Hamburg-Wilhelmsburg, Donnerstag, den 25. März, 10.10 Uhr
Olsen aufzuspüren war nicht schwierig gewesen. Sein Vorstrafenregister hielt sich in Grenzen, aber jedenfalls war klar, dass er dazu neigte, Probleme mit den Fäusten zu lösen. Er hatte drei Vorstrafen wegen Körperverletzung und war einmal wegen Hehlerei verwarnt worden, nachdem er Teile, die von einem gestohlenen Motorrad stammten, weiterverkauft hatte.
Wilhelmsburg ist der größte Hamburger Stadtteil. Im Grunde ist es eine Insel in der Elbe, die größte Flussinsel Europas, und zu seinen vielen Brücken gehört die Köhlbrandbrücke, die die Innenstadt im Norden mit Harburg im Süden verbindet. Wilhelmsburg hat ein seltsam unentschiedenes Aussehen und vereinigt Ländliches mit Schwerindustrie. Neben mächtigen Industriebauten weiden Schafe auf den Feldern. Der Stadtteil gilt als sozialer Brennpunkt und wird häufig scherzhaft als Bronx des Nordens bezeichnet; mehr als ein Drittel seiner Bevölkerung sind Einwanderer.
Peter Olsen verkaufte und reparierte Motorräder in einer schäbigen Werkstatt am Flussufer, im Schatten einer Ölraffinerie. Fabel beschloss, Werner und Anna zur Befragung von Olsen mitzunehmen, und forderte außerdem eine Schutzpolizeieinheit an. Das vorliegende Material reichte nicht aus, um Olsen zu verhaften, aber Fabel war es gelungen, einen richterlichen Beschluss zur Beschlagnahme des Motorrads für eine forensische Überprüfung zu erhalten.
Fabel bremste an dem überwucherten Randstein neben dem zwei Meter hohen Maschenzaun, der Olsens Werkstatt umgab. Während sie auf das Eintreffen der Schutzpolizei warteten, musterte Fabel die Werkstatt und den Hof. Die Rahmen von vier oder fünf Motorrädern rosteten ineinander verschlungen im Hof vor sich hin. Außerdem lag dort ein riesiger Rottweiler auf der Seite und hob ab und zu seinen massigen Schädel, um einen trägen Blick über sein Gebiet zu werfen. Fabel konnte nicht erkennen, ob der Hund angebunden war oder nicht.
»Werner, ruf das Wilhelmsburger Polizeirevier an«, sagte Fabel, ohne Olsens Grundstück aus den Augen zu lassen. »Frag nach, ob man uns einen Hundeführer stellen kann. Olsens Haustier gefällt mir nicht.«
Hinter ihnen hielt ein grün-weiß lackierter Polizeitransporter. Es war, als wäre Olsens Wachhund darauf abgerichtet worden, auf Polizeifahrzeuge zu reagieren, denn er sprang sofort auf und bellte wütend in Richtung des Wagens. Ein großer Mann in einem Overall kam aus der Werkstatt und wischte sich die Hände an dem Stoff ab. Sein halsloser Kopf schien auf seine mächtigen Schultern gerammt worden zu sein. Er war das menschliche Gegenstück zu dem Rottweiler, der seinen Hof bewachte. Der Mann warf dem Hund einen Blick zu und murmelte etwas. Dann schaute er zu den Polizeifahrzeugen hinüber, bevor er sich umdrehte und wieder in seine Werkstatt ging.
»Vergiss den Hundeführer, Werner. Wir sprechen besser sofort mit dem Knaben.«
Als sie sich dem Tor näherten, zeigte sich, dass der Hund nicht angebunden war. Er jagte mit einem Tempo und einer Behändigkeit, die seiner Masse zu widersprechen schienen, auf die Polizisten zu. Fabel bemerkte zu seiner Erleichterung, dass das Tor mit einem Vorhängeschloss versperrt war. Der Rottweiler knurrte und bellte böse, und seine weißen Fänge blitzten. Olsen erschien erneut an der Werkstatttür.
»Was wollen Sie?« Seine Stimme war über die Entfernung und das fortgesetzte Bellen des Rottweilers hinweg kaum zu hören.
