3 AbLenkUng

»Du wirst niemals glauben, wer mich gerade gefragt hat …«

Ich konnte mein Trikot nicht schnell genug über den Kopf ziehen, schloss die Augen und holte tief Luft, während ich auf Saras Reaktion wartete.

»Scheiße«, flüsterte sie starr vor Schreck von der Kabinentür her.

Ich drehte mich nicht zu ihr um und brachte kein Wort heraus. Aber ich wusste, dass die großen runden Blutergüsse, die meine rechte Schulter bedeckten und bis zur Mitte des Rückens reichten, für sich sprachen.

»Es ist längst nicht so schlimm, wie es aussieht«, nuschelte ich schließlich, hatte aber immer noch nicht den Mut, Sara direkt anzuschauen.

»Für mich sieht es aber ziemlich schlimm aus«, murmelte sie. »Und so was passiert, weil du vergessen hast, den Müll rauszubringen? Unglaublich.« Stimmen und Gelächter unterbrachen uns, ein paar Mädchen kamen in die Kabine und drängelten sich an Sara vorbei, die immer noch wie angewurzelt in der Tür stand.

»Hey, Emma. Wir haben gerade gehört, dass du den süßen neuen Typen ordentlich rundgemacht hast«, rief eins der Mädchen mir zu.

»Der hat dich anscheinend total genervt«, fügte eine andere hinzu, während sie sich umzuziehen begannen.

»Ich weiß nicht. Vermutlich hat er mich einfach an einem schlechten Tag erwischt«, brummte ich, und mein Gesicht wechselte die Farbe. Ehe noch jemand – vor allem Sara – etwas sagen konnte, raffte ich meine Schuhe, Socken und Schienbeinschoner zusammen und verließ hastig den Raum.

Ich setzte mich oben auf die Treppe, die zu den Spielfeldern hinter der Schule führte, und zog mir langsam Schützer und Schuhe an. Nach allem, was in den letzten zwei Stunden passiert war, musste ich mich dringend sammeln. So sollten meine Tage eigentlich nicht ablaufen. Die Schule war mein sicherer Ort, an dem alles leicht und einfach sein musste. Dazu gehörte auch, dass niemand sich mit mir einzulassen versuchte und ich für mich blieb. Wie konnte dieser Evan Mathews mein zuverlässiges Universum in einem einzigen Tag so durcheinanderwirbeln?

In diesem Moment hörte ich schon wieder seine Stimme. Was war das nur mit diesem Kerl? Erst bemerkte ich ihn eine ganze Woche überhaupt nicht, und jetzt lief er mir auf einmal ständig über den Weg. Er kam aus der Jungskabine unter der Treppe und redete mit einem anderen Typen, den ich nicht kannte, darüber, dass er ihn zu dem Footballspiel morgen mitnehmen könnte. Unsere Blicke trafen sich, und er nickte mir zu. Zu meiner Erleichterung trabte er aber, in der Hand einen kleinen schwarzen Beutel, weiter zum Trainingsfeld. An seiner Kleidung erkannte ich, dass er in der Fußballmannschaft der Jungs war. Großartig, er spielte also Fußball.

Während er sich von mir entfernte, zauberte die Sonne goldene Lichtflecken in seine zerzausten hellbraunen Haare, und unter seinem abgetragenen T-Shirt zeichneten sich die Bewegungen seiner schlanken Rückenmuskeln ab. Warum sah er aus, als wäre er gerade einer Abercrombie-Werbung entsprungen?

»Hübscher Anblick.« Sara atmete hörbar hinter mir aus. Erschrocken drehte ich mich um. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie neben mir stand. Mir wurde heiß, denn ich fürchtete, dass sie meine Gedanken durchschaut hatte. »Ach, entspann dich, er ist echt süß«, meinte sie leise. »Hat nur viel zu lange gedauert, bis du ihn endlich bemerkt hast.«

Ehe ich mich verteidigen konnte, erschien ein Bus auf der unbefestigten Straße, die unser Schulgebäude von den Sportplätzen trennte. Durch die offenen Fenster hörte man die typischen Skandierungen eines Highschool-Sportteams.

»Wen werden wir schlagen?«, dröhnte es mehrstimmig.

»Weslyn High!«, grollte es als Antwort aus dem Bus.

»Glaub ich nicht«, sagte Sara. Ich grinste und lief mit ihr zum Spielfeld.

 

»O mein Gott!«, rief Sara, als wir nach Hause fuhren. »Stanford! Emma, das ist so super!«

Ich fand keine Worte, aber mein glückliches Gesicht sprach wahrscheinlich Bände. Allein unser Sieg war schon berauschend, aber seit ich wusste, dass Scouts von vier Colleges das Spiel beobachtet hatten, schwebte ich in anderen Sphären – drei von unseren vier Toren hatte ich gemacht!

