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Selbst nach Morganviller Maßstäben hätte Claires Tag wohl kaum schlimmer anfangen können... und dann wollten die Vampire, von denen sie als Geisel gehalten wurden, auch noch Frühstück.
»Frühstück?«, wiederholte Claire verdutzt. Sie warf einen Blick zum Wohnzimmerfenster, nur um sich zu vergewissern, dass - ja, draußen war es noch immer dunkel. Und es wurde immer dunkler.
Die drei Vampire schauten sie an. Es war schon schlimm genug, diese Art von Aufmerksamkeit von den beiden zu bekommen, die ihr noch gar nicht richtig vorgestellt worden waren - ein Mann und eine Frau, beide auf gespenstische Art gut aussehend. Aber als sich die kalten Augen des alten Mr Bishop auf sie richteten, hätte sie sich am liebsten in einer Ecke zusammengerollt und versteckt.
Sie hielt seinem Blick volle fünf Sekunden stand, dann schaute sie zu Boden. Sie konnte geradezu fühlen, dass er lächelte. »Frühstück«, sagte er leise. »Frühstück ist das, was man morgens zu sich nimmt. Wann Morgen ist, entscheidet bei uns Vampiren nicht der Sonnenaufgang. Im Übrigen nehme ich Eier.«
»Rührei oder gewendetes Spiegelei?«, fragte Claire und versuchte dabei, nicht so nervös zu klingen, wie sie war. Sag nicht gewendetes Spiegelei. Ich weiß nicht, wie man gewendete Spiegeleier macht. Ich weiß nicht mal, warum ich das gesagt habe. Sag nicht gewendetes Spiegelei...
»Rührei«, sagte er und Claire atmete erleichtert aus. Mr Bishop hatte sich in dem bequemen Sessel im Wohnzimmer niedergelassen, in dem ihr Mitbewohner Michael gewöhnlich saß, wenn er Gitarre spielte. Anders als bei Michael wirkte der Sessel bei Mr Bishop jedoch wie ein Thron. Das lag teilweise auch daran, dass alle anderen standen - Claire neben ihrem Freund Shane, der nicht von ihrer Seite wich; ein Stückchen von ihnen entfernt Eve und Michael, Hand in Hand. Claire riskierte einen Blick auf Michael. Er sah... gefasst aus. Wütend, klar, aber zumindest hatte er sich im Griff.
Um Shane machte sich Claire da schon mehr Sorgen. Er hatte immer wieder bewiesen, dass er handelte, bevor er nachdachte, zumindest dann, wenn es um die persönliche Sicherheit derer ging, die ihm am Herzen lagen. Sie ergriff seine Hand und er warf ihr einen schnellen, finsteren Blick zu, der schwer zu deuten war.
Nein, bei ihm war sie sich ganz und gar nicht sicher.
Mr Bishops Stimme erregte wieder ihre Aufmerksamkeit, als er sie anblaffte. »Hast du Amelie gesagt, dass ich da bin, Mädchen?«
Das war Bishops erster Befehl gewesen - seiner Tochter mitzuteilen, dass er in der Stadt ist. Seiner Tochter? Amelie - die oberste Vampirin Morganvilles - wirkte nicht menschlich genug, um Verwandtschaft zu haben. Auch nicht Angehörige, die so Furcht einflößend waren wie Mr Bishop. Bei Amelie dachte man an nichts als Eis und Kristall.
Er wartete auf eine Antwort und Claire stieß hastig hervor: »Ich habe sie angerufen. Die Mailbox war dran.« Sie versuchte, nicht allzu defensiv zu klingen. Bishops Augenbrauen zogen sich zu einer finsteren Miene zusammen.
»Ich nehme an, das bedeutet, dass du eine Art Botschaft hinterlassen hast.« Sie nickte stumm. Seine Finger trommelten ungeduldig auf die Armlehne. »Na schön. Wir essen, während wir warten. Rührei, wie ich schon sagte. Dazu Speck, Kaffee...« »Kekse«, sagte die Frau, die an seinem Sessel lehnte. »Ich mag Kekse. Und Honig.« Die Vampirin hatte einen breiten, schleppenden Akzent, nicht direkt einen Südstaatenakzent, aber irgendwie auch wieder doch. Mr Bishop warf ihr einen nachsichtigen Blick zu, so wie ein Mensch sein Haustier anschauen würde. Sie hatte ein eisiges Glitzern in den Augen und bewegte sich so geschmeidig und leise, dass sie keinesfalls als normaler Mensch durchging. Das verbarg sie auch nicht, wie es viele Vampire in Morganville versuchten.
Die Frau lächelte und heftete ihre dunklen Augen auf Shane. Claire gefiel nicht, wie sie ihn anschaute. Es wirkte... gierig. »Kekse«, stimmte Mr Bishop mit einem verschrobenen Lächeln zu. »Und um dich noch mehr zu verwöhnen, mein Kind, gestehe ich dir auch noch Pudding zu.« Sein Lächeln verschwand, als er sich wieder den vieren zuwandte, die vor ihm standen. »Dann macht euch mal an die Arbeit, aber ein bisschen plötzlich.«
Shane packte Claire an der Hand und zerrte sie förmlich in Richtung Küche. So schnell er sich auch bewegte - Michael war zuerst da und schob Eve durch die Tür. »Hey!«, protestierte Eve. »Ich geh ja schon!«
»Je schneller, desto besser«, sagte Michael. Sein Engelsgesicht wirkte starr und kantig, und als alle in der Küche waren, machte er die Tür zu. »Okay. Wir haben keine große Wahl. Lasst uns tun, was er sagt, und hoffen, dass Amelie alles in Ordnung bringt, wenn sie hierher kommt.«
»Ich dachte eigentlich, du seist jetzt der Große Böse Blutsauger«, sagte Shane. »Immerhin ist das dein Haus. Warum wirfst du sie nicht einfach raus?« Das war eine vernünftige Frage und Shane schaffte es sogar, sie nicht herausfordernd klingen zu lassen. Na ja, zumindest nicht allzu sehr. Die Küche fühlte sich kalt an, bemerkte Claire - als würde die Temperatur des ganzen Hauses nach und nach sinken. Sie fröstelte.
