26. Kapitel

Exodus

Nate stürmte auf den Dachboden und schlug die Metalltür hinter sich zu. »Der Abstellraum«, japste er.

In den Abstellräumen gewöhnlicher Häuser sammelte sich über die Jahre hinweg alles mögliche Gerümpel an, in Nates Fall aber waren es Jahrhunderte, und das Gerümpel war dämonischer Natur. Der Dachboden war vollgestopft mit tausenden von chaotischen Wesen – bizarren Gegenständen, Luftzügen, Geräuschen, Gerüchen, Erscheinungen, körperlichen Manifestationen, lebenden Pflanzen und hoch aufgetürmten Kartons, in denen jeder nur erdenkliche dämonische Krimskrams lagerte. Nate verbarrikadierte die Tür mit der schweren Eisenstange und trat leise in die Dachkammer – es war besser, die Wesen nicht aufzuschrecken.

Einige duckten sich. Andere wirbelten herum und starrten Nate an. Wieder andere plapperten albernes Zeug. Aber sie erkannten ihn alle als Hüter. Einige von ihnen lagen im Sterben, die ganz alten, deren Chaos allmählich versiegte. Sie besaßen nicht mehr die Kraft, ihn zu ärgern. Und vor dem Dämonenfresser fliehen konnten sie erst recht nicht mehr, dachte Nate.

Die Sachen waren so hoch aufgetürmt, dass Nate sich zwischen den aufgereihten Gerätschaften durch enge Gassen zwängen musste; einige Gegenstände regten sich, andere lagen apathisch da. Nate stieß gegen einen Karton, und hunderte kleiner Schleimwesen ergossen sich über den Boden. Flugs ballten sie sich zu einem einzigen Geschöpf zusammen, das, genährt von der kollektiven Unruhe, zum Dachbalken hinaufschnellte, wo es mit dem Holz und den Schatten verschmolz und sofort wieder einschlief.

Nate eilte weiter und bahnte sich einen Weg zu dem drei Meter breiten Panoramafenster auf der Vorderseite des Hauses. Dort blieb er stehen und starrte auf Seattle hinab. Er hatte seine Entscheidung schon getroffen und sagte mit einer Mischung aus Bedauern und Hoffnung zu seinen Schutzbefohlenen: »Es ist eine große schlimme Welt dort draußen, und es wird niemanden geben, der euch in Sicherheit bringt. Ich werde euch nicht belügen. Einige von euch werden umkommen. Aber ich kann euch hier nicht mehr beschützen.« Er nickte, als müsste er sich noch immer selbst überzeugen, dass er das Richtige tat. »Ich bitte euch nur, es den Menschen nicht allzu schwer zu machen. Sie sind eigentlich ganz in Ordnung. Sie verstehen euch nur nicht, aber es kann für euch einen Platz unter ihnen geben.«

Nate hob einen Kleiderständer an, der im Gegenzug versuchte, sich vorzubeugen und ihm die Jacke abzunehmen. Er hielt den Ständer schräg, schwang ihn in weitem Bogen herum und schlug damit das große Panoramafenster ein.

KLIRR!

»Verzeih mir, Seattle«, flüsterte er.

Die Dämonen auf dem Dachboden wurden munter. Sie starrten herüber, dann schlichen einige auf Nate zu, um nachzusehen, was los war. Der erste, der das Fenster erreichte, war ein altes Kamerastativ, das immer wackelte, wenn jemand versuchte, ein Foto zu machen. Es stakste an Nate vorbei und stellte vorsichtig ein Bein aufs Fensterbrett. Als Nate es nicht davon abhielt, kletterte es hinaus und war verschwunden.

»Geht ruhig.« Nate nickte den anderen aufmunternd zu.

Einer nach dem anderen verließen sie das Haus in dem Glauben, nur Nate zu entfliehen. Sie begriffen nicht, dass sie in Wahrheit einem Raubtier entkamen, das schon unterwegs war, um sie zu fressen.

