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Ein Knoten in der Zunge
Bree rannte ihrem Verfolger durch den Tunnel davon und verlangsamte ab und zu ihre Schritte, um dem Gnom das Gefühl zu geben, dass er sie jeden Moment einholen würde. Er verfolgte sie beharrlich, aber bald schon war klar, dass er irgendwann müde werden und einfach Alarm schlagen würde. Sie erreichte eine Steinsäule und stellte sich dahinter.
»Argh!« Der Gnom grinste. »Ich kann dich sehen, Menschenfrau. Komm raus, sonst spieße ich dich gleich an Ort und Stelle auf.«
»Komm doch und hol mich«, neckte ihn Bree und streckte an einer Seite kurz den Kopf heraus.
Der Gnom stieß mit seiner teuflisch scharfen Partisane nach ihr. Nur ihre katzenartigen Reflexe bewahrten Bree vor einem Treffer. Die Metallspitze der Waffe prallte von der Wand hinter der Säule ab.
»Das war aber lahm«, witzelte sie und schob ihren Kopf auf der anderen Seite heraus. »Versuch es noch mal.«
Der Gnom riss die lange Stichwaffe herum und ließ sie aus der anderen Richtung horizontal auf sie zusausen. Knall! Diesmal prallte der Schaft der Waffe seitlich gegen die Säule. Wieder wich Bree im letzten Moment zurück, bevor die Metallspitze sich in ihren Kopf bohren konnte.
»Wenn du nicht mal einen unbewaffneten Menschen fangen kannst, werden deine Freunde sich bestimmt fragen, ob du geeignet bist, diesen Raum zu bewachen, der voller … ja was eigentlich, voller Futter ist?«
»Arrgh! Ich bewache keine Nahrung! Ich bin Thick, der Leibwächter des Großen Gnoms.«
Bree stockte der Atem. »Das waren die Gemächer des Großen Gnoms?«
»Natürlich. Und wenn du Glück hast, wird man dich dort als Mahlzeit servieren. So, und jetzt komm raus.«
»Oh, nein«, murmelte Bree. »Tracker.« Sie hatte keine Zeit, zu ihm zurückzueilen.
In dem Moment sprang der Gnom heran und griff mit beiden Armen um die Säule. Bree wich zurück, packte die haarigen Handgelenke des Kerls und schlang ihm rasch das Seil, das sie dabeihatte, um die Pfoten. Sie zog es fest und knotete blitzschnell die beiden Enden zusammen, so dass die Arme des Gnoms hinter der Säule gefesselt waren.
»Argh! Was soll das?« Der Leibwächter versuchte zurückzuspringen, hing aber fest. »Arrrrrgh!«
»Sei still!«, befahl Bree und trat hinter der Säule hervor. »Sonst muss ich dich zum Schweigen bringen.« Sie zückte ihren Dolch. Der Gnom verstummte. Er zerrte an dem Seil, aber es war zwecklos.
»Ich muss wissen, wo der Gnom namens Brains seine Experimente durchführt.«
Der Leibwächter funkelte sie an.
»Komm schon«, drängte sie ihn. »Ich habe keine Zeit und bin immer noch am Überlegen, wie ich es anstelle, dass du still bleibst, nachdem ich verschwunden bin. Ich könnte dir die Zunge abschneiden …«
Die Glupschaugen des Gnoms wurden noch eine Spur größer.
»Oder du hilfst mir, auf eine Methode zu kommen, die weniger grausam ist.«
»Dort entlang«, murmelte der Leibwächter und wies mit einem seiner kurzen krummen Beine in den Tunnel. »Nimm die nächste Abzweigung nach links, dann immer geradeaus, die dritte Öffnung in der ersten Höhle, steig durch den Boden nach unten und suche nach einer Tür, die du nicht sehen kannst.«
»Eine Tür, die ich nicht sehen kann?«
»Du bist ein Mensch«, erklärte er. »Du kannst den Fels nicht so lesen wie ein Gnom. Vielleicht findest du die Tür, vielleicht auch nicht. Aber es ist nicht meine Schuld, falls es dir nicht gelingt«, fügte er rasch hinzu.
Bree nickte. »Streck die Zunge aus.« Der Gnom zuckte zusammen. Bree hielt ihm den Dolch an den Bauch. »Mach schon«, knurrte sie.
Kurz darauf eilte Bree in die angewiesene Richtung. Der Gnom hatte sie wahrscheinlich nicht angelogen. Er hatte weder die Zeit gehabt, noch war er intelligent genug, um sich eine gute Lüge auszudenken. Und er würde nicht um Hilfe rufen, denn sie hatte ihm die lange Zunge ums Ohr geknotet.