»Es ist kompliziert«, sagte Michael. Er riss einige Schränke auf und begann, frischen Kaffee zu machen. »Ja, es ist unser Haus« - dabei lag die Betonung, wie Claire bemerkte, auf unser - »aber wenn ich Bishops Einladung widerrufe, tritt er uns in den Hintern, das kann ich dir garantieren.«
Shane lehnte sich an den Herd und verschränkte die Arme. »Ich dachte nur, du seist in einem Heimspiel stärker als sie...« »Sollte ich eigentlich, bin ich aber nicht.« Michael löffelte Kaffee in den Filter. »Sei jetzt kein Arschloch - dafür haben wir keine Zeit.«
»Mann, das hatte ich doch auch nicht vor.« Und Claire war sich sicher, dass er es dieses Mal auch so meinte. Michael schien das ebenfalls herauszuhören und warf Shane einen entschuldigenden Blick zu. »Ich versuche doch nur herauszufinden, wie tief wir in der Scheiße stecken. Ich mach dir keinen Vorwurf, Mann«, sagte Shane und fügte nach kurzem Zögern hinzu: »Woher weißt du das? Ob du eine Chance hast oder nicht?«
»Bei jedem Vampir, den ich treffe, weiß ich, wo ich stehe. Wer stärker ist, wer schwächer, ob ich ihm gewachsen bin oder nicht, wenn es zu einem direkten Kampf kommt.« Michael goss Wasser in die Kaffeemaschine und schaltete sie ein. »Ich weiß, dass ich bei diesen Typen nicht den Hauch einer Chance habe. Nicht gegen einen von ihnen und erst recht nicht gegen alle drei, nicht mal wenn mir das Haus Rückendeckung gibt. Das sind echt knallharte Typen, Mann. So richtig böse. Dafür braucht es Amelie oder Oliver.«
»Also stecken wir bis zum Hals in der Scheiße«, sagte Shane. »Gut zu wissen.«
Eve schob ihn aus dem Weg und fing an, laut klappernd Töpfe und Pfannen aus den Schränken zu ziehen. »Da wir nicht kämpfen, machen wir jetzt wohl besser Frühstück«, sagte sie. »Claire, du machst die Eier, immerhin warst du diejenige, die angeboten hat, dass wir als Köche einspringen.«
»Besser als wenn sie uns zum Frühstück angeboten hätte«, hielt Shane dagegen und Eve schnaubte.
»Du«, sagte sie und bohrte ihren Finger in sein abgetragenes T-Shirt. »Du, Mister, machst den Pudding.«
»Du willst wohl, dass wir alle sterben, oder?«
»Halt die Klappe. Ich sorg für Kekse und Speck. Michael...«
Sie wandte sich um und schaute ihn aus großen, dunklen Augen an, die durch den Goth-Eyeliner fast so riesig waren wie bei einer Anime-Figur. »Kaffee. Und ich glaube, du wirst unser Spion sein müssen. Sorry.«
Er nickte. »Ich werde herausfinden, was sie machen, sobald ich hier fertig bin.«
Michael mit Servieren und Spionage zu beauftragen, war sinnvoll, aber dadurch blieb der größte Teil der Arbeit an ihnen dreien hängen - und keiner von ihnen war unbedingt ein Sternekoch in spe. Claire kämpfte mit dem Rührei. Eve fluchte verhalten, wenn auch grimmig über ihrem ausgelassenen Speck, und was immer Shane da gerade machte - es sah nicht besonders nach Pudding aus.
»Kann ich helfen?«
Die Stimme ließ sie aufschrecken und Claire wirbelte zur Küchentür herum. »Mom!« Sie wusste, dass sie panisch klang. Sie war panisch. Sie hatte ihre Eltern ganz vergessen - sie waren mit Mr Bishop angekommen und Bishops Freunde hatten sie in den nur selten benutzten Salon vorne im Haus abgeschoben. Unter all den Furcht einflößenden Dingen hatte Bishop den ersten Platz eingenommen.
Aber nun stand ihre Mutter in der Küchentür, lächelte ein verletzliches, verwirrtes Lächeln und sah so... verwundbar aus. Erschöpft.
»Mrs Danvers!«, sprang Eve ein, sie eilte herbei und führte sie zum Küchentisch. »Nein, nein, wir... ähm... bereiten nur etwas zu essen zu. Sie haben noch nicht gegessen, oder? Wie steht es mit Mr Danvers?«
Claires Mutter sah man jedes einzelne ihrer zweiundvierzig Jahre an, auch wenn sie ihr Alter immer abstritt. Sie sah müde aus, schwach und irgendwie durcheinander. Und besorgt. Sie hatte Fältchen um Augen und Mund, die Claire noch nie zuvor bemerkt hatte, und das machte ihr Angst.
»Er ist...« Claires Mom runzelte die Stirn, dann griff sie sich an den Kopf. »Oh, ich habe solche Kopfschmerzen. Tut mir leid. Was hast du gesagt?«
»Ihr Mann, wo ist er?«
»Ich suche ihn«, sagte Michael ruhig. Er schlüpfte mit der Eleganz und Schnelligkeit eines Vampirs aus der Küche - aber wenigstens war er ihr Vampir. Eve ließ Claires Mom am Tisch Platz nehmen, wechselte einen hilflosen Blick mit Claire und plapperte nervös darüber, wie lang doch die Fahrt nach Morganville gewesen sein musste, wie schön es sei, dass sie hierher ziehen würden, wie sehr es Claire genießen würde, sie hier zuhaben und so weiter.
Claire schob wie betäubt die Eier in der Bratpfanne hin und her. Das kann nicht sein. Meine Eltern können nicht hier sein. Nicht jetzt. Nicht mit Bishop. Es war in jeder Hinsicht ein Albtraum.
»Ich kann euch kochen helfen«, sagte ihre Mom und machte einen schwachen Versuch aufzustehen. Eve blitzte Claire an und formte Sag etwas! mit den Lippen. Claire schluckte eine kalte Welle der Panik hinunter und versuchte, ihre Stimme so klingen zu lassen, als hätte sie sie wenigstens teilweise unter Kontrolle.
»Nein, Mom«, sagte Claire. »Schon gut. Wir kommen klar. Hör mal, wir machen noch ein bisschen mehr, falls ihr hungrig seid, du und Dad. Bleib einfach sitzen und entspann dich.«
Ihre Mom, die in der Küche normalerweise ein Kontrollfreak de luxe war und selbst bei so etwas Idiotensicherem wie Wasserkochen das Kommando übernahm, sah erleichtert aus. »In Ordnung, Liebes. Sag mir Bescheid, wenn ich helfen kann.«
Michael öffnete die Küchentür und führte Claires Vater herein. Wenn ihre Mom erschöpft aussah, so war Dads Miene einfach nur... verständnislos. Verdutzt. Er warf Michael einen finsteren Blick zu - er schien herausfinden zu wollen, was da gerade passierte, konnte aber den Finger nicht darauf legen.
»Was geht hier vor?«, bellte er Michael an. »Diese Leute da draußen... „
»Verwandte«, sagte Michael. »Aus Europa. Hören Sie, es tut mir leid. Ich weiß, Sie wollten Zeit mit Claire verbringen, aber vielleicht sollten Sie einfach nach Hause gehen und wir werden... „
Er hielt inne und wandte sich um, weil jemand hinter ihm in der Küchentür stand. Jemand war ihm gefolgt.
»Niemand geht irgendwohin«, sagte einer von Bishops Vampirkumpanen - der Mann. Er lächelte. »Eine große, glückliche Familie, was, Michael? Du heißt doch Michael, oder?«
»Sind wir jetzt schon beim Vornamen oder was?« Michael schob Claires Dad in die Küche und machte dem anderen Vampir die Tür vor der Nase zu.
