56
Unter Brüdern
Eww-yuk stand am Rand des Sumpfes, der gleich hinter der fleischfressenden Wiese begann; es widerstrebte ihm, in den brackigen Morast hineinzuwandern. Er hatte sich von seiner Truppe abgesetzt, als die unseligen Insekten ihnen nachgejagt waren. Dass er verfolgt wurde, wusste er nicht – bis hinter ihm jemand ein Schwert aus der Scheide zog.
Eww-yuk wandte sich um und knurrte. Es war Slurp. Eww-yuk zückte sein eigenes unbenutztes, blitzsauberes Schwert. Slurps Waffe dagegen war zerkratzt und verdreckt, und seine zerrissene, löchrige Lederrüstung hing an ihm herab wie ein Lieblingshemd, das er seit Jahren nicht mehr ausgezogen hatte.
»Argh!«, warnte Eww-yuk. »Bleib stehen, Hauptmann. Ich befehle dir, die Waffe niederzulegen.«
»Nenn mich Bruder … Bruder«, sagte Slurp und schritt ruhig und selbstsicher auf Eww-yuk zu.
»Ich sehe nicht, dass du dein Schwert niederlegst, Halbbruder.« Eww-yuk funkelte ihn an.
»Man soll nie seine Waffe aus der Hand geben«, sagte Slurp. »Das hat mir der alte Slouch beigebracht, als ich noch ein Welpe war. Erinnerst du dich an die Zeit, als auch du noch ein Welpe warst? Als wir noch weitere Brüder hatten?«
»Ich bin der einzige Gnom, der zählt«, bellte Eww-yuk. »Ich allein!«
»Arrgh! Du hättest mich damals genauso umbringen sollen wie unsere Brüder.« Ohne ein weiteres Wort sprang Slurp vor und ließ seine Waffe für ihn sprechen. Er zielte mit einem mächtigen Hieb auf Eww-yuks Kopf und verfehlte ihn knapp, trieb den General aber rückwärts auf den Sumpf zu.
Eww-yuk ließ sein Schwert von oben herabsausen, so wie man es ihm in dem engen Trainingsraum beigebracht hatte. Slurp wich mühelos aus und trat einen kleinen Stein nach Eww-yuk, ein Trick, den er in den wilden Höhlen gelernt hatte. Eww-yuk war abgelenkt und duckte sich, was Slurp die Gelegenheit gab, heranzuspringen und ihn mit einer Serie von Schwerthieben zu belegen. Eww-yuk konnte nur zweimal parieren, bevor Slurp ihm den Schwertknauf gegen den pelzigen Unterarm rammte und Eww-yuks schimmernde Klinge in den Schlamm fiel und versank. Slurp hielt dem General sein dreckverkrustetes Schwert an die Kehle.
Eww-yuk erstarrte, als Slurp sich Nase an Nase vor ihm aufbaute und mit einem leisen Knurren sagte: »Ich werde verhindern, dass du jemals wieder unsere Soldaten dazu bringst, sich gegenseitig zu bekriegen. Wenn ich dem Großen Gnom davon berichte, dann warst du mal ein General.«
Eww-yuk lächelte. »Ach … Bruderherz, du hast es noch nicht gehört? Na, du warst ja schon immer einer von der langsamen Sorte, nicht wahr?«
Slurp zögerte. Es stimmte, dass er manchmal Dinge nicht schnell genug begriff. »Aber ich verstehe genug«, sagte er.
»Verstehst du dann auch, warum ich jetzt der Große Gnom bin?« Eww-yuk zog das Zepter unter seinem Umhang hervor.
Slurps Schwerthand erschlaffte. »Unser Vater ist …?«
»Tot, ja«, knurrte Eww-yuk. »Ja, ja, tot, vertrocknet und verschrumpelt.«
Niedergeschlagen ließ Slurp das Schwert sinken. Die Klingenspitze schleifte über den Boden. Eww-yuk erkannte seine Chance und schlug mit dem Zepter zu.
Klong! Slurp fiel das Schwert aus der Hand.
»So loyal und trotzdem so dumm«, spie Eww-yuk aus und hob erneut das Zepter. »So wie ihr alle aus dem zweiten Sabberwurf.«
Slurp blickte zur Seite. Eine Schleimspur zog durch den Sumpf. Wehrlos ging er rückwärts daran entlang, lockte Eww-yuk näher und näher zum Sumpf. »Ich mag nicht besonders klug sein …«, sagte er.
»Das bist du nicht«, stimmte Eww-yuk ihm zu.
»Und ich mag auch nicht aus dem ersten Wurf stammen«, fuhr Slurp fort und watete tiefer in die braune Brühe hinein. »Aber als Anführer diene ich meinen Gnomen und nutze sie nicht aus.« Aus dem Augenwinkel sah er, dass er den Rand eines großen Schlundlochs erreichte.
»Deshalb bist auch nicht du der Große Gnom, sondern ich!« Eww-yuk hob das Zepter für den letzten, den tödlichen Schlag. »Und nun, als neues Oberhaupt aller Gnome, befehle ich dir zu sterben …«
Aber als Eww-yuk das Zepter hoch über den Kopf erhoben hatte und zuschlagen wollte, hielt er inne. Er wandte sich um, als eine schattenhafte, schleimbedeckte Gestalt sich aus dem Sumpf erhob. Ihre stumpfen Fühler tasteten in seine Richtung, und dann kam der riesige Schwärmer mit einem vernehmlichen Schmatzlaut aus dem Schlundloch herausgeschossen und schnellte auf Eww-yuk zu.
Der General jaulte auf und drosch dem Ungetüm das Zepter in den Bauch. Der verzierte Herrscherstab zischte und zerschmolz. Hinter ihm trat Slurp heran und stieß Eww-yuk sanft in den Rücken. Der General taumelte am Rand des Schlundlochs, dann verlor er das Gleichgewicht und stürzte.
Schlopp! Eww-yuk blieb an der aufgerichteten Unterseite des Schwärmers kleben. Sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Überraschung und Bedauern, während er vor Slurps Augen begann, sich aufzulösen und zu schwarzem schleimigem Gnom-Gelee zu zerschmelzen.
Slurp beobachtete das grausige Ende seines Halbbruders eine Weile, dann hob er das geschmolzene Zepter auf, wandte sich ab und ging. Nach wenigen Schritten hörte er ein Geräusch. Neugierig und misstrauisch blickte er zu einer Schlammgrube hinüber. »Wer ist da?«, rief er.