«

Ihre Schwiegermutter faltete die Hände im Schoß. »Harry und Connie fahren morgen nach Hause. Ich werde sie begleiten. Mich hält nichts mehr auf Springfield. Ich bleibe eine Weile bei ihnen auf Tirrabee und reise dann weiter nach Brisbane.«

»Wo willst du dort wohnen?« fragte Harry. »Du brauchst Tirrabee nicht zu verlassen.«

»Noch bin ich keine Bettlerin. Wie du hörtest, hat Victor mir finanzielle Zuwendung zugesagt. Mir ist durchaus bewußt, daß sich sowohl in Victors als auch in Austins Safe eine Menge Bargeld befindet, ein Notgroschen, wie Austin es nannte. Ich allein entscheide, was ich tue und wo ich lebe.«

 

An diesem Abend fühlte Charlotte sich so einsam, daß sie sich in den Schlaf weinte. Sie konnte sich ein Leben ohne Austin einfach nicht vorstellen, und der Familienstreit hatte sie nur vorübergehend von ihrer Trauer abgelenkt. Es war ihr egal, daß sie nun alle verärgert hatte. Keiner von ihnen konnte ihren Verlust nachempfinden. Was wußten sie denn schon von der Liebe? Austin mochte selbstsüchtig und herablassend gewesen sein, da er glaubte, man erwarte diese Haltung von einem Mann in seiner Position – schließlich war er ja der Boß. Aber sicher hatte er gewußt, wie sehr sie ihn liebte, konnte seine eigenen Gefühle nur nicht zeigen. Romantik und Sentimentalität waren ihm fremd gewesen, und Charlotte hatte gehofft, daß er im Alter ein wenig weicher würde. Leider war ihr diese Freude vom Schicksal nicht vergönnt.

Ihre Träume trösteten sie vorübergehend darüber hinweg; süße, liebliche Träume, in denen ihr gutaussehender Mann neben ihr lag und sie geborgen in seinen Armen, in denen er ihr ins Ohr flüsterte, wie sehr er sie liebe. Als sie am nächsten Morgen erwachte, erschien ihr die graue Realität irgendwie unwirklich.

Doch sie fühlte sich heute viel besser. Austin würde für immer in ihrem Herzen wohnen, aber nun war sie frei, ihr eigenes Leben zu leben und ihre Interessen mit der gleichen Hartnäckigkeit zu vertreten, die ihr Mann an den Tag gelegt hatte. Das immerhin hatte sie von ihm gelernt. Man zauderte nicht, man wich nicht zurück, und niemals durfte man auf sein Recht zu herrschen verzichten. Mit dieser Haltung hatte sich Austin sein Imperium aufgebaut, allen Auseinandersetzungen mit den Aborigines, anderen Züchtern, Viehhütern und Scherern zum Trotz. Er hatte ausgeharrt und gesiegt.

Traurig dachte sie, daß er sich vielleicht aus dem Leben gestohlen hatte, weil er wußte, daß der nächste Kampf zu hart und die Niederlage zu schwer zu ertragen sein würden. Ungeachtet ihrer Pläne war sich Charlotte bewußt, daß ihre Söhne schwierigen Zeiten entgegensahen, wenn sie Springfield zusammenhalten wollten, doch sie empfand kein Mitleid. Nicht, solange Rupe und Victor sie um ihren rechtmäßigen Anteil betrügen wollten.

Sie zog sich an und packte gemächlich ihren Koffer. Es war noch früh, alle anderen schliefen noch, und so blieb ihr genügend Zeit, ihren Schlachtplan zu überdenken.

In Brisbane würde sie umgehend Richter Walker aufsuchen und sich von ihm bezüglich der Anfechtung des Testaments beraten lassen. Und sie hatte ein weiteres As im Ärmel. Es würde nicht mehr allzu lange dauern, bis ihre Söhne das Land, das Austins Frau zugeteilt war, erwerben würden. Erstklassiges Land im Herzen von Springfield.

Sie durfte nicht zögern. Das Land war auf ihren Namen eingetragen, und wenn ihre Söhne weiterhin stur blieben, könnte sie es einfach verkaufen, auch ohne ihre Erlaubnis. Ein Stück aus den besten Weiden herausschneiden, wodurch Springfield unwiderruflich aufgeteilt würde, während sie weiterhin unbeschränkten Zugang zum Haus hätte.