»Okay. Wir schaffen Sie jetzt hier raus«, sagte er zu Claires Eltern und öffnete die Hintertür, die in den Hinterhof hinausführte. »Wo steht Ihr Auto? Auf der Straße? „
Die Nacht draußen sah schwarz und leer aus, nicht mal der Mond zeigte sich. Claires Dad schaute Michael wieder finster an, dann setzte er sich zu seiner Frau an den Küchentisch.
»Mach die Tür zu, Junge«, sagte er. »Wir gehen nirgendwohin.«
»Sir... „
Claire startete ebenfalls einen Versuch. »Dad... „
»Nein, Liebes, hier geht etwas Merkwürdiges vor, ich werde jetzt nicht gehen. Nicht bevor ich weiß, dass mit euch alles in Ordnung ist.« Ihr Vater wandte seinen finsteren Blick erneut Michael zu. »Wer sind diese... Verwandten?«
»Die Sorte, die niemand gern hat«, sagte Michael. »Die gibt es in jeder Familie. Aber sie sind nur kurze Zeit hier. Bald gehen sie wieder.«
»Dann bleiben wir, bis sie gehen«, sagte Dad.
Claire versuchte, sich auf ihr Rührei zu konzentrieren.
Ihre Hände zitterten.
»Hey«, sagte Shane leise und lehnte sich zu ihr herüber. »Es ist okay. Alles wird gut.« Sie fühlte seine enorme, solide, warme Präsenz neben sich, während er in etwas rührte, dass auf gar keinen Fall Pudding sein konnte. Das wusste sie hauptsächlich deshalb, weil Shanes einzige kulinarische Fähigkeiten im Bereich von Chili angesiedelt waren. Aber wenigstens versuchte er es, was neu und anders war, und zeigte, wie ernst er das alles nahm.
»Ich weiß«, sagte Claire und schluckte. Shanes Arm presste sich an ihren, was Absicht war, denn sie wusste, dass er die Arme um sie legen würde, wenn er nicht gerade die Hände voll hätte. »Michael würde nicht zulassen, dass sie uns etwas tun.«
»Habt ihr eigentlich nicht zugehört?«, flüsterte Eve erbittert, als sie zu ihnen an den Herd kam. Sie starrte finster auf den Speck. »Er kann sie nicht aufhalten. Bestenfalls wird er selbst dabei verletzt. Deshalb solltest du vielleicht besser Amelie noch mal anrufen und ihr sagen, dass sie ihren verdammten Hintern hier rüberschwingt, und zwar sofort.«
»Ja, großartige Idee, den einzigen Vampir zu verärgern, der uns helfen kann. Hör mal, ich glaube, wenn sie uns hätten töten wollen, hätten sie nicht vorher Eier verlangt«, sagte Shane. »Ganz zu schweigen von Keksen. Wenn man nach Keksen fragt, fühlt man sich eindeutig als eine Art Gast.«
Da war etwas dran. Claires Hände horten dennoch nicht auf zu zittern.
»Claire, Schatz?« Wieder die Stimme ihrer Mutter. Claire zuckte zusammen und hätte beinahe einen Pfannenwender voll Ei auf den Herd geschleudert. »Diese Leute. Was tun sie hier eigentlich?«
»Mr Bishop - er, ähm, wartet darauf, dass seine Tochter ihn hier abholt.« Das war nicht gelogen. Überhaupt nicht.
Claires Vater stand vom Tisch auf und ging zur Kaffeemaschine, die zischend volllief; er schenkte zwei Tassen ein und trug sie zurück zum Tisch. »Trink einen Kaffee, Kathy. Du siehst müde aus«, sagte er und in seiner Stimme lag etwas Zärtliches, das Claire scharf zu ihm hinüberblicken ließ. Ihr Dad war nicht gerade der emotionale Typ, aber jetzt sah er besorgt aus, fast so besorgt wie Mom.
Dad stürzte seinen Kaffee hinunter wie ein Glas Wasser nach einem heißen Nachmittag am Rasenmäher. Mom schüttete teilnahmslos Kaffeesahne und Zucker in ihre Tasse und nippte daran. Keiner von ihnen sagte mehr ein Wort.
Michael schlüpfte aus der Küchentür, um den anderen drinnen Kaffee zu bringen. Als er zurückkam, schloss er die Tür und lehnte sich einen Augenblick lang dagegen. Er sah aschfahl aus, angespannt, schlimmer als in den Monaten, in denen er sich voll zu einem Vampir entwickelt hatte. Claire versuchte, sich vorzustellen, was sie zu ihm gesagt haben könnten, dass er so aussah, aber es wollte ihr nichts einfallen. Etwas Schlimmes. Nein, etwas Furchtbares.
»Michael«, sagte Eve angestrengt. Sie nickte zu Claires Eltern hin. »Noch Kaffee?«
Er nickte und rückte von der Tür weg, um die Kaffeekanne zu holen, aber er schaffte es damit nicht mal bis zum Frühstückstisch. Die Küchentür öffnete sich erneut und Mr Bishop und seine Eskorte betraten den Raum.
Groß und hochmütig wie eine Königsfamilie aus dem neunzehnten Jahrhundert musterten die drei Vampire die Küche. Die beiden jungen Vampire waren gut aussehend und Furcht einflößend, aber Mr Bishop hatte das Sagen; das war unmissverständlich. Als sein Blick auf Claire fiel, zuckte sie zusammen und wandte sich wieder den brutzelnden Eiern zu.
Die Vampirin schlenderte zum Herd und steckte ihren Finger in den Pudding, den Shane gerade rührte, dann hob sie den Finger langsam zu den Lippen und lutschte ihn sorgfaltig ab. Dabei starrte sie die ganze Zeit Shane an. Und Shane starrte unverhohlen zurück, wie Claire hilflos und mit einem unangenehmen Schrecken feststellte.
»Wir setzen uns jetzt zum Essen«, sagte Bishop zu Michael. »Du wirst das Vergnügen haben, uns zu bedienen, Michael. Und wenn deine kleinen Freunde hier beschließen, mich zu vergiften, dann bist du geliefert, und glaub mir, ein Vampir kann sehr, sehr lange leiden, wenn ich es möchte.«
Michael schluckte und nickte. Claire warf einen Blick zu ihren Eltern hinüber, die das unmöglich verpasst haben konnten.
Hatten sie auch nicht. »Entschuldigen Sie?«, sagte Claires Vater und wollte sich von seinem Stuhl erheben. »Wollen Sie diesen Jugendlichen etwa drohen?«
Bishop richtete diese kalten Augen auf ihn und Claire überlegte verzweifelt, ob ein heißer Pfannenwender aus Eisen und eine Pfanne voll Rührei wohl nützliche Waffen gegen Vampire abgeben könnten. Ihr Dad erstarrte in seiner Bewegung.
Sie fühlte etwas wie eine Welle durch den Raum laufen und die Augen ihrer Eltern wurden ausdruckslos und vage. Ihr Dad sank schwer auf seinen Stuhl zurück.