»Ich kann noch gar nicht glauben, dass du im Frühjahr rüberfliegst«, sprudelte sie weiter. »Du musst mich mitnehmen! Kalifornien! Ist das denn zu fassen?«

»Sara, er hat nur gesagt, sie wären daran interessiert, einen Besuchstermin zu vereinbaren, je nachdem, wie meine Noten im nächsten Quartal aussehen.«

»Ach komm, Emma. Deine Noten werden sich garantiert nicht ändern. Ich glaube nicht, dass du jemals in deinem Leben etwas Schlechteres als die Bestnote bekommen hast.«

Ich wäre gern auch so zuversichtlich gewesen, aber dann hielten wir vor unserem Haus. Sofort stürzte ich ab – der Sieg und die Scouts lösten sich in Luft auf, so, als wäre ich aus einer schönen Phantasie erwacht und mitten in einem Albtraum gelandet.

Carol schlenderte die Auffahrt hinunter und tat so, als schaute sie nach Post. Bestimmt führte sie irgendetwas im Schilde, ich bekam Bauchschmerzen. Sara schielte zu mir herüber. Anscheinend war auch sie besorgt.

»Hi, Sara«, rief Carol, ohne mich zur Kenntnis zu nehmen, als ich langsam ausstieg. »Wie geht es deinen Eltern?«

Sara lächelte ihr strahlendes Lächeln und antwortete: »Denen geht es blendend, Mrs Thomas, danke. Und Ihnen?«

Carol stieß ihren üblichen genervten, mitleidheischenden Seufzer aus. »Ach, man überlebt.«

»Freut mich zu hören«, gab Sara höflich zurück, ohne auf den Jammer-Quatsch reinzufallen.

»Sara, es ist mir sehr peinlich, dich zu fragen, statt direkt mit deinen Eltern zu sprechen.« Ich erstarrte. »Aber wäre es eventuell möglich, dass Emily morgen bei euch übernachtet? George und ich sind nicht da, und es wäre besser, wenn sie bei jemandem mit Verantwortungsbewusstsein bliebe. Natürlich nur, wenn sie eure Pläne nicht durcheinanderbringt.« Sie sprach über mich, als wäre ich nicht da – dabei stand ich neben dem Auto und hörte jedes Wort mit.

»Ich denke, das dürfte kein Problem sein. Ich wollte morgen wegen einer Hausarbeit in die Bibliothek. Sobald ich heimkomme, spreche ich mit meinen Eltern.« Sara spielte perfekt mit.

»Nett von dir, danke. Das wäre wirklich wunderbar.«

»Gern, Mrs Thomas, gute Nacht.«

Sara fuhr weg, Carol winkte ihr nach. Dann wandte sie sich mit angewidertem Gesicht mir zu.

»Du hast ja keine Ahnung, wie erniedrigend es ist, fremde Leute anzubetteln, dass sie dich aufnehmen, nur damit dein Onkel und ich ein bisschen Zeit zusammen verbringen können. Gut, dass Sara Mitleid mit dir hat. Obwohl ich wirklich keine Ahnung habe, wie sie es in deiner Nähe aushält.«

Damit drehte sie sich um, ging zurück zum Haus und ließ mich in der Auffahrt stehen. Die Worte kamen ihr ganz leicht über die Lippen, aber mich verletzten sie wie spitze Stachel.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der ich dachte, sie hätte recht. Dass Sara nur mit mir befreundet war, weil ich ihr leidtat. Ehrlich – wenn man uns nebeneinander sah, konnte man leicht auf diese Idee kommen: Sara attraktiv und sprühend vor Leben, ich fade und verschlossen. Aber mit der Zeit fand ich heraus, dass meine Freundschaft mit Sara wahrscheinlich das Einzige war, worauf ich mich wirklich verlassen konnte.

Als ich das Haus betrat, war ich sofort mit meinem Alltag konfrontiert – im Spülbecken warteten die schmutzigen Teller und Töpfe vom Abendessen auf mich. Seufzend stellte ich meine Taschen in meinem Zimmer ab und ging zurück in die Küche, um abzuwaschen. Aber die monotone Arbeit störte mich nicht – heute Abend schon gar nicht. Während ich mich in das übliche Schrubben und Scheuern vertiefte, musste ich mir sogar ein Lächeln verkneifen.

 

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich so optimistisch wie schon lange nicht mehr. Meinen Rucksack über der Schulter und einen Stoffbeutel mit Klamotten in der Hand, machte ich mich auf den Weg durchs Haus.

Die Realität brach mit einem heftigen Ruck an meinen Haaren wieder über mich herein. Mein Kopf wurde nach hinten gerissen. »Blamier mich nicht«, zischte Carol dicht an meinem Ohr. Ich nickte krampfhaft, mein Nacken schmerzte, aber ich hielt dagegen, während sie immer fester zog und ihr heißer Atem meine Haut versengte. Dann war sie genauso plötzlich, wie sie gekommen war, wieder weg – und rief ihre Kinder freundlich zum Frühstück.

Sara war ganz aufgeregt, als ich einstieg. »Ich kann gar nicht glauben, dass du heute Abend mit zum Spiel gehst!«, rief sie und drückte mich an sich.