»Wir haben einen Durchsuchungsbefehl, Herr Olsen.« Fabel hielt das Dokument hoch. »Und wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen.« Der Hund sprang nun gegen das Tor, und es begann zu rattern. Die Kette am Vorhängeschloss spannte sich. »Würden Sie bitte Ihren Hund zurückrufen, Herr Olsen.«
Olsen machte eine verachtungsvolle Geste und schickte sich an, wieder in seiner Werkstatt zu verschwinden. Fabel nickte Werner zu, der seine Pistole zog, den Verschluss zurückschnappen ließ und auf den Kopf des Rottweilers zielte.
»Adolf!«, rief Olsen mit scharfer Stimme. Der Hund drehte sich gehorsam um und kehrte zu der Stelle zurück, wo er gelegen hatte, blieb jedoch wachsam auf den Beinen.
Anna warf Fabel einen Blick zu. »Adolf?«
Fabel nickte Werner erneut zu, der seine Pistole wieder ins Halfter steckte. Olsen trat mit einem Schlüsselbund ans Tor und öffnete das Schloss. Er ließ das Tor aufschwingen und blieb mürrisch an der Seite stehen.
»Würden Sie bitte Ihren Hund anbinden, Herr Olsen?« Fabel reichte ihm den Durchsuchungsbefehl. »Und könnten wir uns Ihr Motorrad ansehen? Ihr eigenes. Die Kfz-Nummer steht auf dem Durchsuchungsbefehl.«
Olsen ruckte mit dem Kopf hinüber zur Werkstatt. »Dort ist es. Machen Sie sich keine Sorgen wegen dem Hund. Er beißt keinen… außer wenn ich’s ihm sage.«
Sie gingen zu dem Gebäude hinüber, und »Adolf« beobachtete sie von seinem Platz, wo Olsen ihn mit einer kräftigen Kette angebunden hatte. Die Haltung des Hundes war gespannt, als warte er auf den Befehl zum Angreifen.
Das Innere der Werkstatt war überraschend sauber und hell. Aus einem CD-Player dröhnte Rammstein oder etwas Ähnliches. Olsen drehte die Lautstärke herunter, stellte die Musik jedoch nicht ab, als wolle er andeuten, dass sein Tagesablauf nur kurzfristig unterbrochen worden war. Fabel hatte erwartet, dass die Wände von den üblichen Softcore- oder sogar Hardcore-Plakaten bedeckt sein würden, doch stattdessen handelte es sich bei den Bildern entweder um elegante Motorradaufnahmen oder um technische Illustrationen. Eine Reihe Motorräder, von denen einige offensichtlich alte Modelle waren, stand am hinteren Ende. Die Werkstatt hatte einen Betonfußboden, den Olsen anscheinend regelmäßig fegte, und an einer Wand befanden sich Regale, auf denen Ersatzteile in roten, sorgfältig markierten Plastikschubladen und -kästen angeordnet waren.
Fabel musterte Olsen eingehend. Er war Ende zwanzig und hätte fast attraktiv ausgesehen, wären seine Züge nicht ein wenig zu grob gewesen. Außerdem hatte er eine unreine, fleckige Haut. Für Fabel war die methodische Anordnung und Etikettierung der Ersatzteile schwer mit Olsens ungepflegter Erscheinung in Einklang zu bringen. Er beugte sich zu den Ersatzteilen vor und spähte auf die Beschriftung.
»Suchen Sie etwas Bestimmtes?« Olsens Stimme war ausdruckslos. Er hatte vermutlich beschlossen, hilfsbereit, doch gleichgültig aufzutreten. »Ich dachte, Sie wollten sich mein Motorrad ansehen?«
»Ja…« Fabel trat von den Regalen zurück. Die Buchstaben auf den Etiketten waren klein und säuberlich, aber er hätte nicht sagen können, ob sie mit der winzigen Schrift auf den Zetteln, die sie bei den Leichen gefunden hatten, identisch waren. »Ja bitte.«
Ein großes amerikanisches Motorrad in der Mitte der Werkstatt wurde durch einen Ständer abgestützt. Mehrere Teile des Motors waren abmontiert und auf dem Fußboden ausgebreitet worden. Wieder fielen Fabel die Ordnung und Sorgfalt auf, mit denen Olsen die Teile auf den Beton gelegt hatte. Er musste an diesem Motorrad gearbeitet haben, als sie eintrafen.