»Schluss mit den Fragen«, sagte Bishop zu ihnen. »Euer Geschwätz ermüdet mich.«
Claire fühlte pure heiße Wut in sich aufsteigen. Am liebsten hätte sie sich auf den bösen alten Mann gestürzt und ihm die Augen ausgekratzt. Das Einzige, was sie in diesen beiden langen Sekunden zurückhielt, war die Tatsache, dass sie alle sterben würden, wenn sie es versuchte.
Selbst Michael.
»Kaffee?«, unterbrach Eve die Stille, in ihrer Stimme lag eine verzweifelte, leicht zerbrechliche Fröhlichkeit. Sie riss Michael die Kaffeekanne aus der Hand und stürzte sich auf Claires Eltern wie der dunkle Racheengel des Koffeins. Claire fragte sich, was ihre Eltern von Eve hielten mit ihrem Reispuder-Make-up, dem schwarzen Lippenstift, dem waschbärartigen Eyeliner und dem schwarz gefärbten Haar, das zu wilden Stacheln aufgestellt war.
Aber sie bot Kaffee an und sie lächelte.
»Gerne«, sagte Claires Mom und versuchte zaghaft zurückzulächeln. »Danke, Liebes. Dieser Mann ist also ein Verwandter von dir?« Sie blickte Bishop nach, der aus der Küche ging und auf den Esstisch im Wohnzimmer zusteuerte. Der Blick des gut aussehenden jüngeren Vampirs traf Claire; er zwinkerte ihr zu und sie schaute hastig hinüber zu Eve und ihren Eltern.
»Nee«, sagte Eve und versuchte, ihre Angst mit der aufgesetzten Fröhlichkeit zu überspielen. » Entfernte Verwandte von Michael. Aus Europa, wissen Sie? Kaffeesahne?«
»Eier sind fertig«, sagte Claire und machte den Gasherd aus. »Eve... „
»Ich hoffe, wir haben genug Teller«, unterbrach Eve, sie war inzwischen mehr als nur ein bisschen hektisch. » Mann, ich hätte nie gedacht, dass ich das je sagen würde, aber wo ist das gute Porzellangeschirr? Haben wir überhaupt gutes Geschirr?«
Du meinst Teller, die an den Rändern nicht angeschlagen sind? Ja. Da drüben.« Shane deutete auf einen Schrank: der gut einen Meter höher war als Eve. Sie starrte ihn an. »Schau mich nicht so an - ich streck mich nicht danach. Ich bin immer noch verwundet, weißt du?« Das war er tatsächlich. Claire hatte unter dem Druck all der anderen Ereignisse selbst das vergessen - es ging ihm besser, aber er war erst kürzlich aus dem Krankenhaus entlassen worden. Kaum lang genug, als dass die Stichwunde, die ihn beinahe das Leben gekostet hätte, richtig verheilt sein konnte.
Ein weiterer guter Grund, den Ball flach zu halten, wenn es irgend möglich war - ohne Shane wären ihre Fähigkeiten, sich zu verteidigen, ernsthaft beeinträchtigt.
Eve kletterte auf die Küchentheke, suchte die Teller und reichte sie Claire herunter. Als sie die Teller abgestellt hatte, nahm Claire Shanes Platz am Herd ein und rührte in dem klumpigen Zeug, das Pudding sein sollte. Es sah aus wie etwas, das ein Alien herausgewürgt hatte.
»Dieses Mädchen«, sagte Claire zu Shane.
»Welches Mädchen?«
»Das... du weißt schon. Da draußen.«
»Du meinst die Blutsaugerin? Was ist mit ihr?«
»Sie hat dich angestarrt.«
»Was soll ich da sagen? Bin eben unwiderstehlich.«
»Shane, das ist nicht witzig. Ich... du solltest vorsichtig sein.«
»Das bin ich immer.« Was eine absolute Lüge war. Shane schaute ihr in die Augen; Hitze stieg in ihr auf und brannte ihr auf den Wangen. Er lächelte langsam. »Eifersüchtig?«
Vielleicht.«
»Dafür gibt es keinen Grund. Ich mag Ladys mit Herzschlag.« Er nahm ihre Hand und drückte sanft seine Finger gegen ihr Handgelenk. »Ja, du hast einen. Einen ziemlich schnellen sogar.«
»lch mein das ernst, Shane.«
»Ich auch.« Er trat näher, sodass sie gegenseitig ihren Atem spüren konnten. »Zwischen uns wird sich kein Vamp drängen. Glaubst du mir das?«
Sie nickte wortlos. In diesem Augenblick konnte sie beim besten Willen kein Wort herausbringen. Seine Augen waren dunkel, sie hatten die Farbe von sattem braunem Samt mit einem dünnen goldenen Rand. Sie hatte ihm in letzter Zeit oft in die Augen geschaut, aber nie bemerkt, wie schön sie eigentlich waren.
Shane trat zurück, als sich die Tür erneut öffnete. Zuerst wandte sich Michael mit einer stummen Entschuldigung an sie, dann drehte er sich zu Claires Eltern um.
»Mr und Mrs Danvers, Mr Bishop möchte, dass Sie ihm beim Essen Gesellschaft leisten«, sagte er. »Aber wenn Sie nach Hause müssen... „
Falls Michael gehofft hatte, sie hätten ihre Meinung geändert, hätte Claire ihm gleich sagen können, dass das nicht passieren würde. Solange ihr Dad den Eindruck hatte dass hier irgendetwas Komisches vor sich ginge würde er nicht tun, was ansonsten vernünftig gewesen wäre. Und tatsächlich stand er auf und nahm seine Kaffeetasse. »Ein Frühstück könnte ich schon vertragen. Außerdem habe ich noch nie Claires Eier probiert. Kathy? Kommst du?«
Ahnungslos, dachte Claire verzweifelt aber andererseits war sie auch nicht besser gewesen, als sie zum er ten Mal nach Morganville gekommen war. Sie hatte weder offensichtliche Hinweise noch direkte Anweisungen ernst genommen. Vielleicht hatte sie das von ihren Eltern geerbt, zusammen mit der hellen Haut und dem leicht lockigen Haar. Zur Verteidigung ihrer Eltern musste man aber sagen, dass Mr Bishop ihre Gedanken manipuliert hatte.
Und sie hatten Angst um sie.
Sie schaute zu, wie ihre Eltern Michael in das andere Zimmer folgten, und half dann Eve, die Eier, den Speck und die Kekse auf Serviertellern - sehr schönen übrigens - anzurichten. Der klumpige Pudding war nicht mehr zu retten. Sie gossen ihn in eine Schüssel und hofften das Beste. Schweigend trugen sie dann alles hinaus in den Essbereich, der eigentlich aus einer Ecke des Wohnzimmers bestand.
Claire war wieder einmal überrascht, wie die Stimmung des Hauses von einem Augenblick auf den anderen umschlagen konnte. Das passierte immer mal wieder in den seltsamsten Momenten. Nicht nur die Stimmung der Leute darin - sondern die des Hauses selbst. Im Augenblick fühlte es sich finster, kalt und voller Vorahnungen an. Beinahe feindselig. Und doch schien sich dieses dunkle Gefühl gegen die eingedrungenen Vampire zu richten.
