16

Im freien Fall

Auf der anderen Mauerseite stürzte PJ in die Tiefe wie ein übergeschnappter Bungee-Springer. Kurz über dem Höhlenboden endete der Sturzflug ruckartig, und Bree und Whitey ließen die Enden ihrer Seile los, sprangen hinunter und nahmen sofort die Beine in die Hand. PJ hing noch einen Moment an Brees Seil, dann ließ auch er sich fallen und versuchte Bree und Whitey hinterherzurennen. Schwindlig wie ihm war, schlug er der Länge nach hin. Von oben prasselten die Gnom-Pfeile auf die umliegenden Felsen herab. Seine in Umhänge gewandeten Bekannten eilten zu ihm zurück und zogen ihn auf die Beine, dann rannten sie gemeinsam um ihr Leben.

PJ keuchte, grinste aber, während sie über das offene Höhlengelände hetzten. »Das hat besser …«, japste er, »geklappt … als ich … anfangs dachte.«

Hinter ihnen warfen die Gnome ihre Strickleitern hinab und begannen reihenweise hinunterzuklettern.

Whitey rannte neben PJ her, ohne auch nur im Geringsten außer Atem zu sein. »Nur gut, dass der Sprengkörper im richtigen Augenblick explodiert ist. Auf diese Weise ist er nicht in ihren Besitz geraten, und sie können ihn nicht nachbauen.«

»Nun ja …«, keuchte PJ. »Ich habe da drüben … einen Rucksack … fallen lassen … der voll ist … mit dem Zeug.«

»Was?«, rief Bree aus.

Whitey wurde noch eine Spur blasser, als er ohnehin schon war. »Die Gnome haben den Sprengstoff?«

»Sind doch bloß … Feuerwerkskörper«, japste PJ.

»Du verstehst das nicht …«, schimpfte Bree.

Aber PJ hörte ihr gar nicht zu. Er blieb stehen und krümmte sich atemlos.

»Beweg dich!«, herrschte Whitey ihn an.

PJ blickte zurück. Sie hatten einen ordentlichen Vorsprung vor den Gnomen, die noch immer an ihren Strickleitern die Mauer hinabstiegen. »Brauche … kurze … Pause«, hechelte er. Er war so außer Atem, dass er kaum sprechen konnte.

Bree und Whitey joggten auf der Stelle, während PJ gierig die Luft einsaugte, den Blick zu Boden gerichtet. Er sah, dass er auf einem Teppich aus weißem, fast durchsichtigem Gras stand.

»Ich warne dich …«, sagte Whitey.

Während PJ hinabblickte, wurden die Grashalme rings um seine Füße immer länger und legten sich über seine Schuhe. Neugierig zog er einen Fuß hoch. Das Gras umkrallte ihn, aber mit einiger Mühe konnte er seinen Turnschuh losreißen. »Was zum –«

»Beweg dich!«, rief Bree.

PJ hob auch den anderen Fuß und riss dabei das Gras aus, das seinen Schuh gepackt hatte. Er traute seinen Augen nicht. Die Wurzeln an den klingenartigen Grashalmen waren grauenvolle, runde faustgroße Wesen mit Mäulern voller scharfer Zähne, wie grinsende Piranhas. Die Grashalme waren ihre Tentakel. PJ führte einen wilden Tanz auf, um sie abzuschütteln.

Hinter ihnen erreichte ein Bogenschütze der Gnome das weiße Grasfeld und kniete sich hin, um zu schießen. Die Grashalme flossen ihm über die Beine und fesselten ihn an den Boden. Er schrie auf und schlug um sich, während die fleischfressenden Wurzeln über den Gnom herfielen und ihn verschlangen wie ein blutdürstiger Hai-Schwarm.

»Bleib in Bewegung!«, rief Bree.

PJ verspürte einen ungeahnten Energiestoß und stob den beiden hinterher.

Hinter ihnen packte Slurp den Arm des gefallenen Bogenschützen und wollte ihn nach oben ziehen, aber es war zu spät. Der Soldat war bereits zerfleischt von den scharfen Tentakeln und hatte die Hälfte seines schwarzen Bluts verloren. Traurig schüttelte Slurp den Kopf, dann nahm er wieder die Verfolgung der Menschen auf. Seine Gnom-Soldaten eilten ihm nach. Einige rannten auf allen vieren, wie Hunde. Andere hüpften wie Kängurus. Sie waren nicht besonders schnell, aber ausdauernd und schienen nicht müde zu werden. Langsam aber sicher schlossen sie auf.