Ich zuckte zurück, noch aufgewühlt von Carols Hinterhalt. »Sara, sie beobachtet uns bestimmt. Wir sollten machen, dass wir wegkommen, ehe sie es sich anders überlegt und mich für die Nacht in den Keller sperrt.«

»Würde sie so was tun?«, fragte Sara besorgt.

»Fahr einfach.« Ja, das würde sie, lautete die Antwort, die ich nicht aussprechen konnte.

Sara fuhr los. Heute war das Verdeck geschlossen, denn die kühle Luft hatte uns jetzt, wo es auf den Oktober zuging, doch endlich eingeholt. Die Bäume begannen ihre jährliche Verwandlung und zeigten sich in kräftigem Rot, Orange, Gold und Gelb. Aus irgendeinem Grund wirkten die Farben leuchtender auf mich – vielleicht weil ich ausnahmsweise auf sie achtete. Nicht einmal Carols Drohungen hatten meine Hochstimmung nach dem Sieg und den positiven Kommentaren der Scouts ganz vertreiben können. Und der Gedanke, dass ich heute Abend mit Sara zum Footballspiel gehen würde, war so angenehm, dass sich das Lächeln auf meinem Gesicht tatsächlich echt anfühlte. Mein allererstes Footballspiel – und ich hatte nur drei Jahre darauf gewartet.

»Ich hab beschlossen, dich ein bisschen zu verwöhnen, ehe wir heute Abend losgehen.«

Ich sah sie vorsichtig an. »Was planst du denn?«

»Vertrau mir, es wird dir gefallen!« Sara strahlte.

»Okay«, gab ich nach. Auch wenn ich befürchtete, dass ich eine völlig andere Vorstellung von Verwöhntwerden hatte als Sara. Ich hing am liebsten nur rum, sah mir Filme an und aß Junkfood. Für die meisten Teenager mochte das vielleicht ziemlich langweilig klingen, aber für mich war es purer Luxus. Doch ich beschloss, mir darüber keine Gedanken mehr zu machen. Sara kannte mich, also vertraute ich ihr.

»Ich werde ihn nach dem Spiel fragen, ob er mit mir ausgeht«, erklärte Sara, während wir vom Parkplatz zur Schule schlenderten.

»Wie willst du das machen?«, fragte ich, nachdem wir Saras Entourage und deren fröhliche Morgengrüße endlich hinter uns gebracht hatten. Ich konnte gar nicht glauben, wie sachlich sie ihren Plan verkündete. Andererseits – wer konnte ihr etwas abschlagen? Das Wort »Nein« schien in Saras Wortschatz gar nicht vorzukommen, weder passiv noch aktiv.

»Ich dachte … aber nur, wenn es für dich okay ist« – sie sah mich besorgt an – »… dass wir nach dem Spiel zu Scott Kirklands Party gehen, und ich Jason vorher frage, ob er sich dort mit mir trifft.«

Eine Party? Ich war noch nie auf einer echten Party gewesen. Natürlich hatte ich zugehört, wenn die anderen sich auf dem Korridor oder in der Umkleidekabine darüber unterhielten, und alle möglichen Fotos gesehen in den Spinden der Elft- und Zwölftklässler. Aber es war ein Initiationsritus, den ich bisher nicht kannte, und ich war auch nicht sicher, ob ich dafür bereit war. Eine Panikwelle durchflutete mich, wenn ich daran dachte, durch die Tür zu marschieren und von allen angestarrt zu werden.

Aber dann sah ich in Saras begierige blaue Augen, und mir wurde klar, wie wichtig diese Party für sie war. Ich konnte doch einfach sinnlosen Smalltalk mit Leuten machen, mit denen ich die letzten vier Jahre zur Schule gegangen war und über die ich trotzdem nichts wusste. Bestimmt eine interessante Erfahrung.

»Klingt großartig«, sagte ich, rang mir ein Lächeln ab und reihte mich damit in den Pulk der Leute ein, die Sara keinen Wunsch abschlagen konnten.

»Echt? Wir müssen nicht unbedingt auf die Party. Ich kann mir auch was anderes einfallen lassen. Du bist ganz blass geworden, als ich es erwähnt habe.«

»Nein, ich gehe gern mit dir auf die Party.«

»Perfekt!«, rief Sara und umarmte mich. Heute war sie so voller Zuneigung, dass es mich ganz aus der Fassung brachte. »Sorry, aber ich bin einfach so aufgeregt, dass du mitkommst. Ich glaube nicht, dass ich es ohne dich durchstehen würde. Außerdem können wir außerhalb der Schule kaum Zeit miteinander verbringen, das wird bestimmt toll.«

Ich grinste verlegen. Mein Magen rebellierte, wenn ich an die Party dachte. Ich ging nur Sara zuliebe hin. Aber ich würde es durchstehen. Was konnte denn schon Schlimmes passieren? Na ja … die Leute könnten tatsächlich versuchen, sich mit mir zu unterhalten. Wieder protestierte mein Magen. Es würde bestimmt schrecklich werden. Ich schluckte schwer.