Das Haus war beunruhigt und auf der Hut. Das solide viktorianische Mobiliar duckte sich, gekrümmt und deformiert, und hatte nichts Warmes und Einladendes an sich. Selbst die Lichter schienen gedämpft und Claire konnte beinahe so etwas wie eine Präsenz fühlen - wie damals, als sie manchmal Michael spüren konnte, wenn er als Geist im Haus gefangen war. Die feinen Haare auf ihren Armen stellten sich auf und sie bekam Gänsehaut.
Claire stellte die Eier und den Speck auf den Holztisch und trat zurück. Niemand forderte sie, Eve und Shane auf, sich zu setzen, obwohl es noch freie Plätze am Tisch gab; sie fing Eves Blick auf und sie zogen sich wieder in die Küche zurück, dankbar, entkommen zu können. Michael blieb am Tisch und verteilte Essen auf die Teller. Er servierte. Sein Gesicht war blass und angespannt, in seinen Augen lag eine kalte Angst, und - oh Gott, wenn Michael schon panisch war, dann gab es definitiv einen Grund, total durchzudrehen.
Sobald sich die Küchentür wieder geschlossen hatte, packte Shane Claire und Eve und drängte sie in die entfernteste Ecke des Raumes. »Okay«, flüsterte er. »Jetzt ist es offiziell - das hier wird jetzt mehr als nur unheimlich. Fühlt ihr es auch?«
»Ja«, hauchte Eve. »Wow. Ich glaube, wenn das Haus Zähne hätte, würde es jetzt zubeißen. Ihr müsst zugeben, dass das cool ist.«
»Cool bringt uns jetzt nicht weiter. Claire?«
»Was?« Sie starrte ihn ein paar lange Augenblicke verständnislos an, dann sagte sie: »Oh. Klar. Ja. Ich rufe Amelie noch mal an.« Sie kramte ihr Handy aus der Tasche. Es war neu, und als sie es bekommen hatte, waren schon einige wichtige Nummern darauf gespeichert. Eine davon - die erste auf Schnellwahl wohlgemerkt - war die Nummer von Amelie, der Gründerin von Morganville.
Die oberste Vampirin. Für Claire eine Art Boss. In Morganville war Patron der Fachbegriff dafür, aber Claire hatte von Anfang an gewusst, dass es lediglich ein höflicheres Wort für Besitzer war.
Es klingelte und wieder erreichte sie nur die Mailbox. Claire hinterließ eine weitere hastige, halb verzweifelte Nachricht, in der sie sagte, dass Amelie schnell zu ihnen kommen solle, sie bräuchten ihre Hilfe, dann legte sie auf. Stumm sah sie Eve an, die seufzend das Telefon nahm und eine andere Nummer wählte.
»Ja, hi«, sagte sie, als jemand abnahm. »lch möchte mit dem Boss sprechen.« Es folgte eine längere Pause und Eve sah aus, als würde sie sich für etwas wirklich Unangenehmes stählen.
»Oliver. Hier ist Eve. Mach dir nicht die Mühe zu sagen, wie schön es ist, von mir zu hören, denn das ist es nicht. Ich rufe geschäftlich an, also spar dir den Bullshit. Moment.«
Eve reichte das Telefon an Claire weiter. Claire runzelte die Stirn und formte ein Bist du sicher? mit den Lippen. Eve machte eine nachdrückliche Geste mit abgespreiztem Daumen und kleinem Finger neben ihrem Kopf, wie ein Telefon, das sie sich ans Ohr hielt.
Claire übernahm das Gespräch widerwillig.
»Oliver?«, fragte sie. Am anderen Ende der Leitung hörte sie ein leises, träges Lachen.
»Nun«, sagte er. Der Besitzer des Common Grounds, einem Cafe in der Stadt, hatte eine warme Stimme - die Art von Stimme, die sie zu der Annahme bewogen hatte, es handle sich einfach um einen rundum netten Typen, als sie ihn das erste Mal getroffen hatte. »Wenn das mal nicht die kleine Claire ist. Eve wollte es nicht hören, aber dir sage ich es: Wie schön, dass ihr euch in der Stunde der Not an mich wendet. Es ist doch eine Stunde der Not, nehme ich an? Und kein bloßes Pflegen gesellschaftlicher Kontakte?«
»Jemand ist hier«, sagte sie so leise es ging. »Im Haus.«
Die Wärme in Olivers Stimme wich tiefer Verärgerung. »Dann ruft doch die Polizei, wenn sich jemand bei euch herumtreibt. Ich bin schließlich nicht euer privater Sicherheitsdienst. Es ist Michaels Haus. Michael kann... „
»Michael kann da nichts ausrichten und ich glaube nicht, dass wir die Cops rufen sollten. Dieser Mann, er sagt, sein Name sei Mr Bishop. Er will Amelie sprechen, aber ich kriege sie nicht ans... „
Oliver unterbrach sie. »Halte dich von ihm fern«, sagte er und seine Stimme wurde dabei scharf. »Tu nichts. Sag nichts. Und sag das auch deinen Freunden. vor allem Michael, verstanden? Das übersteigt die Fähigkeiten jedes Einzelnen von euch bei Weitem. Ich werde Amelie finden. Tut, was er sagt, was immer er sagt, bis wir kommen.«
Dann legte Oliver einfach auf. Claire blinzelte das tote Telefon an und blickte zu ihren Freunden. »Er sagt, wir sollen tun, was wir sowieso schon tun«, sagte sie. »Befehle befolgen und auf Hilfe warten.«
»Fantastischer Ratschlag«, sagte Shane. »Erinnere mich daran, für Zeiten wie diese einen praktischen Vampirkiller-Bausatz unter der Spüle zu deponieren.«
»Alles wird gut«, sagte Eve. »Claire hat ihr Armband.« Sie griff nach Claires Handgelenk und hob es hoch. um das feine Glitzern ihres ID-Armbands zu zeigen - ein Armband, auf dem sich Amelies Zeichen anstatt eines Namens befand. Es identifizierte sie als Besitz, als jemanden, der sich mit Leib, Seele und Leben einem Vampir verschrieben hatte und als Gegenleistung einen gewissen Schutz und Rücksichtnahme erhielt. Sie hatte das nicht gewollt, aber es schien damals die einzige Möglichkeit, die Sicherheit ihrer Freunde zu gewährleisten. Vor allem Shanes, der es sich bereits mit den Vamps verscherzt hatte.
Sie wusste, dass das Armband ein Risiko an sich darstellte. aber immerhin verpflichtete es Amelie (und vielleicht sogar Oliver) dazu, sie gegen andere Vampire zu verteidigen.
Theoretisch.
Claire steckte das Handy in ihre Tasche. Shane nahm ihre in seine und strich ihr leicht über die Knöchel, eine sanfte beruhigende Geste, durch die sie sich einen Augenblick ein wenig geborgen fühlte.
