5. Kapitel
Neueste Nachrichten
Sandy ging auf das wuchtige alte Fachwerkhaus zu. Sie hatte den selbstbewussten Gang eines Mädchens, das im Zeugnis nur Einsen hatte oder dessen Auto wie immer frisch geputzt und gesaugt war; aber vor allem war es der beschwingte Gang eines Mädchens, das, wirklich und wahrhaftig, einen festen Freund hatte, was für Sandy eine ganz neue Erfahrung war.
Sie trug Stiefel mit Absätzen und eine Jeans mit Schlag, ganz schön flippig für ihre Verhältnisse, aber das ist mir schnurz, dachte sie. Neuerdings war ihr ziemlich oft danach zumute, ruhig mal über die Stränge zu schlagen.
»Hallo, Tür«, rief sie, als sie Nates Veranda betrat. Die Tür aus vier massiven Holzpaneelen schwang nach innen auf.
Sandy trat in die Eingangshalle und schaute sich zufrieden um. Einen Ort zum Abhängen zu haben war einer der Vorteile, wenn man einen festen Freund hatte, selbst wenn ihr das Haus ein bisschen unheimlich war und sie darin schon fast umgekommen wäre. Sie zog es vor, es als interessant zu bezeichnen. Und weil Nate keine Eltern mehr hatte, schien es zur Hälfte praktisch ihr zu gehören.
Beim Weitergehen bemerkte sie eine leichte Beule in dem indischen Teppich. Obwohl sie inzwischen ungefähr doppelt so cool war wie noch vor einem Monat, erwachte ihr Instinkt, und ihre pingelige Seite kam zum Vorschein. Niemand beobachtete sie, deshalb kniete sie sich hin, um die Teppichkante glatt zu streichen. Selbst in einem Haus voller Chaos konnte sie so eine Nachlässigkeit nicht durchgehen lassen.
Die haarige Pranke des TIERS schnellte unter dem Teppich hervor und packte ihren Fußknöchel. Sandy schrie auf und trat so kräftig sie konnte zu. Der Teppich wogte zurück, und ihr Fußtritt schleuderte die Pranke in die Luft.
Ungläubig starrte sie ihr nach. Der Pranke folgte kein Körper. Pernikus nahm wieder seine wahre Gestalt an, während er im hohen Bogen durch den Raum segelte und kicherte wie ein stotternder Teekessel.
»Hi-hi-hi-hi-hi!«
»Pernikus!«, schimpfte sie. Der kleine Hauskobold hatte die Prankenform des TIERS nachgeahmt und sich mit dem Teppich verschworen, um ihr einen Schreck einzujagen, und es hatte hervorragend funktioniert. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Wie als Antwort auf ihren Schrei stürmte der kraftstrotzende Dämon Nikolai in den Raum und packte Pernikus am Fuß, als der kleine Kobold an ihm vorbeiflog.
Die beiden stürzten zu Boden und begannen miteinander zu ringen. Pernikus wandelte wie von Sinnen seine Gestalt, aber der muskelbepackte Nik presste die sich windende kleine Nervensäge kurzerhand in den Holzfußboden, wo sie fürs Erste kein weiteres Unheil anrichten konnte.
»Dank dir, Nik«, sagte Sandy. »Du bist ein Schatz.« Sie gab dem bulligen Wicht einen Kuss auf die Stirn, und der kleine Kerl grinste. »Und, ist mein Freund zu Hause?«, fragte sie und warf ihr Haar zur Seite.
Als kurz darauf Nate ins Arbeitszimmer kam, saß Sandy auf der Couch, umringt von einer Menagerie von Dämonen, die um sie herumtrippelten und sie umschwirrten wie die schnatternde Tierwelt in einem tropischen Vogelhaus. Es überraschte ihn, sie im Haus zu sehen. Es überraschte ihn, überhaupt jemanden im Haus anzutreffen.
»Hi, mein gutaussehender Verehrer«, sagte Sandy und legte lächelnd die Füße hoch.
»Was?«, fragte Nate irritiert.
»Entschuldigung«, sagte Sandy rasch. »War das zu kitschig?«
»Ich dachte, ich hätte einen Schrei gehört«, sagte Nate.
Sandy wandte sich zu Nik um. »Hast du etwas gehört?«
Der kleine Muskelmann schüttelte den Kopf.
»Hat dich die Haustür reingelassen?«, wollte Nate wissen.
»Ja. Anscheinend findet sie mich nett«, erwiderte Sandy.