Heute diente mir der Kunstkurs mehr denn je als Rückzugsort und als Erholung von meinen panischen Gedanken. Kunst war ein Rotationskurs, das heißt, er fand zu unterschiedlichen Zeiten statt, und heute trat er an die Stelle des Englischunterrichts in der ersten Stunde – Gott sei Dank! Ich brannte geradezu darauf, mich in die Arbeit an meinem Kunstprojekt zu flüchten.

Als ich in den luftigen Raum trat, atmete ich den beruhigenden Duft von Farbe, Kleber und Reinigungsmittel ein. Es war einladend und warm, an den hohen, gelbgestrichenen Wänden waren unsere Kunstprojekte ausgestellt, und durch die hohen Fenster fiel helles Tageslicht. Sofort atmete ich befreiter. Ganz gleich, wie mein weiterer Tag verlaufen würde und was ich zu Hause hinter mir gelassen hatte, hier bekam ich es in den Griff.

Ms Mier begrüßte uns, und wir ließen uns auf unseren Hockern an den großen schwarzen Arbeitstischen nieder. Ms Mier war die freundlichste Person, die ich kannte, und ihr außergewöhnliches Einfühlungsvermögen machte sie nicht nur zu einer großartigen Künstlerin, sondern gleichzeitig auch zu einer inspirierenden Lehrerin.

Unser derzeitiges Projekt bestand darin, ein Bild abzumalen, das wir in einer Zeitschrift gefunden hatten und das eine Bewegung darstellte. Ms Mier forderte uns auf, dort weiterzumachen, wo wir das letzte Mal aufgehört hatten. Zwar wurde gelegentlich gemurmelt, insgesamt herrschte jedoch konzentrierte Ruhe. Diese Ruhe war einer der Gründe, weshalb ich diesen Kurs so liebte.

Doch dann hörte ich in dem Gemurmel plötzlich eine gewisse Stimme – und mein Herz setzte einen Schlag aus. Eigentlich wollte ich nicht hinsehen, aber die angenehme Stimme zog mich unwiderstehlich an. Da war er. Evan stand vorne am Lehrerpult, in der Hand eine Kamera, und redete mit Ms Mier. Sie blätterte in einem Buch, allem Anschein nach ein Fotobuch, und gab Kommentare dazu ab. Als er mich entdeckte, grinste er mir freundlich zu. Ich schaute schnell wieder auf meine Leinwand und wünschte, ich wäre tatsächlich unsichtbar.

»Anscheinend bist du ja wirklich ziemlich gut«, hörte ich Evans Stimme kurz darauf hinter mir, und ich blickte von meiner Malerei auf. Mein Herz benahm sich total irre, es schlug in einem Tempo, das überhaupt nicht zu der Tatsache passte, dass ich vollkommen ruhig auf meinem Hocker saß. Entspann dich gefälligst – was war bloß los mit mir? Da ich ihn nur stumm anstarrte, fuhr Evan fort: »Fußball, meine ich. War echt ein super Spiel gestern.«

»Oh, danke. Bist du auch in dem Kurs hier?« Ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen stieg.

»Sozusagen«, antwortete er. »Ich wollte in den Kurs wechseln, wenn ich auch Fotokunst machen kann. Ms Mier hat zugestimmt, also bin ich hier.«

»Oh.« Mehr brachte ich nicht heraus. Er grinste wieder, und mein Gesicht wurde noch röter. Mein Körper ließ mich im Stich – ich bekam weder mein hyperaktives Herz noch mein heißes Gesicht unter Kontrolle. Das war völlig untypisch für mich und machte mich halb wahnsinnig.

Zu meiner Erleichterung unterbrach uns Ms Mier, bevor ich mich noch schlimmer blamieren konnte. »Ach, du kennst Emma Thomas? Wie nett«, sagte sie zu Evan.

»Ja, wir haben uns gestern kennengelernt«, antwortete Evan und sah mich lächelnd an.

»Ich freue mich, dass du ein paar Kontakte geknüpft hast, Emma. Wärst du bitte so nett, Evan die Materialien im Fotolabor und die Dunkelkammer zu zeigen?« Mein Herz, das gerade noch in Höchstgeschwindigkeit geschlagen hatte, geriet ins Stocken, aber mein Gesicht blieb heiß und knallrot.

»Na klar«, antwortete ich hastig.

»Danke.« Ms Mier lächelte. Warum musste ausgerechnet sie mich so quälen?

Ohne Evan anzusehen, stand ich auf und ging zur hinteren Ecke des Raums. Dort schob ich die Tür an einem der Hängeschränke auf.

»Hier drin findest du sämtliche Fotomaterialien, Papier, Entwickler, was man eben so braucht.« Mit dem Rücken zu ihm schloss ich die Tür wieder.

Im Schrank darunter zeigte ich ihm noch die Schneidemaschine und die Abmesshilfen. Dann durchquerten wir den Raum zur Dunkelkammer, in dem ich ihm das Dunkelkammerlicht zeigte und den entsprechenden Schalter an der Innenseite der Wand.