»Wir werden das durchstehen«, sagte er. Als er versuchte, sie zu küssen, zuckte er jedoch zusammen. Sie legte ihre Hand auf seinen Bauch.
»Du hast Schmerzen«, stellte sie fest.
»Nur wenn ich mich vorbeuge. Seit wann bist du eigentlich so klein?«
»Seit fünf Minuten.« Sie rollte mit den Augen und spielte mit, aber sie machte sich Sorgen. Nach den Regeln von Morganville war er während seiner Genesung für die Vampire tabu; das Krankenhausarmband aus weißem Plastik mit rotem Kreuz darauf befand sich noch immer an seinem Handgelenk und sorgte dafür, dass jeder Blutsauger, der ihm begegnete, wusste, dass er kein Freiwild war.
Falls sich ihre Besucher an die Regeln hielten. Was bei Mr Bishop nicht so sicher war. Er war kein Vampir aus Morganville. Er war etwas anderes.
Etwas Schlimmeres.
»Shane, mal ehrlich jetzt. Wie schlimm ist es?«, flüsterte sie so leise, dass nur Shane es hören konnte. Er fuhr mit der Hand durch ihr kurzes Haar und küsste sie.
»Alles cool«, sagte er. »Es braucht mehr als einen Mistkerl mit Klappmesser, um einen Collins zu erledigen. Darauf kannst du dich verlassen.«
Die Tatsache, dass sie es hier mit wesentlich mehr zu tun hatten, blieb unausgesprochen, und das wusste er.
»Unternimm jetzt nichts Dummes«, sagte sie. »Sonst bringe ich dich höchstpersönlich um.«
»Autsch. Was ist bloß aus der bedingungslosen Liebe geworden?«
lch habe es satt, dich im Krankenhaus zu besuchen.« Einige Sekunden lang hielt sie seinem Blick stand. »Was immer du vorhast - tu es nicht. Wir müssen warten. Wirklich.«
»Ja, das sagen alle Vampire. Dann wird es wohl richtig sein.« Die Art und Weise, wie er das Wort sagte, gefiel ihr nicht, es lag so viel Abscheu darin. Wenn er es auf diese Weise sagte, musste sie immer an Michael denken und wie er darunter litt, wenn Shanes Hass hochkochte. Michael hatte kein Vampir werden wollen und er machte das Beste daraus, damit zu leben.
Shane war dabei nicht gerade eine große Hilfe.
»Hör mal.«Shane nahm ihr Gesicht in seine Hände und blickte ihr ernst in die Augen. »Wie wär's, wenn du dir Eve schnappst und abhaust? Sie beachten euch nicht und ich werde euch Deckung geben.«
»Nein, ich werde meine Eltern nicht im Stich lassen. Und dich auch nicht.«
Sie hatten keine Zeit, weiter darüber zu diskutieren, da sie ein gewaltiges Krachen aus dem Wohnzimmer hörten. Die Küchentür flog auf und Michael stolperte rückwärts herein, der gut aussehende Vampir, der mit Bishop gekommen war, hatte ihn am Kragen gepackt. Er knallte Michael gegen die Wand. Michael wehrte sich, aber es schien ihm nicht viel zu nutzen.
Der andere Vampir öffnete wütend knurrend den Mund und seine großen, spitzen Vampirzähne fuhren blitzartig wie Schnappmesser herunter.
Michaels ebenso und Claire wich unwillkürlich hinter Shane zurück.
Shane brüllte: »Hey! Lass ihn los!«
»Nicht!«, stieß Michael hervor, aber Shane hörte natürlich auf ihn und auch Claires fester Griff um seinen Arm konnte ihn nicht zurückhalten.
Es war Eve, die ihn schließlich aufhalten konnte, sie hatte ein gefährlich aussehendes Messer in der Hand. Sie warf Shane einen wilden, warnenden Blick zu, dann wirbelte sie herum und richtete das Messer auf den Vampir, der Michael festhielt. »Du! Lass ihn los!«
»Erst wenn sich der da entschuldigt«, sagte der Vampir, und um seine Worte zu unterstreichen, knallte er Michaels Kopf noch einmal so hart gegen die Wand, dass sämtliche Gläser im Raum klirrten. Nein - das lag nicht am Aufprall; das tiefe Vibrieren ging vom Zimmer selbst aus. Die Wände, der Boden... das Haus. Wie ein warnendes Grollen.
»Sie lassen ihn jetzt besser los«, sagte Claire. »Können Sie das nicht spüren?«
Der Vampir schaute sie finster an und seine schönen grünen Augen wurden schmal. obwohl sich die Pupillen vergrößerten. »Was machst du da?«
»Nichts«, sagte Eve und fuchtelte mit dem Messer herum. »Du machst das. Das Haus mag es nicht, wenn jemand Michael übel mitspielt. Lass ihn jetzt in Ruhe, bevor etwas Schlimmes passiert.«
Er dachte, sie blufften - Claire konnte es in seinen Augen sehen -, wollte es aber nicht darauf ankommen lassen. Er ließ Michael los und seine vollen Lippen kräuselten sich verächtlich. »Steck das weg, du dummes Ding«, sagte er zu Eve, und bevor einer von ihnen auch nur blinzeln konnte, schlug er ihr das Messer aus der Hand - so grob, dass es durch das Zimmer flog und in der Wand stecken blieb. Eve hielt schützend ihre malträtierte Hand und wich vor ihm zurück.
»Entschuldige dich«, sagte er zu ihr. »Bitte um Verzeihung dafür, dass du mich bedroht hast.«
»Leck mich!«, fuhr sie ihn an.
Die Augen des Vampirs loderten auf wie heißes Kristall und er stürzte sich auf Eve. Michael bewegte sich schneller, als Claire je gesehen hatte. Man sah nur eine verschwommene Bewegung und der Vampir prallte gegen den Herd. Er fing sich mit beiden Händen ab und sie hörte das Zischen, als seine Hände auf die noch heißen Herdplatten gerieten. Ein wutentbrannter Schmerzensschrei folgte.
Das nahm jetzt alles eine wirklich schlimme Wendung und es gab nichts, absolut nichts, was sie tun konnten.
Shane packte Eve an der Schulter und Claire am Arm, dann drängte er sie in die Ecke beim Frühstückstisch. wo sie zumindest teilweise Deckung hatten. Aber dadurch war Michael allein, der außerhalb seiner Gewichtsklasse gegen etwas kämpfte, das eher einer Wildkatze glich als einem Mann.
Es dauerte nicht lange, vielleicht ein paar wenige Sekunden, bis Michael die Kräfte verließen. Der Fremde schleuderte ihn auf den Küchenboden und setzte sich rittlings auf ihn. Seine ausgefahrenen Vampirzähne funkelten. Die Temperatur in der Küche sank auf den Gefrierpunkt, es war so kalt, dass Claire ihren eigenen Atem sehen konnte, als sie angstvoll keuchte. Das tiefe Grollen setzte erneut ein und ließ Teller, Gläser und Töpfe vibrieren.