»Nein, das nicht. Dort drüben.« Olsen deutete auf eine silbergraue BMW. Fabel verstand nicht sonderlich viel von Motorrädern, wusste jedoch, dass es sich um ein R 1100 S-Modell handelte. Er musste zugeben, dass es eine Schönheit war: ein geschmeidiges, glattes Ungeheuer, das sogar im Stehen schnell wirkte. Auf eine seltsame Weise erinnerte es Fabel an Olsens Wachhund – voll von aufgestauter Kraft und Gewalt, die unbedingt freigelassen werden wollten. Er nickte den beiden Uniformierten zu, die das Motorrad zu dem wartenden Transporter schoben.
»Wozu brauchen Sie es denn?«, fragte Olsen.
Fabel ignorierte die Frage. »Wissen Sie Bescheid über Hanna Grünn? Sie haben es wahrscheinlich schon gehört?«
Olsen nickte. »Ja, habe ich.« Er gab sich so desinteressiert wie möglich.
»Sie scheinen nicht besonders erschüttert zu sein«, sagte Anna Wolff. »Ich dachte, Sie waren ihr Freund.«
Olsen stieß ein Lachen hervor und versuchte nicht, seine Bitterkeit zu verbergen. »Ihr Freund? Ich nicht. Ich war bloß ein Trottel. Einer von Hannas vielen Trotteln. Sie hat mir vor Monaten den Laufpass gegeben.«
»Frau Grünns Kollegen haben uns etwas anderes erzählt. Die sagen, Sie hätten Hanna manchmal von der Bäckerei mit dem Motorrad abgeholt. Bis vor kurzem.«
»Mag sein. Sie war die Ausnutzerin, und ich war der Ausgenutzte. Was kann ich sonst noch sagen?«
Fabel hatte keinen Zweifel daran, dass Olsen regelmäßig in ein Fitnessstudio ging. Die Schultern und Arme, die sich unter dem Stoff seines Overalls wölbten, verrieten eine erhebliche Kraft. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, dass er den kleineren, schmächtigeren Schiller überwältigt und ihn mit zwei Schnitten eines scharfen Messers getötet hatte.
»Wo waren Sie am Freitagabend, Herr Olsen?« fragte Anna. »Am 19. … bis zum Samstagmorgen.«
Olsen zuckte die Achseln. Du übertreibst deinen Gleichmut, dachte Fabel. Du hast etwas zu verbergen. »Ich bin was trinken gewesen. In Wilhelmsburg. Um Mitternacht bin ich nach Hause gefahren.«
»Wo waren Sie?«
»Im ›Pelikan‹. Das ist eine neue Bar in der Stadtmitte. Ich wollte sie mir mal ansehen.«
»Kann das irgendjemand bestätigen, der auch dort war?«, fragte Anna.
Olsens Miene verriet, dass er Annas Frage für albern hielt. »Da waren Hunderte von Gästen. Wie gesagt, die Bar ist neu, und etliche Leute hatten wohl den gleichen Einfall wie ich. Aber ich kann mich an niemanden erinnern, den ich kenne.«
Fabel machte eine geradezu entschuldigende Geste. »Dann müssen wir Sie leider bitten mitzukommen, Herr Olsen. Ihre Aussagen reichen nicht aus, jeden Verdacht gegen Sie auszuräumen und Ihnen ein Verhör zu ersparen.«
Olsen seufzte resigniert. »Meinetwegen. Aber schließlich ist es nicht meine Schuld, dass ich kein Alibi habe. Wenn ich etwas verbrochen hätte, hätte ich mir bestimmt eins zugelegt. Dauert das lange? Ich muss heute noch einige Reparaturen erledigen.«
»Wir werden Sie nur so lange bei uns behalten, bis wir die Wahrheit erfahren haben. Bitte, Herr Olsen.«
»Kann ich zuerst abschließen?«
»Natürlich.«
Am anderen Ende der Werkstatt befand sich eine Hintertür. Olsen schritt hinüber und drehte den Schlüssel im Schloss um. Dann ging er, gefolgt von den drei Beamten, hinaus. Der Hund schlief inzwischen auf dem Hof.