Als Nächstes begannen die Phantomgeräusche und -gerüche hinauszuströmen. Geflüster-im-Dunkeln zog an Nates Ohren vorbei, zum Verrücktwerden leise Worte, wie eine wichtige, sich endlos wiederholende Botschaft, die man niemals richtig versteht. Betörende Zimtdüfte, die Nate in Versuchung führten, die Nasenflügel zu blähen, kamen vorbei, gefolgt von einem unerwarteten, säuerlichen Gestank nach Hundekot.

Alles, was fliegen konnte, schwebte hinaus und ließ sich vom Wind davontragen.

Aus dem Tröpfeln wurde ein Strom, dann eine Sturzflut, und die Dämonen schossen aus dem Fenster, als würden sie im Vakuum des Weltalls aus einem Raumschiff gesaugt. Die zum Greifen nahe Freiheit erweckte viele von ihnen zu neuem Leben. Einige wurden rasch größer, sobald sie der Enge des Dachbodens entkamen, so wie Zunder, Kail und Flappy, als sie das Haus verlassen hatten. Nate wusste, dass sie mit den Menschen aneinandergeraten würden. Doch sie verdienten es zu leben, und mit dem Chaos zurechtzukommen war schließlich ein Teil des menschlichen Daseins. Es war immer noch besser, als sie sterben zu lassen, und Nate stand daneben und sah zu, während ein Massenexodus aus dem Fenster polterte wie eine vorbeidonnernde Büffelherde.

Nachdem die eifrigsten der selbstmotivierten Dämonen das Weite gesucht hatten, begann Nate, die Kartons mit den weniger agilen Exemplaren aus dem Fenster zu kippen, und hielt nur inne, um größeren Nachzüglern auszuweichen, die plötzlich an ihm vorbeischossen. Er musste noch immer Entscheidungen treffen. Eine Kamera, die absichtlich immer dann ein Foto gemacht hatte, wenn man gerade blinzelte, hatte keine Priorität – solche Kameras gab es in Massen –, aber er sorgte dafür, dass der mittelalterliche Helm, der laute Pupsgeräusche von sich gab, wenn man ihn aufsetzte, in die Freiheit entkam. Dabei fragte er sich, wie viele Ritter der Helm wohl seinerzeit auf diese Weise blamiert hatte.

Bald waren fast alle Dämonen, die seine Vorgänger über die Jahrhunderte hinweg hier angehäuft hatten, auf und davon, und Nate beobachtete seufzend, wie sie nach und nach in Seattles verregneten Abend entschwanden. Er fragte sich, ob die anderen dasselbe getan hätten, wären sie an seiner Stelle gewesen.

BUMM! BUMM! BUMM!

Nate erwachte aus seiner Erstarrung, wandte sich um und sah, wie der hölzerne Rahmen der Metalltür zersplitterte. Es folgte ein Moment der Stille, dann explodierte die Tür nach innen. Er ging in Deckung, als die Tür an ihm vorbeiflog, um genau an der Stelle gegen die Wand zu prallen, wo er eben noch gestanden hatte. Der Dämonenfresser streckte seinen runden Kopf durch das grobe Loch in der Wand; seine Glupschaugen suchten den Dachboden ab, die spitzen Reißzähne knirschten.

Nate sprang auf, während das Ungeheuer seinen Oberkörper durch die Öffnung zwängte. Es war noch größer geworden, nachdem es die Dämonen in den unteren Stockwerken verschlungen hatte. Immer neue Gliedmaßen schossen aus den glitschigen Gelenkpfannen hervor – Klauen, Pranken, Scheren –, was immer gerade nötig war, um die Wände und Dachbalken niederzureißen. Reiß- und Stoßzähne rotierten in seinem Maul und bearbeiteten abwechselnd den Wandputz.

Nate trat zur Seite, um einem heraneilenden Paar Schuhe Platz zu machen, die ihre Besitzer immer an Orte brachten, zu denen diese eigentlich gar nicht wollten – einmal hatte er sie angezogen und war unbeabsichtigt auf den Friedhof gegangen, wo der Grabstein seiner Eltern stand. Hinterher war er froh darüber gewesen, aber er hatte die Schuhe nie wieder angezogen. Sie sprangen aus dem Fenster, dann wandte Nate sich zu dem Ungeheuer um, das seinen massigen Leib nun vollends durch die Tür gezwängt hatte.