»Können wir mal reinschauen?«, fragte er.

Mir stockte der Atem. »Klar«, antwortete ich und sah ihn zum ersten Mal kurz an.

So betraten wir den kleinen rechteckigen Raum. In der Mitte stand ein langer Metalltisch mit Behältern, in denen Bilder entwickelt werden konnten. In der rechten hinteren Ecke war ein Spülbecken, an der langen Wand rechts standen Schränke, links gab es zwei Drahtstrippen mit schwarzen Clips, an denen die entwickelten Bilder zum Trocknen aufgehängt werden konnten. Obwohl die Spezialbeleuchtung ausgeschaltet war, kam es mir unnatürlich dunkel vor – dies war kein Ort, an dem ich mit Evan Mathews allein sein wollte.

»Da wären wir«, verkündete ich mit einer ausladenden Geste.

Evan ging an mir vorbei zu den Schränken, öffnete einen und inspizierte den Inhalt. »Warum redest du mit niemandem außer mit Sara?«, hörte ich ihn hinter der aufgeklappten Tür fragen. Dann schloss er sie und wartete auf meine Antwort.

Ich war nicht bereit, mich zu öffnen. »Was meinst du damit?«, sagte ich abwehrend.

»Du redest mit niemandem«, stellte er fest. »Warum nicht?«

Ich schwieg – aus dem einfachen Grund, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte.

Natürlich merkte er sofort, dass ich mich vor der Antwort drückte. »Warum redest du beispielsweise nicht mit mir?«

»Das war direkt«, stellte ich vorwurfsvoll fest.

Er lächelte, und erneut benahm sich mein Herz, als wollte es aus meiner Brust springen. »Und …?«, drängte er.

»Weil ich nicht sicher bin, ob ich dich mag«, platzte ich heraus, ohne weiter nachzudenken. Er sah mich mit seinem verschlagenen, amüsierten Grinsen an. Was war das denn für eine Reaktion? Aber ich konnte wirklich nicht mehr länger mit ihm in diesem beengten Raum bleiben, also drehte ich mich abrupt um und ging hinaus.

Den Rest der Stunde konnte ich mich überhaupt nicht konzentrieren und demzufolge auch mein Projekt nicht fertigstellen. Evan verschwand, um irgendetwas zu fotografieren, aber ich spürte seine Präsenz immer noch. Dieser Kurs sollte doch mein Zufluchtsort sein, und prompt stellte Evan wieder alles auf den Kopf.

Als wir am Spind unsere Bücher austauschten, bemerkte Sara, wie aufgeregt ich war.

»Alles klar?«, fragte sie.

»Evan Mathews ist in meinem Kunstkurs«, antwortete ich wütend.

»Und …?« Etwas verwirrt sah Sara mich an und wartete, dass ich weitersprach.

Da ich es nicht schaffte, in Worte zu fassen, wie er meinen gut geplanten, vorhersehbaren Tag durcheinanderbrachte, schüttelte ich nur den Kopf. Sosehr Sara mich auch verstand, darüber konnte ich nicht reden. Mein Blut war immer noch in Wallung, es fiel mir schwer, meine Gedanken zu sortieren.

»Ich rede nachher mit dir«, stieß ich hastig hervor und ließ Sara stehen. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, was mit mir geschah. Schließlich war es doch meine Überlebensstrategie, meine Gefühle in Schach zu halten – Fassung zu bewahren und alles potentiell Störende wegzudrücken. Ich sorgte dafür, dass ich möglichst unbemerkt blieb, ich glitt durch die Schule, ohne dass jemand richtig mitbekam, dass ich überhaupt da war. Meine Lehrer nahmen meine akademischen Leistungen zur Kenntnis, meine Sporttrainer verließen sich auf meine athletischen Fähigkeiten, aber ich war nicht wirklich wichtig, ich leistete keinen erkennbaren sozialen Beitrag. Man konnte mich leicht vergessen. Darauf zählte ich.

Manchmal versuchte jemand, sich mit mir anzufreunden, unterhielt sich mit mir oder lud mich zu einer Party ein, aber das hielt nie lange an. Sobald klar war, dass ich die Einladungen nicht annehmen und nur einsilbig antworten würde, ließ das Interesse wieder nach – was mir das Leben erleichterte.

Sara war die Einzige, die zu mir gehalten hatte, als ich vor vier Jahren hergezogen war. Nachdem sie mich sechs Wochen lang beharrlich zu sich eingeladen hatte, erlaubte Carol mir schließlich, sie zu besuchen. Sie selbst wollte mit einer Freundin einen Einkaufsbummel machen, bei dem ich sowieso nur gestört hätte, deshalb passte ihr Saras Einladung gut in den Kram. Dieser glückliche Zufall besiegelte unsere Freundschaft. Immer mal wieder durfte ich zu Sara nach Hause und manchmal, wenn auch selten, sogar dort übernachten – vorausgesetzt, es passte in Carols Terminplan. Natürlich half es, dass Saras Vater ein örtlicher Richter war, Carol gefiel dieses Prestige aus zweiter Hand.

