16. Kapitel
Kail
Zu Hause in der von Rissen durchzogenen Erde unter Seattle, war Kail stark geworden. Er kam unter der Oberfläche mühelos voran, dort, wo vor mehr als hundert Jahren das Sumpfland mit lockerer Erde und Abraum aufgeschüttet worden war, um neuen Boden für Seattles Hafenviertel zu gewinnen.
Nun aber konnte ihn seine Körperkraft nicht mehr schützen, und er fühlte sich in seinem neuen Lebensraum nicht mehr sicher. Kail fürchtete sich nur vor wenigen Dingen, aber das Wesen, das sich hinter ihm fieberhaft durch die Erde wühlte, machte dem Spalterdämon gewaltige Angst.
Zahllose Abwasserrohre durchzogen Kails unterirdisches Reich, und in seiner Hast bohrte er sich unversehens in das altersschwache Material eines Hauptrohres und sprengte es.
Oben waren gerade Dutzende von Kindern in Fußballtrikots dabei, in Dick’s Drive-in-Restaurant Hamburger zu bestellen. Da schoss auf einmal eine Fontäne aus dem Boden und katapultierte zwei Mittelfeldspieler und den Torwart Hals über Kopf in die Milchshake-Maschine. Dort blieben sie als benommener, mit Schoko-Eis und Klärschlamm besudelter Haufen liegen, während der Rest der Mannschaft einschließlich der Trainer schreiend hinausrannte.
Kail wurde vom Wasser mit an die Oberfläche gerissen, hatte aber keine Zeit, das heillose Durcheinander zu genießen. Das Wesen, das ihn verfolgte, war kein rehäugiger junger Hüter, sondern ein uraltes Geschöpf mit einem Mordshunger, und Kail riet sein Instinkt, in Bewegung zu bleiben und dem geheimnisvollen Verfolger um jeden Preis aus dem Weg zu gehen. Hüter, die das Chaos einfingen und es einsperrten, waren schon schlimm genug. Aber es gab Dinge, die waren noch viel, viel schlimmer.
Er überquerte die Straße, pflügte einen breiten Spalt in den Bürgersteig, der einen vorbeikommenden Radfahrer kopfüber in die nächste Mülltonne katapultierte. Er konnte seinen Verfolger jetzt ganz deutlich spüren. Kail wand sich durch den Asphalt wie eine Schlange durchs Gras und raste auf die Space Needle, Seattles hoch aufragenden Aussichtsturm, zu.
Nate, Richie und Lilli standen auf der Aussichtsplattform und blickten auf die Stadt und den Puget-Sund hinab. Nik, der unter Höhenangst litt, kauerte am Boden, während Pernikus anmutig auf dem Geländer herumbalancierte und zum hundertfünfundachtzig Meter unter ihnen liegenden Bürgersteig hinablächelte.
»Netter Ausblick, aber wonach suchen wir eigentlich?«, fragte Lilli.
Nate inspizierte die Straßen und Häuser. »Nach Rissen in Hauswänden und im Boden. Wenn Kail unter der Erde steckt, ist er in Sicherheit und praktisch unerreichbar. Wir müssen nach Hinweisen Ausschau halten, dass er an die Oberfläche gekommen ist.«
»Wie sollen wir denn von hier oben einen Bodenriss erkennen?«, maulte Richie. Er spuckte aus und sah zu, wie die Spucke in der Tiefe verschwand.
»He, was ist denn da drüben los?«, fragte Nate.
»Bloß eine Horde Kinder, die aus einem Restaurant stürmen«, sagte Richie. »Sieht aus wie eine Fußballmannschaft. Wahrscheinlich versucht jeder von ihnen, den Beifahrersitz im Minibus zu ergattern.«
Lilli tippte an Nates Arm. »Gibt es denn gar keine Möglichkeit, diesen ausgeflippten Spalterdämon zu besänftigen? Mit ihm zu reden?«
»Er ist dafür da, Dinge zu zerstören«, erwiderte Nate. »Man kann nicht mit ihm reden, und ich darf nicht zulassen, dass er mitten in Seattle sein volles Potenzial entfesselt.«
»Genau«, sagte Richie, »wir palavern nich mit dem Kerl, sondern zerren ihn aus dem Boden und treten ihm in die Eier.«
In diesem Augenblick schlug Richies Spucke auf dem Bürgersteig auf.
