Lichthaus stand auf dem Hof und wählte Sophie Erdmanns Nummer, doch niemand war erreichbar. Er hatte den Hänger geschlossen und war zurück auf den Heuboden geklettert und durch die Luke ins Freie gesprungen. Das Licht tat ihm gut nach der Dunkelheit. Er wählte wieder, hielt wartend das Handy ans Ohr, während er seinen Blick auf seine Innenhandfläche heftete.

»Mordkommission, Schweiger.«

»Gott sei Dank erreiche ich Sie. Ich muss die anderen sprechen.«

»Die sind auf der Suche nach Andreas Diel. Im Augenblick haben die ein Funkloch.«

»Mist. Hören Sie, ich habe den Täter oder ein weiteres Versteck von Diel gefunden. Sagen Sie per Funk Bescheid. Die sollen die Spusi mitbringen.«

»Wo sind Sie denn?«

»In Vierherrenborn. Der Hof hat die Hausnummer 47. Ich habe in der Scheune einen Hänger gefunden, in dem die Toten transportiert wurden.«

»Sind Sie sicher?« Schweiger klang verunsichert und aufgeregt.

»Ja. Ich habe den fehlenden Ohrring von Eva Schneider gefunden.« Er machte eine Pause und schaute wieder in seine Hand. »Und einen Zahn.«

»In Ordnung. Ich werde alles veranlassen.«

»Danke. Ich geh da jetzt rein.«

»Ohne Durchsuchungsbefehl?«

»Darauf pfeif ich. Stellen Sie den Besitzer fest.«

Er unterbrach die Verbindung und ging zum Haus. Auf der linken Seite führte eine Treppe hinunter zum Keller. Die Tür hier unten war aus Metall, also schwer zu öffnen, doch er hatte sich aus der Scheune ein Brecheisen mitgebracht. Es dauerte ein wenig, doch dann hatte er die schmale Spitze zwischen Tür und Rahmen gezwängt. Er drückte mit den Armen ganz am Ende des Eisens um die Hebelwirkung zu verstärken, doch die Tür hielt stand. Schließlich stemmte er sich mit beiden Füßen auf das Werkzeug, den Rücken gegen die Wand gepresst, und hatte Erfolg.

Die Stahltür sprang ächzend auf und ließ durch einen Spalt kühle, muffig riechende Kellerluft in die Schwüle des Tages entweichen. Lichthaus zog sie ganz auf und spähte hinein. Fünf Türen zählte er in dem Kellergang ab, zwei auf jeder Seite und eine vor Kopf, neben der Treppe, die hinauf ins Erdgeschoss führte. Der Keller wirkte gepflegt, der Anstrich noch recht frisch. An wenigen Stellen waren Flecken, nur unmittelbar neben dem Ausgang beulte sich der Putz von eingedrungener Feuchtigkeit. Lichthaus zögerte wieder, doch diesmal nicht aus Angst vor Konsequenzen, sondern wegen eines diffusen Grauens vor dem, was ihn nun erwartete. Nicht, dass er unsicher geworden wäre, doch wünschte er sich Sophie Erdmann oder einen der anderen herbei. Er wollte nicht allein sein, im Vorhof der Hölle.

Er überwand sich, atmete tief ein und trat bewusst, wie ein Schauspieler, der auf die Bühne hinausgeht, über die Schwelle, die Maglite mehr als Keule denn als Lampe umklammernd. Zuerst öffnete er die Tür zu seiner Linken, fand innen den Schalter, sah aber im Licht einer trüben Funzel nur die veraltete Heizung und dahinter, eingemauert in eine Sicherheitswanne, den stinkenden Öltank. Dem Heizungskeller gegenüber lag ein kleiner Vorratsraum, in dem ein fast leeres Regal auf neue Lasten wartete. Nur eine Handvoll staubblinder Einmachgläser hatte sich auf den unteren Regalboden verirrt. Im nächsten Raum fand er die ehemalige Waschküche. Sie war leer bis auf eine moderne Waschmaschine und einige Leinen zum Trocknen der Wäsche. Der Raum verfügte über ein Fenster und war bis auf Brusthöhe gekachelt. In der hinteren Ecke sah er ein gemauertes Becken, etwa so groß wie eine komfortable Badewanne, nur deutlich höher. Aus dem Wasserzulauf schloss er, dass hier ehedem größere Mengen Wäsche eingeweicht worden waren. Seine Spannung ließ nach und machte einer Enttäuschung Platz, doch die vierte Tür barg eine Überraschung.

Eine zerschlagene Holzpuppe baumelte im grellen Schein einer Neonröhre anklagend wie ein Hingerichteter von der Decke herab. Kopf und Brust, obwohl allem Anschein nach aus massivem Eichenholz gefertigt, waren von Hieben mit einer scharfen Klinge tief eingefurcht. Kleider hingen in Fetzen an ihr. Gleich daneben stand eine weitere Puppe, ähnlich zugerichtet.

Lichthaus drehte sich weiter und wich mit erhobener Taschenlampe zurück, bevor er diese wieder sinken ließ, zitternd vor Anspannung und schrill auflachend. Er war sich nun sicher: Das hier war die Waffenkammer des Roten Ritters.

