21. Kapitel
Noch eine Bootspartie
Nate steuerte den WANDERER über den See, durch die Ballard-Schleusen und hinaus ins aufgewühlte Wasser des Puget-Sunds. Hinter ihnen schrumpfte Seattle zu einem winzigen Punkt zusammen, während sie an den dunklen, schattenhaften San-Juan-Inseln vorbeituckerten. Der Sturm gewann unablässig an Stärke, und Nate fuhr den Kutter direkt darauf zu, trotz der Funkwarnungen der Küstenwache, sich umgehend im nächsten Hafen in Sicherheit zu bringen.
«Wonach suchen wir eigentlich?«, fragte Richie.
»Nach dem Auge des Sturms. Dort muss Flappy sein.«
Richie starrte mit zusammengekniffenen Augen in die eisigen Windböen, die ihnen auf jedem Wellenkamm entgegenschlugen. Pernikus sprang auf die Reling, um bessere Sicht zu haben.
»Warum denkst du, dass er im Auge des Sturms is?«, brüllte Richie gegen den Wind an.
»Kail ist ein Erddämon und wuchs zu zerstörerischer Größe an, sobald er in die freie Wildbahn entkam. Zunder war ein Feuerdämon und verwandelte sich in ein flammendes Inferno, nachdem der Dürre Mann ihn nicht mehr unter Kontrolle hielt. Flappy ist wahrscheinlich auch mächtig gewachsen. Er ist ein Luftdämon, und ich glaube, er hat diesen Sturm verursacht.« Nate deutete auf den heulenden Wind. »Er wird im Zentrum sein.« Stirnrunzelnd blickte Nate auf das Deck hinab. »Pernikus, runter von der Reling! Wir haben keine Zeit, um anzuhalten, wenn du ins Meer fällst und ich dich rausfischen muss.«
Während Nate und Richie miteinander sprachen, tauchte im Wasser ein breiter Schatten von der Größe einer Limousine auf und glitt neben dem WANDERER her. Nikolai bemerkte ihn, packte Pernikus unsanft am Hals und riss seinen Gefährten von der Reling, gerade als das Wesen aus den Wellen emporschnellte und genau dort, wo eben noch der Kobold gestanden hatte, über die Reling hechtete.
Der Leib des Wesens war segmentiert wie der eines Tausendfüßlers. Die Vorderflossen, mit denen es sich aus dem Wasser abgestoßen hatte, verschwanden plötzlich in schleimigen Körperöffnungen, und an ihrer Stelle schössen glitschige Tentakel heraus und griffen nach den kleinen Dämonen.
RUMMS!
Das Wesen, das einen kugelrunden Kopf und ein riesiges Maul hatte, krachte aufs Deck und verbog die Reling unter sich.
Nik sprang mit Pernikus im Arm zur Brücke hinauf und entging den heranpeitschenden Tentakeln um Haaresbreite. Während der Kutter mit voller Kraft weiterfuhr, zerrte die Strömung das Ungeheuer am glitschigen Bauch in die Wellen zurück. Es platschte überraschend leise ins Wasser, tauchte ab und hinterließ als Zeichen seines Besuchs nur die verbogene Reling und zwei verängstigte Dämonen.
»Naaaaate!«, brüllte Richie. »Was war daaaas?«
Nate stand auf der Brücke und starrte aufs Meer; seine Gehilfen klammerten sich an seine Regenjacke. Er hatte das Wesen nicht genau gesehen.
»Und sag nich, du weißt es nich!«, rief Richie.
Argwöhnisch riss Nate den Kopf herum. »Das war kein Orcawal«, rief er, »und auf keinen Fall war es Flappy.« Aber worum es sich bei dem Wesen handelte, konnte er Richie nicht sagen, denn er hatte nur einen flüchtigen Blick darauf erhascht, bevor es wieder verschwunden war.
WUMM!
Das Boot erbebte.
»Das Ungeheuer rammt uns!«, rief Richie. »Wir gehen unter!«
»Wir gehen nicht unter«, erwiderte Nate. »Aber leg sicherheitshalber die Holzrüstung an. Sie schwimmt.«
Richie tat wie geheißen. Der seltsame Überzug war im Stil eines mittelalterlichen Plattenpanzers geschnitten. Er war riesig und hing wie ein Kleid an ihm, war aber überraschend leicht und bequem, und das uralte Teakholz war selbst in Seattles feuchtem Klima nicht verrottet.
»Komm nach oben, und lös mich ab!«, rief Nate.
Richie kam in seiner Rüstung heraufgeklettert, und Nate überließ ihm das Steuer.
»Fahr direkt in den Sturm hinein«, erinnerte er seinen Lehrling, dann nahm er ein Fernrohr und suchte das Wasser nach dem Wesen ab.
»Wo steckst du?«, murmelte er. »Was bist du?«
»Vielleicht isses abgehauen«, sagte Richie hoffnungsvoll.
Plötzlich vernahmen sie ein lautes, grässliches Kratzgeräusch, das vom Bootsrumpf zu kommen schien. »Glaub ich nicht«, sagte Nate.
Er sprang hinunter aufs Deck, beugte sich über die Reling und fragte sich kurz, ob das Wesen aus dem Wasser schießen und ihn packen würde wie ein springender Lachs, der sich eine Fliege schnappt. Er blickte hinab und entdeckte bestürzt die Ursache für das Kratzgeräusch. Riesige Krebsscheren hatten den Kutter von beiden Seiten gepackt und bohrten sich in den Rumpf. Das Wesen ließ sich von ihnen mitziehen.
»Es ist riesig«, seufzte Nate. Sie mussten es irgendwie abschütteln. Schon sickerte das erste Wasser durch ein Loch in der Bordwand des hölzernen Gefährts.
Nate blickte sich um, dann eilte er zum Bug, wo der große Anker lag. Er band schnell ein Netz daran fest und legte einen Hebel an einer der mechanischen Apparaturen um. Eine Maschine sprang an, die sich durch mehrere Gänge schaltete und dann das Netz über den Bug hinaushob und langsam absenkte. Nate bedeutete Nik, den Anker ins Meer zu werfen.
Das Netz sank ins Wasser, und das Boot fuhr direkt darüber hinweg, so dass es an der Unterseite des Gefährts entlangstrich, sich um den Angreifer legte und ihn, als Momente später der Anker in die Fluten stürzte, vom Rumpf losriss.
KNIRSCH!
Der Kutter bäumte sich auf, während die Scheren knapp über der Wasserlinie eine Holzplanke aus der Bordwand rissen. Nate packte die Reling. Nik flog an ihm vorbei, purzelte durch Regen und Wind. Nate packte Pernikus am Schweif, während der Kobold Niks fellbedecktes Bein festhielt. Beide Gehilfen baumelten über dem Wasser.
Plötzlich durchbrachen sie den Sturm, und das Boot erreichte ruhiges Fahrwasser. Pernikus zog Nik herauf, und Nate half den beiden, sich wieder an Bord zu hangeln.
Richie zog den Gashebel zurück. «Was jetzt?«
«Wir sind angekommen«, sagte Nate.
»Wo?«
»Im Auge des Sturms.«