»Wenn ich über Nacht weg bin, muss ich dafür sorgen, dass der Hund gefüttert wird.« Er blieb plötzlich stehen und drehte sich zur Werkstatt um. »Scheiße. Die Alarmanlage. Ich kann die Motorräder nicht hier lassen, ohne dass die Alarmanlage an ist. Darf ich sie noch schnell einschalten?«
Fabel nickte. »Werner, bitte begleite Herrn Olsen.«
Als die beiden außer Hörweite waren, fragte Anna: »Hast du auch das Gefühl, dass wir hier nicht viel herausholen werden?«
»Ich weiß, was du meinst. Das Einzige, was Olsen zu verbergen scheint, ist wohl, wie nahe Hannas Tod ihm wirklich geht.«
Plötzlich hörten sie ein heiseres Brüllen aus der Werkstatt. Anna und Fabel tauschten einen Blick aus und rannten auf das Gebäude zu. Der Rottweiler war aus dem Schlaf aufgeschreckt, und sein Raubtierinstinkt wurde durch die beiden laufenden Polizisten angestachelt. Er warf sich an der Kette hin und her, und seine mächtigen Kiefer schnappten ins Leere. Fabel machte einen Bogen und hoffte, die Reichweite der Kette richtig eingeschätzt zu haben. Sie hatten etwa die Hälfte der Entfernung zur Werkstatt zurückgelegt, als Olsen auf einem riesigen roten Motorrad seitlich herausschoss. Fabel und Anna erstarrten einen Moment lang, denn das hochtourige Rennmotorrad hielt genau auf sie zu. Olsen trug einen roten Helm mit heruntergeklapptem Visier, doch Fabel erkannte ihn an seinem ölbefleckten Overall. Der Mann handhabte das Motorrad wie eine Waffe. Das Vorderrad hob sich ein wenig, als er den Gashebel zu einem wütenden Winseln aufdrehte. Adrenalin schoss durch Fabels Körper und verlangsamte die Zeit. Aber das Motorrad schien sich dennoch so sehr zu beschleunigen, als habe Fabel ein Zoomobjektiv darauf gerichtet.
Anna sprang zur einen und Fabel zur anderen Seite aus dem Weg, während das Motorrad zwischen ihnen hindurchraste. Fabel rollte mehrere Male über den Boden, bevor er liegen blieb. Gerade hatte er sich auf ein Knie erhoben, als etwas Dunkles gegen ihn prallte. Für einen Sekundenbruchteil dachte er, Olsen sei mit dem Motorrad zurückgekommen, um ihm und Anna den Garaus zu machen, aber als er sich umdrehte, sah er, wie sich der Rottweiler mit aufgerissenem Maul auf ihn stürzte. Fabel riss den Kopf zurück, als die Zähne zuschnappten. Er spürte kalten Schleim und Speichel auf seiner Wange, doch er wusste, dass der Hund ihn verpasst hatte. Diesmal rollte er sich in die entgegengesetzte Richtung, und ein bohrender Schmerz durchfuhr seine Schulter. Fabel rollte weiter, und das böse Knurren des Hundes wurde zu einem wütenden, frustrierten Bellen, denn das Tier hatte das Ende der Kette erreicht.
Fabel rappelte sich auf. Anna Wolff war ebenfalls aufgestanden und schaute zu ihrem Chef hinüber, um sich zu überzeugen, dass er unversehrt war. Sie sah aus wie jemand, der vor einem Rennen die Startposition eingenommen hat, und Fabel nickte. Sie sprintete auf Fabels Auto und den grün-weißen Polizeitransporter zu. Die beiden uniformierten Beamten standen wie gelähmt an den beiden Seiten des Motorrads, das sie gerade auf die Ladefläche des Wagens hatten schieben wollen. Anna Wolff änderte ihre Bahn und rannte auf das Motorrad zu.
»Steckt der Schlüssel?«, schrie sie in Richtung der beiden immer noch bewegungslosen Schupos. Bevor sie antworten konnten, hatte Anna das Motorrad erreicht und stieß den hinten stehenden Beamten zur Seite. Sie riss die Maschine von der Heckklappe des Wagens zurück, ließ den Motor an und raste davon, um Olsen zu folgen.
Fabel packte seine Schulter. Der Stoff seines Jaeger-Jacketts war aufgerissen, und das Futter quoll dort hervor, wo der Rottweiler seine Zähne eingeschlagen hatte. Fabels Schulter schien gequetscht zu sein, aber der Stoff seines Polohemds war heil geblieben, und er konnte keine Spur von Blut entdecken. Er warf einen zornigen Blick zu dem Hund hinüber, der an seiner Kette zog, sich auf die Hinterbeine erhob und ohnmächtig mit den Vordertatzen in die Luft schlug.
