Auf der Kommandantur

Herbst 1943

Referenzpunkt Abbildung 20

 

Im Geschäftszimmer der Stadtkommandantur stehen sich die Schreibtische von Lillian und Erik Ulvall gegenüber. Der graue Telefonapparat ist zwischen den beiden platziert. Alle Gespräche gehen über die Heeresvermittlung in Harstad. Jeden Morgen meldet sich dieselbe harte Soldatenstimme mit den Wetterinformationen zu den Orten an der Küste. Lillian und Ulvall müssen diese Meldungen sofort an die Marinestützpunkte auf den Inseln weiterleiten. Ansonsten bestehen ihre Aufgaben vor allem in schriftlichen Übersetzungen von Erlassen, Befehlen und Anordnungen.

Die Schreibtische sind durch eine Schranke vom Rest des Raumes abgetrennt. Dahinter warten die Menschen aus Harstad darauf, dass ihre Angelegenheiten geregelt werden. Mal geht es um Schadenersatz für beschlagnahmtes Eigentum, mal um Streitigkeiten um Grundstücke, Häuser und Hütten. Oder um das Holz in den Wäldern, das die Wehrmacht für sich beansprucht.

Das Übersetzen der Dokumente ist für Lillian schon schwer genug. Aber den richtigen Ton bei den Streitereien zu treffen ist noch schwieriger. Die norwegischen Bauern und Fischer sind oft sehr aufgebracht und gebrauchen heftige Schimpfwörter. Für die Deutschen muss Lillian dann alles so ausdrücken, dass es einigermaßen annehmbar klingt.

Viele Norweger kommen auch zur Stadtkommandantur, um nach Arbeit zu fragen. Die Kantinen sind dabei besonders begehrt, denn die Lebensmittelkarten bieten einfach zu wenig, um über die Runden zu kommen. Schneiderinnen fragen, ob es Uniformen zu nähen gibt, Schuster wollen Stiefel flicken, Sattler Geschirre und Verdecke machen, und wer gar nichts kann, kommt mit einem Putzeimer und seinem Schrubber. Die Menschen in Harstad brauchen Arbeit, weil mittlerweile alle Fischfabriken im Hafen geschlossen haben. Es gibt einfach nicht mehr genügend Fisch zum Verarbeiten. Das verminte Meer ist für die Fischer zu gefährlich geworden und die wenigen Heringe, die trotzdem noch gefangen werden, nehmen sich die Deutschen.

»Wir können doch nicht alle nach Schweden gehen. Oder nach England«, sagt eine Frau aus der Fischfabrik eines Tages zu Lillian. »Mein Mann ist vor zehn Monaten nach London geflohen. Ich habe seitdem nichts mehr von ihm gehört. Ich weiß gar nicht, ob er überhaupt noch lebt.« Ihre Stimme klingt bitter. »Die Leute sagen, unsere Exilregierung in London hat mittlerweile erlaubt , dass norwegische Männer in England heiraten dürfen, selbst wenn sie daheim Frau und Kinder haben.«

»Bestimmt nur ein Gerücht«, sagt Lillian leise und streicht der Frau über den Arm. »Von den Deutschen.«

Nach Büroschluss kommen ganz andere Leute auf die Kommandantur. Es sind vor allem Geschäftsleute aus den umliegenden Ortschaften. Sie wollen mit den Deutschen Tauschhandel treiben. Denn deren Lager sind voll mit Alkohol, Tabak und Parfum. Schwarzmarktware. Vieles stammt aus dem besetzten Frankreich.

Lillian bekommt hautnah mit, dass die Wehrmacht nach allem greift, was Norwegen hergibt. Der Hering geht tonnenweise ins Reich. Und Lachse wandern mit der Eisenbahn durch Schweden nach Deutschland. Die Felle von Silber- und Platinfüchsen auch. »Feldpost« steht dann auf den Paketen.