»Nicht mal mich lässt sie jedes Mal rein«, sagte er.
Sandy sah ihn kokett an. »Vielleicht mag sie mich ja lieber.«
Nate war nicht sicher, was er darauf antworten sollte. Eigentlich sollte die Tür niemanden hereinlassen. Die Dämonen tobten frei im Haus herum. Sie machten sich nicht die Mühe, ihre Gestalt zu verschleiern, so wie sie es draußen taten. Jeder, der ins Haus kam, konnte sie sehen und würde anderen davon erzählen. Nate wusste nur zu gut, was mit Dämonenhütern geschah, die von gewöhnlichen Menschen entdeckt wurden. Die Geschichte hatte es nicht gut mit ihnen gemeint. Einige waren ins Gefängnis gekommen. Andere waren auf dem Scheiterhaufen gelandet. Im besten Fall hatte man sie als wahnsinnig erachtet und von den Dämonen fortgezerrt, die zu beschützen sie geschworen hatten. Und deshalb sollte die Tür niemanden ins Haus lassen. Andererseits hatte er noch nie eine Freundin gehabt, deshalb war er nicht sicher, ob Sandy nicht vielleicht eine wünschenswerte Ausnahme war.
»Und, was gibt’s Neues?«, fragte Nate und versuchte sich von dem Gedanken zu erholen, dass man so leicht in seine Festung eindringen konnte.
Sandy richtete sich auf, ihre Augen blitzten. »Hast du die Nachrichten über den Troll noch gar nicht gehört? Das Internet ist voll davon!«
»Im Haus gibt es kein Internet«, sagte Nate.
Sandy lachte. »Das ist ja ein Witz.« Sie öffnete den Rucksack und zog ihren Laptop heraus.
»Wofür ist das denn?«, fragte Nate.
»Für die Nachrichten, du Dummerchen. Ich suche einfach eine drahtlose Netzwerkverbindung in der Nähe. Irgendeine wird es in der Gegend schon geben. Schließlich sind wir in Seattle.« Sandy tippte ein bisschen herum und hatte kurz darauf mehrere Nachrichtenseiten aufgerufen.
Nate blickte sich nervös um. »Das würde ich hier drin nicht tun.« Unbemerkt sprang hinter ihnen ein kleiner Funke von einer Teppichfaser zur anderen über und hielt direkt auf Sandy zu.
»Sieh dir das an«, sagte sie, »es steht auf allen Titelseiten.«
Im letzten Moment erblickte Nate den dämonischen Funken. »Sparky, nicht!«, rief er.
Sparky überwand das letzte Stück, indem er auf Sandys Socke sprang, ihr Hosenbein hinaufflitzte und durch ihre feinen Unterarmhärchen sauste, während er auf ihren Computer zuschnellte.
ZAPPP!
Sandys Laptop blinkte einmal, dann ging er aus. Sandy stöhnte auf.
»Ich habe dich gewarnt«, sagte Nate. »Das ist kein gutes Haus für Computer. Diese Geräte sind sehr anfällig für Chaos.«
»Zumindest habe ich die Meldung gelesen, bevor dein kleiner Freund meinen Computer abstürzen ließ«, entgegnete Sandy. Sie klappte den Laptop zu.
»Und ...?«, wollte Nate wissen.
»Die Polizei kann den Fremont Troll nirgends finden«, verkündete sie.
»Der steht doch unter dieser Brücke an der Aurora Avenue«, sagte Nate.
»Jetzt nicht mehr.« Sandys Augen blitzten wieder aufgeregt. »Er ist weg. Zwei Tonnen Zement, Drahtgeflecht und Stahlrohr, spurlos verschwunden. Übrig ist nichts außer aufgebrochenem Beton und einem Loch im Boden, wo der Troll unterm Highway 99 kauerte. Die Polizei hält es für einen Streich. Sie hat eine Belohnung für denjenigen ausgesetzt, der die Skulptur findet. Zehntausend Dollar. Dem Finder würden keine Fragen gestellt werden.«
In dem Moment kam Richie herein. Seine zerrissenen Socken waren blutdurchtränkt, und er hatte rote Schrammen im Gesicht und an den Armen. »Zehn Riesen?«, staunte er. »Wow!«
Sandy starrte ihn an. »Was ist denn mit dir passiert?«
»Brombeeren«, sagte er. »Lange Geschichte. Frag nicht.«
Nate blickte ins Leere und dachte an die Nachricht über den Troll.
