20. Kapitel

Der Wind frischt auf

Sandy hockte über dem Kompendium und gab vollständige Sätze in das Übersetzungsprogramm ihres Laptops ein, während Nik nach Sparky Ausschau hielt und Nate von Fenster zu Fenster ging und überprüfte, dass das Haus gesichert war. Dabei sah er immer wieder hinaus wie ein nervöses Erdhörnchen, das aus seinem Bau lugt, um nach Gefahren Ausschau zu halten. Draußen nahm der Wind zu, blies von Westen her über die Elliot Bay und die Inseln heran. Der Regen wurde unaufhörlich lauter, wie klassische Musik; immer härter und rasender prasselten die Tropfen herab, während sich der Sturm zusammenbraute.

Richie war an der Haustür postiert. »Wer oder was soll uns denn angreifen?«, fragte er, mit einem verbogenen Schürhaken bewaffnet.

»Ich weiß es nicht!«, rief Nate von oben. »Sandy? Hast du etwas herausgefunden?«

»Hier steht was von einem irischen Hüter namens George McFeen im Siebzehnten Jahrhundert«, rief sie aus dem Arbeitszimmer. Nate eilte die Stufen hinab und setzte sich zu Richie auf die Couch. Sandy las laut vor.

Es waren vier Einträge im Kompendium. Sandy trug sie langsam und bedächtig auf Englisch vor, ließ sich mit jedem Wort Zeit, um sicherzustellen, dass die Übersetzung stimmte. Es war eine kurze, traurige Geschichte, und sie zuckte zusammen, als sie George McFeens letzte Zeile vorlas.

«Mein Mentor ist ein Dämonenfresser«, hauchte sie.

Nate und Richie lauschten, ohne ein Wort zu sagen, während sie zu Ende las. Danach merkte Nate, dass er die Luft anhielt, seit Sandy ihren Vortrag begonnen hatte. Er japste und schöpfte Atem.

»Wow«, flüsterte Richie.

Schließlich fand Nate die Sprache wieder. »Zunder hat gar nicht versucht uns umzubringen«, sagte er. »Ach, ich bin so dumm. Er wollte sich bei mir in Sicherheit bringen. Deshalb ließ Kail sich auch so bereitwillig von der Box aufsaugen. Er war auf der Flucht. Und bei Zunder haben wir untätig zugesehen und ihn sterben lassen.«

»Alter«, sagte Richie, »ich schwör’s dir: Ich hab das Feuer nich gelöscht.«

»Jetzt glaube ich dir«, erwiderte Nate. »Es tut mir leid, dass ich dir die Schuld an Zunders Tod gegeben habe. Ich war wütend. Ich glaube, das Ungeheuer, das McFeen beschrieb, hat Lillis Dämonen aufgefressen, den Troll umgebracht und war mit uns unter der Erde, um Zunder zu verschlingen.«

»Ein Dämonenfresser?«, fragte Sandy. »Aber dann wäre er mindestens dreihundert Jahre alt.«

»Ja. Er hat sich vom Chaos der Jahrhunderte ernährt«, sagte Nate, »genauso wie es ihn auf dem Meer ernährt hat, als er nichts zu essen und zu trinken hatte.«

»Wie sieht dieser Kerl denn aus?«, fragte Richie.

»Das schreibt McFeen nicht«, antwortete Sandy. »Es ist durch die Übersetzung schwer zu sagen, aber ich glaube, er wusste es auch nicht genau.«

»Er sagt, das Äußere seines Mentors habe sich verändert«, merkte Nate an, »aber nicht in welcher Weise.«

»Wenn dieses Ungeheuer böse Dämonen auffrisst«, sagte Richie, »dann bedeutet das doch bloß weniger Arbeit für uns, oder? Vielleicht könnte der Kerl ja das TIER für uns erledigen.«

»Nein«, erwiderte Nate. »Blindlings Chaos zu zerstören macht die Welt nicht besser. Würdest du etwa alle Löwen auf der Welt töten, nur weil hin und wieder einer einen Menschen anfällt?«

»Wenn ich derjenige wäre, den er gerade auffuttern will, dann vielleicht schon«, sagte Richie.

»Würdest du alle Überraschungen, alle Abwechslung und alles Unbekannte eliminieren wollen?«, fragte Nate. »Stell dir mal ein Leben vor, in dem es nichts gibt außer mechanischer Vorhersehbarkeit.«

Richie neigte den Kopf zur Seite. »Keine ausgeflippten Rockkonzerte mit spontanem Bühnestürmen?«

»Genau.«

Richie verzog das Gesicht.

»Wir fangen die gefährlichen Dämonen und die, die sich mit den Menschen nicht vertragen«, fuhr Nate fort. »Aber wir zerstören sie nicht, und den Rest lassen wir in Ruhe. Die Menschheit braucht ein gewisses Maß an Chaos.«

Richie nickte.

Nate streckte den Kopf zur Haustür hinaus und blickte prüfend die Straße auf und ab. Lillis Anhänger und der Käfer standen noch immer draußen. Lilli hatte sie bisher nicht abgeholt. Der Käfer funktionierte noch, und sie konnte ihn wegfahren, aber den großen Bus konnte er nicht mehr ziehen. In der anderen Richtung, zur Bucht hin, frischte der Wind auf. Ein Windstoß blies in Nates Richtung. Er legte den Kopf schräg und lauschte. Der Wind pfiff eine vertraute Melodie.

»Moment mal ...«, sagte er und trat auf die Veranda hinaus. Sandy und Richie folgten ihm.