»Dahin!«, rief Fabel den beiden Schutzpolizisten zu und lief zur geöffneten Tür der Werkstatt. Werner lag auf dem Boden. Er hatte sich halb aufgesetzt und drückte ein bereits scharlachrotes Taschentuch an die rechte Seite seines blutenden Kopfes. Fabel kniete neben ihm nieder und löste Werners Hand und das blutgetränkte Taschentuch vorsichtig von der Wunde. Dort klaffte ein hässlicher, tiefer Riss, und Werners mit Stoppeln bedeckte Kopfhaut schwoll bereits an. Fabel zog sein eigenes, unbenutztes Taschentuch hervor, drückte es seinem Kollegen in die Hand und schob sie zurück zur Wunde. Dann legte er einen Arm um Werners Schultern, um ihn zu ermutigen.
»Hältst du durch?«
Werners Augen wirkten glasig und verschwommen, aber er rang sich ein schwaches Nicken ab, das Fabel nicht beruhigen konnte. Die beiden Uniformierten standen nun auch in der Werkstatt. Fabel deutete mit dem Kopf zu den Regalen hinüber.
»Sie. Versuchen Sie, dort drüben einen Erste-Hilfe-Kasten zu finden.« Er wandte sich an den zweiten Beamten. »Und Sie, fordern Sie einen Unfallwagen an.«
Fabel blickte auf den Boden der Werkstatt. Ungefähr einen Meter von Werner entfernt lag ein Schraubenschlüssel. Er hatte einen schweren, massiven Kopf; der verstellbare Griff und die Backen waren von Werners Blut überzogen. Fabel sah auch, dass die Tür am anderen Ende der Werkstatt offen stand. Der Dreckskerl, dachte er. Olsen hatte einen klaren Kopf behalten. Er hatte die Tür seelenruhig vor aller Augen aufgeschlossen, während er so tat, als sichere er das Gebäude. Die Aktion war genau überlegt gewesen, denn er hatte erraten, dass ihn, solange er kooperierte, wenn auch ungeduldig und gereizt, nur ein Polizist begleiten würde, damit er »die Alarmanlage einschalten« konnte. Dann hatte er Werner mit dem Schraubenschlüssel niedergeschlagen und war durch die Hintertür hinausgelaufen, wo das rote Motorrad gestanden haben musste. Fabel war sich sicher, es nicht unter den anderen in der Werkstatt bemerkt zu haben.
Werner keuchte und schien aufstehen zu wollen. Fabel hielt ihn fest. »Bleib sitzen, Werner, bis der Krankenwagen eintrifft.«
Der Schutzpolizist, zu dem er fragend aufschaute, nickte und sagte: »Er ist unterwegs, Herr Kriminalhauptkommissar.«
»Ich möchte nicht in Olsens Haut stecken, wenn du ihn erwischst, Chef«, meinte Werner.
Fabel sah zu seiner Erleichterung, dass Werners Augen nicht mehr so umwölkt wirkten, aber sie waren weiterhin alles andere als lebhaft. »Darauf kannst du wetten«, sagte Fabel. »Niemand vergreift sich ungestraft an einem Mitglied meines Teams.«
»Das meine ich nicht.« Werner lächelte schwach und nickte zu dem zerfetzten Stoff an Fabels Schulter hinüber. »Ist das nicht eine deiner Lieblingsjacken?«
Die letzte Kurve hatte Anna zu schnell genommen. Wie immer trug sie ihre Lederjacke, aber ihre Beine waren nur durch den Stoff ihrer Jeans geschützt, und ihre Knie hatten den Asphalt fast gestreift. Wenn Olsen sich genauso gut darauf verstand, Motorräder zu fahren wie sie zu reparieren – und das war wahrscheinlich –, dann würde sie auf die Tube drücken müssen, um ihn auch nur im Blick zu behalten. Anna trug keinen Helm und hatte nicht einmal ihre Sonnenbrille bei sich; deshalb verengte sie die Augen gegen den Luftstoß, als sie auf der Geraden beschleunigte. Sie duckte sich hinter das Visier, um die Windeinwirkung zu verringern. Die Straße führte am Zaun der Raffinerie entlang und war frei von Verkehr, sodass sie Vollgas geben konnte. Dann raste sie in die Hohe-Schaar-Straße, wo ein Mercedes notbremsen und ausweichen musste. In der Ferne blitzte etwas rot auf, das über die Reiherstieg-Brücke donnerte, und sie setzte ihm nach. Die BMW unter ihr brüllte auf. Sie schätzte die Entfernung zur nächsten Kurve. Anna und ihr Bruder Julius hatten Motorräder besessen und waren am Wochenende manchmal nach Frankreich, nach Bayern oder sogar nach England gefahren. Aber als ihr Beruf mehr Zeit in Anspruch genommen hatte, waren ihre Ausflüge seltener und kürzer geworden. Und nach Julius’ Heirat mussten sie einen Schlussstrich ziehen. Anna hatte ihr Motorrad bis zum Vorjahr behalten und es dann gegen ein Auto ausgetauscht. Nun erinnerte nur noch die übergroße Lederjacke, die sie fast jeden Tag zur Arbeit trug, an jene Zeit.