»Was überlegst du?«, fragte Sandy, während sie Richie ein Tuch um den blutigen Fußknöchel band.
»Das war kein Streich«, erklärte Nate. »Der Troll ist ein Dämon.«
»Cool«, sagte Richie.
»Aber es ergibt keinen Sinn«, fuhr Nate fort. »Der Troll ist seit jeher eine schlafende Wesenheit. Sein einziger chaotischer Aspekt liegt darin, die Leute mit seinem furchterregenden Blick nervös zu machen.«
»Der Troll ist ein 1990 aus urbanen Industriematerialien geschaffenes Kunstwerk«, ratterte Sandy die Geschichte der Figur herunter, wie aus einem Lexikon abgelesen.
»Warum passiert das gerade jetzt?« Nate begann, auf und ab zu gehen. »Was könnte eine dämonische, fünf Meter hohe Betonfigur dazu bringen, plötzlich wegzu-rennen?«
»Wir fangen das Ding wieder ein, stimmt’s?«, sagte Richie beflissen.
»Vielleicht«, murmelte Nate.
»Und kassieren den Finderlohn ...« Richie wackelte mit den Augenbrauen.
Nate sah ihn funkelnd an. »Wir sind eine gemeinnützige Organisation. Und wir fangen Dämonen in der freien Wildbahn nur dann ein, wenn sie dem Profil eines ›Plagedämons‹ entsprechen. Ihre Existenz muss wechselseitig inkompatibel mit der der Menschen sein.«
Sandy lächelte. »Okay, dann fassen wir mal zusammen, was wir bisher wissen: Es gibt einen flüchtigen, zwei Tonnen schweren Zementdämon, der sich im Herzen einer Millionenstadt herumtreibt.«
»Klingt das nicht nach einer Plage?« Richie grinste.
»Okay, okay. Ich setze es auf meine Liste der Dinge, die erledigt werden müssen«, sagte Nate kopfschüttelnd. Er war immer noch verärgert, weil er die Dämonen nicht wieder hatte einfangen können, die während des Kampfes mit dem Dürren Mann und dem TIER geflüchtet waren.
Der Dürre Mann hatte drei persönliche Gehilfen gehabt – Glump, Zunder und Kail. Glump, die Elastische Zusammenballung, war in jener Nacht bei einer verhängnisvollen Begegnung mit einem Ventilator püriert worden. Aber Zunder und Kail hatten überlebt und waren entkommen. Der Feuerdämon hatte sich vor Pernikus’ Sprühflasche gerettet, indem er tief in die Holzdielen eingedrungen war und sich zentimeterweise zur Haustür vorangearbeitet hatte. An der Schwelle hatte er so lange vor sich hingeglommen, bis irgendwann die Tür aufging und er hinausschlüpfen konnte. In der ganzen Aufregung jener wilden Nacht hatte Nate seine Flucht gar nicht bemerkt.
Zu einem bloßen Glimmen verkümmert, hatte Zunder sich auf die Holzveranda hinausgestohlen und tagelang gewartet, bis das Gras getrocknet war. Anschließend hatte er im Nachbarhaus Zuflucht genommen und erst einmal Mr. Neebors Zeitung verschlungen, um wieder zu Kräften zu kommen. Schließlich war er von einem entflammbaren Gegenstand zum nächsten gesprungen und hatte sich einen Weg vom Queen Anne Hill hinab gebahnt. Er hatte eine alte Mülltonne entdeckt, ein Autowrack abgefackelt, sich von einem kreischenden Passanten ein Stück an dessen Mantelsaum mitnehmen lassen und sich schließlich durch die Holzschwellen der Eisenbahnstrecke gebrannt, die bis zum Ufer des Puget-Sund führte.
Der zähe Bursche war an den Docks von Seattle entlanggekrochen – wegen der Wassernähe ein gefährlicher Ort für einen kleinen Feuerherd – und hatte sich ein sicheres Versteck gesucht, wo er in Ruhe wachsen konnte.
Nate hatte das Feuer bis zum Hafen verfolgt, es dort aber aus den Augen verloren. Von Kail, dem heimtückischen Spalterdämon, der alles auseinanderriss, was er berührte, hatte er noch keine Spur gefunden. Die beiden zerstörerischen Dämonen trieben sich irgendwo frei in der Stadt herum, und es war seine Aufgabe, sie einzufangen, bevor sie ernsthaften Schaden anrichten konnten. Nate atmete tief durch. Und jetzt musste er sich auch noch mit einem flüchtigen Troll befassen.