PLATSCH!
RA-BUMM!
Plötzlich ließ eine heftige Erschütterung den Aussichtsturm erbeben und warf die drei Gefährten zu Boden. Als das Rütteln aufhörte, sahen sie sich fragend an.
»War das meine Spucke?«, fragte Richie.
»Nein«, sagte Nate. »Seht mal!«
Das riesige Experience-Music-Project-Gebäude am Fuße des Turms bebte noch immer.
Neben dem schlanken eleganten Aussichtsturm nahm sich der hässliche, metallisch-bunte EMP-Bau dort unten wie ein großer Fleck Erbrochenes aus, der nun aber hin und her wogte und an allen Ecken ächzte. Dann brachen die Außenwände langsam auseinander. Sie sahen etliche Besucher ins Freie stürzen, aber für viele war es bereits zu spät. Ein gewaltiger Ruck fuhr durch den Bau, dann stürzte er ein, und zurück blieb ein undefinierbarer Haufen aus rauchenden Betontrümmern, verbogenen Metallteilen und unzusammenhängenden Farbflecken.
KRAAAAACH!
»Das ist Kail!«, sagte Nate. »Sandy hatte recht. Wir sind hier direkt über der Verwerfungslinie.«
In dem eingestürzten Gebäude waren noch Menschen, und Nate zuckte zusammen, als die letzten Eckpfeiler in einer riesigen Staubwolke, unter Geschrei und den Geräuschen berstenden Metalls in sich zusammensackten.
»Deshalb versuchen wir gar nicht erst, mit ihm zu reden«, sagte er zu Lilli.
»Wir müssen ... sofort runter«, stammelte sie.
»Warum?«, fragte Richie, der die Verwüstung mit einer gewissen Faszination betrachtete.
Noch während sie sich unterhielten, raste Kail durch die Straße auf den Aussichtsturm zu und knickte einen der Stützpfeiler um.
»Weil Kail raufkommt«, sagte Lilli.
»Was?«, rief Richie. »Er greift uns an? Erkennt er uns denn? Ich dachte, er macht es sich lieber unter der Erde gemütlich!«
»Dieser Dämon ist nicht so wie die, die ich sehen kann«, sagte Lilli. »Ganz und gar nicht.«
»Du siehst eben nur das Schöne im Chaos«, sagte Nate. »Das hier ist das Gegenteil davon.«
Aber Lilli war bereits davongeschlichen, und als Nate und Richie nicht hinsahen, machte sie einen Satz in den Fahrstuhl.
»Wir warten hier oben auf Kail«, verkündete Nate. »Pernikus, bring mir die Box.«
Der Dämon huschte zu Nates Rucksack und zog die Knobelbox heraus. Nate nahm sie entgegen, den Blick nach unten auf die Stützpfeiler des Turms gerichtet.
»Wenn ich dicht genug an ihn herankomme, sauge ich ihn in die Box«, sagte er.
Der Aussichtsturm erbebte, als Kail den nächsten Pfeiler entzweibrach. Der Riss fuhr durch das Metall bis zu ihnen hinauf. Nun merkten auch die Gäste in dem rotierenden Restaurant, dass etwas nicht stimmte, und als der ganze Turm wie betrunken hin und her schwankte, schrien sie erschrocken auf.
Nate rief Anweisungen: »Nik! Wenn Kail in ein Bauteil des Turms eindringt, das du losreißen kannst, dann tu es, und trenne es ab. Richie, geh auf die Nordseite, und sag mir Bescheid, falls Kail aus dieser Richtung kommt!«
»Wie, ich bin bloß ein Späher?«, fragte Richie.
»Du bist mein Lehrling. Jetzt geh auf die Nordseite! Pernikus, du gehst rüber auf die Westseite.«
Der kleine Hilfsdämon setzte sich augenblicklich in Bewegung. Richie zog eine Grimasse, folgte aber dessen Beispiel.
»Lilli ...?«, rief Nate, bekam aber keine Antwort. »Lilli, ich brauche dich auf der Südseite!« Es hatte keinen Zweck. Sie hatte sich aus dem Staub gemacht.
