12
Das Gnom-Problem
Anfangs fiel der Tunnel sanft ab, dann immer steiler. Leuchtende Flechten verströmten trübes grünliches Licht, so dass PJ die Taschenlampe ausschalten konnte. »Was ist das nur für ein Ort?«, fragte er sich mit lauter Stimme.
Er schlenderte weiter, unsicher, wie weit er bereits gegangen war. Die fremde, beengte Umgebung raubte ihm sein Raum- und Zeitgefühl. Er verfluchte sich, weil er nicht seine Schritte mitgezählt hatte. Auch hatte er keine Uhr dabei, um die verstrichene Zeit zu messen. Wenigstens kann man sich hier unten nicht verlaufen, dachte er – der gerundete Tunnelgang führte ohne Abzweigungen in die Tiefe.
Nach einer langen Reihe von Biegungen vernahm PJ Stimmen und blieb stehen. Ein Stück vor ihm schien der Tunnel in eine Höhle zu münden, und genau dort kauerten die beiden Fremden. Sie wandten ihm den Rücken zu, denn ihr Augenmerk galt ganz und gar dem Ausgang des Tunnels. PJ schlich sich von hinten an und lauschte. Der Albino war wütend.
»Es wäre nicht passiert, wenn du nicht den Wunsch in ihm geweckt hättest, ein Krieger zu sein«, schimpfte er.
»Ich weiß«, sagte die Frau. »Es war meine Schuld. Wenn du möchtest, Whitey, dann opfere ich mein Leben dafür, den Jungen zurückzubringen.« Sie zog ihren Dolch halb aus der Scheide und erhob sich, um in die Höhle zu treten.
Der Albino schlug ihr auf die Hand. »Nicht. Sie würden dich im Handumdrehen umbringen. Eine übereilte, vergebliche Geste ist für niemandem von Nutzen. Was denkst du dir nur? Ich hatte gehofft, du würdest dich besser schlagen bei dieser Mission. Aber ich muss den Älteren berichten, dass du noch nicht bereit bist für wichtige Aufträge. In einigen Jahren könntest du vielleicht –«
PJ hustete, um die beiden auf sich aufmerksam zu machen. »Ähm …«
Schink!
Bevor er sich versah, lag PJ auf dem Rücken; Bree saß auf ihm und hielt ihm die Dolchspitze an die Kehle. Als sie PJ erkannte, zog sie die Klinge zurück, allerdings nur ein kleines Stück. »Was tust du hier unten?«, fragte sie. »Du hast versprochen, deines Weges zu gehen.«
»Äh … ich suche meinen Bruder Sammy«, sagte PJ. »Hast du ihn gesehen?«
Bree verzog das Gesicht und ließ ihn aufstehen. PJ klopfte sich den Schmutz von der Hose und hob Sams Rucksack auf. Er wandte sich an Whitey.
»Tut mir leid«, sagte der Albino, »aber der Junge wurde gefangen genommen.«
»Es tut mir so leid«, echote Bree, die besonders schuldbewusst dreinblickte.
»Hört auf!«, schimpfte PJ. »Ich habe keine Zeit für so was. Von wem wurde er denn gefangen genommen?«
»Von den Gnomen«, sagte Bree.
»Von wem?«, fragte PJ.
»Nicht, Bree«, sagte Whitey. »Wir haben ihm schon zu viel verraten.«
»Er verdient es, eingeweiht zu werden«, erwiderte sie. »Er ist sein Bruder.«
»Eigentlich ist Sam gar nicht mein …« PJ hielt inne und neigte den Kopf zur Seite. »Moment mal, habt ihr gerade Gnome gesagt?«
»Du bist hier unten in ihrer Welt«, erklärte Bree und deutete in die Höhle.
Sie kauerten hinter denselben Felsblöcken, hinter denen vor wenigen Minuten noch Sam gestanden hatte, oben am Hang über der Steinmauer. Eine Reihe von leiterartigen Gerüsten säumte die ihnen zugewandte Mauerseite. Dahinter lag eine riesige, schwach erhellte Höhlen-Unterwelt, die sich endlos fortzusetzen schien.
PJ starrte ehrfürchtig in die Ferne. »Wow …«
Die Mauer schien ein Schutzwall gegen das zu sein, was immer sich auf der anderen Seite der gigantischen Höhle verbarg. Das Problem war jedoch, dass auf dieser Seite der Mauer Heerscharen dunkler Gestalten herumschwirrten. PJ kniff die Augen zusammen. Die Gestalten waren klein und stämmig und flitzten herum wie bucklige Affen. Schnell wurde ihm klar, dass sie Artgenossen des eigenartigen Wesens in der Gefängniszelle waren und dass sie die Kontrolle über die Mauer besaßen.
