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Doppelt hält besser
Bree und Tracker sprangen in die Gnom-Stadt hinunter. Der Boden hinter der Mauer war übersät mit Tunneleingängen. Es sah aus wie ein Bienenstock. Sie stürmten in die nächste Öffnung hinein, um das Risiko zu minimieren, dass man sie entdeckte, dann schlichen sie rasch von einem Tunnel zum anderen. Tracker traf, ohne zu zögern, seine Entscheidungen. Er besaß einen untrüglichen Orientierungssinn, und da die Gnome den Tunnelbau von Ameisen und Termiten abgeschaut hatten, gab es im Innern der Stadt eine gewisse Ordnung. »Dort entlang«, rief Tracker Bree über die Schulter zu, ohne zurückzuschauen. »Jetzt hier lang, jetzt da …«
Schließlich blieb er stehen. Genau genommen blieb er so abrupt stehen, dass Bree ihn fast umgerannt hätte. »Es kann nicht nur Glück sein, dass wir bisher keinem einzigen Gnom begegnet sind.«
»Was könnte es denn bedeuten?«, fragte Bree.
»Sie können nicht alle die Stadt verlassen haben«, sagte Tracker. »Sie müssen sich irgendwo versammelt haben.«
Wie als Antwort auf das Rätsel ertönte irgendwo in den Tiefen des Tunnels eine Glocke. Tracker stand reglos da und lauschte, bis das Läuten verklang. Es folgten ferne, gedämpfte Schritte.
»Das war doch unsere Glocke!«, rief Bree.
Tracker bedeutete ihr, still zu sein, und konzentrierte sich, schätzte die Entfernung der Schritte und wie viele Fußpaare es waren. Seine jahrzehntelange Erfahrung in den Höhlen und Tunneln von Untererde verriet ihm alles, was er wissen musste, um selbst die Bedeutung von Stille zu entschlüsseln.
Schließlich wandte er sich zu Bree um. »Sie bewegen sich von uns fort. Sie wurden an irgendeinen Ort in der Stadt gerufen. Wir haben riesiges Glück. Während die Kerle woanders sind, können wir uns hier nach den Feuerwerkskörpern umschauen … und nach dem Jungen.«
Bree nickte, und Tracker signalisierte ihr, ihm in einen breiteren Gang zu folgen. Bislang hatten sie sich auf die kleineren Tunnel beschränkt, aber nun betraten sie einen der breiten Durchgangswege der Gnome.
Bald kamen sie in Sichtweite einer riesigen Doppeltür. Daneben stand ein großgewachsener Gnom, gestützt auf eine primitive Partisane – einen langen steinernen Speer, dessen pikförmige Spitze wie ein Angelhaken gebogen war und sich bestens eignete, einen Angreifer aus zwei Metern Entfernung auszuweiden.
»Eine Wache«, flüsterte Tracker Bree zu. »Wir haben einen wichtigen Bereich erreicht. Für Gnom-Verhältnisse sind die Türen reich verziert, und dass der Soldat hier Wache steht, statt sich seinen Artgenossen anzuschließen, bedeutet, dass es ein sehr wichtiger Raum sein muss. Ich werde einen Blick reinwerfen.«
Bree legte eine Hand an ihren Bogen. »Ich erledige den Wachposten.«
Tracker hob die Hand. »Warte. Er könnte die anderen alarmieren, falls du ihn nicht mit dem ersten Schuss tötest. Außerdem ist es nicht unbedingt vonnöten, den Gegner zu umzubringen, wenn man klüger ist als er … richtig?«
»Ich bin klüger als ein Gnom«, zischte sie.
»Dann beweise es, meine junge Anführerin.« Tracker zwinkerte ihr zu. »Lock ihn von der Tür weg, dann vergiss mich und suche alleine weiter. Unsere Chancen, die Feuerwerkskörper und den Jungen zu finden, verdoppeln sich, wenn wir uns trennen.«
Bree überlegte einen Moment lang, dann nahm sie ihr Schwert und ihren Bogen ab und reichte beides Tracker. Sie schlang sich ein Seil um die Handgelenke, während der Veteran nickte und die Waffen an sich nahm. Sie holte tief Luft und stürmte los.
Bree tat so, als wäre sie eine entlaufene Gefangene. Sie rannte an dem Wachposten vorbei, geriet ins Stolpern und schlug, unbewaffnet und scheinbar an den Handgelenken gefesselt, der Länge nach auf dem Tunnelboden hin. Der überraschte Gnom senkte seine Waffe in eine Stoßposition und trat instinktiv vor, schluckte den Köder. Bree krümmte sich, wartete darauf, dass er zu ihr kam und die Tür unbewacht zurückließ.
Der Gnom beäugte sie, beflissen, aber unsicher. Er blickte sich um, wusste nicht, was er tun sollte. Aber einem hilflos auf dem Boden liegenden Menschen konnte er einfach nicht widerstehen. Bree hielt ihr Bein fest und wimmerte in gespieltem Schmerz.
Grinsend trottete der Gnom von der Tür fort und marschierte auf Bree zu, die sich plötzlich aufrappelte und den Gang hinunterhumpelte. Der Gnom stieß ein Grunzen aus und eilte ihr nach. Bree erhöhte das Tempo ein wenig, um immer einige Schritte vor dem Gnom und seiner langen, unhandlichen Waffe zu bleiben.
Während der Wachposten Bree verfolgte, huschte Tracker aus der Dunkelheit. Er eilte zu der verzierten Doppeltür und presste die Schulter gegen eine der schweren Steinplatten. Sie schwang an den massiven, ausgeleierten Angeln problemlos auf, und er schlüpfte hinein und zog den Türflügel hinter sich zu.
Tracker wandte sich um und fand sich in einer großen Halle wieder. Reihen schiefer Säulen säumten die Seiten des Raums und ragten zehn Meter empor, bevor sie breiter wurden und in sonderbaren Winkeln in die Decke übergingen. Der Mittelgang, vor dem Tracker stand, war fast drei Meter breit und so lang, dass der Veteran am Ende kaum den steinernen Thron auf dem Podium ausmachen konnte. Aber trotz seiner altersbedingt geschwundenen Sehkraft meinte er zu erkennen, dass eine Gestalt darauf saß.