Und sie wollte, daß Fern Brodericks Name gestrichen und durch Harrys ersetzt wurde. Auf diese Weise würde sie zahlreiche Pläne auf einen Schlag durchkreuzen.

Sie setzte ihren Hut auf und befestigte ihn mit einer silbernen Nadel. »Ihr seid ja nur Kinder«, sagte sie zu ihren abwesenden Söhnen, »ich hingegen bin bei einem Fachmann in die Lehre gegangen. Versucht also nicht, euch mit mir anzulegen. Ich werde gewinnen oder euch zerstören!«

 

Das Leben in dem verkleinerten Haushalt war so friedlich, daß Louisa im siebten Himmel schwebte. Victor und Rupe, der Cleo umwarb, die beinahe schon zur Familie gehörte, kamen erstaunlich gut miteinander aus. Die vier jungen Leute aßen jeden Abend zusammen und genossen das Leben ohne die Verhaltensregeln, die ihnen die ältere Generation auferlegt hatte. Die Männer arbeiteten sieben Tage in der Woche, kontrollierten ständig die Herden, prüften die Wasserstellen, zogen kleinere Stacheldrahtzäune, um ihren Besitzanspruch zu unterstreichen, ritten rastlos mit den Viehhütern über den Besitz wie die Hirten in früheren Zeiten, um ihren wertvollen Herden die bestmöglichen Weidebedingungen zu sichern.

Es gab keine Herrenabende mehr, bei denen die Frauen vom Feierabendvergnügen ausgeschlossen gewesen wären. Niemand mußte sich beeilen, um sich fürs Abendessen umzuziehen. Das Leben war einfacher geworden, legerer. Louisa hatte beschlossen, das Speisezimmer nur für besondere Gelegenheiten zu nutzen, und sie nahmen von nun an alle Mahlzeiten im Frühstückszimmer ein, das zudem den Vorteil besaß, kühler zu sein.

Hannah begrüßte die Veränderungen. »Weniger zu tun für die Mädchen. Es ist allein schon eine Menge Arbeit, andauernd diese riesigen Tischtücher zu stärken und zu bügeln.«

Doch Victor empfand trotz der Annehmlichkeiten seines neuen Lebens tiefe Schuldgefühle. Natürlich genoß er es, abends heimzukehren und auf der Veranda von den Mädchen mit kaltem Bier und einem Lächeln auf den Lippen empfangen zu werden, doch ihm war, als habe er sich diese Freuden auf Kosten seines Vaters erkauft. Es schien beinahe, als seien alle erleichtert, daß Austin nicht mehr da war. Dieser Gedanke schmerzte ihn. Wenn er allein durch den Busch ritt, sprach er oft in Gedanken mit seinem Vater und entschuldigte sich für sein Verhalten. Was aber hätte Austin zu der furchtbaren Sache mit Charlotte gesagt? Vermutlich eine ganze Menge. Natürlich trug Harry an allem die Schuld, da er Charlotte überhaupt erst auf diese Idee gebracht hatte. Von selbst wäre es ihr doch nie in den Sinn gekommen, das Testament anzufechten, wenn Harry nicht seine eigenen Interessen im Auge gehabt und mit voller Absicht Zwietracht unter ihnen gesät hätte. Und zu allem Übel hatte er sie auch noch ermutigt, Springfield zu verlassen.

Victor dachte an die heftige Auseinandersetzung vor der Abreise seines Bruders zurück. Er hatte Charlotte angefleht, Springfield nicht so überstürzt zu verlassen, doch sie war eisern geblieben.

»Springfield hat vier Erben, nicht zwei. Bis du gelernt hast, dies zu akzeptieren, gehe ich weg.«

Als Charlotte bei dieser letzten Diskussion in Tränen ausgebrochen war, war Harry eingeschritten. »Victor, um Gottes willen, laß Mutter in Ruhe. Ich verzichte meinetwegen auf meinen Anteil, aber Mutter hat ein Recht darauf. Siehst du das nicht ein?«

Victor hatte ihn daraufhin wütend angebrüllt. »Ich sehe nur, daß du entschlossen bist, diese Familie zu ruinieren. Dabei hast du in Brisbane schon genügend Ärger verursacht. Verlaß dieses Haus, für immer! Du warst nicht willkommen, als Austin noch lebte, und bist es auch jetzt nicht. Wage es nicht, je wieder herzukommen!«

Später, nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, hatte er an Charlotte geschrieben. Er hoffe, daß sie nach einer Zeit der Erholung zurückkehren und zu einen vernünftigen Gespräch bereit sein werde.