Letzten Sommer bekam ich sogar die Erlaubnis, eine Woche mit Sara und ihrer Familie nach Maine zu fahren. Der Urlaub fiel zeitlich zusammen mit einem Campingausflug, den George und Carol mit ihren beiden Kindern geplant hatten. Saras Eltern formulierten ihre Einladung so, als hätten sie bereits die komplette Mädchen-Fußballmannschaft gefragt und wären dadurch praktisch verpflichtet, auch mich mitzunehmen. Auf diese Weise fiel es Carol wesentlich leichter zuzustimmen. Als ich wieder nach Hause kam, musste ich allerdings dafür bezahlen – vermutlich zeigte ich mich nicht dankbar genug.

Aber die blauen Flecken konnten mir die schönste Woche meines Lebens nicht nehmen. In dieser Woche lernte ich auch Jeff Mercer kennen. Er war Rettungsschwimmer an dem Strand, der von unserem Ferienhaus fußläufig zu erreichen war. Seine Familie besaß ein Häuschen am See, daher verbrachte er den Sommer immer dort.

Zwei Tage lang schmachteten Sara und ich ihn am Strand an. Am zweiten Tag lud er uns nach seiner Schicht zu einem Lagerfeuer an einem Privatstrand ein.

Als Jeff uns seinen Freunden vorstellte, behauptete ich, Saras Cousine aus Minnesota zu sein. Diese Lüge entwickelte sich immer mehr zu einer ausgefeilten Geschichte, deren Kern Sara und ich uns vor der Party ausgedacht hatten. Mein falsches Leben entfaltete sich wie von selbst, es erlaubte mir zu sein, wer ich wollte – niemand kannte den Unterschied zur Realität. Ich musste nicht unsichtbar sein, denn ich existierte ja tatsächlich nicht.

Beflügelt von meiner Geschichte, wehrte ich mich auch nicht dagegen, Jeff näherzukommen. Mit ihm konnte ich ganz entspannt reden und lachen, außerdem hatten wir eine Menge gemeinsam – er spielte Fußball, und wir hörten die gleiche Musik. Jeff machte es einem leicht, ihn zu mögen.

Am Ende des Partyabends scharten sich alle, entweder pärchenweise oder in Gespräche vertieft, ums Feuer. Jeff saß neben mir im Sand, an einen großen Holzklotz gelehnt, der als Bank diente. Ein paar Jungs spielten im Hintergrund Gitarre, und in dieser ruhigen, ungezwungenen Atmosphäre legte Jeff ganz beiläufig den Arm um mich. Ich ließ den Kopf auf seine Schulter sinken – seltsam, wie entspannt ich mich bei ihm fühlte, vor allem, wenn man bedachte, dass ich einem Jungen noch nie so nah gewesen war.

Wir plauderten und lauschten der Musik. Nach einer Weile rutschte er noch dichter zu mir, beugte sich über mich und küsste mich. Ich erinnerte mich, dass ich eine Minute den Atem angehalten hatte, starr vor Angst, dass er merken könnte, wie unerfahren ich war. Ganz sanft legten sich seine weichen, schmalen Lippen auf meinen Mund.

Beim Abschied versprachen wir einander zu mailen, obwohl wir beide wussten, dass wir es nicht tun würden. Es war nicht leicht, mich von Jeff zu trennen, aber auch nicht wirklich schlimm. Nicht für Emma Thomas aus Weslyn, Connecticut – den überambitionierten, in sich verschlossenen Schatten, der durch die Gänge der Weslyn High huschte. Es war nicht schwer, weil dieses Mädchen für Jeff gar nicht wirklich existierte.

Genau das störte mich an Evan Mathews so sehr. Er wusste, dass ich existierte, und allem Anschein nach war er wild entschlossen, mich aus meinem Schattendasein zu befreien. Ich konnte ihm nicht entkommen. Er ließ sich von meinen einsilbigen Antworten und abrupten Reaktionen nicht abwimmeln, und obwohl ich mich bemühte, ihn zu ignorieren, schaffte ich es nicht. Vermutlich merkte er das – und es schien ihn köstlich zu amüsieren.

Ehe ich den Kursraum betrat, in dem Europäische Geschichte stattfand, holte ich tief Luft und machte mich darauf gefasst, ihn dort ebenfalls zu sehen. Aber er war nicht da. Überrascht sah ich mich um und musste mir eingestehen, dass ich enttäuscht war. Noch ein Problem. Mein Herz schlug, hielt inne und wurde schwer, als würde es unabhängig von mir über sein Verhalten entscheiden – ganz zu schweigen davon, dass ich ständig einen roten Kopf bekam. Das war mehr als nervig.

Auch im Chemiekurs war Evan nicht. Vielleicht war er also doch nicht wie befürchtet überall. In Mathe war ich abgelenkt, weil wir unsere Arbeiten zurückbekamen. Umso heftiger zuckte ich zusammen, als ich plötzlich Evans Stimme hörte. Sofort fühlte sich mein Herz bemüßigt, wie verrückt loszurasen.