»Wir sind fast da!«, sagte Whitey.

»Wo?«, keuchte PJ.

Vor ihnen erhob sich eine Reihe von Felsblöcken, die das Ende des fleischfressenden Grasfelds markierten. Bree und Whitey stiegen über sie hinweg. Während PJ ihnen nachstolperte, dicht gefolgt von zwei keulenschwingenden Gnome, richteten sich hinter den Felsen zwei menschliche Bogenschützen auf und nahmen ihr Ziel ins Visier. Ihre Pfeile zischten PJ an den Ohren vorbei. Die beiden Gnome hinter ihm stürzten und wurden sofort vom fleischfressenden Gras verschlungen.

PJ wurde vor Erleichterung fast ohnmächtig, als die Bogenschützen zwei weitere Pfeile hervorzogen. Hechelnd kämpfte er sich über die Felsen, während die beiden Schützen den anstürmenden Gnomen ihre tödlichen Geschosse entgegenschickten. Angesichts der heransausenden Pfeile blieben einige der Kerle wie angewurzelt stehen. Es war ein Fehler. Das Gras schoss aus dem Boden und verschlang auch sie.

»Hah!«, rief PJ.

Die Menschen schossen weiter. Slurp kam trotz der vielen Pfeile, die ihn nur knapp verfehlten, herangestürmt, bot seinen Soldaten ein furchtloses Beispiel.

»Tracker! Zum Sumpf!«, rief Whitey einem der Bogenschützen zu, und zu PJs Verdruss preschten der Albino und Bree gleich wieder los.

Der angesprochene Mann nickte. Es war ein alter Bursche mit ledrigem Gesicht und zerschlissener Rüstung, der sich mit der Effizienz des erfahrenen Soldaten, aber auch mit dem Schmerz des Alters bewegte. Er zog PJ auf die Füße. »Hoch mit dir, Junge«, sagte Tracker mit einer Gelassenheit, die eine vieljährige Erfahrung mit lebensbedrohlichen Situationen verriet. »Wir ziehen uns zurück.«

PJ atmete schnell ein paar Mal durch und wankte dem Mann hinterher.

Der andere Bogenschütze, eine Frau, hielt die Stellung, um die Gnome eine Weile zu beschäftigen. Sie zückte ihr Schwert und erschlug die beiden ersten, die es über die Felsen schafften. Dann kam Slurp. Die Frau holte aus und ließ ihre Klinge auf das ungeschützte Bein des Haupmanns herabsausen, aber Slurp war viel zu schnell und stark für sie. Er stieß die Klinge einfach beiseite, stemmte die Kriegerin in die Höhe und schleuderte sie hinter sich zu seinen wartenden Soldaten. Dann kletterte er ganz nach oben auf die Felsen und blickte auf das Tohuwabohu hinab. »Packt sie ein, damit wir sie später fressen können!«, befahl er.

Ein kurzes Stück hinter den Felsen blieb PJ wie angewurzelt stehen. Eine Sumpflandschaft voller Schlingpflanzen im schlammigem Brackwasser erstreckte sich vor ihm, so weit sein Auge reichte.

Der alte Soldat, Tracker, stieg ohne zu zögern in die matschige Brühe hinein. »Bleib auf den Pfaden«, wies er PJ an.

»Welche Pfade?«, fragte PJ.

»Behalte den Schlamm im Auge, der seine Form behält. Es ist leicht zu erkennen«, sagte Tracker. »Oder halt dich einfach an meinem Gürtel fest und geh mir nach.«

Widerwillig legte PJ die Hände an Trackers Gürtel und trottete dem Mann hinterher.

»Der Junge macht uns langsamer«, beschwerte sich Whitey, während sie durch den Sumpf wateten. »Schon seit unserer ersten Begegnung ist das so.«

»Na ja, ich springe auch nicht vor Freude an die Decke, weil ich euch kennen gelernt habe«, entgegnete PJ.

Sie kämpften sich durch den Schlamm; Tracker ging vorneweg, PJ ahmte jeden seiner Schritte nach.

Nach einer Weile deutete der Mann nach vorn. »Noch mehr Ärger.«

»Das gibt’s doch nicht«, sagte PJ. »Das war doch schon der schlimmste Tag meines Lebens. Was soll denn noch alles schiefgehen?«

»Ein Schwärmer«, sagte Tracker.

Bree und Whitey wechselten sorgenvolle Blicke, als Tracker auf eine qualmende Schleimspur im Schlamm deutete.