Sie hatte auf diesen Brief nicht reagiert – vermutlich auf Anraten Harrys hin – und war nach Brisbane weitergereist, um sich mit ihren Anwälten zu besprechen.

Sechs Wochen später trafen von dort ein Paket mit Märchenbüchern für Teddy und eine kurze Mitteilung seiner Mutter ein – ihr gehe es gut, sie genieße den Aufenthalt in Brisbane und freue sich schon auf ihre Heimkehr. In der Zwischenzeit lasse sie sich juristisch beraten bezüglich ihres Anrechts auf das eigene Land.

Victor saß hinter verschlossener Tür in seinem Büro und zog trübsinnig an seiner Pfeife. Es war spät, im Haus rührte sich nichts, eigentlich die beste Zeit für die Buchhaltung, doch die Sorgen ließen ihm keine Ruhe.

Mittlerweile fürchtete er Charlottes Rückkehr. Er hatte sich nicht dazu überwinden können, Louisa davor zu warnen, allzu viele Veränderungen vorzunehmen. Inzwischen fühlte seine Frau sich als Herrin des Hauses. Sie hatte Möbel umgestellt, die schweren Vorhänge abgenommen, um die Zimmer im Erdgeschoß heller und luftiger zu gestalten. Alles sah anders aus, besser, wie er zugeben mußte, doch was würde Charlotte dazu sagen? Vermutlich würde sie es ganz und gar nicht gutheißen.

Dann traf der Brief von William Pottinger ein. Er müsse ihnen leider mitteilen, daß Charlotte seine Vermittlungsversuche abgelehnt habe. Sie scheine fest entschlossen, notfalls Austins Testament anzufechten.

»Verdammt!« Noch nie war Victor so frustriert gewesen. Rupe hatte den ausgezeichneten Vorschlag gemacht, einige weniger fruchtbare Abschnitte und sogar einen Teil der Nebenfarmen zu verkaufen, um die dort arbeitenden Verwalter einzusparen. Obwohl er den Verlust von mehreren tausend Morgen Land bedauerte, befürwortete Victor diesen Plan. Im Augenblick benötigten sie Geld dringender als Land.

Er fragte sich, ob sie sich nicht doch dazu überwinden sollten, Charlotte ein Drittel abzutreten. Schließlich stünde es nur auf dem Papier da, weil sie ja ohnehin auf Springfield lebte. Zum Ausgleich könnten sie dann die Forderung stellen, daß Harry jeglichen Anspruch auf den Besitz aufgab.

»Das ist die Lösung!« sagte er laut zu sich selbst. »Das ist es doch!«

Sofort machte er sich an die Arbeit und setzte einen sorgsam formulierten Brief an seine Mutter auf, in dem er sich unter dieser einen Bedingung mit ihrer Forderung einverstanden erklärte. »Ich werde ihnen schon zeigen, wo’s langgeht!«

Dennoch war ihm nicht ganz wohl bei der Sache, da Charlotte zurückkehren, Louisa entthronen und ihrem angenehmen Lebensstil ein Ende bereiten würde.

Leider zeigte sich Rupe ebenso halsstarrig wie seine Mutter.

»Du beweist damit nicht gerade Weitblick, Victor. Mal angenommen, wir teilen mit Mutter. Was passiert, wenn sie stirbt? Sie wird Harry auf jeden Fall etwas hinterlassen. Dann geht alles wieder von vorne los.«

»Darüber mache ich mir Gedanken, wenn es soweit ist.«

»Dann wird es zu spät sein. Und was gibt dir überhaupt das Recht, einen solchen Brief zu schreiben? Vergiß es, Victor, meine Antwort lautet nein.«

 

Richter Walker war Brodericks Witwe nur allzugern zu Diensten. Sie hatten Charlotte eingeladen, bei ihnen zu wohnen, doch sie erklärte ihnen brieflich, sie wolle niemandem zur Last fallen. Also besorgte er ihr eine respektable Unterkunft im Park Private Hotel mit Blick auf den Botanischen Garten. In diesem Haus lebten einige ältere Damen, so daß es für eine Frau vom Land ohne weibliche Begleitung durchaus angemessen war.