»Der Junge muss zu ihnen hinabgestiegen sein«, sagte Whitey.
»Nie im Leben!«, rief PJ. Seine Stimme schallte in die Höhle hinaus. Leben-Leben-Leben …
Whitey schlug PJ gegen den Hinterkopf. »Sei still!«, herrschte er ihn an.
»Das haben sie bestimmt gehört«, sagte Bree und starrte nervös zur Mauer hinunter.
»Beeilt euch!«, flüsterte der Albino. »Hier entlang.« Er rannte aus der verborgenen Tunnelöffnung auf den Hang und preschte etwa zwanzig Schritte bergab, bevor er hinter einem Felsblock verschwand.
Bree blickte zu PJ. »Komm mit!« Als er zögerte, packte sie ihn am Arm und zog ihn aus der Tunnelöffnung zu einem steilen schlammigen Pfad, der am Hang zur Mauer hinabführte.
»Hey, warum gehen wir denn in die Gnom-Höhle hinein?«, fragte PJ.
Plötzlich schubste Bree ihn von hinten, und er schoss auf dem glitschigen gewundenen Pfad hinunter wie ein lebendiger Achterbahnwagen. Während er auf die Mauer und die Gnome zuraste, versuchte er irgendetwas zu fassen zu bekommen, um anzuhalten. Er schaffte es nicht. Der Pfad war zu rutschig, und er selbst bewegte sich viel zu schnell.
Am Fuße des Hangs, aber immer noch ein gutes Stück von der Mauer entfernt, spie ihn die matschige Rutschbahn aus. PJ landete auf festem Untergrund und hielt, auf dem Rücken liegend, an. Verdattert setzte er sich auf und schaute sich um, als plötzlich –
Rumms!
Bree prallte gegen ihn und stieß ihn um, so dass sie aufeinander am Boden lagen. Bevor er Luft holen konnte, sprang sie auf und zog ihn hinter einen Felsblock. Ganz in der Nähe erschien eine Patrouille aus fünf Gnomen, die den Hang in Richtung des verborgenen Tunneleingangs hinaufstiegen. Offenbar hielten sie nach dem Urheber des Ausrufs Ausschau. Auf halbem Weg blieben die kleinen Kerle stehen und schnüffelten an der verschlammten Rutsche, dann änderten sie die Richtung und begannen, zu PJ und den beiden Fremden hinunterzuklettern, die Nasen am Boden wie Bluthunde.
»Gut«, sagte Bree.
»Gut?«, japste PJ, den Blick auf die herantrottenden Gnome gerichtet.
»Wir haben sie vom Tunnel fortgelockt«, erklärte Bree.
Whitey stürmte zu ihnen hinter den Felsen. »Als Nächstes müssen wir zur Mauer rennen und versuchen durchzubrechen«, sagte er.
»Wie bitte?«, stieß PJ ungläubig hervor. »Oben im Tunnel waren wir in Sicherheit. Selbst wenn sie uns gesehen hätten, hätten wir wenigstens wegrennen können, statt mitten in eine Horde mutierter Affen zu stürmen.«
»Gnome«, korrigierte ihn Bree.
»Sie wären unserem Geruch gefolgt und hätten das Tunnelportal zur Oberwelt entdeckt«, sagte Whitey.
»Deshalb sind wir ja zu euch hochgestiegen. Wir mussten den Gnom verfolgen, der zufällig auf den Tunnel gestoßen war«, erklärte Bree, »den Gnom, den ihr gefangen habt. Versteh doch, es ist unsere Lebensaufgabe zu verhindern, dass die Gnome die Erdoberfläche entdecken.«
»Aber es ist nicht meine Lebensaufgabe«, protestierte PJ.
»Verrate ihm nichts mehr«, sagte Whitey. »Ich möchte, dass er so wenig wie möglich weiß, falls er gefangen genommen und gefoltert wird.«
»Gefoltert?«
»Komm. Zur Mauer«, sagte Bree. »Das ist unsere einzige Chance.« Sie und Whitey traten hinter dem Felsen hervor und rannten los.
PJ schüttelte den Kopf und sprang auf. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den beiden zu folgen.