»Hi.«

Ich konzentrierte mich darauf, mein Heft für die heutige Stunde aufzuschlagen, und weigerte mich standhaft, ihn anzuschauen.

»Jetzt redest du überhaupt nicht mehr mit mir, was?«

Verärgert über seine Feindseligkeit, konnte ich nicht mehr an mich halten und drehte mich zu ihm um.

»Warum willst du denn unbedingt mit mir reden? Worüber könntest du denn überhaupt mit mir reden wollen?«

Überrascht zog er die Augenbrauen hoch, ersetzte diesen Gesichtsausdruck aber blitzschnell durch sein spöttisches, leicht amüsiertes Grinsen.

»Und warum schaust du mich dauernd so an?« Mein Gesicht wurde rot, und ich biss die Zähne zusammen.

Ehe Evan antworten konnte, kam Mr Kessler herein, und der Unterricht begann. Die komplette Stunde hindurch starrte ich entweder in mein Buch oder nach vorn. Aber ich spürte, dass Evan mich immer wieder ansah – und war die ganze Zeit nervös.

Als ich meine Sachen zusammensammelte, um mich auf den Weg zum Anatomiekurs zu machen, hörte ich ihn hinter mir sagen: »Weil ich dich interessant finde.«

»Du kennst mich doch überhaupt nicht«, erwiderte ich trotzig.

»Aber ich versuche, dich kennenzulernen.«

»Es gibt so viele Leute an dieser Schule – da musst du doch nicht ausgerechnet mich kennenlernen.«

»Aber ich möchte es gern«, entgegnete er.

Verwirrt verließ ich das Klassenzimmer. Evan sagte nie das, was ich erwartete. Und was sollte ich ihm jetzt antworten? Ich wurde panisch.

»Gehen wir zusammen zu Anatomie?« Ich war zu verstört, um zu merken, dass er mir gefolgt war.

»Du bist doch nicht etwa auch noch in meinem Anatomiekurs, oder?« Im Ernst, die Welt hatte sich gegen mich verschworen, vermutlich gemeinsam mit meinem rasant klopfenden Herzen. Ich strengte mich an, tief Luft zu holen, aber meine Lungen wollten sich nicht füllen lassen.

»Du hast mich also die ganze letzte Woche überhaupt nicht wahrgenommen, ja?« Mehrere Leute blieben stehen und glotzten uns an, als wir nebeneinanderher gingen. Bestimmt geriet ihr Weltbild ins Wanken, weil Emma Thomas mit einem anderen Schüler den Gang entlanglief, zu allem Überfluss auch noch mit einem Jungen – demselben, dem sie gestern diese Szene gemacht hatte. Die Gerüchteküche konnte sich warmlaufen!

Dank des Tempos, das ich für meine Flucht angeschlagen hatte, dauerte es nicht lange, bis wir den Kursraum erreichten. Vor der Tür blieb ich stehen und drehte mich zu Evan um. Gespannt blickte er zu mir herab.

»Ich hab kapiert, dass du neu hier bist und dass ich dir interessant vorkomme. Aber ich versichere dir, dass das nicht stimmt. Du musst mich nicht kennenlernen. Ich kriege gute Noten, bin ganz gut in Sport, und ich sorge dafür, dass ich immer was zu tun habe. Und ich lege Wert auf meine Privatsphäre. Ich brauche Raum, ich werde gern in Ruhe gelassen. Du kannst alle anderen in der Schule kennenlernen, jeden und jede, die scharf darauf sind, was mit dir zu tun zu haben. Aber ich bin wirklich nicht erpicht darauf. Sorry.«

Er grinste.

»Und hör auf, mich ständig anzugrinsen, als wäre ich amüsant. Ich finde das absolut nicht witzig, also lass mich damit in Frieden.« Damit sauste ich in den Kursraum. Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass ich mich besser oder zumindest erleichtert fühlen würde – aber nichts dergleichen. Ich war einfach nur niedergeschlagen.

Ich hatte keine Ahnung, wo Evan in Anatomie saß, jedenfalls nicht neben mir. Genaugenommen saß überhaupt niemand neben mir, denn der Platz an meinem Tisch, auf dem normalerweise Karen Stewart saß, war leer. Karen kam im Unterricht meistens nicht mit und fragte mich ständig irgendwas. Heute konnte ich endlich die Ruhe genießen, wegen der ich mir immer alle vom Leib hielt, aber sie hatte absolut nichts Tröstliches.

Als es am Ende des Schultags klingelte, hatte ich meine Krise überwunden. Die Tatsache, dass ich bei Sara übernachten würde und nicht nach Hause musste, gab mir den notwendigen Auftrieb – ebenso wie die Tatsache, dass ich Evan nicht noch mal über den Weg laufen würde.

