26

Ruhepause

Mit Hilfe aller drei Wächter zog PJ sich über die Kante der Felswand. »Sind wir endlich da?«, keuchte er.

Tracker grinste. »So gut wie.«

Hinter der Felswand lag eine weitere gigantische Höhle. In der Mitte erhob sich eine fünfzig Meter breite Säule, die den Hauptteil der Höhlendecke trug. Ein unterirdischer Fluss ergoss sich aus einer der Wände und floss wie ein dunkler Burggraben um die Säule herum, bevor er dahinter in die Dunkelheit entschwand.

»Wow! Das ist ja abgefahren«, sagte PJ.

Toady nickte. »Ja, abgefahren.«

»Imitier ihn nicht«, schalt Bree den jungen Wächter. Sie trat hinaus auf das offene Gelände, und ihr Blick schoss durch die Höhle.

»Sie ist ganz schön zickig, was?«, sagte PJ leise zu Toady.

»Sie ist eine großartige Kriegerin«, entgegnete der Wächter.

»Ich kapier es nicht«, sagte PJ. »Warum habt ihr nicht Tracker zum Anführer gewählt?«

Toady blickte sich um, um sicher zu sein, dass Tracker nicht in Hörweite war. »Nachdem sein Vater getötet wurde und sein Bruder, Hunter, spurlos verschwand, merkten alle, dass Tracker ein bisschen … launisch wurde.«

Wie aus dem Nichts tauchte der Veteran plötzlich neben einem Felsen gleich hinter Toady auf, beinahe vollständig getarnt in seinem grauen Umhang. »Er meint verrückt«, sagte Tracker und ließ ein wahnsinniges Grinsen aufblitzen. Die Krähenfüße um seinen Augen vertieften sich. »Sie halten mich für durchgedreht. Und vielleicht bin ich es ja. Aber keine Sorge – Bree ist eine mehr als fähige Anführerin.«

»Ja«, pflichtete Toady ihm bei. »Ich würde für sie sterben.«

Tracker grinste noch breiter. »Wirst du vielleicht auch.«

Der Boden der neuen Höhle war leicht abschüssig. Zwischen den Felsen, die überall verstreut waren, gingen sie zum Ufer des Flusses, der sich wie eine riesige schwarze Schlange durchs Halbdunkel wand. PJ bückte sich und hielt die Hand in die pechschwarze Strömung. Als er sie herauszog und ihm das Wasser von den Fingern tropfte, zeigte sich, dass es gar nicht schwarz war, sondern kristallklar. Es sah nur schwarz aus, weil es im Flussbett keine leuchtenden Flechten gab.

Bree, Tracker und Toady marschierten weiter und warteten an einer seichten Furt auf PJ. Bree verzog das Gesicht.

PJ hob die Hand, um Bree zu stoppen, bevor sie wieder losmeckern konnte. »Ich will mich ja nicht beklagen«, keuchte er, »aber wir rennen, klettern, kriechen und erforschen Höhlen, als wäre dies ein irrer unterirdischer Ironman-Wettbewerb. Und für so was bin ich nicht trainiert.« Er krümmte sich, die Hände auf den Knien, und schöpfte Atem. »Glaubst du, wir könnten eine Pause einlegen, vielleicht für, äh, zwei Sekunden?«

Bree rümpfte die Nase. »Glaubst du, die Gnome machen in diesem Moment auch eine Pause?«

»Wahrscheinlich«, sagte PJ. »Sie sind ja nicht diejenigen, die Mist gebaut haben und ihre Festung zurückerobern müssen.«

Bree biss sich auf die Unterlippe. Sie öffnete den Schwertgürtel, schleuderte ihn zu Boden und stapfte davon.

»Gute Neuigkeiten«, sagte Tracker. »Es bedeutet, wir legen eine Pause ein.«

PJ ließ sich zu Boden plumpsen und streckte alle viere von sich. Tracker hockte sich hin, ganz entspannt, aber wachsam. Seine dicke Lederrüstung war so geschmeidig, dass sie ihm praktisch am Körper zu kleben schien. PJ fragte sich, ob er sie jemals ablegte.

Toady musterte PJs Kleidung genauso neugierig, wie PJ Trackers Rüstung betrachtete.

»Wie ist es dort oben?«, fragte der junge Wächter.

»Häh?« PJ wandte sich um und sah, dass Toady an der Nylon-Polizeijacke herumfingerte, die er aus dem Streifenwagen mitgebracht hatte.

»Toady wurde hier unten geboren«, erklärte Tracker. »Er war nie an der Oberfläche, so wie einige von uns.«

»Wo sind seine Eltern?«

»Sie wurden vor Jahren von Gnomen getötet.«

PJ zuckte zusammen. »Dann hast du also noch nie die Sonne gesehen, Toady?«

»Ich habe davon gehört. Scheint sie wirklich so hell, dass sie einen blendet?«

»Nur wenn man direkt hineinschaut.« PJ zuckte mit den Schultern. Toady schauderte und stellte keine weiteren Fragen.

PJ wandte sich an Tracker. »Sag mal, warum besorgen wir nicht einfach ein industrielles Pestizid und lösen damit das Gnom-Problem?«

Tracker lachte. »Sie zu vernichten ist nicht ganz so einfach. Argh ist nur eine von vielen Städten einer ganzen unterirdischen Gnom-Welt. Ihre Höhlen verteilen sich über die ganze Erde. Es wäre so, als würde man versuchen, alle Ratten auf der Welt zu töten. Außerdem, warum sollte man gegen eine ganze Spezies Krieg führen, wenn wir auch koexistieren können, indem wir sie einfach hier unten einschließen?«

PJ nickte.

