9. Kapitel

(Fast) Wie im Märchen

Morgens um halb fünf gab es auf der Aurora-Brücke keinen Verkehr, außer drei Jugendlichen, die im Gänsemarsch mit drei Ziegen angestiefelt kamen. Nate führte das größte Tier, und über seinem Kopf kreiste sein Gehilfe Flappy und hielt nach dem Troll Ausschau. Der kleine Winddämon flatterte taumelnd vor sich hin wie ein pudelgroßer Kolibri mit Schuppen.

»Das ist lächerlich«, sagte Richie, während er mit seiner Ziege rang, um sie in Reih und Glied zu halten.

»Pass einfach auf, dass sie in der Mitte bleibt«, wies Nate ihn an.

Sandy führte die kleinste der drei Ziegen und trug das Dämonenhüter-Kompendium, das Tage- und Lehrbuch eines jeden Hüters in der langen Ahnenreihe von Nates Vorgängern. Leider war das Buch in dutzenden verschiedener Sprachen verfasst. Sandy zitierte daraus.

»Hier ist etwas, was ich lesen kann. Es ist von Michael John Francis, einem englischen Hüter, der vor einigen Jahrhunderten gelebt hat. Er sagt, die Kraft eines Dämons entstamme dem Chaos, das ihn erschaffen hat, und er bringe dieselbe Art von Chaos zurück über die Welt.« Sie klappte das Buch zu und stopfte es in ihren Rucksack. »Im vorliegenden Fall bestand das Chaos aus vier verrückten Aktionskünstlern aus Seattle und ihrer Interpretation des norwegischen Kindermärchens vom Troll und den drei kleinen Geißlein, die versuchen, eine von ihm bewachte Brücke zu überqueren.«

»Ahhh«, stöhnte Richie, »die Schulmeisterstimme.«

Sandy ignorierte seinen Spott. »Die Künstler haben den Troll illegal aufgebaut. Sie haben den nötigen Zement unter die Brücke transportiert und innerhalb von zwei Tagen eine Skulptur daraus gemacht, während sie sich als Straßenarbeiter ausgaben. Faszinierend, nicht wahr?«

Richie schnaubte. »Wusstest du, dass Leute, die sich jede historische Einzelheit merken, dazu verurteilt sind, die alten Geschichten am eigenen Leib nachzuerleben?«

In dem Moment blitzten hinter ihnen blaue und rote Signallichter auf.

Nate zuckte zusammen. »Ach, verflixt! Wir haben Wichtigeres zu erledigen, als blöde Fragen zu beantworten.«

»Mann, du fluchst wie ein alter Opa«, sagte Richie und hielt seine Ziege fest, als der Streifenwagen neben ihnen heranfuhr.

Der Beamte streckte den Kopf aus dem Fenster. »Stehen geblieben, ihr kleinen Schafhirten!«

»Was machen wir jetzt?«, zischte Sandy Nate und Richie zu.

»Ich erledige das«, sagte Richie. »Polizisten sind mein Spezialgebiet.« Er wandte sich an den Beamten. »Hallo, tut uns leid, falls wir den Verkehr behindern. Unser Anhänger is liegen geblieben. Schöner Bockmist auch.«

»Du klingst wie ein Kanadier«, sagte der Mann.

»Sie haben gute Ohren, Wachtmeister. Ja, wir kommen von ‘ner Käse-Farm gleich hinter der Grenze. Wir bringen die drei Racker zum Viehmarkt in Puyallup.«

»Tatsächlich? Wo steht denn euer Anhänger?«

Richie fuhrwerkte einen Moment lang mit seinem Vierbeiner herum, um sich etwas Zeit zum Überlegen zu verschaffen.

Sandy trällerte los. »Haben Sie den bunten Wohnwagen am anderen Ende der Brücke gesehen? Den mit dem geblümten Käfer davor?«

»Ja, hab ich«, sagte der Beamte. »Der ist mir vorhin aufgefallen. Ihr müsst Freunde des hübschen Mädchens sein, das den Wagen fährt.« Sandy zuckte zusammen, nickte aber mechanisch. Zufrieden nickte der Mann zurück. »In Ordnung. Es ist spät. Schafft die Tiere dorthin, wo sie hinsollen, bevor der Berufsverkehr losgeht.« Der Polizist tippte sich an die Dienstmütze und fuhr weiter.

»Wow«, staunte Richie. »Du lügst ja wie ein Profi.«

»Gewöhn dich bloß nicht daran«, schimpfte Sandy. »Ich hasse es zu lügen.«

»Dank dir«, sagte Nate. »Und nun geh bitte, und bring die kleine Ziege rüber.«

Während der Streifenwagen in der Ferne hinter einer Kurve verschwand, bugsierte Sandy ihre Ziege über die Brücke. Die Jungen warteten.

»Nichts«, sagte Richie, als Sandy am anderen Brückenende in der Dunkelheit verschwand.