Drapiert wie ein Hochzeitskleid hing die Rüstung vor ihm. Ein knielanges, dichtes Kettenhemd, darüber der lange Mantel in rot, fast schon Purpur. Die Knöpfe, ähnlich dem aus Eva Schneiders Grab, waren vollzählig. Der Stoff war aufwendig mit Szenen der Parzivalsage bestickt: Der Narr, der Kämpfer, der Liebhaber und derjenige, der den heiligen Gral empfängt. Unter der Puppe standen die Stiefel aus grobem Leder. Auf einem Tisch gegenüber lag der Helm mit Visier. Er war makellos und auf Hochglanz poliert. Die schmalen Sehschlitze boten sicherlich nur wenig Sicht. Gleich daneben und wie die Reichsinsignien auf einem Kissen lag das Schwert, befestigt an einem Gürtel. Es war kunstvoll geschmiedet. Er stieß das Schwert wieder in die Scheide. Die Rüstung eines Mannes, der sich für auserwählt hielt. Ein Irrer, der sich einem König gleich selbst erhöhte, voller morbider Arroganz. Lichthaus schüttelte den Kopf und zog seufzend den Dolch hervor, der neben dem Schwert lag. Zweischneidig mit scharfer Spitze. Die Waffe, die Scherers Leben ein Ende gesetzt hatte.

Er löste sich von seinen Gedanken und fotografierte wie schon zuvor in der Scheune den gesamten Raum mit dem Handy. Die Uhr zeigte Sechzehn Uhr. Bereits zwanzig Minuten waren vergangen und immer noch keine Kollegen.

Hinter der Tür dem Ausgang gegenüber fand er, was er gesucht hatte. Die Folterkammer. Der fensterlose Raum maß vielleicht fünfundzwanzig Quadratmeter. Decke und Wände waren mit dickem Schaumstoff beklebt. Nur die Tür hatte keinen Schallschutz, durch die schmalen Ritzen rundherum konnten also Geräusche nach draußen gelangen, aber wohl auch von dort hier hereindringen. In der Mitte ein Bett, ein Metallgestell mit einer Matratze, dahinter in die Mauer eingelassen zwei stählerne Ringe. Dem Bett gegenüber stand ein Schrank. Direkt daneben ein Stativ ohne Kamera. Der Boden war säuberlich gefliest, der Geruch von Desinfektionsmitteln hing in der Luft und gab allem einen reinen Anschein, doch die Wände schwitzten aus, was sie gesehen und gehört hatten. Er glaubte, die Schmerzensschreie hören zu können. Angst und Verzweiflung, verbranntes Fleisch, kehliges Stöhnen, flehende Bitten und die Ruhe nach dem Tod überwältigten ihn.

Schweiß rann ihm den Rücken hinab und bildete einen feuchten Fleck oberhalb des Gürtels. Er fotografierte, um sich abzulenken und öffnete den Schrank. Das Werkzeug der Schmerzen breitete sich vor ihm aus. Messer, Schlingen, Zigaretten, ein Bunsenbrenner, der Rasierapparat zum Schneiden der Haare und vieles andere, dessen Funktion er nicht verstand oder verstehen wollte. Übelkeit stieg in ihm hoch, er rang nach Luft und floh schließlich. Rannte den Gang entlang, die Treppe hinauf ins Freie und atmete tief durch. Es dauerte eine Weile, bis er endlich wieder klar denken konnte. Er telefonierte, rief Sophie Erdmann an, auch Schweiger, doch nach wie vor meldete sich niemand. Die Kollegen waren gewiss unterwegs. Gott sei Dank. Sein Atem ging wieder ruhiger.

*

Simone Simons schrie auf. Kurz und hektisch und so laut, dass sich die Menschen im Reisebüro nach ihr umdrehten. Sie sprang von der Eingangstür zurück, trat Dennis auf den Fuß, stolperte gegen einen Ständer und riss Prospekte von Spanien und Portugal herunter, trampelte auf lachende Gesichter.

Sie hatten ihren Urlaub gebucht und würden in den Herbstferien in die Sonne fliegen. In die Türkei, all-inclusive, Tauchkurs und Bootsfahrten noch dazu. Voller Freude hatten sie die Einzelheiten geplant, nachdem Mama ihr Einverständnis gegeben hatte.

Doch das interessierte sie jetzt nicht mehr. Nicht Dennis’ Fluch, nicht die heranlaufende Verkäuferin, die irgendetwas vor sich hin maulte. Ihr Blick klebte an dem Pick-up mit Campingaufsatz. Hinten, gleich neben der Tür, sah sie den Ritter und wusste, wer dort vorbeifuhr. Sie hatte von seinen Augen geträumt. Immer wieder war sie mit laut pochendem Herzen aufgeschreckt und konnte dann nicht mehr einschlafen. Täglich durchforstete sie akribisch die Zeitung, um endlich zu lesen, dass der Kerl geschnappt wäre, aber zu ihrer Verwunderung geschah nichts. Sie war in die Dienststelle gegangen, und der nette Polizist hatte ihr versichert, dass der Bericht der Mordkommission zugegangen sei. Dennis wusste von ihrer Angst und versuchte, sie damit zu beruhigen, dass die Polizei ja bereits ermittle. Jetzt blickte er aus dem Fenster, sah und erkannte, was sie geschockt hatte. Unschlüssig stand er mit halb offenem Mund neben ihr und starrte sie ratlos an.

»Komm.« Simone Simons griff seine Hand und zog ihn auf die Straße.

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