Anna bremste vorsichtig, bevor sie die scharfe Linkskurve am Ende der Geraden erreichte. Sie legte sich in die Kurve und ließ die Beschleunigungskraft an ihrem Körper zerren, während sie schneller wurde. Dann kam eine weitere lange, gerade Fläche, und sie sah den roten Fleck von Olsens Motorrad vor sich. Anna gab erneut Vollgas, und die BMW preschte voran. Ihr Mund war trocken, und sie hatte Angst, aber der Nervenkitzel ließ sie erbeben. Sie blickte nicht auf den Tachometer, denn das Motorrad näherte sich seinem Limit von 200 Kilometer pro Stunde, und sie wollte nicht wissen, wie viel Spielraum sie noch hatte.
Der Abstand zu Olsen wurde kleiner. Offenbar hatte er nicht in seinen Rückspiegel geschaut und ging kein Risiko ein. Er hatte wahrscheinlich erwartet, mit dem Auto verfolgt zu werden, und ein Polizeiwagen hätte weder die Geschwindigkeit noch die Manövrierfähigkeit seiner Maschine besessen. Guck nicht in den Spiegel, dachte sie, guck nicht in den Spiegel, du Drecksack. Und dann geschah es. Eine fast unmerkliche Bewegung seines roten, behelmten Kopfes, und Olsens Motorrad schoss voran. Er konnte Annas BMW, die ihre Höchstgeschwindigkeit erreicht hatte, nicht hinter sich lassen, aber er war fähig, die Distanz aufrechtzuerhalten, bis einer von ihnen einen Fehler machte. Es war, als wollten sie sich gegenseitig bei einem Spiel auf Leben und Tod auf die Probe stellen.
Die nächste Kurve nahm Olsen besser und schneller als Anna, wodurch sich der Abstand wieder ein wenig vergrößerte. Sie hatten die Industrielandschaft hinter sich gelassen und waren nun von matschig wirkenden Feldern umgeben. Die Straße wand sich, und Anna trieb oftmals auf die linke Seite ab. Glücklicherweise kam ihnen niemand entgegen.
Eine weitere scharfe Kurve. Olsen schätzte sie falsch ein, bewältigte sie nur knapp und musste bremsen, um wieder einen geraden Kurs einzuschlagen. Anna verringerte den Abstand auf zwanzig Meter. Ihr Universum war implodiert und bestand nur noch aus dem Straßenband vor ihr und dem Motorrad, mit dem ihr Körper nun unlöslich verschmolzen zu sein schien. Es war, als wäre ihr zentrales Nervensystem mit der Elektronik der BMW verbunden und als würde jeder Gedanke, jeder Impuls automatisch auf die Maschine übertragen. Sie war völlig auf Olsens rotes Motorrad konzentriert und versuchte, seine nächste Aktion vorauszusehen.
Diese totale Konzentration bedeutete, dass sie keine Hand von der Lenksäule des Rades lösen konnte. Sie konnte weder nach ihrer Pistole greifen noch ihre Position telefonisch übermitteln. Plötzlich merkte Anna, dass sie die Orientierung verloren hatte. Sie war so sehr auf Olsen und den Straßenabschnitt unmittelbar vor ihr konzentriert gewesen, dass sie ihren genauen Standort nicht mehr bestimmen konnte. Ihre Kenntnis von Wilhelmsburg war ohnehin nicht besonders gut, und die Aufregung und der Reiz der Verfolgung hatten sie blind für die vorüberfliegenden Wahrzeichen werden lassen. Sie wusste nur, dass sie irgendwo in der flachen Landschaft von Moorwerder waren, dem seltsamen ländlichen Fortsatz von Wilhelmsburg, den die Stadtplaner aus irgendeinem Grund übersehen hatten.