 

Calamitous hielt inne und betrachtete die Schar der Dämonen, die sich noch auf dem Dachboden befanden.

Er hatte damit begonnen, Dämonen zu fressen, als er Jahrhunderte zuvor einmal auf hoher See festsaß und sein Überleben hatte sichern müssen, aber jetzt ernährte er sich ausschließlich von ihnen, stellte ihnen unerbittlich nach, und sie hatten ihn verändert. Er nahm immer die Gestalt an, die ihm bei der Jagd nach ihnen am dienlichsten war – am ergiebigsten war eine monströse Version der am besten organisierten organischen Geschöpfe auf Erden, der Insekten, der natürlichen Feinde des Chaos. Als Mensch zu erscheinen war lediglich eine nützliche Verkleidung gewesen.

Er starrte durch den Raum. Nichts stand mehr zwischen ihm und dem jungen Hüter, nichts konnte ihn noch aufhalten. Der Junge musste verschwinden, beschloss er. Im Gegensatz zu dem hübschen Mädchen war der Bursche ein Krieger. Er kämpfte für seine Dämonen wie ein Schäfer, der seine Herde verteidigt. Selbst jetzt verhalf er ihnen noch zur Flucht. Dieser Hüter war eine lästige Plage, und deshalb war die Sache ganz einfach: Der Junge durfte nicht am Leben bleiben. Mit diesem Gedanken und dem Versprechen auf eine weitere ungehinderte Dämonen-Fressorgie gab Calamitous die letzten Reste seines menschlichen Selbst willentlich dem Geschöpf hin, zu dem er geworden war, und machte seinen monströsen schleimigen Leib zum Angriff bereit.

 

Sandy und Richie kamen in die Eingangshalle und sahen Lilli aufrecht an der Wand sitzen; neben ihr hockte Zoot.

»Was ist passiert?«, stöhnte Lilli.

Sandy kniete sich hin und starrte in Lillis grüne Augen. »Ihre Pupillen sind verschieden groß und ganz verschleiert. Ich glaube, sie hat eine Gehirnerschütterung.«

»Lasst sie uns raustragen«, sagte Richie und packte Lilli unter den Armen. »Nik, komm her. Hilf mir.«

Sandy schaute zum abgeplatzten Putz empor, wo Lilli gegen die Wand geprallt war, und hielt Richie auf. »Sie könnte sich etwas gebrochen haben«, warnte sie. »Wir sollten sie lieber nicht bewegen.«

»Mag sein«, sagte Richie, »aber hier liegen lassen können wir sie auch nich. Da oben is ein Ungeheuer ...«

Er erstarrte. Die Eisentür auf der anderen Seite der Eingangshalle war aufgebrochen. Sie hing lose in einer Angel. »Wir müssen sofort verschwinden«, flüsterte er Sandy zu. Er lenkte ihr Augenmerk auf die Tür. »Das TIER«, sagte er und musste nichts weiter erklären.

Sandy packte Lilli an den Beinen und half Richie und Nik, sie durch die Eingangshalle zu schleppen. Sie standen mit Lillis schlaffem Körper auf der untersten Treppenstufe vor dem Haus, als über ihnen plötzlich das Dachbodenfenster zerbarst.

SCHEPPER!

»Seht mal!«, rief Sandy aus.

Dämonen wimmelten aus dem zerborstenen Fenster, flogen, krochen und purzelten zu ihnen herab.

»Ist Nate tot?«, brüllte sie Richie an und wich einem herabfallenden weißen Schleimklumpen aus, der nach Schwefel roch, auf den Rasen spritzte und sogleich im Boden versickerte.

»Nein«, sagte Richie, »er lässt sie frei.«

Immer mehr Dämonen spie das zerbrochene Fenster in den Garten hinaus. Die meisten überlebten. Einige starben. Viele verschmolzen rasch mit ihrer Umgebung und verschwanden aus Sandys Blickfeld. Für die lebenden Möbelstücke war es schon schwieriger, sich zu verstecken, deshalb blieben sie einfach auf dem Rasen stehen und taten so, als wären sie ganz normale Möbel.