Eve schrie auf und kämpfte gegen Shanes Umklammerung an - nicht dass sie etwas hätte ausrichten können...
Die Hintertür erbebte und flog unter einem einzigen, gewaltigen Schlag krachend auf. Holzsplitter wirbelten durch den Raum und Claire hörte die Schlösser wie Eis brechen.
Oliver, der einst furchteinflößendste Vampir der Stadt (inzwischen belegte er nur noch Platz zwei), stand an der Hintertür und starrte zu ihnen herein. Er war groß und hatte die Statur eines Läufers - sehr drahtig, muskulös und mit breiten Schultern. Heute Abend hatte er auf seine übliche Netter-Typ-Verkleidung verzichtet; er war ganz in Schwarz und sein Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Sein Gesicht sah im Mondschein aus, als wäre es aus Elfenbein geschnitzt.
Er schlug mit der Handfläche gegen eine solide, aber unsichtbare Barriere im Türdurchgang. »Ihr Idioten!«, rief er. »Lasst mich rein!«
Der Fremde lachte und riss Michael hoch, sodass er zum Sitzen kam. Seine Vampirzähne schwebten direkt über Michaels Hals. »Tut es und ich sauge ihn aus«, sagte er. »Ihr wisst, was dann passiert. Er ist zu jung.«
Claire wusste es nicht, aber sie ahnte, dass das nichts Gutes heißen konnte. Es klang nach einer tödlichen Drohung.
»Ladet mich ein«, sagte Oliver mit tödlich leiser Stimme. »Claire. Tu es.«
Sie öffnete den Mund, aber sie wurde unterbrochen.
»Nicht nötig«, sagte eine kalte Frauenstimme. Endlich war die Kavallerie da.
Amelie schob Oliver beiseite und ging durch die unsichtbare Barriere, als wäre sie gar nicht vorhanden - was für Amelie auch zutraf, denn sie war praktisch die Erbauerin und Besitzerin des Hauses. Sie war ohne ihre üblichen Diener und Bodyguards gekommen, aber die Art und Weise, wie sie über die Türschwelle schritt, machte unmissverständlich klar, dass sie hier das Sagen hatte und nicht Oliver.
Wie immer wirkte sie auf Claire wie eine Königin. Amelie trug ein perfekt maßgeschneidertes gelbes Seidenkostüm, ihr helles Haar war zu einer schimmernden Krone aufgetürmt und wurde von goldenen und diamantenen Nadeln zusammengehalten. Sie war nicht besonders groß, aber sie strahlte die tödliche Aura einer nicht detonierten Bombe aus. Ihre Augen waren kalt und sehr groß, sie konzentrierte sich voll und ganz auf den eingedrungenen Vampir, der Michael bedrohte.
»Lass den Jungen in Ruhe«, Claire hatte diesen Tonfall noch nie von ihr gehört, niemals, und sie schauderte, obwohl er nicht ihr galt. »Ich töte selten einen der Unseren, aber wenn du mich herausforderst, François, dann vernichte ich dich. Ich warne dich nur einmal.«
Der andere Vampir zögerte nur eine Sekunde, dann ließ er Michael los, der der Länge nach auf dem Fußboden zusammenbrach. François kam mit einer einzigen glatten, eleganten Bewegung wieder auf die Beine und blickte Amelie an.
Und dann verbeugte er sich. Claire hatte noch nicht besonders oft gesehen, dass Männer sich verbeugten, aber bei ihm sah das nicht unbedingt respektvoll aus.
»Mistress Amelie«, sagte er und die Vampirzähne klappten sich wieder diskret in den Mund zurück. »Wir haben Sie schon erwartet.«
»Und dabei haben Sie sich wohl auf meine Kosten amüsiert«, sagte sie. Claire glaubte nicht, dass sie dabei auch nur ein Mal blinzelte. »Kommen Sie. Ich möchte mit Master Bishop sprechen.«
Franccis grinste. »Ich bin mir sicher, er möchte auch mit Ihnen sprechen«, sagte er. »Hier entlang.«
Sie eilte ihm voraus. »Ich kenne mein Haus, François - ich brauche keinen Führer.« Sie warf einen langen Blick über die Schulter zurück zu Oliver, der noch immer schweigend vor der Tür stand. »Komm herein, Oliver. Ich werde für unsere jungen Freunde den Schutz gegen dich später wieder einsetzen.«
Er hob die Augenbrauen und trat über die Schwelle. Michael war gerade dabei, sich wieder aufzusetzen. Oliver streckte ihm die Hand hin, aber Michael nahm sie nicht. Sie wechselten einen Blick, der Claire erschauern ließ.
Oliver zuckte mit den Achseln, stieg über ihn hinweg und folgte Amelie und François ins andere Zimmer.
Als die Küchentür zufiel, stieß Claire einen langen, erleichterten Seufzer aus und hörte, wie Eve und Shane das Gleiche taten. Michael rollte sich qualvoll auf die Füße, stützte sich an der Wand ab und schüttelte den Kopf.
Shane legte ihm die Hand auf die Schulter. »Alles klar, Mann?« Michael hob den Daumen, er war zu erschlagen, um mehr zu tun, und Shane klopfte ihm auf den Rücken. Dann konnte er Claire gerade noch am Kragen ihres Shirts packen, als sie an ihm vorbei auf die Küchentür zueilte. »Hee, nicht so eilig! Wo willst du hin?«
»Meine Eltern sind da drin!«
»Amelie wird nicht zulassen, dass ihnen etwas passiert«, sagte Shane. »Mach mal halblang. Das ist nicht unser Kampf und das weißt du.«
War jetzt plötzlich Shane der Vernünftige hier? Wow. War heute Verkehrte-Welt-Tag? »Aber... „
»Deinen Eltern geht es gut, aber ich möchte nicht, dass du da jetzt hineinplatzt. Verstanden?«
Sie nickte zittrig. »Aber... „
»Michael. Hilf mir mal. Sag du es ihr.«
Michael machte die Vampirversion eines tiefen Atemzugs, aber er nickte, auch wenn seine Augen unfokussiert waren und trübe ins Leere stierten. »Ja«,sagte er erschöpft. »Sie sind okay. Deshalb ist François ja auch auf mich losgegangen - ich hatte mich zwischen ihn und deine Mom gestellt.«
»Er ist auf meine Mom losgegangen?« Claire stürzte zur Küchentür und dieses Mal gelang es Shane kaum noch, sie aufzuhalten.
»Mann, das war ja nicht gerade die Art von Unterstützung, die ich mir gewünscht hätte«, sagte Shane zu Michael und schlang beide Arme um Claire, um sie festzuhalten. »Langsam, langsam. Amelie ist da drin und du weißt, dass sie alles unter Kontrolle halten wird... „
Das wusste Claire. Und nachdem sie ein wenig nachgedacht hatte, strampelte sie noch heftiger, da Amelie es ohne Weiteres fertigbringen würde, Claires Eltern als entbehrlich zu betrachten, wenn es ihren Zwecken diente. Ab und zu betrachtete sie schließlich auch Claire als entbehrlich. Aber Shane ließ sie nicht los, bis sie ihren Ellenbogen zurückstieß und er taumelte und seinen Griff lockerte. Ihr war nicht bewusst, was sie getan hatte... bis sie die dünne rote Linie auf seinem T-Shirt sah. Shane ließ sich schwer auf den nächstbesten Stuhl plumpsen.