Während sie Sandy nachschauten, merkten sie nicht, dass Flappy verzweifelt ihre Aufmerksamkeit zu erregen versuchte. Der Winddämon kam herabgeschossen, um dicht vor ihren Gesichtern vorbeizufliegen, als hinter ihm eine riesige Betonhand über das Brückengeländer griff und den kleinen Dämon mit geballter Kraft kopfüber in die Dunkelheit schleuderte.

WUSCH!

Richie fuhr herum. »Der Trollllll!«, brüllte er.

Die riesige Gestalt stieg auf die Überführung des Highway 99; ihre gewaltigen Hände zerquetschten das Aluminiumgeländer wie einen Plastikstrohhalm.

»Plan A!«, rief Nate, und sie ließen ihre Ziegen laufen.

In dem Märchen stürmen zwei der Tiere todesmutig an dem lauernden Troll vorbei, während der Gigant auf die größte und saftigste Ziege wartet, und als sie auftaucht, befördert sie den Troll mit einem kräftigen Tritt zurück an seinen Platz unter der Brücke.

Nates und Richies Ziegen hingegen flohen nach einem kurzen Blick auf die riesige Betonmonstrosität mit lautem Getrappel die Brücke entlang.

Der Troll riss die Leitplanke aus den Verankerungen und schwang sie in hohem Bogen durch die Luft. Sie sauste auf die Jungen zu.

»Plan B!«, brüllte Nate. »Wegrennen!«

Sie stürmten in dem Moment los, als hinter ihnen die Leitplanke auf die Fahrbahn krachte.

SCHEPPER!

Der Troll stapfte ihnen hinterher.

»Siehst du, er ist auf die Ziegen angesprungen«, japste Nate, während sie davonrannten. »Er kommt nicht gegen seine Natur an.«

»Die Ziegen offenbar schon«, schnaufte Richie.

»Wahrscheinlich kennen sie das Märchen nicht. Außerdem sind sie schneller als wir. Der Troll wird uns zuerst erwischen!«

Das Ungetüm schlug mit seinen riesigen Betonhänden nach ihnen und grub bei jedem Schritt seine Füße in den Asphalt. Bald erreichten Nate und Richie die Brückenauffahrt, und Nate sprang hinab, um sich unter die Überführung zu flüchten.

»Nate, geh nich da runter!«, rief Richie ihm nach. »Da sitzt du in der Falle.«

Unter der Brücke stieß Nate auf die beiden Ziegen, die sich verängstigt aneinanderschmiegten. »Ihr solltet ihn angreifen und nicht die Kurve kratzen«, polterte er.

Die Tiere starrten ihn nur verständnislos an. Sie verstanden das seltsame Spiel nicht, das der Junge mit ihnen veranstaltete, und gewiss waren sie nicht gewillt, sich in die Arme eines steinernen Ungeheuers treiben zu lassen, das sie offensichtlich auffressen wollte.

Richie trat zu Nate. »Husch! Husch!«, herrschte er die Tiere an. »Wenn ihr nicht kämpfen wollt, dann haut ab!«

Er trat einer der Ziegen ins Hinterteil. Meckernd schlug das Tier nach ihm aus.

»Aua!«, rief Richie.

»Lass uns verschwinden!«, drängte Nate. Aber es war zu spät, denn in diesem Augenblick kletterte der Troll an der Brückenseite hinunter und ließ seine zwei Tonnen Beton und Stahl direkt vor ihnen zu Boden plumpsen.

RUMMS!

Sie saßen in der Falle.

»Was tun wir jetzt?«, fragte Richie.

Nate schaute auf die Uhr. »Wir warten.«

»Lange überstehen wir das nicht!«

Der Troll stapfte auf sie zu und streckte den Arm nach ihnen aus, als plötzlich die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont fielen. Das Ungetüm erschrak, schob die Jungen und die Ziegen mit seinen mächtigen Armen aus dem Weg und rannte schwerfällig an ihnen vorbei. Dann fiel es mit Donnergepolter vornüber und begann fieberhaft, sich in seinen angestammten Platz unter der Brücke hineinzuzwängen. Sekunden später war der Troll wieder zu leblosem Beton erstarrt.

Der Streifenwagen folgte den riesigen Eindrücken im Asphalt bis zum Brückenende, wo der Beamte das Fahrzeug parkte und ausstieg. Er blickte über die Brüstung und sah unten zwei gewaltige Fußstapfen im Gehsteig. Neugierig schwang er sich über das Geländer und trat unter die Brücke, wo ihn ein höchst seltsamer Anblick erwartete. Der Troll war an seinen Platz zurückgekehrt und sah ziemlich unversehrt aus, wenn man einmal davon absah, dass er kopfüber in der Grube steckte und nun statt seines Oberkörpers die dicken Betonbeine und der Rumpf in die Höhe ragten.