Instinktiv versuchten Sandy und Richie, die ersten, die sie sahen, zu retten. Sandy breitete ihre Jacke zu einem Sprungtuch aus und fing einen zappelnden kleinen Staubdämon auf, der ihr sofort in die Nase stieg und einen Niesanfall auslöste. Richie stürzte sich mit einem Satz auf einen gierigen Sabberdämon, der gerne Hunden nachstellte. Andere hingegen wurden auf dem Gehweg zerschmettert, oder sie krümmten sich in schmerzhaften Verrenkungen auf dem Rasen. Ein Speisezimmerstuhl brach sich ein Bein, und seine hohen Schmerzensschreie waren so durchdringend, dass Richie sich fragte, ob er ihn nicht von seinem Leiden erlösen sollte; die Beine waren für einen Stuhl genauso wichtig wie für ein Rennpferd. War erst einmal eins gebrochen, würde der Stuhl nie wieder der alte sein. Mit einigen der Dämonen konnten sie einfach nicht umgehen. Als eine Garnitur Küchenmesser herabregnete, blieb ihnen nichts anderes übrig, als auszuweichen; und der Umstand, dass die Messer sich in einem Muster ins Gras bohrten, das den Namen N-A-T-E ergab, war ein wenig beunruhigend.

Richie blickte zum Fenster hinauf, während sich weitere Dämonen ins Freie ergossen. Vielleicht hatte Sandy ja recht, dachte er, und Nate war längst tot.

Während die beiden im Garten umhereilten, setzte Nik Lilli an den VW-Käfer gelehnt auf den Bürgersteig, und Zoot bedeckte sie wieder mit seiner pinkfarbenen Hülle, die er derart zerfließen ließ, dass er wie ein Teil des Autos wirkte und Lilli vor jedwedem Wahnsinn verbarg, der noch aus dem riesigen zerbrochenen Fenster oben im Haus kommen mochte.

 

Auf dem Dachboden zerrte der Dämonenfresser den letzten Zipfel seines unförmigen Leibes aus der Wandöffnung.

Nate wich zurück und scheuchte noch ein paar quälend langsame Dämonen aus dem Fenster.

»Macht schon, bewegt euch ...«, drängte er sie.

Der Dämonenfresser wand sich wie eine fette Schlange, wackelte auf seinem ausgebeulten Bauch hin und her; er war zu aufgebläht, um sich mit Armen und Beinen abzustützen. Sie ragten aus seinem segmentierten Körper wie dünne Stöcke, die in einem Schneemann steckten, ohne den Boden zu berühren.

»He, du!«, brüllte Nate den Kleiderständer an, mit dem er das Fenster eingeschlagen hatte. »Du bist der Letzte! Raus!« Der Ständer sprang hinaus. Nate schaute traurig zu. Der Rest der Dämonen würde es nicht mehr schaffen.

Die Vorhänge wehten in die Nacht hinaus, während Calamitous seinen langen Leib durch den Raum schlängelte. Plötzlich schrie er auf und kam auf Nate zugeschossen wie eine Sidewinder-Rakete, die über den Wüstenboden hinwegjagt. Er pflügte durch die restlichen Dämonen – die Langsamen, die Schwachen und andere, die Nate nicht mehr hatte retten können – und schaufelte sie sich ins aufgerissene Maul.

Nate stürzte ans Fenster und blickte hinunter. Bestürzt sah er die zerschmetterten Leiber all der Dämonen, die den Zwölf-Meter-Sprung nicht überlebt hatten. Auch er würde es nicht heil überstehen. Dämonenhüter waren keine Zauberer – das hatte er Richie immer wieder versichert. Er war ein ganz normaler Mensch, der lediglich das Chaos so sehen konnte, wie es auf der Welt in Wahrheit existierte.

»Ich kann nicht fliegen ...«, murmelte er, während die Vorhänge panisch hin und her flatterten. Sie schienen genauso dringend wegzuwollen wie er selbst.

»O mein Gott!«, brüllte er, packte die Gardinenstange, riss sie los, stieß sich vom Fensterbrett ab und sprang in die Tiefe.