Sie hatte ihn dort getroffen, wo der Messerstich war.
»Verdammt!«, fauchte Eve und riss Shanes T-Shirt hoch, um seine Brust und seinen Bauch freizumachen, die noch immer übel aussahen. Frisches Blut färbte die weißen Bandagen rot. Claire konnte es sogar riechen...
... und als wäre sie in einem Albtraum, wandte sie sich zu Michael um.
Seine Augen waren nicht länger unfokussiert und trübe. Nein, sie waren groß und aufmerksam und sehr, sehr furchterregend. Sein Gesicht war unbewegt und weiß und er hatte aufgehört zu atmen.
»Stillt die Blutung«, flüsterte er. »Beeilt euch.«
Michael hatte recht. Shane war jetzt der Köder im Haifischbecken und Michael war einer der Haie.
Shane hielt seinem Blick stand, während Eve den Verband untersuchte, um sicherzustellen, dass er fest saß. »Der Verband muss gewechselt werden. Vielleicht ist eine der Nähte aufgeplatzt«, sagte sie.
Sie legte Shanes Arm um ihre Schulter und half ihm auf die Füße. Shane beobachtete noch immer Michael und Michael schien physisch nicht in der Lage zu sein, seine Augen von dem blutigen Streifen Verband auf Shanes Bauch abzuwenden.
»Willst du ein bisschen davon?«, fragte Shane. »Komm her und hol es dir, Fledermaus.« Er war beinahe so bleich wie Michael und sein Gesicht war verzerrt und wütend.
Irgendwie brachte Michael ein Lächeln zustande. »Du bist nicht meine Blutgruppe, Bruder.«
»Schon wieder abgeblitzt.« Aber die Wildheit in Shanes Augen ließ nach. »Sorry.«
»Kein Problem.« Michael warf einen kurzen Blick auf die geschlossene Küchentür. »Sie reden. Hör mal. Claire, ich gehe jetzt rein und hole deine Eltern. Ich möchte, dass alle zusammenbleiben. die noch... „
»Atmen?«, fragte Shane.
»In Gefahr sind«, sagte Michael. »Bin gleich wieder da.« Er zögerte einen Atemzug lang, dann sagte er: »Seht zu, dass ihr ihn wieder hinkriegt, während ich weg bin.«
Und dann war er auch schon durch die Tür, wobei er sich unnatürlich schnell bewegte, als wäre es eine Erleichterung, dem Geruch von Shanes Blut zu entkommen. Claire schluckte und wechselte einen Blick mit Eve. Eve sah so erschüttert aus, wie sie sich sicherlich fühlte, aber sie besann sich sehr schnell wieder auf die Prioritäten. »Okay. Wo ist der Erste-Hilfe-Kasten?«
»Oben«, sagte Claire. »Im Badezimmer.«
»Nein, er ist hier unten«, sagte Shane. »Ich habe ihn hier verstaut.«
»Wirklich? Wann?«
»Vor ein paar Tagen«, sagte er. »War mir lieber, ihn in meiner Reichweite zu haben, schließlich bin ich derjenige, der ständig bandagiert wird. Er ist unter der Spüle.«
Eve schaute nach und zog einen weißen Metallkasten mit einem großen roten Kreuz heraus. Sie öffnete ihn und griff nach dem Verbandsmaterial. »Zieh dein T-Shirt aus.«
»Du liebst mich doch nur wegen meines Waschbrettbauchs.«
»Halt die Klappe, du Schwachkopf. Weg mit dem T-Shirt.«
Mit einem Blick zu Claire zog Shane es sich über den Kopf und warf es neben sich auf den Frühstückstisch. Claire nahm das T-Shirt mit zur Spüle, wo sie es mit kaltem Wasser auswusch und zuschaute, wie Shanes Blut das Wasser leicht rosa färbte. Sie wollte nicht sehen, was Eve gerade machte; wenn sie die Verletzung sah, d ie Shane erlitten hatte, wurde ihr ganz schwach und elend zumute, weil er es - wie immer - für andere Menschen getan hatte. Für sie und Eve.
»Fertig«, verkündete Eve ein paar Minuten später. »Du blutest jetzt besser nicht meinen schönen neuen Verband voll, sonst mache ich ein Preisschild an dir fest und biete dich an der Straßenecke dem nächstbesten Blutsauger an.«
»Du bist echt ein Miststück«, sagte Shane. »Danke.«
Sie warf ihm eine Kusshand zu und zwinkerte. »Als würden nicht die meisten Mädels Schlange stehen, um Krankenschwester bei dir zu spielen.«
Claire fühlte, wie eine unliebsame, völlig unerwartete Welle der Eifersucht über sie hinwegschwappte. Eve? Nein, das war nur Eves übliche Frotzelei. Sonst nichts. oder? Sie war nicht... sie würde nicht. Das würde sie einfach nicht tun.
Claire wrang das T-Shirt aus, bis ihre Hände schmerzten, dann presste sie es zwischen zwei Handtücher, um es so gut wie möglich zu trocknen. Eve war dabei, die unbenutzten Artikel wieder zurück in den Kasten zu legen. Claire reichte Shane das T-Shirt und half ihm, sich den feuchten Stoff über Kopf und Brust zu ziehen. Sie konnte nichts dagegen tun, dass ihre Finger dabei über seine Haut strichen, und ehrlich gesagt versuchte sie auch gar nicht, das zu verhindern. Vielleicht bewegte sie sich sogar ein wenig langsamer, als sie sollte.
»Fühlt sich gut an«, sagte ihr Shane sehr leise ins Ohr. »Alles okay?«
Claire nickte. Er berührte sie sanft am Kinn, um ihr Gesicht zu heben, das er aufmerksam studierte.
»Ja«, sagte er. »Alles okay.« Er berührte ihre Lippen mit seinen und schaute an ihr vorbei zur Küchentür, die sich gerade öffnete. Michael mit Claires Eltern im Schlepptau. Der Knoten in Claires Brust, der sich fest um ihr Herz geschlossen hatte, lockerte sich um ein paar kostbare Zentimeter.
Ihre Eltern blickten verständnislos drein. Sie runzelten die Stirn, als hätten sie etwas Wichtiges vergessen. Als sich die Augen ihrer Mutter auf sie richteten, brachte Claire ein Lächeln zustande.
»Wollten wir nicht essen?«, fragte ihre Mutter. »Es wird sonst ziemlich spät, oder? Wolltet ihr kochen oder... „
»Nein«, sagte Michael. »Wir gehen essen.« Er schnappte sich die Autoschlüssel vom Haken neben der Tür. »Wir alle.«