Nachdem er den Sonntagnachmittag mit ihr verbracht hatte, kam der Richter jedoch zu dem Schluß, daß Charlotte Broderick eine ziemlich törichte Frau sei, da sie selbst nicht zu wissen schien, was sie eigentlich wollte. Obwohl sie bei der Erwähnung ihres verstorbenen Mannes in Tränen ausbrach, bestand sie darauf, daß er ihr einen Anteil an seinem Besitz hätte hinterlassen müssen.

Connie hatte ihren Vater bereits vom Inhalt des Testaments in Kenntnis gesetzt und dabei zugeben müssen, daß sie nach wie vor nicht ganz auf seinen Rat verzichten konnte.

»Diese jungen Leute«, sagte er zu seiner Frau, »sie glauben, sie wüßten alles besser. Und nun sieh dir an, was passiert. Sobald etwas schiefgeht, kommt sie angelaufen. Typisch, daß ihr verantwortungsloser Ehemann sich nicht um sein Erbe kümmert, auch wenn er demnächst eine Familie zu ernähren haben wird.«

»Ich bin nur froh, daß sie dir geschrieben hat, bevor es zu spät ist.«

»Ja, das ruhige Landleben hat ihr scheinbar die schlimmsten Flausen ausgetrieben. Allerdings ist mir nicht ganz klar, was man in dieser Angelegenheit von mir erwartet. In einem Moment jammert Charlotte Broderick noch über den Tod ihres Mannes, und im nächsten will sie seinen guten Namen in den Schmutz ziehen, indem sie behauptet, er habe sie ungerecht behandelt. War Austin denn der einzige Mensch in dieser Familie mit so etwas wie Selbstachtung?«

»Sieht ganz danach aus. Jedenfalls hält Connie nicht das geringste von den anderen beiden Söhnen. Wie steht es denn überhaupt mit Charlottes Chancen?«

»So, wie ich es ihr zu erklären versucht habe. Besitzrecht macht neun Zehntel unseres Gesetzes aus. Er hat sie nicht ungerecht behandelt. Sie hat ein wunderschönes Heim und Söhne, die den Besitz verwalten. Sie genießt dort ein lebenslanges Wohnrecht, das ihr niemand nehmen kann.«

Mrs. Walker rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. »Ich glaube, sie denkt, sie sei jetzt abhängig von ihren Söhnen.«

»Das ist doch aber nichts Ungewöhnliches. Ihr Pech ist nur, daß sie da an etwas seltsame Vögel geraten ist, die die Farm im übrigen aber gar nicht so schlecht leiten. Jock jedenfalls hält Victor für einen sehr fähigen Verwalter, der sich ausgezeichnet auf die Schafzucht versteht. Sie sollte der Umsicht ihres verstorbenen Mannes danken, anstatt in Brisbane zu sitzen und zu schmollen.«

Insgeheim war Mrs. Walker froh, daß sie keine Söhne hatte, die ihr das Erbe ihres Mannes hätten streitig machen können. Er würde nie auf die Idee kommen, sein beträchtliches Vermögen seiner Tochter zu hinterlassen – vor allem nicht dieser Tochter.

»Oh Gott, was soll denn nun werden?«

»Mit der Witwe? Nichts weiter. Ich besorge ihr einen Anwalt, der ihr lang und breit erklärt, daß sie vor Gericht nicht die geringste Chance hat. Austin hat auf die übliche Art und Weise für sie gesorgt. Stell dir vor, was passieren würde, wenn ihr ein Anteil gehörte und sie sich noch einmal verheiratete? Ich darf gar nicht daran denken.«

»Und Harry? Anscheinend haben ihn seine Brüder schlecht behandelt. Connie sagt, er sei inzwischen soweit, daß er ebenfalls einen Anteil beanspruchen wolle.«

»Leider. Er hat bereits genügend Leute vor den Kopf gestoßen. Ginge es dabei nicht auch um mein Enkelkind, so würde ich keinen Finger für ihn rühren. Aber gut, Harry soll seinen Anteil haben, wie es im ursprünglichen Testament vorgesehen war, oder ich sorge dafür, daß sich dieser Prozeß bis zum Jüngsten Gericht hinzieht.«

Seine Frau lächelte. »Ich habe irgendwie den Eindruck, daß du es auch für Connie tust.«

»Natürlich. Falls Harry auf Tirrabee nicht zurechtkommt, was mich bei seiner Labilität nicht wundern würde, stehen sie wieder hier vor unserer Tür. Und dann ein Drittel von Springfield im Rücken zu haben, ist wirklich nicht zu verachten.«