»Was ist ein Schwärmer?«, fragte PJ.

»Bleib einfach hinter mir«, sagte Tracker, »und bete, dass er dich nicht anfällt.«

In dem Moment stürmten hinter ihnen die Gnome in den Sumpf. »Hier entlang!«, rief Tracker und sprang über ein dunkles Schlundloch. PJ tat es ihm nach, wobei sein Sprungbein knietief im Schlamm versank.

Whitey blickte finster. »Geht weiter! Rettet euch! Ich schinde ein bisschen Zeit für euch.« Er wandte sich zu den Gnomen um, während Bree, Tracker und PJ durch die seichten Sumpfbecken davoneilten. Als der erste Gnom Whitey erreichte, täuschte dieser einen Schwerthieb an, dann sprang er zur Seite, und das pelzige Geschöpf taumelte an ihm vorbei, plumpste in das Schlundloch und verschwand darin. Blub!

Weitere Gnome stürzten sich auf Whitey. Seine Klinge blitzte rechts und links durch die Luft. Die stämmigen Kerle hieben mit ihren Keulen nach ihm, doch der Albino wich ihnen tänzelnd aus, war selbst auf dem matschigen Untergrund flink und geschmeidig.

Slurp und die restlichen Gnome waren in einiger Entfernung noch damit beschäftigt, die vielen Schlundlöcher zu umgehen. Eine Zeit lang sah es so aus, als würde Whitey den ersten Gnom-Trupp eigenhändig zurückschlagen. Dann begann überall um ihn herum der Schlamm zu brodeln.

Plötzlich erhob sich ein riesiges Ungetüm aus dem Gebräu. Es war gummiartig, knubbelig und besaß keine Gliedmaßen, wie eine omnibusgroße Nacktschnecke. Sein schleimiger brauner Rücken bot ihm eine perfekte Tarnung im Sumpf, während den feucht glänzenden Bauch eine helle, dampfende Glibberschicht bedeckte. Es richtete sich vollständig auf und schwankte hin und her wie ein windgepeitschter Baum, bis es plötzlich auf zwei Gnome stürzte und sie mit einem schmatzenden Knall unter sich begrub. Watsch! Der Boden zischte, dann kroch das Ungetüm weiter; zurück blieben zwei ölige Flecken, die einst Gnome gewesen waren.

Whitey krabbelte außer Reichweite des Schwärmers. Die anderen Gnome gerieten in Panik und flohen. Einige wateten durch den Schlamm, andere stürmten geradewegs in Schlundlöcher hinein und verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Blub-blub!

Nur Slurp blieb ungerührt stehen. »Haltet die Stellung!«, brüllte er den fliehenden Gnom-Soldaten nach. »Habt keine Angst! Schließt die Reihen!«

Der Schwärmer wandte sich Bree, Tracker und PJ zu, die auf der anderen Seite eines riesigen Schlundlochs stehen geblieben waren, um das Spektakel zu beobachten. Aber für das schleimige Ungetüm stellte das Loch kein Hindernis dar, und zu spät wurde ihnen klar, dass sie die Flucht hätten ergreifen sollen, solange Whitey ihnen die Gelegenheit dazu geboten hatte. Der Schwärmer war so flink, dass er sie erreichen würde, bevor sie auch nur zehn Schritte weitergerannt waren.

Da rammte Whitey dem Ungetüm sein Schwert in die Seite, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Lauft weg!«, rief er seinen Gefährten zu. Die Klinge verursachte eine lange klaffende Wunde, die sich jedoch gleich wieder schloss, wie bei einem angeschnittenen Wackelpudding, und als Whitey die Klinge aus dem ätzenden Fleisch zog, war sie bis zum Knauf geschmolzen. Er warf sie fort und nahm dann Anlauf, um über das Schlundloch zu springen und seinen Gefährten zu folgen. Doch das Ungetüm richtete sich auf und kam blitzschnell herangeschossen, so dass es Whitey mitten im Sprung erwischte. Er blieb am glibberigen Bauch des Schwärmers kleben wie eine Fliege am Fliegenfänger und hing dort einen Moment lang, dann krachte das Ungetüm mit einem gewaltigen Knall nach unten.

Alle starrten entsetzt, als der Schwärmer mit einem widerlichen Platschgeräusch im aufgewühlten Brackwasser untertauchte. Whitey war verschwunden. Tracker zog Bree und PJ von der grausigen Szene fort, und auf das Drängen des Veteranen hin eilten sie weiter durch die Sumpflandschaft.

Garstige Gnome
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