»Hi!«, begrüßte Sara mich, als wir unsere Bücher aus dem Spind holten. »Ich hab das Gefühl, ich hab dich den ganzen Tag nicht gesehen. Wie geht es dir? Du hast mir nicht gesagt …«

»Ich will nicht darüber sprechen. Später, okay? Mir geht es endlich wieder besser, und ich möchte heute Abend einfach nur Spaß haben, in Ordnung?«, beschwor ich sie.

»Ach komm, Em. Tu mir das nicht an. Ich hab gehört, dass du zusammen mit Evan zu Anatomie gegangen bist. Du musst mir erzählen, was da läuft.«

Ich zögerte, denn ich wollte nichts sagen, solange uns jemand belauschen konnte. Das Getratsche sollte durch mich nicht noch zusätzlich Nahrung bekommen, und ich sah mich erst einmal prüfend auf dem Korridor um.

»Er versucht immer wieder, mit mir ins Gespräch zu kommen«, erklärte ich Sara dann und hoffte wider besseres Wissen, es könnte ihr vielleicht genügen. Aber Sara zuckte nur die Achseln und wartete gespannt, dass ich weitersprach.

»Du hattest recht gestern. Er hat mir gesagt, dass er mich interessant findet, was immer das bedeutet. Sara, er ist in allen meinen Kursen – oder jedenfalls fühlt es sich so an. Ich kann ihm nicht entkommen, ständig taucht er in meiner Nähe auf. Schließlich hab ich ihm gesagt, dass ich überhaupt nicht interessant bin und dass er mich in Ruhe lassen soll. Darum ging es auf dem Weg zu Anatomie. Ich kapier diesen Jungen einfach nicht.«

»Em, er interessiert sich für dich. Warum ist das so schlimm?«, fragte Sara, ehrlich verwundert, und es überraschte mich ehrlich, dass sie das Problem nicht verstand.

»Sara, ich kann niemanden brauchen, der sich für mich interessiert. Du bist aus einem ganz bestimmten Grund meine einzige Freundin.« Sie senkte die Augen. Allmählich verstand sie mein Dilemma. »Ich kann mich nicht mit jemandem verabreden. Ich gehe nicht ins Kino. Heute Abend werde ich zum ersten und wahrscheinlich auch letzten Mal auf einer Party sein. Ich möchte ihn nicht anlügen müssen. Und wenn mir jemals einer so nahekommt, dass er mich anfassen will …« Ich konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, denn allein die Erkenntnis, dass ich Angst hatte, bei einer Berührung vor Schmerz zurückzuschrecken, jagte mir einen kalten Schauder über den Rücken.

Ich hätte es lieber nicht so deutlich ausgesprochen, aber anscheinend war es Sara davor nicht klar gewesen. Für einen kurzen Augenblick sah sie die Welt mit meinen Augen, und als ich in ihr bekümmertes Gesicht schaute, wurde mir eng um die Brust.

»Tut mir leid«, flüsterte sie. »Das hätte ich wissen müssen. Dann solltest du vermutlich wirklich nicht mit ihm reden.«

»Schon okay«, beruhigte ich sie und zwang mich zu lächeln. »Ich hab noch sechshundertzweiundsiebzig Tage, und dann kann jeder mich interessant finden, der will.«

Sara erwiderte mein Lächeln, aber nicht so strahlend wie sonst.

Das Mitgefühl in Saras Augen spiegelte die ganze Jämmerlichkeit meines Lebens wider; das war schwer zu ertragen. Aber es war noch schwerer, davor zu fliehen – buchstäblich.

Ich konnte mich an eine Zeit erinnern, in der mein Leben noch keine Katastrophe gewesen war. In ein paar Schuhschachteln bewahrte ich einige Fotos auf, Bilder von einem fröhlichen Kind, Bilder von meinem Vater. Als er mir genommen wurde, blieb mir nur meine Mutter, doch sie hatte leider keine Ahnung davon, was es hieß, Mutter zu sein. Ich hatte mich bemüht, mit so wenig elterlicher Zuwendung auszukommen wie nur möglich. Wenn ich perfekt war, dachte ich, konnte mir niemand einen Vorwurf machen, dann lenkte ich meine Mutter auch nicht von ihren diversen Männern ab, in denen sie einen Ersatz für meinen Vater suchte – und die ihm doch niemals das Wasser reichen konnten.

Aber ich war immer noch zu viel – ich war eine Last. Ich hoffte, dass mein akademischer Tatendrang meine Tante und meinen Onkel dazu bringen würde, mich irgendwann in ihrer Familie zu akzeptieren. Doch leider wurde unser Verhältnis nie wärmer als in dem frostigen Moment, in dem ich vor vier Wintern ihre Schwelle überschritt. Schuldgefühle öffneten an jenem Abend ihre Tür für mich. Aber sie würden mir niemals vergeben, dass sie mich nicht gewollt hatten – egal, wie perfekt ich auch war. Also versuchte ich es mit Ausweichmanövern und übertriebener Strebsamkeit. Beides gelang mir nicht so gut, wie ich es mir gewünscht hätte, denn Carol verstand es, mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit als wertlose Versagerin abzustempeln.