Eine weitere Kehre und eine weitere Gerade lagen vor ihnen. Olsen beschleunigte sein Motorrad erneut auf die Höchstgeschwindigkeit. Anna merkte, wie sich ihre Brust zuschnürte, denn sie kamen in eine bebaute Gegend. Ein Wegweiser zeigte an, dass sie sich Stillhorn näherten. Olsen hatte also einen Bogen beschrieben und hielt nun auf die A 1 zu. Wenn er die Dinge auf die Spitze trieb, würde sie nachgeben und ihn ziehen lassen müssen, um nicht das Leben von Zivilisten aufs Spiel zu setzen. Aber noch war es nicht so weit.
Der Verkehr wurde stärker. Olsen und Anna schlängelten sich zwischen Autos und Lastwagen hindurch, von denen viele jäh bremsen mussten, weshalb die Fahrer wütend auf die Hupe drückten. Die Stadt verdichtete sich, als sie von den Außenbezirken zum Zentrum vordrangen. Annas Herz hämmerte in ihrer Brust. Sie hörte eine Polizeisirene hinter sich, ohne zu wissen, ob es Unterstützung für sie war oder einfach nur die Stillhorner Polizei, die auf zwei durch den Ort rasende Motorräder reagierte. Wie auch immer, sie freute sich darüber, Kollegen in der Nähe zu haben, wenn sie Olsen schließlich in die Enge trieb. Er bremste jäh und bog in eine Seitenstraße ab, wobei das Motorrad ihm fast unter dem Körper wegglitt.
Anna verpasste die Kurve und musste auf der Hauptstraße wenden, was ihr noch wütendere Huptöne von anderen Fahrern einbrachte. Sie sah Olsen am Ende der Seitenstraße verschwinden und gab Vollgas. Das Brüllen der BMW hallte in der schmalen Straße wider, und zwei Fußgänger mussten beiseite springen, als Anna vorbeidonnerte. Es wurde zu gefährlich – sie würde die Jagd aufgeben müssen, wenn sie ihn nicht erwischte, bevor er weiter in die Stadt hineinfuhr.
Anna hatte das Ende der Straße fast erreicht, als ihr ein grün-weißer Streifenwagen mit blitzendem Blaulicht entgegenkam. Der Fahrer versuchte, ihr den Weg zu versperren, und sie gestikulierte wild, damit er sie durchließ. Doch der Streifenwagen stoppte mit quietschenden Reifen, die Türen flogen auf, an beiden Seiten sprang je ein Polizist heraus und richtete seine Pistole auf Anna.
Sie bremste mit aller Kraft, sodass sich das Motorrad dem Wagen mit der Breitseite näherte. Die Maschine rutschte unter Anna weg, und sie prallte auf den Asphalt. Ihr Schenkel brannte, als der Jeansstoff unter ihrem Bein weggefetzt wurde. Sie überschlug sich mehrere Male und prallte schließlich an ein geparktes Auto. Das Motorrad, das Funken sprühend über den Asphalt schleifte, glitt weiter, bis es gegen die Vorderseite des Streifenwagens knallte.
Ein zweiter Polizeiwagen bremste hinter Anna. Die verblüfften Schutzpolizisten steckten ihre Waffen ins Halfter und gingen auf Anna zu, die immer noch auf der Straße lag, mit einer Hand ihren aufgeschürften Schenkel festhielt und ihnen mit der anderen ihre bronzene, ovale Kripomarke entgegenstreckte. Die Männer halfen ihr auf die Beine, und einer von ihnen murmelte, sie hätten nicht gewusst, dass Anna eine Kriminalbeamtin bei der Verfolgung eines Verdächtigen sei.
Anna starrte die leere Straße hinunter zu der Stelle, an der Olsen verschwunden war, und dann auf das BMW-Motorrad an der Kühlerhaube des Streifenwagens. Mit ruhiger, zurückhaltender Stimme bat sie zwei der Schutzpolizisten, die Richtung, die der Verdächtige eingeschlagen hatte, per Funk weiterzumelden und die Suche nach Olsen durch einen Hubschrauber fortsetzen zu lassen. Dann atmete sie tief durch und schrie die vier Uniformierten wütend an: »Vollidioten!«