»Was ist denn?«, fragte Richie.

»Ja«, sagte Sandy, »was ist los?«

»Der Sturm«, murmelte Nate. »Ich muss ihn spüren.« Er ging auf die Straße und stellte sich mit ausgebreiteten Armen in den tosenden Wind; er konzentrierte sich, ließ sich von den Böen umfangen, erspürte sie, so wie Lilli das Karma unter der Brücke erspürt hatte. Der Wind kam aus verschiedenen Richtungen, blies offenbar willkürlich mal von hier, mal von dort und fühlte sich seltsam unentschlossen an. Plötzlich kribbelten Nates Nackenhärchen.

»Ich gehe«, verkündete er.

»Wohin?«, fragten die anderen gleichzeitig.

»Ins Auge des Sturms.«

»Wie bitte?«, sagte Sandy.

»Warum?«, fragte Richie.

»Weil Flappy dort ist.«

 

Nate war im Begriff, das große Boot startklar zu machen, als Sandy und Richie angerannt kamen und an Bord sprangen.

»Nate!«, rief Sandy. »Jetzt warte doch mal und denk nach. Ist das ein logischer Entschluss oder eine impulsive Handlung?«

»Du hast doch von den vier Elementen gesprochen, stimmt’s?«, entgegnete Nate. »Feuer, Erde, Luft und Wasser.«

»Ja«, sagte sie.

»Der Dämonenfresser hat Kail gejagt, die Erde, dann Zunder, das Feuer. Dieser Sturm hier ist Luft. Und es ist Flappy. Ich kann ihn spüren.«

»Aber du lässt das Haus unbewacht zurück.«

»Der Dämonenfresser hat sich nebenbei ein paar kleinere Manifestationen einverleibt – Bier- und Spielplatzdämonen, Lillis Graffiti, die lebendig gewordene Troll-Statue –, aber seine richtigen Mahlzeiten sind die Elementardämonen der ersten Ebene. Als Zunder und Kail sich gezeigt haben, hat er sie sofort gejagt, und Flappy ist inzwischen so groß geworden, dass ich seine Gegenwart im Sturm spüre. Der Dämonenfresser spürt ihn auch.«

Nate löste ein Tau von der Seitenklampe. Sandy sah noch nicht überzeugt aus. »Weißt du, Flappy war mein erster Gehilfe. Er hat mir immer zur Seite gestanden. Diese Loyalität muss ich ihm nun auch erweisen. Außerdem«, fügte er hinzu, »hoffe ich, dass das Haus nicht unbewacht bleibt.« Er warf Sandy einen flehenden Blick zu.

Sie seufzte. Sich mit einem Dämonenhüter einzulassen war ihre eigene Entscheidung gewesen. Die Beziehung war manchmal ziemlich chaotisch und sogar gefährlich. Verglichen mit ihrem einfachen geordneten Leben als junge Bibliotheksassistentin war es aber immerhin richtig spannend. Doch Nate sah, dass es Sandy nicht behagte, zurückgelassen zu werden.

»Ich tue es noch dieses eine Mal, Nate«, sagte sie. »Aber wenn du das nächste Mal zu einem Abenteuer aufbrichst und mich nicht mitnimmst, werde ich bei deiner Rückkehr nicht mehr da sein.«

Selbst in seiner Eile hielt Nate inne. Sandy plapperte nie gedankenlos daher oder bluffte – sie war ein offener und direkter Mensch und tat immer genau das, was sie sagte. Er sah, dass sie es ernst meinte. Er überlegte einen Moment, dann nickte er. »Verstehe«, sagte er, trat zu ihr heran und gab ihr einen Kuss. Diesmal verfehlte er ihren Mund nicht ... oder ihre Zunge. Auch fanden seine Hände die Rundungen ihrer Hüften. Und trotz seiner Eile ließ er sich Zeit. Sandy lächelte, als er sie schließlich losließ, und stieg zurück an Land.

»Richie«, rief Nate. »Du bist mein Lehrling. Hilf mir, das Boot startklar zu machen und es durch die Schleusen in den Puget-Sund hinauszufahren!«

Richies Miene erstrahlte. »Aye-aye, Sir!«, sagte er, flitzte über das Boot und zog die Abdeckplanen von allerlei seltsamen Gerätschaften. Netze, Käfige und hölzerne Rüstungsteile kamen zum Vorschein. Zum ersten Mal sah er den Namen des Kutters – WANDERER. Als er eine Plane von einem großen Gebilde auf dem Vorderdeck herabzog, schossen seine Brauen in die Höhe. Ein schlanker Stahllauf war an einem aufs Deck genieteten Drehständer befestigt. Ein zusammengerolltes Seil führte an der Seite in das Gerät hinein, und aus der Spitze des Laufs ragte ein eiserner Widerhaken. Es war eine Harpunenkanone.

»Cool«, sagte Richie. Er löste das letzte Tau und erstattete Meldung. »Käpt’n, alles erledigt. Wir sind startklar«, rief er, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er als Hilfsmatrose keinen einzigen echten Seefahrer-Ausdruck kannte; trotzdem war er hocherfreut, überhaupt an Bord zu sein.

Nate winkte Sandy zu.

»Wie kann ich helfen?«, rief sie und klang mehr denn je wie eine brave Bibliothekarin.

»Pass einfach auf das Haus auf«, antwortete er. »Und sag der Tür, sie soll auf keinen Fall Fremde hereinlassen.«

Dann trat Sandy vom Boot zurück, der Motor erwachte tuckernd zum Leben, und die Jungen schipperten los.