Kail raste den Turm hinauf und zerstörte die östliche Stützkonstruktion, so dass die Space Needle in den aus der Bucht heranpeitschenden Windböen wild zu schwanken begann. Der Turm neigte sich zur Seite, bis er umzukippen drohte, dann schnellte er zurück, bekam Schwung.
Richie klammerte sich ans Geländer und beobachtete die Geschehnisse von seinem Posten auf der Nordseite der Aussichtsplattform aus. »Da kommt er! Kail rast nach Westen!«
Nate brüllte in den Wind. »Pernikus! Folge ihm!«
Der kleine Kobold trippelte Kail auf dem Geländer hinterher. Der Spalterdämon zog einen Riss rings um das rotierende Restaurant, das direkt unter der Aussichtsplattform lag. Fensterscheiben zerbarsten. Erschrockene Gäste drückten sich schutzsuchend aneinander, zu verängstigt, um zu den ohnehin schon überfüllten Fahrstühlen zu gelangen. Pernikus blieb stehen und zeigte mit seinem auf drei Meter Länge gedehnten Gummiarm dorthin, wo Kail als Nächstes hinrasen würde – zur Südseite.
»Verflixt«, schimpfte Nate. »Dort steht niemand. Ich sehe nicht, wo er hin ist!«
Kail befand sich irgendwo unterhalb der Plattform und legte eifrig das Restaurant in Trümmer. Nate konnte ihn hören, mehr noch, er konnte ihn unter sich spüren, aber von dort oben kam er nicht an Kail heran.
Er überlegte nicht lange, sonst hätte er den nächsten Schritt nicht gewagt, weil es einfach zu grauenhaft war. Er nahm Anlauf und hechtete über das Geländer ins Fangnetz, das rings um die Plattform angebracht war, um potenzielle Selbstmörder vom Sprung in die Tiefe abzuhalten.
Als Nächstes fand er sich hundertachtzig Meter über der Erde als verrenktes Bündel in einem Wirrwarr aus Seilen wieder. Als er nach unten schaute, musste er einen plötzlichen Brechreiz bezwingen. Er hatte sich verheddert und konnte sich nicht bewegen, aber das war egal. Denn jetzt kam Kail ihm entgegen.
Der Spalterdämon raste in eine der Streben hinein, die das Fangnetz hielten.
KNACK!
Das Netz sackte ab, und die Erde rutschte drei Meter näher. Nate fummelte an der Knobelbox herum und versuchte fieberhaft, sie zu öffnen, während sein linkes Bein zwischen den Seilen in die jähe Tiefe hinabhing, unter ihm nichts mehr, was ihn auffangen würde.
Er riss die Schachtel hoch und presste sie an die Metallstrebe, durch die Kail angerast kam. Der kleine Behälter begann zu zischen und den Dämon durch das Metall anzusaugen. Kail warf sich hin und her, stemmte sich dagegen. Aber dann gab er plötzlich allen Widerstand auf, als wolle er sich seinem Schicksal ergeben. Die Knobelbox nahm den Spalterdämon mühelos auf, und Nate schraubte schnell den Deckel zu.
Ein grauenvolles Ächzen und Knirschen ließ Nate zusammenfahren. Die angebrochene Strebe, die das Fangnetz hielt, riss aus der Verankerung und neigte sich in die Tiefe. Das Netz sackte ab. Plötzlich tauchte Nik über Nate auf. Der dämonische Kraftprotz packte die Strebe und hielt sie fest, während Pernikus einen drei Meter langen Arm nach Nate ausstreckte und ihm half, sich wieder in Richtung Aussichtsplattform zu hangeln.
Nate packte die elastische Hand seines Gehilfen und zog sich mit einem Ruck in eine aufrechte Position. Er entwirrte seine Glieder aus den Seilen, dann stieg er an dem Netz wie auf einer Leiter nach oben. Aber dann konnte Nik die abgebrochene Strebe nicht mehr festhalten. Das Netz verschwand unter Nate, und im letzten Moment bekam er das Geländer zu fassen. Der schwere Metallträger und das Fangnetz stürzten der Erde entgegen, während Nate sich mit den Fingerspitzen am Geländer festklammerte.
»Wie wäre es mit ein bisschen Hilfe?«, stöhnte er.