»Das Gleichgewicht wird seit Generationen gehalten«, fuhr Tracker fort. »Eine Handvoll Menschen, die an den verschiedenen Ausgängen auf der ganzen Welt postiert sind, verhindern, dass die Gnome an die Oberfläche gelangen. Wir haben unsere Festung hier unten nur deshalb verloren, weil die Kerle irgendwie Enterhaken hergestellt und gelernt haben, damit die Festungsmauer zu erklimmen.«

»Warum verheimlicht ihr die Existenz der Gnome vor dem Rest der Welt?«, fragte PJ.

»Die Menschen sind zu sensationslüstern. Sie würden in Scharen herunterkommen und alles aus dem Gleichgewicht bringen. Bist du alt genug, um dich an die Hysterie um Bigfoot zu erinnern?«

»Was, das war ein Gnom?«, fragte PJ.

»Ja. Er lief mehrere Tage frei auf der Erdoberfläche herum«, sagte Tracker. »Wir mussten hochkommen und ihn jagen. Zum Glück haben wir ihn gefunden, bevor ihr ihn entdeckt habt. Wir haben uns ein paar Späße erlaubt, um euch auf die falsche Fährte zu locken.«

»Jetzt bindest du mir aber einen Bären auf, oder?« PJ grinste.

Tracker zog seine Lederrüstung über den Kopf und demonstrierte einen Watschelgang, schlenkerte dabei mit den Armen – es war der berühmte Bigfoot-Gang, den PJ in alten Videoaufnahmen gesehen hatte.

»Du warst das?«, rief PJ aus.

»Hast du schon mal vom Yeti im Himalaya gehört?«, fragte Tracker. »Gleiche Geschichte. Allerdings hat sich unsere asiatische Sektion darum gekümmert. Es gibt sogar eine uralte Legende, der zufolge die Römer einen großen Affenhund entdeckt haben sollen, der sprechen konnte. Da sie ihn hässlich fanden, steckten sie ihn zu den Gladiatoren ins Kolosseum. Klingt verdammt nach unseren struppigen Freunden hier unten, nicht wahr?«

Fasziniert schüttelte PJ den Kopf.

»Versuch dir mal vorzustellen, was geschehen würde, wenn man all die verschiedenen Regierungen auf der Welt mit der Nachricht konfrontieren würde, dass es eine neue Spezies gibt, die die hässliche Angewohnheit hat, uns zu verspeisen. Was würden die Regierungen wohl tun?«

»Sie würden die Gnome auslöschen und zu Pelzmänteln verarbeiten, und die Überlebenden würden sie in ein Wildgehege stecken«, sagte PJ.

»Ah, ja, ein Wildgehege. Und tun wir nicht genau das Gleiche, indem wir sie hier unten einsperren? Nur dass es bei uns nicht so viel Gewalt gibt. Wir bekämpfen die Gnome nur dann, wenn es wirklich notwendig ist. Manchmal müssen wir einige von ihnen töten. Und über die Jahre haben sie auch einige von uns getötet.« Tracker sah plötzlich gleichzeitig traurig und wütend aus. Er fügte rasch hinzu: »Aber hauptsächlich haben wir versucht, sie hinter der Mauer in sicherem Gewahrsam zu halten.«

»Bei dir klingt es so, als würdet ihr die Gnome beschützen und nicht die Menschen.«

»So mag es sich anhören, ja. Aber bei einem weltweiten Krieg würde es auf beiden Seiten riesige Verluste geben.« Tracker seufzte. »Und es wäre nicht mal sicher, dass die Menschen ihn gewinnen würden. Gnome lernen extrem schnell. Nach jedem unserer Siege haben sie daraus gelernt und waren bei der nächsten Schlacht umso stärker.«

PJ lauschte mit einer für ihn ungewöhnlich ernsten Miene, während Tracker sein Schwert zückte, mit dem Finger über den Klingenrand strich und die Schärfe prüfte. Unter dem Knauf gab es eine Inschrift – seinen Namen, Tracker. Es schien, als wäre das Schwert eines Wächters ein sehr persönlicher Gegenstand, etwas, das sie hüteten wie ihren Augapfel. »Erzähl mal, Tracker«, fragte PJ nach einer Weile, »wie wurde aus dir ein …?«

»Ein Wächter?«, fragte Tracker, ohne aufzuschauen. »Niemand zwingt uns, hier unten zu bleiben. Über die Jahre haben sich einige für die Oberfläche und ein Leben unter der Sonne entschieden. Aber mein Vater war ein Wächter und sein Vater und dessen Vater auch. Alle waren hervorragende Schwertkämpfer. Und dazu war mein Vater ein gewiefter Fährtenleser und ein richtiger Held für mich. Wolltest du denn nie so sein wie dein Vater, als du noch jünger warst?«

»Wie mein Dad?« PJ rutschte unbehaglich herum. »Ha! Auf keinen Fall. Meine Mutter ist Künstlerin, und als sich ihr im fernen Los Angeles eine tolle Karrieremöglichkeit bot, ließ er uns allein dort hinziehen, nur damit er seinen blöden Job hier oben behalten konnte. Als meine Mutter dann Erfolg hatte, ist er trotzdem nicht zu uns runtergezogen. Er meinte, er wäre eine Verpflichtung eingegangen und trüge die Verantwortung als dämlicher Sheriff von Nottingham.« PJ senkte den Blick und trat einen Stein über den Höhlenboden. »Nee, dein Vater war so was wie ein loyaler Krieger, der zum Wohle der Menschheit gekämpft hat. Mein Dad ist lange nicht so cool.«

Garstige Gnome
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