Pernikus schlang den Arm zweimal um Nates Handgelenk, und Nik zog den Kobold zu sich heran. Richie packte mit an, als Nates Hände sich vom Geländer lösten, und als verkeiltes Bündel aus Dämonen und Hütern hievten sie Nate zu dritt auf die Aussichtsplattform zurück.
Richie und Nate fuhren im Fahrstuhl nach unten; sie waren ganz ruhig inmitten der verängstigt wimmernden und schreienden Besucher des schwankenden Aussichtsturms. Pernikus lugte aus Richies Tasche, während Nik sich in Nates Rucksack versteckte.
»Ich verstehe, warum sie weggelaufen ist«, sagte Nate.
»Das war echt schwach von ihr«, erwiderte Richie.
»Sie ist es nicht gewohnt, die hässliche Seite der Dämonen zu sehen«, erklärte Nate.
»War trotzdem schwach.«
»Du begreifst es nicht. Sie betrachtet die Dinge aus einem anderen Blickwinkel.«
»Ich sag’s noch mal«, entgegnete Richie, »das war eine ganz schlappe Nummer von ihr.«
»Das reicht.«
»Hey, am Anfang hab ich sie auch cool gefunden«, sagte Richie, »aber nur, weil du scharf auf sie bist, wird sie nich automatisch zu –«
»Du hältst jetzt besser die Klappe«, blaffte Nate.
Richie funkelte ihn an. »Wenn wir nich bei der Arbeit sind, hast du mir gar nichts zu sagen.« Er machte eine Pause, dann fügte er hinzu: »Sandy stiehlt sich nich davon, wenn’s brenzlig wird.«
Nate schäumte vor Wut, aber zum Streiten war keine Zeit. »Als Nächster ist Zunder dran«, sagte er. »Ich brauche einen Helfer, selbst wenn mir dessen Haltung nicht gefällt. Bist du dabei?«
»Ich bin immer dabei, wenn ich einem Dämon in den Hintern treten kann«, antwortete Richie.
»Kein Treten. Du sollst mir nur ein bisschen helfen.«
Die Fahrstuhltür öffnete sich. Vor ihnen stand eine Wand aus Reportern, die sich um das abgestürzte Fangnetz und die Metallstrebe scharten.
»Lass dich nicht fotografieren«, sagte Nate und hielt den Kopf gesenkt.
Aber Richie stellte sich bereits für einen Schnapp-schuss in Positur. Nate packte ihn, um ihn fortzuzerren, als die Reporter auf sie zutraten. Er deutete himmelwärts. »Vorsicht, Leute, da kommt gleich noch was runter!«
Die Reporter schauten nach oben, dann wichen sie zurück wie eine verängstigte Schafherde.
»Unsinn«, sagte ein Mann in wichtigtuerischem Tonfall. Er blickte von seinem Notizblock auf. Es war Calamitous. Nate zerrte Richie in die entgegengesetzte Richtung. Calamitous blieb ihnen auf den Fersen.
»Keine schlechte Idee, die kleine Notlüge«, kicherte er.
»Halt die Klappe, Mann«, fauchte Richie, ohne nachzudenken. »Wir waren oben, als das Zeug runterkam.«
»Aha!« Calamitous klatschte in die unförmigen Hände. »Dacht ich’s mir doch, dass ihr was damit zu tun habt. War mir klar, als ich die schnucklige Kleine rauskommen sah.«
»Schnucklig?«, fragte Nate.
«Ja. Die im bunten Kleid. Sie ist immer zur Stelle, wenn es irgendwo Chaos gibt. Und ihr seid immer in ihrer Nähe. Nicht wahr? Ihr wisst, wer dafür verantwortlich ist, stimmt’s? Habt ihr ihn gesehen? Wo steckt er? Ist er noch da oben?« Calamitous kritzelte genauso schnell auf seinen Block, wie er redete; nur wenn er in die Luft schnüffelte, machte er eine kurze Pause.
Nate schob sich an ihm vorbei und zog Richie hinter sich her. »Lassen Sie uns in Ruhe«, sagte er drohend.
»Kein Problem«, erwiderte Calamitous und deutete grinsend auf einen Feuerwehrwagen, der mit heulender Sirene an ihnen vorbeiraste. »Ich weiß sowieso schon, wo ihr jetzt hinwollt.«